RP11 – Der Aufbruch

Endlich auch meine Reflexion über die re:publica. Das hat lange gedauert und schon im Vorfeld kam von mir ja hier nicht viel neues, was man durchaus als Stressindikator begreifen kann, wenn man es denn möchte.

Natürlich fand ich es auch dieses Jahr einfach geil. Es ist natürlich einfach geil, wenn man teil dieses Klassentreffens ist. Wenn man auf allen re:publicen war, jedes Jahr einen Shitload an neuen Leuten kennengelernt hat und man all die Leute einfach auf einen Schlag wiedertrifft. Das sagt natürlich noch gar nichts über die Qualität der Veranstaltung aus aber viel darüber, dass ich natürlich einen geblendeten Blick dafür habe. Ich konnte ja quasi gar nicht enttäuscht werden.

Natürlich gibt es aber auch kritisches zu sagen, Räumlichkeiten, W-lan, der ein oder andere schlechte Vortrag, etc. Aber das wurde schon zu genüge diskutiert.

Weil ich auch wegen meiner eigenen Dinge (dazu gleich) viel um die Ohren hatte, habe ich mir selber leider nur sehr vereinzelt Sachen angucken können. Highlights – da stimme ich sicher mit den meisten überein – waren die Vorträge von Gunter Dueck und von Sascha Lobo.

Einige fanden sogar unsere Twitterlesung super. Ich fand die auch nicht schlecht. Aber wie letztes Jahr: Friedrichstadtpalast ist für humorvolle Unterhaltungsshows eine schwer zu knackende Nuss. Uns ist das einigermaßen gelungen, die Lesung war gut besucht und es gab viele Lacher (die man dort auf der Bühne schlecht hören kann) und mehr kann man schwerlich erwarten. Hier der Bericht.

Mein Vortrag, der unglücklicher Weise gleich am nächsten Morgen um 10:00 Uhr war trotz der Uhrzeit gut besucht, dass leider viele nicht mehr reingekommen sind. Sorry dafür. Aber die Infos sind gottseidank alle im Netz vorhanden. Hier mein Artikel bei Carta, wo es um die technischen Grundlagen des Kontrollverlusts im Digitalen geht und hier die Ergänzug, die über den Carta-Artikel hinausgeht und den Kontrollverlust auf eine neue, abstraktere Ebene hievt und mit dem Postdemokratiediskurs verknüpft.

Überrascht hat mich, dass am Tag zuvor Gunter Duecks Vortrag in eine sehr ähnliche Richtung ging, wie mein Vortrag. Teilweise andere Schwerpunkte, teilweise andere Begrifflichkeiten, aber auch bei ihm ging es darum, dass das Internet einen ganzen Haufen an Organisationsaufwand, der durch Institutionen geleistet wird, überflüssig macht. Unsere beiden Vorträge waren also Vorträge über das Legitimationsporblem von Institutionen in Zeiten des Internets. Leider konnte ich nicht ganz so reüssieren, aber ich übe ja noch.

Verpasst habe ich übrigens die Veranstaltung zur Gründung der „Digitalen Gesellschaft“. Ich kann die emotionalen Diskussionen um diese Gründung nur teilweise nachvollziehen. (wir haben darüber im aktuellen WMR diskutiert) Ich glaube, das ganze Ding wird etwas wichtiger genommen, als es ist. „Digitale Gesellschaft“ klingt zwar durchaus bold, aber wenn man sich vergegenwärtigt, wozu sie da ist, weiß man auch, warum das so sein muss. Man will ja schließlich ernst genommen werden, da draußen.

Dass die „Digitale Gesellschaft“ dann doch nicht wirklich diesen Alleinvertretungsanspruch für „die Netzszene“ hat, die der Name suggeriert, sollte aber ebenso klar sein. Wie sollte das denn auch gehen? Also versteht das Ding doch einfach als ein zusätzliches Interface mit dem man besser und effektiver mit den (ja immer noch bestehenden und immer noch mächtigen) Institutionen kommunizieren kann. Es ist ein zusätzliches Schnittstellen-Angebot zu all dem anderen grassrootsartigen und nach wie vor wichtigen Bündnissen um die Netzpolitik.

Es ist also eigentlich das, wonach Sascha Lobo in seinem Eröffnungs-Rant förmlich geschrien hat: eine tolerante, effektive Offensive, die die Netzpolitik nach außen, in die Gesellschaft vermittelt. Und sicher auch ein Garant, dass er nicht mehr als einziger angerufen wird (was er auch eh schon jetzt nicht wird).

Die Situation ist doch folgende: Wir haben Jahrelang geschrieen, dass das Internet wichtig ist, dass man uns zuhören soll, dass man da nicht wie ein Volldepp irgendwelche politischen Meßlatten anbringen darf, sondern, dass man versuchen muss, das Netz zu verstehen.

Und jetzt ist es so weit! Man hört uns zu! Alle haben es kapiert. Wirklich: ALLE! Jeder weiß seit Wikileaks, seit Tunesien und Ägypten, seit der Zeitungskrise und und und, dass das Internet scheißfucking wichtig ist. Und sie haben auch kapiert, dass das Internet seine eigenen Regeln hat, dass man nicht einfach den Rundfunksgedöns rechtlich ausweiten kann, wenn man es mit dem Netz zu tun hat. Die Massenmedien richten Kolumnen ein, der CCC schreibt für die FAZ und der Innenminister und die Faminlienministerin streiten sich darum, wer mit den prominentesten Netzakteuren reden darf. Wie angekommener kann man sein?

Und Sascha hat vollkommen recht, wenn er feststellt, dass wir uns – wärend alle fragenden Augen der Gesellschaft auf uns gerichtet sind – schlicht zu doof anstellen, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Statt dass wir versuchen an allen Ecken und Enden unsere Kompetenz dafür einzusetzen, unsere Erfahrungen zu vermitteln, ergehen wir uns in Streitereien darüber, ob denn nun die „Digitale Gesellschaft“ die Volksfront von Judäa oder doch die Judäische Volksfront ist. Wir führen uns wie auf ein Kindergarten, statt die einmalige Chance zu nutzen, diese Gesellschaft entscheident mitzuprägen.

Aber das ist aber unsere fucking Aufgabe! Das ist das, worauf Dueck dann auch hinauswollte, als er sagte: „Werdet politisch!“ und das sei seine einzige Bitte an uns. Das heißt eben nicht, dass wir in die Parteien rennen sollen oder eine neue Piratenpartei gründen sollen, sondern dass wir unsere Kompetenzen aus dem Netz dazu nutzen sollen, mit diesen veränderten Situationen, die wir durch das Netz bekommen, umzugehen. Kurz vorher hatte er ja skizziert, warum unser ganzes Gesellschaftssystem grundlegend umgekrempelt werden muss. Wir sind diejenigen, die es umkrempeln müssen. Wer denn auch sonst?

Ja, und da ist sie wieder, die Elite. Natürich ist das ein Elitendiskurs und natürlich hat da die Netzszene kein Bock drauf. „Eliten sind scheiße!“ Natürlich shitstormen wir lieber jeden nieder, der uns zu laut spricht. „Keep it down! Keep it calm!“ – wir wollen keine Elite sein.

Sorry, zu spät. Es ist unsere Aufgabe, diese Verantwortung anzunehmen. Die anderen da draußen kennen auf jedes gesellschaftliche Problem nur die „Institution“ als Lösung. Wir sind es, die im Internet andere Erfahrungen gemacht haben. Wir wissen, wie sich Menschen komplexer organisieren können. Wir haben erfahren, wie das geht. Wir müssen – so Dueck – jetzt umkehren, rausgehen und den anderen in der Höhle davon erzählen.

Aber ehrlich, ich mache mir keine Sorgen. Natürlich wird es immer Schreihälse geben, die eifersüchtig alles versuchen niederzuschreien, was ihnen nicht passt. Aber man sieht ja auch, was aus denen wird. Sie verenden in irgend einer Nische, wo ihnen eh keiner mehr zuhört, als ihrer eigenen Kommentarmeute. Und die anderen, die Markus Beckedahls und andere, die lieber machen und nach vorn gehen, werden sich nicht abschrecken lassen.

