Ich war ja – hui, mittlerweile – vorletztes Wochenende auf der Openmind Konferenz (Hier mein Vortrag). Es war wie letztes Jahr eine anregende Mischung aus Wahnsinn und Diskurs und in einem angenehmen kleinen Rahmen. Und ich habe wieder viel gelernt.
Diesmal hab ich mich vor allem auch in die ad hoc eingerichteten BarCamp-Sessions gesetzt. Julia Schramm gab eine über den Genderdiskurs bei den Piraten, Christopher Lauer über mögliche Probleme bei dem Umgang der Piraten mit der Transparenz und Andreas Preiß über Post-Privacy als Strategie zum Umgang mit eigenen Schwächen.
Der Sessionraum war wirklich eng und bei schon geringer Überfüllung stickig wie ein Pumakäfig. Es war unangenehm. Aber irgendwie auch intim. Jedenfalls schien dieser enge Raum die Menschen in ihm um so mehr zu öffnen.
Zum Beispiel bei Julias Feminismussession. Im Gegenteil zu dem, wie das in Julias Rückschau rüberkommt, habe ich die Atmosphäre als sehr konstruktiv erlebt. Die Leute haben zwar nicht hochgeistiges und superinformiertes über Feminismus beredet, aber sie haben sehr offenherzig – ob richtige oder falsche, gefühlte oder reale – Konflikte benannt. Einer erzählte von seiner Kränkung durch Frauen, die ihn lange Zeit ignoriert hatten. Ein anderer, dass die Piratenpartei ihm auch als Schutzraum für Nerds wichtig war, den er durch den – gefühlt von außen an die Partei getragenen – Feminismusdiskurs bedroht sah. Ein Mädchen fand es toll, bei den Piraten endlich einen Platz gefunden zu haben, wo man sie endlich nicht wie ein Mädchen behandelt. Auch sie empfand die Betonung von Weiblichkeit – als den sie den Feminismus missverstand – als Eindringen in diesen Schutzraum.
Es hatte schon etwas von Gruppentherapie. Die Stimmung war nur wenig aggressiv, es wurden alle Anregungen, Gedanken und ausgesprochenen Gefühle offen zu Protokoll genommen. Ich war beeindruckt.
Die PostPrivacy-Session von Andreas Preis hat das noch einmal getoppt (hier sein Bericht). Er fing an von seiner Krankheit zu erzählen, von seinen Erlebnissen, seinem Klinikaufenthalt und wie es ihm geholfen hat, eben nicht darüber zu schweigen, sondern offen dazu zu stehen. Gleich darauf fühlten sich die anderen ebenfalls berufen über ihre eigenen psychischen Probleme zu sprechen und wie sie damit öffentlich umgehen. Julia wendete ein, dass sie ihre Probleme und den offenen Umgang damit – zum Beispiel in ihrem Blog – eben nicht als Schwäche, sondern als Stärke erlebe. Stark sein durch öffentliches Eingestehen von Andersheit. Oder eben Spezialität.
Wieder eine grandiose Session. Wieder eine Gruppentherapie bei der jeder sichtlich von der Offenheit des Anderen profitierte. Sogar Gero, FoeBud-gestählter Datenschützer, statte der Diskurs mit einer neuen Grundsympathie für die Ideen der Spackeria aus.
Bei mir bewirkte die Session aber das Gegenteil. Denn das, was ich dort jeweils erlebte, führte mir nicht in erster Linie die Macht der radikalen Transparenz vor Augen, sondern im Gegenteil – die Macht des Schutzraumes.
Die Menschen, die hier offen und selbstentblößend über ihre Probleme sprachen, taten dies nicht selten das erste Mal. Und sie taten es eben nicht in der „Öffentlichkeit“, was immer das heute heißt, sondern in einem Schutzraum. Einer kleinen Runde, von – so muss es sich angefühlt haben – wohlwollenden Menschen. Zumindest einige von ihnen hätten oder haben dies eben nicht auf Twitter oder einem Blog getan. Aber hier, in dieser Zwischenöffentlichkeit der Therapiegruppe.
