Als Osama bin Laden erschossen wurde, hatte ich das Gefühl, dass damit ein Aktendeckel zuging. Das erschien mir aber selbst etwas vorschnell und irgendwie auch nicht wirklich reflektiert, deswegen ließ ich es bleiben, darüber zu schreiben. Aber irgendwie fühlte es sich so an, als sei damit das Thema internationaler Terrorismus – und damit meine ich seine dominante, den Diskurs der Weltgesellschaft bestimmende Form – vorbei. Ich kann es nicht beschreiben, aber es war mir, als ob ein weiterer Anschlag irgendwie „unoriginell“, irgendwie unpassend, ineffektiv erscheinen würde.
Als nun Oslo passierte und die Spekulationen über einen möglichen islamistischen Hintergrund die Runde durch die Medien machte, dachte ich zuerst, dass diese Einschätzung vorschnell gewesen sei. Ja, ich gebe gerne zu, dass ich die Spekulation der Kommentatoren nicht so hinterfragt habe, wie ich es eigentlich müsste.
Aber andererseits wäre auf die tatsächlichen Hintergründe der Tat wohl keiner von uns gekommen. Es ist die komplette Antithese der westlichen Vorurteile. Und es ist wie in einem Film. Wie in „Seven“, wie Torsten Kleinz mir zurief. Wir erleben gerade eine völlig neue Dimension von Zeugenschaft. Als ob das alles für uns inszeniert worden ist. (Ist es ja auch.) Wir wissen binnen kurzer Zeit den Namen des Attentäters, seine Adresse schauen wir auf Google Streetview an und seine Bankkontoinformationen liegen uns offen. All das wurde innerhalb kürzester Zeit gecrowdsourced.
Und dann das Manifest. Ein so unglaubliches Dokument. Vollständig in englisch geschrieben, damit wir alle es im Original lesen können. Ein Text, der einen detaillierten Einblick in das Geisteswesen eines Mannes offenbart, den kein Drehbuchautor besser hätte entwerfen können. Wir lesen seinen Tagesablauf, wie er sich mit Freunden triff, wie er auf Partys diskutiert, seine Familie besucht und wie er neben dem heimlich an seinem Plan schraubt, viele unschuldige Menschen zu töten. 9 Jahre lang werkelte er im Geheimen. Wir bekommen seine Ideologie dargelegt und es ist so erschreckend, dass uns vieles sehr bekannt vorkommt. Das alles ist so verstörend nah, so lückenlos, so perfekt abgestimmt, so unglaublich real. Baudrillard würde sagen: Hyperreal. So real, dass man an seiner Realität beginnt zu zweifeln. (Was ich natürlich nicht wirklich tue)
Und dann die Gewissheit, dass das so vieles ändern wird. Wäre es tatsächlich ein islamistisches Attentat gewesen, wäre es schlimm gewesen. Die Rückkehr des Terrors. Aber so ist es mehr, ein Paradigmenwechsel. Nicht in der Art, wie der 11. September die Welt veränderte, sondern vielmehr so wie der Mord an Theo Van Gogh. Irgendwie stehen die beiden Taten in Korrespondenz zueinander.
Der Mord an Van Gogh hat die politische Debatte verschoben. Es war ebenfalls die Tat eine verrückten Einzeltäters, aber es führte dazu, dass eine ganze Gesellschaft ihre Haltung zur Toleranz vor allem dem Islam gegenüber überdachte. Sie führte auch zum Erstarken der Rechten in ganz Europa. Sie führte – oder verstärkte zumindest enorm – die Antiislamdebatte und die neue Rechte und sie führte somit eben auch zu Breivik.
Dabei weiß ich nicht, wie dieses Ereignis die Dabatte verändern wird. Reflexartig wendet man sich gegen die sogenannten „Islamkritiker“ und macht sie implizit mitverantwortlich für die Tat. Ich persönlich hatte schon einen Blogeintrag fertig, in dem ich die Debatte um die Islamfeindlichkeit hiermit für alle Zeiten für diskreditiert erklärte. Ich habe den Artikel, wie einige andere, doch nicht veröffentlicht. (In solchen Situationen ist es immer nicht schlecht ein paar Artikel erstmal für den Mülleimer zu produzieren.)
Aber begeht man damit nicht den selben Fehler wie nach dem Tod Theo Van Goghs? Wieso sollen wir – auch wir – Leute in Sippenhaft für die Tat eines Einzelnen nehmen? So wenig, wie ich Henryk M. Broder, Thilo Sarrazin, Leon de Winter, Ralph Giordano und den vielen anderen in ihren verqueren Analysen Recht gebe; es ist unfair ihr Schaffen in diesen Zusammenhang zu stellen. Es ist das selbe, wie Friedrich Nietzsches Werk als Bauanleitung des Nationalsozialismus zu interpretieren, oder die Scharia für den 11. September verantwortlich zu zeichnen oder Killerspiele für die Taten eines Robert Steinhäusers. Wir haben das kritisiert – zu Recht!
Natürlich kann und soll man den rassistischen Antiislamdiskurs kritisieren. Und gerne jetzt noch um so heftiger. Aber ich warne davor, ihn nun in einer Art linkem Rollback als illegitim zu diskreditieren. Ich warne davor, monokausal auf den Diskurs und seine Akteure einzuschlagen. Am Ende nämlich werden wir damit nur die Meinungsfreiheit beschädigen und jene bestätigen, die schon immer raunen, dass man bestimmte Dinge ja in diesem Land nicht sagen dürfe.
Ist es nicht vielmehr Zeit, als Gesellschaft anzuerkennen, dass man sich nicht vor Verrückten schützen kann? Dass es nichts hilft, Diskurse zu verbieten, Weltanschauungen verantwortlich zu machen, Flugpassagiere ihre Schuhe ausziehen zu lassen und alles mit Kameras vollzustellen? Wir Menschen sind viele. Da sind immer ein, zwei durchgeknallte Exemplare dabei. Vor denen kann sich sich eine Gesellschaft nicht schützen.
Wenn wir ehrlich sind, werden wir niemals einen Mohammed Atta oder einen Breivik verhindern können. Denn ein Mohammed Atta oder einen Breivik wird immer etwas oder jemand anderes sein, als wir in dem Moment erwarten. Breivik war ein schwarzer Schwan. Es gibt nichts, was die Norweger hätten tun können. Wer was anderes behauptet, ist ein Terrorexperte – ein Experte für weiße Schwäne.
Wir werden damit leben müssen, dass die Welt kein sicherer Ort ist und es wäre klug sich einzugestehen, dass man bestimmte Dinge nicht verstehen kann.