Und deswegen war für mich diese re:publica ein deutliches Zeichen des Aufbruchs. Es wird Zeit, diese Sache mal ernsthafter voranzutreiben, die schmerzhaften Fragen zu stellen und mehr Gestaltungsspielraum einzufordern und dabei den Kindergarten links liegen zu lassen. Wer nicht mitmachen will, soll es eben lassen. Ich würde da jedenfalls keine Rücksicht drauf nehmen.

Werte und Risiken

Ich habe mich ja letztens zur German Angst geäußert. Auch übrigens im aktuellen Podcast. Jetzt ist ein neuer Artikel bei SpOn erschienen, der das besondere Verhältnis der Deutschen zum Risiko beleuchtet. Herfried Münkler leitet dabei – etwas anders – aber doch auch, diese Besonderheit aus der deutschen Geschichte her.

Ich glaube übrigens, dass es in diesen Sachen kein „richtig“ oder „falsch“ gibt. Völlige Unwägbarkeiten kann sich eben jeder selbst ausmalen und bewerten wie er will. Es gibt keinen „rationalen“ Umgang mit dem Risiko. Jeder, der ein Risiko eingeht ist im Grunde verrückt, nichts kann das rechtfertigen. Man kann Risiken zwar aufgrund von statistischen Wahrscheinlichkeiten miteinander vergleichen, aber dem ungewissen anderen, dem „unbekannten Unbekannten“ wird man damit eben nicht gerecht. Statistik kann sich per Definitionem immer nur auf die Vergangenheit beziehen. So wie sich die Konstruktion des AKWs in Fukushima eben nur auf vergangene Erdbeben und Tsunamis hat stützen können und damit den aktuellen Bedrohungen eben nicht gerecht wird. Die Zukunft selbst ist verrückt, sie hält sich nicht an Statistiken, sie ist nicht rationalisierbar.

Dann ging heute noch auf Twitter etwas ganz anderes rum. Naja, nichts völlig anderes, irgendwie hat das damit auch zu tun. In einer Schule wurde vor den Augen der Kinder ein Kaninschen geschlachtet. Die Eltern liefen Sturm und eine pädagogische Diskussion brandete auf.

Die Reaktionen auf Twitter waren recht hämisch. Schließlich ist es nicht lange her, dass das Schlachten eines Tieres zum Alltag vieler Menschen – auch von Kindern gehörte. Hierzu auf so ne Art sehr richtig, Ennomane. Ich weiß gar nicht, ob das noch irgendwo praktiziert wird, aber ich weiß, dass zu meiner Schulzeit auch lebende Frösche seziert wurden. Von den Schülern selbst. Und da wir mit dem Resultat von geschlachtetem Getier ja durchaus auch täglich zu tun haben, liegt es nahe zu unterstellen, dass das Zuschauen beim Schlachten eines Tieres eine durchaus pädagogisch wertvolle Lehre sein kann.

Ich bin mir da nicht so sicher. Nur weil etwas früher als „normal“ galt und vielleicht sogar noch in unserem Wertempfinden nicht schlimm ist, muss es ja noch lange nicht richtig sein. Wir glauben immer – wie auch unsere Eltern ihrerseits – dass unser Wertmaßstab der richtige (vielleicht sogar „natürliche„) ist. Wer gibt uns dieses Recht?

Die beschriebene Reaktion der betroffenen Kinder waren vor allem Tränen. Ein Kind soll sogar in Ohnmacht gefallen sein. Der Schock jedenfalls sitzt tief und wer kann es ihnen verübeln? Es ist heute eben nicht mehr „normal“ mit der Tötung von Tieren in Berührung zu kommen. Und ich finde beim Nachdenken darüber auch keinen Grund, warum das schlecht sein sollte. Denn das bleibt ja auch nicht ohne Konsequenzen. Das Vegetariertum ist ja nicht umsonst ein anhaltend starker Trend – ich denke schon, dass das zusammenhängt (Anmerkung: ich selbst bin eher so das Gegenteil eines Vegetariers. Ich weiß aber von der Umweltschädlichkeit meiner Essgewohnheiten, würde aber nicht zögern ein Tier zu töten, um es zu essen, wenn es sein müsste.)

Ich erinnere mich da an Jan Phillipp Reemtsma, der von einer Konditionierung durch Gewalt spricht. Die Frage, wie es zu den Gräultaten der Nazis, aber auch zu denen in anderen Kriegen kommt, beantwortet er damit, dass der Mensch sich an eine Lebenswelt der alltäglichen Gewalt zu gewöhnen im Stande ist. Wenn man in einer Welt der Gewalt lebt, gewöhnt man sich daran, dann wird es eben etwas normales. Die Empfindlichkeit nimmt ab und die Schwelle selber gewalttätig zu werden, sinkt.

Wir leben auch heute mit Gewalt, in eingegrenzten, dafür gesellschaftlich eingerichteten Bereichen, wie dem Boxsport. Aber insgesamt haben wir uns als Gesellschaft von der Gewalt sehr entwöhnt. Das ist keine Garantie für irgendwas, das kann wieder umschlagen. Aber derzeit sind wir Gewalt gegenüber extrem viel intoleranter, als es zum Beispiel noch unsere Elterngeneration war.

Es ist auch erstaunlich, dass die Leute sich von Kriminalität, obwohl sie seit den 70er Jahren rückläufig ist, immer mehr bedroht fühlen. Kaum wird irgendwo jemand niedergeschlagen, wird wieder eine große Law&Order-Diskussion losgetreten, ob wir härtere Gesetze brauchen. Die Abwesenheit von Verbrechen bedeutet nicht umbedingt ein Mehr an gefühlter Sicherheit. Gefühlte Sicherheit scheint sich überhaupt gar nicht durch echte Sicherheit herstellen lassen.

Auch anderen Gefahren gegenüber wird die Gesellschaft zunehmend intoleranter. Allein wie sich in den letzen 10 bis 20 Jahren das Verhältnis der Gesellschaft gegenüber dem Rauchen gewandelt hat, ist ja erstaunlich. Als ich jung war, haben die Leute noch im Flugzeug und in Zügen geraucht. Im Büro sowieso, egal ob da Nichtraucher saßen. Das wäre heute undenkbar. Einige Menschen fühlen sich mehr als nur belästigt, wenn jemand in ihrer Gegenwart raucht; sie fühlen sich bedroht. Ich schaue derzeit die Serie Madmen, die in den frühen 60er Jahren spielt, wo alle Protagonisten den ganzen Tag rauchen und saufen – auch bei der Arbeit und alles andere als heimlich, als ob es kein Morgen gibt. Ich glaube nicht, dass die Serie übertreibt.

Die Werte wandeln sich. Die Gesellschaft verändert ihre Sicht auf Gefahren, auf Gesundheit und gegenüber Gewalt. Gewalt gegenüber Menschen und Tieren. Dabei kann es extreme Unterschiede zwischen den Zeiten und den Orten geben.

Man kann ja mal wetten, aber ich glaube zum Beispiel nicht, dass die Japaner die Atomkraft aufgeben werden. Trotz zwei Atombomben und dem (bisher) zweitschlimmsten Störfall in der Nukleargeschichte.

Sind die Japaner dann dumm? Sind die Kinder „falsch“ erzogen? Waren die Menschen früher lebensmüde?

Wir leben immer nur im heute und im hier. Und haben recht.

Netzkommentar: isharegossip

Hier, der Text zu meinem dradio.wissen Netzkommentar zu isharegossip.

Letzten Samstag wurde ein Jugendlicher von 20 anderen brutal zusammengeschlagen. Er hatte ein Schlichtungsgespräch gesucht, weil seine Freundin unter dem Mobbing einiger Mitschüler litt. Im Internetforum Isharegossip.com wurde sie als „Schlampe“ verunglimpft.