Jeremy Rifkin hat in seinem Buch The Empathic Civilization die Gruppentherapie als einen der wichtigen Meilensteine auf dem Weg in die empathische Zivilisation beschrieben. Eine Gruppentherapie auf globaler Ebene, das wär’s.
Und in der Tat ist die Post-Privacy, wie sie Christian Heller in seinem Buch (gerade fertiggelesen) beschreibt, ja ein bisschen so. Das Internet verbindet die Menschen durch das Ugol’sche Gesetz in globale Therapie- naja, zumindest Neigungsgruppen.
Und ich glaube sogar, dass viele von uns in den Weiten des Internets genau eine solche Gruppentherapienähe verspürt haben. „Netzwärme„, wie Sascha Lobo sie kürzlich nannte. Und dass einem ein Chat, ein Forum und sogar Twitter bisweilen doch wie ein Schutzraum vorkommen kann, weil man sich – auch durch die Macht der Filtersouveränität – ja auch ein wohlgesonnenes Umfeld zurecht konfiguriert.
Ich glaube, auch Christopher Lauer hat dieses Gefühl verinnerlicht. Was aber passiert, wenn man mit der Verve der Offenherzigkeit, wie ich sie auf den Sitzungen und teils im Netz erlebt habe, auf die Strukturen des Journalismus und seinem neurotischen Hang zur Skandalisierung trifft, kann man derzeit bei ihm nachlesen. Spiegel und Tagesspiegel, auf der Suche nach dem Skandal greifen nach jedem Strohhalm und skandalisieren ihn sich zurecht. Das ist ihre Arbeit, so funktioniert der Betrieb und wenn man dieser Maschinerie durch Transparenz und Offenherzigkeit viele Stohhalme bietet, dann wird sie sie halt zum Strohalmgate zusammengeflechten. Ausgerechnet Christopher, der doch selber eine Session genau zu dem Problem gemacht hat.
Er schreibt:
Die Presse hat genausowenig Bock auf abgelutschte Sprachregelungen wie wir. Berichterstattung wie diese führt aber dazu, dass man zur Skandalvermeidung nur noch das sagen wird, was eben nicht skandalisierbar ist.
Ähnliches war erst kürzlich bei Marina Weissband zu lesen. (Nee, Fefe ist auch kein Stück besser als SPIEGEL und Tagesspiegel.)
Der Datenschützer in mir sagt nun: „Siehste. Transparenz. Pah! Naiv ist das! Die böse Welt macht natürlich einen Strich durch die Rechnung! Schutzraum ist Schutzraum, Öffentlichkeit ist gefährlich!“
Aber mein anderes – mein utopisches – Ich will das nicht zulassen. Die Piraten haben zwar einen naiven schutzraumhaften Begriff von Öffentlichkeit im Internet gelernt, aber immerhin haben sie eine Öffentlichkeit. Eine selbstgeschaffene mit angeschlossener Community, die sie gegen die der klassischen Skandalmedien einsetzen können und das ist mehr, als Politiker sonst haben. Vielleicht ist das immer noch naiv, aber ich glaube, wenn die Piraten einfach transparent weiter machen, Skandale, statt sich vor ihnen vorbeugend zu bücken lieber nachträglich entkräften, dann werden sich nicht die Piraten an der Transparenz, sondern die Medien sich an den Piraten zerlegen. Dann offenbaren sie ihre Mechanismen und entzaubern ihren Unfehlbarkeitsduktus, der nur daraus resultierte, dass keiner da war, der ihnen hat widersprechen können.