Kinder können grausam sein. Ich weiß das aus eigener Erfahrung, auch ich habe darunter gelitten. Und ich kenne einige, denen es noch schlimmer erging.

Der Schulhof ist nun in das Internet erweitert worden. Wenn aber auf dem Schulhof getuschelt wird, dass X eine Schlampe ist, dann ist das schlimm. Wenn es im Internet für die ganze Welt auffindbar steht, kann das schlimmer sein.

Bundesfamilienministerin Kristina Schröder hat jetzt angekündigt zu prüfen, ob Websites wie Isharegossip in Deutschland verboten werden können. Als ob das irgendetwas helfen würde!
Egal, ob die Jugendlichen die Gerüchte dann auf schuelerVZ, 4chan oder völlig anderen Kanälen veröffentlichen, das Problem wird damit kaum in den Griff zu bekommen sein.

Was kann ein Verbot, was kann ein Gesetz, was kann der Datenschutz schon dagegen tun, wenn Menschen andere Menschen im Internet verleumdnen wollen?

In den USA ist das sogenannte „cyber bullying“ – also das Mobbing von Jugendlichen im Internet – längst zu einem ernsten gesellschaftlichen Problem ausgewachsen. Es ist so schlimm, dass Präsident Obama das Thema mehrmals ganz persönlich aufgegriffen hat.

Wenn wir etwas tun wollen, dann sollten wir den Jugendlichen die Stärke und die Fähigkeiten geben, Beschimpfungen und Verleumdungen zu ertragen. In den USA versucht die Plattform „It Gets Better“ genau das. Erwachsene sprechen in der Öffentlichkeit von ihren schlimmsten Demütigungen aus ihrer Jugend und zeigen den Jugendlichen, dass sie nicht allein sind und dass es besser wird.

Langfristig müssen wir aber eine Gesellschaft und eine Kultur schaffen, in der Daten keine Existenzen gefährden können. In denen intimste Informationen – egal ob wahr oder Gerücht – nur ein Schulterzucken hervorrufen.

Wir brauchen eine tolerante und diskriminierungsfreie Gesellschaft und zwar bald!

Der Hass des german ängstlichen Wutbürgers

Was man bereits ahnte: der „Wutbürger“ und die „German Angst“ gehen zusammen. Zwei großartige Texte flogen mir über das Wochende zu, die die beiden Phänomene jeweils genau analysieren und auf fast synchrone Art deuten.

Der Wutbürger und der Fahrrad-Nazi

Nach der Proklamation des Wutbürgers wurde es Zeit, ihn als ein psychosoziales Phänomen zu analysieren. Dietrich Diederichsen hat das ganz wunderbar in Angriff genommen. Er grenzt die Wut gegen Zorn und Empörung ab. Während Zorn und Empörung gerichtet und diskursiv sind, sei Wut aus der Rolle gefallener Zorn. Dieses aus der Rolle Gefallene sei das nicht mehr Streitbare, das nicht mehr Verargumentierbare der Wut:

„Verlieren Akteure im Streit jede Chance, verlieren sie ihre Position oder kann der Streit überhaupt nicht mehr geführt werden, dann tritt die gebundene Wut heraus und taucht frei, radikal und ein bisschen blöde anderswo wieder auf.“

Konstitutiv bescheinigt Diederichsen dem Wutbürger eine Nichtverortung, ein Verlorensein zwischen Gesetz und Willkür und dem diffusen Gefühl einer Ausgeliefertheit gegenüber einer Macht, der der Grund für seine hilflose, ungerichtete Wut ist. Anschaulich macht er das anhand der Wut des Fahrrad-Nazis, der im Machtkampf auf der Straße unterzugehen droht und glaubt, sich gegen jeden durchsetzen zu müssen:

„Der wütende Bürger glaubt ebenfalls nicht an die Garantierbarkeit seiner Rechte. Wie beim Fahrrad-Nazi liegt das daran, dass er dazwischen steht: Da er aus Erfahrung weiß, wie leicht es ist, an den Rechten der unter ihm Stehenden (oder an seinem Gewissen) vorbei auf diese zu treten, weiß er auch, wie leicht es sich die machen könnten, die stärker sind als er. Er kann sich weder ganz auf Willkür verlassen, weil er zu schwach ist, noch aufs Recht, weil ihn seine relative Stärke retten könnte. So fällt er aus einer Position, aus der er streiten könnte, und wird wütend. Seine Wut ist die aus dem stabilen Streit herausgefallene Unsicherheit über seinen wahren Status und den seiner Antipoden. Ist um mich herum Recht oder Chaos?“

Das Gefühl, sich sein Recht überall erkämpfen zu müssen, resultiert für den Wutbürger also aus der eigenen Erfahrung, sich immer dort alles – notfalls gewaltsam – anzueignen, wo man sich selber in der Machtposition wähnt. Seine Angst und seine Wut ist also eine extrem verräterisch, selbstspiegelnde:

„Er sieht immer nur punktuell seine Rechte in Gefahr und weiß, dass ihm genau an diesem Gefahrenpunkt dieselbe Wut droht, zu der er selber fähig ist: ob von bürokratisch unfassbar gewordenen Herrschenden, Spekulanten oder superfertilen Migrantenmassen, die »Wanderers Nachtlied« nicht schätzen.“

Die German Angst und das Atom

Nur wenig später wurde mir ein weiterer furioser Text in die Timeline gespült, der mit ersteren irgendwie unterirdisch verwandt ist, zumindest die zentralen Prämissen teilt.

Arno Widmann macht sich in einem längeren Stück daran, das was mal mehr mal weniger berechtigt die „German Angst“ bezeichnet wird zu analysieren. Natürlich, räumt er ein, haben die Deutschen mehr Angst vor der Atomkraft, als die Bewohner anderer Länder, wie man ja derzeit gut beobachten kann. Diese Angst aber habe eine Geschichte und seinen berechtigten Sinn.

Dazu führt er die Formel des großen Kriegsphilosophen Donald Rumsfeld an, dass es eben neben dem Bekannten und dem Unbekannten, von dem wir wissen, dass wir es nicht kennen, noch dasjenige Unbekannte gäbe, von dem wir nicht wissen können. In Fukushima beispielsweise waren allerlei bekannte Gefahren und bekannte unbekannte Gefahren eingeplant. Sprich: die Erdbebensicherheit der Atomkraftwerke wurde für die übliche Stärke ausgelegt aber es konnte niemand ahnen (das unbekannte Unbekannte) dass neben einem noch viel stärkeren Erdbeben auch noch gleichzeitig ein Tsunami alle Kühlsysteme zerstören würde. Das unbekannte Unbekannte ist eben nicht beherrschbar, nicht kalkulierbar, es ist die Zukunft selbst. Das unbekannte Unbekannte sei aber auch eine Erfahrung, die wir Deutsche nur zu gut kennen:

„Die „German Angst“ ist das, was sich damit nicht beruhigen lässt. Die Erfahrung, dass, wenn wir uns selbst so unbekannt sind wie sich erwiesen hat, wir niemals so tun können, als gäbe es nicht hinter all den bekannten Bekannten und den bekannten Unbekannten nicht doch noch unbekannte Unbekannte. Wir haben nicht nur die Erfahrung gemacht, dass mit uns nicht – und darum mit niemandem und mit nichts – zu rechnen ist. Wir haben diese Erfahrung verinnerlicht, in ein Gefühl überführt, das uns bewahrt vor gar zu großer Gewissheit über den Gang der Geschichte.“

Die Unsicherheit um das unbekannte Unbekannte herum ist so groß, dass Kernenergie eigentlich nicht zu verantworten ist. Deswegen, so Widmann, sei die „German Angst“ etwas sehr berechtigtes und zu begrüßendes. Es ist im Grunde die Angst vor sich selbst:

„Wir wappnen uns stets nur gegen die Gefahren, die wir kennen, und da ist noch die andere Erfahrung, die gravierendste von allen. Die Erfahrung, dass wir uns nicht wappnen können gegen unseren größten Feind, gegen uns selbst. Wir wollen das vergessen. Wir wollen ihn loswerden, den Blick in den Abgrund, der wir selber sind.“

Der German Wut-Angst-Bürger

Vielleicht hat man die argumentative Verschränkung der beiden Analysen schon bemerkt? Ich fand sie jedenfalls bezeichnend. Die „German Angst“ und die Wut des Wutbürgers treffen sich auf zwei entscheidenden Ebenen:

1. Die generelle Ungerichtetheit der Wut/Angst. Die Angst, wo sie sich auf das unbekannte Unbekannte richtet, verliert dabei natürlich ihr Sujet. Sie wird diffus, zerstäubt sich im radikal Unbekannten und fällt damit aus jedem Rechtfertigungszwang und aus jedem Streit, aus jeder Argumentation heraus, ebenso wie es Diederichsen es für die Wut diagnostiziert.

2. Die Angst wie die Wut speisen sich aus der Erfahrung der eigenen Tyrannei. Diederichsen Wutbürger lehnt sich gegen die Mächtigeren vor allem aus dem Bewusstsein auf, wie er selbst als der Mächtige seine Macht zum eigenen Vorteil missbrauchte oder missbrauchen würde. Den selben Moment des Bewusstseins der Schuld und der Tyrannei steckt laut Widmann natürlich auch hinter der German Angst, die bezogen auf das Tätersein und das Täterseinkönnen der Welt und der Macht misstraut. Das radikal Unbekannte ist das radikal Unbekannte in uns selbst und damit auch das radikal böse.

Streetview und der Kontrollverlust

Der Wutbürger und die German Angst steckten unschwer zu erkennen auch hinter den 244.237 Widerprüchen gegen Google Street View und vermutlich hinter der ganzen aufgeregten Datenschutzdebatte in Deutschland. Da wären die Bürger, die sich eben auch nicht ihrer Rechte sicher sind und sie deswegen auch da durchzusetzen versuchen, wo sie gar keinen Anspruch darauf haben, sich aber diffus bedroht fühlen. Das Recht auf Privatheit wird auch da eingefordert, wo sie keine Grundlage hat: im öffentlichen Raum. Auch wurde in den Diskussionen immer wieder offenbar, dass es eher um ein diffuses Bedrohungsszenario gegenüber einem vermeintlich mächtigeren Gegner (Google) handelt, dass diese Wut schürte.

Die Angst vor der Datensammelei des mächtig empfundenen Gegners wird auch deshalb als Bedrohlich empfunden, weil Daten nicht nur das bekannte unbekannte, sondern auch sehr anschaulich das unbekannte Unbekannte sind. Der Kontrollverlust ist die Definition des unbekannten Unbekannte der Daten, ihre heute noch unbekannten Möglichkeiten in der Zukunft, ihre Verknüpfbarkeit mit anderen Daten und somit ihre unendliche Aussagekraft die zu keinem Zeitpunkt X eingegrenzt werden kann. Die Unbekanntheit, die sich nur noch auf den Anderen als radikal anderen beziehen kann, weil er es ist (eher: sein wird), der die Fragen (Querys) stellt.

Das Misstrauen gegenüber dem Anderen wiederum – das machen ja sowohl Diederichsen und Widmann klar – ist in Wirklichkeit das Misstrauen sich selbst gegenüber. Man misstraut sich selbst, wegen der (kollektiven) Vergangenheit im Nazireich oder der zeitweisen individuellen Verwandlung zum „Fahrrad-Nazi“. Man weiß deswegen, dass man selbst nicht vertrauenswürdig ist. Und wenn ich es nicht bin, dann ist es der Andere erst recht nicht und gehört bekämpft.

Im Gegenteil! – würde ich hier ergänzen. Ich identifiziere im Anderen das Arschloch/den Nazi, für das ich mich selbst halte, vor allem und in erster Linie, um mich von mir selbst abzulenken. Indem ich dem Anderen diese Rolle zuweise und ihn symbolisch bekämpfe, kann ich mir einbilden auf der „guten Seite“ zu sein. Dann bin ich das Opfer. Egal ob Bahn und Mappus bei S21, die böse „Atommafia“ oder Google – bishin zu den „faschistischen Moslems“ – sie taugen jeweils als Feindbilder gegen die ich mich als der gute, aber hilflose, ausgelieferte Widerpart inszenieren kann. Und zwar auch vor mir selbst inszenieren.

Der unbekannte Andere als Chance

Nun vertrete ich ja die Position in Sachen Daten, dass jenes unbekannte Unbekannte eben nicht per se schlecht sein muss. Dass in dem radikal Unbekannten der Daten ungeahnte Chancen stecken, die es auszuloten gilt. Dass wir, weil wir diese Chancen noch gar nicht kennen können, kein Recht haben, diesen potentiellen Schatz, den die Daten beherbergen, oder in Zukunft beherbergen werden, vorzeitig zu vernichten oder unzugänglich zu machen. Dass es im Gegenteil das radikale Recht dieses unbekannten Anderen sein muss, zu entscheiden, wie er Daten bewertet. Es ist also quasi die direkte Antithese zu der German Angst und dem Wutbürger.

Wie kann ich es also wagen, eine positive Zukunfterwartung zu hegen? Wie kann ich dem Anderen nicht nur Vertrauen, sondern ihm das radikale Recht auf die Bewertung und Nutzung von Daten – meinen Daten – einräumen? (und auch vor der Atomkraft habe ich nicht sooo eine große Angst.) Bin ich total naiv? Habe ich denn nichts gelernt, aus der Geschichte? Jede Technologie kann schließlich zur Waffe des nächsten Nazis werden (Der Datenschutzdiskurs beruft sich tatsächlich auffallend oft genau auf dieses Argument). Also müssen wir die Technologien doch verhindern!

Ich glaube, am Anfang allen Hasses stehen Angst und Wut. Das zeigt vor allem auch der Diskurs des Thilo Sarrazin sehr deutlich, der eben dieser German Angst und der Wut eine gefährliche Richtung zu geben wußte. Ich halte es deswegen grundsätzlich für die falsche Strategie, sich selbst und allen anderen zu misstrauen. Misstrauen verhindert keine Thilo Sarrazins, sondern züchtet sie. Ich glaube, ein Klima der Angst und der frei schwebenden Wut ist nicht hilfreich eben das zu verhindern, wogegen sich die Angst richtet. Ich glaube, man sollte seine Technologien – die Risiken und die Chancen – nüchtern betrachten, ohne überall den bösen Nazi (oder related) aufblitzen zu sehen oder eine Verschwörung zu wittern. Man sollte seine Angst und auch seine Wut jederzeit kritisch hinterfragen.

Ich würde lieber den Hass, als die Technologien verhindern. Und da braucht man gar nicht mal für auf die Straße gehen, sondern kann prima bei sich selbst anfangen.

Sowas alles

Witzig, wie auf einmal das Thema Kontrollverlust/Post-Privacy in aller Munde ist, dank der Spackeria. Auf CRTL-Verlust habe ich meine Einschätzungen dazu mal aufgeschrieben.

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Ebenso habe ich schon bei unserem letzten Podcast wmr19 auf auf die Spackeria hingewiesen. Apropos Podcast. Max und ich machen uns selbstständig. Mit anderen Worten: wir sparen auf eigenes Equipment. Das ist alles furchtbar teuer, weswegen wir zu Spenden aufgerufen haben. Das wird alles zwar trotzdem nicht reichen und wir werden wohl oder übel was drauf legen müssen, dennoch würden wir uns über jede Spende freuen.

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Und dann noch eine Ankündigung:

Nächste Woche bin ich wieder mal in Köln. Diesmal auf einer Konferenz. Auf dem World Business Dialogue, einer Art studentisch organinisiertem Weltwirtschaftsforum sitze ich auf einem Pannel zu dem Thema: „Modern Communication- The βετα Way to Talk„. Ist also ein englischsprachiges Pannel, was mich etwas ängstigt, denn mein Englisch ist so … naja.