Und was den Schutzraum angeht, der die Menschen zur Öffnung ihrer selbst bringt: Ich glaube, er ist ein Tool. Ich glaube, er kann nützlich sein, um Öffentlichkeit zu üben. Aber wie Christian in seinem Buch anhand der Schwulenbewegung zeigt, ist so ein Schutzraum früher oder später zu eng. Auch wenn – und das wäre die eigentliche Frage – dieser Schutzraum vielleicht erst notwendige Brutstätte einer Utopie der freien Auslebung von Homosexualität war. Irgendwann hört der Schutzraum auf, Freiheit zu ermöglichen und wird Agent der Unfreiheit, engt ein und befördert die Intoleranz der Öffentlichkeit, weil sie sich mit dem im Schutzraum weggesperrten Anderen nicht befassen muss.
Ich glaube, wir brauchen einen pragmatischen Umgang mit Schutzräumen. Einen Umgang, der den Schutzraum nicht als absoluten Selbstzweck sieht, sondern als Enableings-Tool (Vorsicht Mega-Denglisch!) zum Üben der echten Freiheit. Und die gibt es nur, wenn man auch Öffentlich der sein kann, der man sein will – auch als Politiker. Und wenn man sagen kann, was man denkt – auch wenn die meisten anders denken. Und den lieben kann, den man liebt. Und wenn man über seine psychischen Probleme öffentlich reden kann, ohne, dass einem das zum Nachteil gereicht.
PS: Neben all den Schutzräumen fällt auch auf, welcher Schutzraum die Openmind selbst schon war. Die 100 Teilnehmer und die betont offene, zum Rumspinnen anregende Konzeption des Formats luden ein, Texte zu produzieren, die noch mal ein Stück weiter gehen. So auch mein Text. Interessant ist das vor allem, weil der Text – nun, da der Vortrag durch Telepolis auch in der „erwachsenen Öffentlichkeit“ zirkuliert – auch viel härter angegangen wird und gar als Beleg für den Untergang der Buchkultur herhalten muss.
Was ja auch stimmt. Mein derzeitiges Denken hat sich vor allem auch am Experimentieren im Blog entwickelt. Unfertiges Raushauen, steile Thesen testen, Feedback einholen, weiter entwickeln. Nicht alles im Schutzraum fertig denken, sondern lieber in der Öffentlichkeit als Betaversion iterieren. Auch das verlangt eine andere Rezeptionshaltung ab.
Auch Julia war durch die Telepolisveröffentlichung ein rauer Wind entgegengeschlagen. Was mich irgendwie an Danah Boyd denken lässt, die sagte, dass es eine „violation of privacy“ sein kann, wenn etwas „more public“ gemacht wird, als es ursprünglich war. Jede wie auch immer geschnittene Öffentlichkeit wäre der Schutzraum in Relation zur nächst größeren Öffentlichkeit. Aber eine Lösung ist das natürlich nicht.
Ich denke, es ist ein zweischneidiger Prozess: einerseits müssen wir alle mit diesem „more public“ umgehen lernen, also auch mit den Reaktionen der Journalisten und anderen Trolls. Kontrollverlust akzeptieren, auch wenn es weh tut. Filtersouveränität (Ich habe noch keinen einzigen Blick in das Heiseforum unter meinen Artikel geworfen) und getestetes Selbstbewusstsein – auch entstanden durch das Überleben diverser Shitstorms – helfen dabei.
Andererseits muss aber auch die Öffentlichkeit lernen, mit dem Mehr an Transparenz umzugehen. Alles skandalisieren zu wollen und für jeden unwichtigen Kram einen Shitstorm zu entfachenn ist nicht nur schädlich für die Transparenz und offne Kommunikation, sondern auf die Dauer auch ermüdend. Was die Hoffnung nährt, dass diese Ungleichzeitigkeit ein Übergangsphänomen ist. Wachstumsschmerzen einer sich gerade herausbildenden neuen Toleranz und Empathie. Eine Toleranz die dringend gebraucht wird, wenn wir die Gesellschaft nicht in der Reibungshitze unserer Wutkommunikation pulverisieren wollen. Denn die Transparenz kommt so oder so.