Und das auch noch mit so wichtig, mega-wichtigen Leuten wie Dr. Dorothee Ritz, Mitglied der Geschäftsführung Microsoft Deutschland, Herr Prof. Dr. Dr. h.c. mult. August-Wilhelm Scheer, Präsident der BITKOM und Vize Präsident des BDI sowie Herr Jochen Schmalholz, Head of Marketing Innovations der BMW Group. Uff!

Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht ob es einen Livestream oder eine Aufzeichnung geben wird[die Orga meldet sich in den Kommentaren: es wird einen Livestream geben – vermutlich einfach die Website checken], wer aber meine Angstschweißperlen einzeln abzählen will, kann ja am Mittwoch den 16. März einfach vorbei kommen.

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Und noch ne Ankündigung:

Für die re:publica habe ich auch schon eine Zusage. Da werde ich einen Talk halten über – na was? – den Kontrollverlust. Insgesamt schwebt mir vor, mal eine kohärente Thesensammlung zum Kontrollverlust vorzulegen. Endlich! Außerdem wieder dabei: Twitterlesung! Auch da wollen wir uns noch was spezielles ausdenken. Anregungen bitte in die Kommentare.

Facebookerei

Um Facebook zu retten (!!!), habe ich mich herabgelassen (!!!), auf Facebook eine Page (mspr0.de) einzurichten und hier Facebook-like-buttons eingedingst.

Die Überlegung ist einfach: Facebook ist derzeit der beste Online-Link in den tiefsten Kern der Bevölkerung. Facebook ist von allen Diensten am repräsentativsten. Und zwar eigentlich aller Bevölkerungen weltweit.

Wenn man einen Diskurs und eine Meinung überhaupt mal aus dem kleinen Onlinergehege hier herausheben will, wenn man mal die „normalen Menschen“ erreichen will, dann wird man an Facebook nicht vorbei kommen. Ich persönlich halte das für wichtig. Ich schreibe um zu überzeugen. Und zwar möglichst jeden. Und wenn nicht, will ich von möglichst allen anderen beschimpft werden. Hauptsache, sie merken, dass es da noch diese anderen Argumente gibt.

Also tut mir einen Gefallen: liked, shared und linkt was das Zeug hält. Hier zum Beispiel. Damit man eine Chance hat, durchzudringen.

Eine kleine Geschichte des politischen Internets

1969: Das amerikanische Militär gibt ein paar Hippie-Wissenschaftlern den Auftrag das Internet zu bauen.

1993: Tim Berners Lee macht das Internet klickbar und viele glauben nun das Internet sei eigentlich ein Shoppingcenter.

1996: John Perry Barlows Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace verhallt ungehört.

2001. Das Shoppingcenter ist pleite.

2005: Tim O’Reilly ruft das Web 2.0 aus – Das Internet soll nun die Menschen verbinden.

2009: Spätestens seit den Netzsperren-Kampagnen wird das Web von allerlei technikaffinen Utopisten, Weltverbesserern, meist mit Hochschulabschluss und eher links-liberal eingestellten Menschen bevölkert und und von diesen als der intellektuelle Zukunftsort der partizipativen Demokratie angesehen. Es wird in Stellung gebracht als „Gegenöffentlichkeit“ zu den „gleichgeschalteten“ „Mainstreammedien“ (also viel zu konservativen), die ja gar nicht mehr das „Volk“ (das sie selbst sind), sondern höchstens noch die Interessen der „Wirtschaft“ (also alle anderen) repräsentieren. Das aber sei jetzt vorbei (HAHA!), denn nun darf jeder ein Sender sein (Bätsch). Jeder hat eine Stimme. Das Volk wird sich jetzt einfach äußern, ob es den Mächtigen oder Politikern passt oder nicht.

2011: Das Volk kommt und äußert sich.

2012: Wir werden uns noch wünschen, sie wären internetverdrossen.

Das Netz und zu Guttenberg

Während Robin Meyer-Lucht in das große Horn des Netzes stößt und Netzpolitik vorsichtig relativiert, hier meine dritte Meinung.

Ich gebe Markus eher recht, wenn er sagt, dass das Netz hier vor allem durch GuttenPlag eine große Rolle spielte aber die klassischen Medien noch eher den Ausschlag gaben. Bzw. das Zusammenspiel dieser beiden Elemente war sicher entscheidend. (Unsere gesammelte Twitterempörung hingehen ist wohl vernachlässigbar angesichts der Mediensturms von FAZ, Sueddeutsche und dem Spiegel) Aber letztendlich – da bin ich mir sicher – war es doch der verlorene Rückhalt in den eigenen Reihen und in der bürgerlichen Basis, der den Ausschlag gab. Aber darauf wollte ich gar nicht hinaus.

Denn das Netz spielte natürliche eine Rolle und zwar eine große Rolle, größer als bei jedem anderen politischen Skandal in Deutschland. Größer als eine Rolle, viel größer. Nämlich mindestens zwei Rollen.

Es gab ja eben nicht nur GuttenPlag und die #guttbye Kampagne, sondern ebenso die ProGuttenberg-Facebookgruppe, die so wahnsinnig erfolgreich war, dass die Netzsprerrenpetition von 2009 fast lachhaft dagegen wirkt. Und das ist in der Tat neu: auch die andere Seite war diesmal massiv im Netz präsent und hat eine effektive Kampagne gefahren. Das ist eine Zäsur im deutschen Internet.

Das Netz forderte diesmal nichts, das Netz meinte diesmal nichts und das Netz brachte auch nichts zu stande. „Das Netz“ als – zumindest von außen – irgendwie homogen aussehender Meinungsraum, gibt es nicht mehr. Nicht mal mehr für den einfältigsten Journalisten.

Das Netz ist in der Gesellschaft angekommen, so könnte man sagen. Es sind nicht mehr nur ein paar Nerds und Spinner, die sich hier austoben. Es sind auch nicht mehr eher „Linke“ oder „Intellektuelle“, die sich hier rumtreiben. Das Netz wird nicht mehr – nicht mal mehr vorwiegend – von Akademikern, Technikern, Utopisten und Weltverbesserern bevölkert, sondern von allen Schichten, Bildungen, Berufen und politischen Einstellungen. Das Netz wird zunehmend repräsentativ.

Das wird enorme Folgen haben. Es gibt jetzt endgültig kein „Wir“ des Netzes mehr geben. Die andere Seite wird ebenso heftige und demnächst vielleicht auch erfolgreiche Kampagnen starten. Vielleicht demnächst für Netzsperren oder ähnlichen Kram? Mit allem ist zu rechnen. „Wir“ sind jedenfalls nicht mehr allein.

Guttenberg, die Uni und das ganze andere Gelöt

Kurz bevor ich hier gleich übel über die Universiät als Institution herziehen werde, will ich eine Podcast-Empfehlung loswerden.

Schon länger höre ich das „Philosophische Radio“ von WDR5. Das ist mal mehr, mal weniger gut, je nach Gast. Ist der Gast interessant, werden aufschlussreiche Gespräche über Themen geführt, über die man noch nie nachgedacht hat und man auch nie dachte, welch tiefe Gedanken sich hinter Themen wir „Staub“ oder „Warten“ verbergen können.

Der Grund für die Empfehlung heute ist aber ein anderer. Martin Warnke war zuletzt zu Gast und redet über ein Buch, dass er geschrieben hatte, von dem ich gar nichts wusste. Von dem ich aber hätte wissen können, denn ich war länger sein Student an der Universität-Lüneburg. Die thematischen Schwerpunkte in seinen Seminaren und der von ihm mitorganisierten Konferenz Hyperkult haben zum Großteil die Grundlagen dessen gelegt, mit dem ich mich bis heute beschäftige. Jedenfalls war dieser Martin Warnke nun auch da und das, was dabei rausgekommen ist, ist schon sehr hörenswert.

In seinem Buch hat er nun, wie es scheint, andere und seine eigenen „Theorien des Internet“ aufgeschrieben, die ich damals noch in ihrer Entstehung an der Uni miterlebte und die auch sehr interessant im Bezug auf den Kontrollverlust sind.

Er teilt die Entwicklung des Computers in drei Phasen ein:

In der „Synthese“ ist der Umgang mit dem Rechner noch ein Experimentierkasten der Wissenschaft, in der wohlgeformte, vorher festgelegte Dinge passierten. In der Phase der „Mimesis“ entwickelt die Technik immer mehr Schnittstellen nach außen, läd die Menschen zur Interaktion ein. Aufgabe des Computers ist es, vorhandene Technologien zu ersetzen oder nachzuahmen. Also von Compuserve bis quasi heute. Interessant ist, dass Warnke die letzte Phase, die der „Emergenz“ durchaus im Jetzt ansiedelt. Es ist eigentlich gar nichts mehr vorhersagbar, das Netz entwickelt sich irgendwie und jedes mal neu, ganz ohne Vorbild, ohne dass es noch irgendeine bewusst steuernde Kraft gibt, oder jemand, der den Überblick behält. Man könnte also sagen, dass es die Phase des Kontrollverlustes ist, im großen wie im kleinen. (Ich hatte eh vor, die Kontrollverlusttheorie langfristig in Richtung einer (kleinen) technologischen Singularität zu denken. Gleich mehr …)

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Ich verdanke der Universität eine ganze Menge. Ich habe damals Kulturwissenschaften in Lüneburg studiert und ich habe es seit dem nicht ein einziges Mal bereut.

Klar, ich kam zwar schon als recht nachdenklicher Mensch zur Uni, aber das Nachdenken droht sich ja immer schnell sich in den eigenen Kreisen festzuzirkeln und ich bin von dieser Gefahr – ich sage mal – überdurchschnittlich stark bedroht. So war die Uni für mich erstmal ein Tor. Ein riesiges Tor zu neuem Wissen. Aber eben nur ein Tor, durch das man selbst gehen musste, wenn man es denn wollte.

Man darf sich da aber kein falsches Bild machen. Ich habe viel gelernt an der Uni, aber nicht alles, was ich während der Uni gelernt habe, habe ich für Seminare gepaukt. Nein, die Universität – wie ich sie erfahren habe (aber da hat sich ja durch Bologna einiges verändert) war kein Garant für Wissen. Ich bin mir sicher, ich hätte von jeglichem Wissen unbeleckt und bar aller Interessen meinen Abschluss machen können. Ich kenne Leute, die es schafften ohne jeglichen nennenswerten Imput als Kulturwissenschafter eine beachtliche Abschlussnote zu bekommen. Man kann sich prima durchmogeln und man muss noch nicht mal besonders intelligent dafür sein. Die Universität ist ein großartige Möglichkeit der Wissensaneignung. Die Strukturen, die Seminare, die Bibliothek, die Dozenten sind aber alle nur ein Angebot, das man annehmen kann oder nicht. Viele meiner Kommilitonen sahen die paar vorgegebenen Möglichkeiten nur als Hürde, die es zu nehmen gilt, auf dem Weg zur eigentlichen Karriere. Und ja, auch das funktioniert.

Ich habe nach Neigung und ich habe lange und ausgiebig studiert. 14 Semester, wenn ich mich richtig erinnere, allerdings mit Studienfachwechsel zwischendrin. Ich habe Theorien aufgesogen, Bücher gewälzt und mich in Gedanken verstrickt – nicht um Scheine zu machen (das auch, ich war pragmatisch genug, da ein bisschen drauf zu achten) aber in erster Linie, weil mich der Stoff interessierte, weil ich darin aufging, weil ich die Welt verstehen wollte. Das relativ freie Studium damals ermöglichte mir diese Art zu studieren, gleichzeitig ermöglichte es anderen, relativ leicht ihre wenigen Scheine zu sammeln. Für mich war das freie Studium gut, die Universität war eine große Bereicherung in meinem Leben und sie war für mich eine größere Bereicherung, als für die, die nur auf den Abschluss schielten. Es ist mir egal, ob sie mit weniger Aufwand und schneller ihren Abschluss machten, denn darum ging es mir nicht.

Aber nach der Uni entdeckte ich aber eine andere Form der Wissenssammlung und -generierung und -austauschs für mich: das Internet. Und im Gegensatz zu den Universitäten ist hier Platz für alle. Hier braucht man keinen Numerus Clausus, nicht mal Abitur um sich an diesem unendlichen Wissensschatz zu bereichern. Alle sind frei hier zu lesen und wichtiger: teilzunehmen am Diskurs, an jedem Diskurs. Hier existieren keine Abschlüsse und keine Grade, sondern wie es Habermas formulierte, „der zwanglose Zwang des besseren Arguments und das Motiv der kooperativen Wahrheitssuche„. Naja, nicht ganz. Hier gilt natürlich auch die Rhetorik und die Lautstärke eine Menge, aber eben keine Titel, Grade oder sonstiges institutionalisiertes kulturelles Kapital. Keiner erwartet einen Ausweis, dafür, dass man sich äußern darf. Ich empfinde das als sehr angenehm, denn obwohl ich immer gerne von der Elite fasele, bin ich ein sehr egalitärer Mensch. Aber dazu später.

Diese Parallelstruktur des Internets für Wissen und Austausch aller Art stellt die Universität als Institution natürlich auch in Frage, denn sie ist zumindest nicht mehr die einzige, und meiner Meinung nach nicht mal mehr die beste Lösung für das gesellschaftliche Problem der „Wissensakkumulation„. Im Elfenbeinturm der so genannten „Geisteswissenschaften“ hat man sich lange eingemauert gegen diese Erkenntnis und tut das bisweilen gerne bis heute. Diese Cordjackettigkeit will schon lange niemanden mehr außerhalb der Unimauern beeindrucken, sondern kreist zunehmend nur noch um sich selbst. Sie hat sich damit abgefunden keinerlei gesellschaftliche Rolle mehr zu spielen und die Universität hat eine Menge Schuld daran.

Ich gehöre nicht zu den Leuten, die meinen, dass die Wissenschaft sich und ihre Leistungen jederzeit in Geld aufwiegen können soll, aber ich glaube schon, dass es durchaus zu hinterfragen gilt, ob sich eine Gesellschaft eine bestimmte Art von Wissenschaft leisten soll, die nur sich selbst genügt. Vielleicht sogar ja, wenn wir keine Alternative hätten. Wenn hinter den Unimauern doch noch hier und da eine nützliche Theorie oder wichtige Beobachtung gemacht wird, was ganz sicher der Fall ist, dann reicht das so lange aus, bis es bessere und effektivere Strukturen dafür gibt. Und die gibt es, meiner Meinung nach.

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Deswegen bin ich nicht wirklich traurig darüber, wie der zu Guttenberg grinsend die Wissenschaft schändet. Wie die ganze Bundesregierung die Universität, ihre Grade und ihren Habitus demütigt und durch den Dreck schleift, beobachte ich nicht ohne etwas Schadenfreude. Noch schlimmer: ich kann durchaus nachvollziehen, wenn die gesammelte Bildleserschaft im Doktortitel ein lässliches, weltfremdes und unwichtiges Emblem vermutet. Denn damit hat sie ganz ohne Frage recht.

Mir geht es bei Guttenberg um etwas anderes: Ich bin der Meinung, dass zu Guttenberg als entlarvter Betrüger und Hochstapler kein Bundesminister sein darf. Die selbe Meinung hätte ich, wenn er Jamba-Abos vertikt oder die Steuer hinterzogen hätte. Wenn man erstmal anfängt, offensichtliche Charakterlosigkeit in höchsten gesellschaftlichen Führungspositionen durchgehen zu lassen, hat die Gesellschaft ein Problem. Ein berlusconiesques Problem.

Und deswegen bin ich Guttenberg auch auf eine gewisse Art und Weise dankbar. Er hat quasi als Karikatur vorgeführt, wie die Wissenschaft funktioniert, wozu Doktorgrade heutzutage da sind und was sie wert sind oder sein sollten. Diese Demütigung ist zwar in ihrer Heftigkeit nicht repräsentativ – in Bayreuth wird anscheinend schlimmer geschlampt und gevetternwirtschaftet als üblich – aber die Tendez stimmt. Die Universität und die Wissenschaft muss sich jetzt zurecht fragen, ob sie denn gesellschaftlich überhaupt noch die Rolle und die Stellung hat, die sie immer dachte zu haben – und die sie ja auch noch heftig beansprucht. Und sie muss sich die Frage gefallen lassen, womit sie diesen Anspruch eigentlich verdient haben sollte. Das zu beantworten wird ihr schwerer fallen, als sie glaubt. Fuck Häberle! Kein Mitleid!

Bezeichnend hierfür finde ich den Katzenjammer von Heribert Prantl in der Süddeutschen letztes Wochenende. Wie der jetzt rumheult, weil Häberle, einer seiner geliebten Ikonen des Verfassungsrechts nun als gefallener Engel darsteht und wie er ihn verzweifelt von jedem Vorwurf reinzuwaschen versucht. Vergeblich. Prantls Tränen zeugen in der Tat von kaum weniger Realitätsverlust, als die bedingungslose Treue der Bildleser zu Guttenberg. Hier wie dort ist das geliebte Idol gefallen und man will es einfach nicht wahrhaben.

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Ein weiterer Effekt ist die Demütigung des Bildungsbürgers. Der Bildungsbürger ist eine Erzählung, die eigentlich eine deutsche Mutation des Tellerwäscher-Millionär-Memes aus den USA ist. Sie geht so: Wenn du recht fleißig bist, rechtschaffen und dich vor allem bildest, dann wirst du auch gesellschaftlich aufsteigen, wirst dein Geld verdienen etc. Diese Ideologie ist recht tief verankert, vor allem bei den Konservativen. Klar, denn diese Ideologie legitimiert jegliches Bessergestelltsein gegenüber der restlichen Bevölkerung durch die so genannte „Leistung„. Es braucht nicht viel Phantasie, sich vorzustellen, dass jemand, der es zu etwas gebracht hat, sich und anderen genau das um so lieber einredet. Ist ja irgendwie auch menschlich. Naja, jedenfalls abstrahiert vom Einzelnen und aufgeputscht zu einer Ideologie, nennt man das dann „Bürgerlichkeit“.

Die hat übrigens eine fast „subversive“ Tradition, denn der „Bürger“ ist jemand, der sich einst durch die Selbstdefinition qua Leistung als Gegenmodell zum Adel verstand, der sich ja wiederum durch den angeborenen Stand legitimiert. Es ist also durchaus in dieser Tradition, dass Jan Fleischhauer den „Bürger“ und die „Bürgerlichkeit“ von der Guttenbergaffaire schadlos halten will, indem er Guttenbergs Fehlleistung als „typisch Adel“ darstellt. Diese Argumentation wäre auch durchaus schlüssig. Vor ca. 100 Jahren. Heute versteht sich der Adel (oder das was von ihm übrig ist) durchaus als „bürgerlich“, sonst hätte Gutti schließlich auch nicht so sehr nach dem Doktortitel gestrebt. Sowohl in Sachen Adels- als auch Doktor-titeln ist die Union unter den Parteien schließlich führend.

Es braucht nicht so besonders viel Lebenserfahrung, um zu begreifen, dass das Vesprechen des Bürgers und des Bildunsgsbürgers quatsch ist. Geld verdient man mit perfieden Methoden, die am rande der Legalität und jenseits der Moralität angesiedelt sind immer noch am besten. Stumpf gewinnt da meist gegen intelligent. Wer hat, dem wird gegeben und die, die am meisten arbeiten bringen oft das wenigste Geld mit nach Hause. Nietzsche würde sagen, das sei eine „Sklavenmoral“. Eine Moral, die als Erzählung die „kleinen Leute“ dazu bringt, sich mit den gegeben Umständen anzufreunden. Eine Ideologie, die einerseits dazu dient, dass die Armen diesen Werten weiter hinterher rennen, während genau diese Werte ihren Wohlstand verhindern und gleichzeitig als Rechtfertigung für die Reichen dient. „Mein Wohlstand ist rechtschaffen verdient. Schau her, ich habe sogar einen Doktorgrad!

Natürlich stimmt es, dass man mit einem guten Abschluss bessere Chancen auf dem Jobmarkt hat. Aber 1.) muss man nicht erst die Pisa-Studie oder zu Guttenberg herziehen, um zu erkennen, dass in der Schule wie in der Universität sozial gesiebt und bevorteilt wird, was das Zeug hält. Und 2.) ist schon der Zugang zur Universität jenseits des Schulsystem und den Studiengebüren eine Hürde, die sozial schwächere nur schwerlich nehmen können. Weil ihnen etwas ganz entscheidendes fehlt.

Pierre Bourdieu hat in 70ern gezeigt, dass die Herkunft über ganz spezielle, kaum sichtbare Mechanismen die Machtstellung in der Gesellschaft beeinflusst. Es geht eben nicht nur um Einkommen oder Kapital im ökonomischen Sinne. Macht wird zuweilen viel subtiler weitergegeben. Er unterscheidet neben dem ökonomischen noch das kulturelle und das soziale Kapital. Das kulturelle – und hier insbesondere das inkorporierte kulturelle Kapital – ist das Rüstzeug dafür z.B. eine akademische Karriere überhaupt wollen zu können. Nur wenn man schon in einem Haushalt aufgewachsen ist, in dem Bildung viel gilt, begreift man Bildung als Wert ansich, den es anzustreben gilt. Und erst wenn man mit Kunst und Musik seit seiner Kindheit in Berührung gebracht wird, bekommt man einen leichten einen Zugang dazu. Und erst, wenn man in einem Haushalt aufgewachsen ist, in dem bei Tisch lebhaft diskutiert wurde, wird man Diskussionen auch in seinem weiteren Leben als sinnvoll ansehen. Man entwickelt von Kindheit auf etwas, was bei Bourdieu „Habitus“ heißt. Eine gewisse Selbstsicherheit und Selbstverständlichkeit im Umgang mit bestimmten Dingen, die man kaum nachträglich erlernen kann.

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Das, was wir derzeit zu sehen bekommen, ist das letzte Aufbäumen einer Art Klasse, deren Macht sich auf BILD, BAMS und Glotze stützte, wie es Gerhard Schröder mal so schön formulierte. Aber das stimmt natürlich nicht. Die Macht stützt sich auf so viel mehr: institutionelle Bildung, Wertekanon, Aufstiegsversprechen, Autofetisch, Bausparvertrag, Eigenheim, Urlaubsbedürfnisse, Lohnarbeit, Leistungsgedanke, Ehegattensplitting, Kunst-Museen, Theater und auch Doktortitel – und natürlich Habitus. BILD, Bams und Glotze sind nur ihre Propheten. (Guttenberg hat übrigens einen ganz bemerkenswert ausgeprägten Habitus, was sicher ein Grund für die bedingungslose Treue seiner Fans ist. Das muss die UntertanenDNA sein, die sich da Bahn bricht…)

Nichts destotrotz bröckelt diese Macht. Die Elite, ihre Werte und Versprechungen sind nicht mehr glaubwürdig. Die Institutionen verfallen in dem Maße, wie sie obsolet werden. Und im Windschatten dieses Prozesses, bildet sich eben eine neue Elite, mit neuen Werten. Welche das sein werden, kann man derzeit nur erahnen. Doch der habituelle Absetzungsprozess ist bereits im Gange. Ich habe ja die kulturelle Globalisierung sowie den Umgang mit der Technologie im Blick, die es ermöglicht, sich einerseits von der herkömmlichen Elite, als auch vom gemeinen Fußvolk abzusetzen. Beobachtbar ist auch die Abkehr von den oben genannten Pfeilern der Bürgerlichkeit, alleine schon, weil sie teilweise schon ganz absehbar keine Zukunft mehr haben werden. Diese Dinge passieren natürlich kaum bewusst. Man orientiert sich und klar, klopft man hier und da ab, welche Ideen oder Institutionen zukunftsträchtig sind, welche nicht. Um zu sehen, welche Werte eine künftige Elite in etwa haben wird, muss man sich eigentlich nur die Bürgerkinder angucken.

Gehen wir ruhig von einer, nein, von mehreren Verschwörungen aus. Und nehmen wir uns doch der Einfachheit halber die Definition herbei, die uns Julien Assange gegeben hat. Dass nämlich jede Verschwörung ein Netzwerk der Vertraulichkeit ist, ein Netzwerk, das – zumindest in erster Linie – unter einander kommuniziert und das kommuniziert, ohne dass die Außenwelt hier die selben Informationen prozessieren kann, wie die Mitglieder eines solchen Netzwerkes.

Das muss alles nicht bewusst ablaufen. Netzwerke entstehen nicht wirklich intentional. Soziale Strukturen verfilzen automatisch, sie streben dahin. Vor allem dann, wenn sie sich kulturelle Praktiken aneignen, die in ihrer Zugänglichkeit beschränkt sind. In einem bourdieuschen Sinne zugangsbeschränkt, meine ich. Die Verschwörung von der ich rede, geht nicht nur gegen das „Volk“ oder gegen den „Nationalstaat“ sondern gegen den „Bürger“ und damit auch gegen die alten Eliten.

Und genau so, wie Assange meint, diese Verschwörungsnetzwerke angreifen zu können, passiert es hier: durch das Streuen von Misstrauen innerhalb des Netzwerkes. Hier: die öffentliche Entwertung des Doktortitels. Nur brauchte es dafür gar kein Wikileaks. Wie praktisch!

Der Umbruch, den wir heute erleben ist radikal und Guttenberg ist nur sein Katalysator. Ich bin mir sicher, dass das Bildungsbürgertum alle Mittel und Wege beschreiten wird, Guttenberg zu stoppen. Viel zu viel steht für die aktuelle Elite noch auf dem Spiel. Das sind nicht nur gekränkte Werte, sondern handfeste Interessen, wie Franz Walter das so schön formuliert hat. Wenn die Doktorwürden auf das reduziert werden, was sie tatsächlich wert sind, dann wird vor allem das Bürgertum eine gesellschaftliche Inflation erfahren. Es sind ausgerechnet die Interessen von jenen in Gefahr, die die Union immer zu repräsentieren vorgab. Guttenberg wird gestoppt werden, aber nicht von uns, nicht von Links, sondern aus der eigenen Partei, bzw. dessen Basis.

Doch natürlich ist die Doktorblase längst geplatzt. Allein das Desinteresse des Volkes gegenüber Guttenbergs kleiner Schweinerei zeigt das allzu deutlich. Der Konflikt wird weitergehen und sich noch verschärfen und das erste Opfer ist die Union.

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Die nämlich steht momentan sowas von nackt da. Sie hat sich bei ihrer Kernwählerschaft auf die Knochen und für Jahre blamiert, nur um kurzfristig dem BILD-Pöbel zu gefallen. Das wird sie auf Jahre hinaus noch zu spüren bekommen. Andererseits hat die Union kaum eine andere Wahl, als genau das zu tun. Guttenberg ist war ihr einziges Rennpferd im Stall. Sein Charisma (oder Habitus) war der einzige strahlende Punkt innerhalb eines extrem schmucklosen Kanzlerinnenvereins. Hamburg hat geschmerzt, Baden-Württemberg wird schlimm und ohne Guttenberg noch viel schlimmer. Die Union, das kann man recht sicher konstatieren, steht so oder so mit dem Rücken zur Wand.

Der Union droht eine Krise, die nur noch mit 1999 zu vergleichen ist. Die Glaubwürdigkeit und jeder Rest an Integrität ist verspielt und sie hat auf diesem Weg nicht mal etwas nennenswertes zustande gebracht. Dazu der jämmerliche Koalitionspartner FDP, dem es kaum besser geht. Diese Regierung ist am Ende. Klar, das habe ich schon mal gesagt, damals mit Blick auf die Medien, die Merkel fallen ließen, aber diesmal ist es noch um einiges schlimmer und vor allem nachhaltiger. Das ist kein Stimmungstief mehr, da bricht gerade die Substanz weg. Nicht nur der mediale, sondern der komplette gesellschaftliche Rückhalt steht hier auf dem Spiel. Und das während die uns bekannte Welt da draußen auseinanderbricht, die Finanzkrise noch nicht verdaut ist und das Internet alle Machtverältnisse durcheinander wirbelt.

Aber die Zukunft des Konservatismus ist derzeit ganz gut in vielen Ländern zu beobachten. Den USA, Dänemark, den Niederlanden, Österreich und Italien, beispielsweise. Dort hat man jedes Wertekorsett abgelegt und fährt nur noch unter der Fahne des Populismus und der Niveaulosigkeit. Alles, was Wählerstimmen fängt, wird gemacht. Noch ist die Union nicht im ganzen soweit und ich glaube auch, dass es ein letztes Aufbäumen geben wird. Aber die Zukunft wird so sein, es sei denn eine andere Partei erledigt den Job. Rechts von der CDU.

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Wie ich bereits sagte. Dieses Jahr wird etwas – zumindest einiges – passieren. Bzw. es passiert schon was. Es ist in diesem jungen Jahr bereits viel mehr passiert, als im gesamten letzten Jahr zusammen genommen. Und es hört nicht auf. Alles destabilisiert sich, alles gerät aus dem Fugen. Alles, was bereits seit Jahren porös war, bei dem man aber immer sagte: das hält noch. All das ist irgendwie zu ende, stirbt, berstet, verfällt, wird verhöhnt, bricht auseinander.

Der Kontrollverlust ist eine kleine, technologische Singularität. Ein Punkt auf der Achse der Zeit, ab der die Dinge unvorhersehbar werden. Genauer: wo Informationen auf eine Art miteinander interagieren, die die Komplexität übersteigt, die man noch nachvollziehen kann. In der alles im wahrsten Sinne des Wortes, „verrückt“ wird. Aus dem Kontrollverlustmoment des Einzelnen wird der allgemeine Kontrollverlust. Alles strebt diesem Punkt zu, in einer sich beschleunigenden Welt mit sich beschleunigendem technischen Fortschritt mit sich beschleunigenden Ereignissen aber einem endlichen Menschen. Das, was Warnke Emergenz nennt, macht uns das Netz zu einem „Es“, das einfach da ist und das wir nicht mehr zu durchschauen im Stande sind. Das aber irgendwie funktioniert und Dinge tut und Ereignisse zeitigt, die wir nicht mehr verstehen, aber hinnehmen. Und wenn man ehrlich ist, fühlt es sich jetzt bereits ein bisschen so an.

Ich glaube nicht, dass der Punkt schon da ist. Wir sind nahe dran, aber das, was wir zu spüren bekommen sind nur die Ausläufer. Dennoch wird 2011 ein wichtiges Jahr markiert haben. Vielleicht das Jahr, an dem man den Blick nicht mehr von der Tatsache abwenden konnte, wie sehr sich die Welt gerade ändert und dass die alten Strukturen dem Druck nicht mehr stand hielten. 2011 ist ein Jahr des Endes für sehr vieles, soviel steht fest. Bisher ist aber noch nichts unter die Räder gekommen, was ich vermissen werde. Wobei ich natürlich nicht wissen kann, welch Rattenschwanz noch daran hängt, welche Dinge mit dem Bürgertum in den Abgrund gerissen werden und was ich dereinst vielleicht mal zurücksehnen werde. Aber wenn man das eh nicht wissen kann – denke ich mir – dann sollte man sich in so einer Situation nicht so viel Sorgen machen, sondern eher Poppkorn.