Es ist eine Binsenweisheit, dass bestimmte Konzepte und deren gesellschaftliche Bewertung sich mit dem Verlauf der Geschichte mehrfach gewandelt haben.
Es ist richtig, dass es nicht so lange her ist, dass die geschlechtliche Rollenverteilung mit deutlicher Unterordnung der Frau nicht nur vorhanden, sondern auch gesellschaftlich breit akzeptiert war. Es ist richtig, dass die Worte „Zensur“ und „Propaganda“ erst seit sehr kurzer Zeit einen negativen Klang haben und noch vor 60 Jahren als unverzichtbare Notwendigkeit einer jeden politischen Öffentlichkeit verstanden wurden. Es ist richtig, dass Todesstrafe, Krieg und Blutrache und ähnliches für sehr lange Zeit auch in Europa als völlig legitime, sogar als Gesellschaft zusammenhaltende Institutionen angesehen wurden. All das waren zu ihrer Zeit keine Repressionsmaßnahmen gegen den Willen des Volkes, sondern tiefer gesellschaftlicher Konsens zur Organisation des Zusammenlebens. Wer an ihm rüttelte war ein Träumer, ein Idealist, Utopist, jemand, der die öffentliche Ordnung zu zerstören drohte.
Aber während die letzten Jahrzehnte in der Geisteswissenschaft ein bitterer Kampf darum geführt wurde, ob denn nun diese unsere Menschenrechte und alle damit einhergehenden Errungenschaften wie Demokratie, Rechtstaat und Emanzipation die universell richtige Richtung für die Menschheit vorgeben, oder ob all das doch als Zufallskonstellation im relativistischen Ozean der Möglichkeiten schwimmt – blind für den eigenen Eurozentrismus – glaube ich, dass es Zeit wird diese Frage völlig anders zu stellen.
Ich glaube, wir haben unser „Heute“ lange genug von der Vergangenheit her gedeutet. Es wird Zeit, es von der Zukunft her zu deuten.
Wie das geht? Eigentlich gar nicht. Aber weil ich es trotzdem für notwendig halte, so: Man muss sich selbst, uns alle, diese unsere Gesellschaft in der wir leben mit den historisierenden Augen eines zukünftigen Beobachters betrachten. Man muss das Heute von der Zukunft her befragen. Ähnlich pikiert und arrogant wie wir auf die Vergangenheit, wird die Zukunft auf uns blicken. Doch was wird sie sehen? Welche Dinge, die uns heute als ganz normal, sogar wichtig und unverzichtbar vorkommen, werden in der Zukunft als rückschrittliche, barbarische, gewalttätige, grobe, undemokratische und unmenschliche Praktiken betrachtet werden? Und zwar in dem selben Sinne, wie wir heute über die Unterdrückung der Frau, das Verbot von Homosexualität, von Zensur, Krieg und so weiter anders, nämlich fortschrittlicher denken. Über welche Dinge wird man sich nicht mehr eine Vorstellung machen können, dass wir sie über uns ergehen haben lassen und sie sogar für wichtig hielten?
Ich habe hier mal ein paar Dinge aufgelistet, von denen ich glaube, dass sie in diese Kategorie gehören könnten:
1. Medienregulierung – Ein Nobrainer, klar. Jeder, der im Internet unterwegs ist, weiß eigentlich, dass dieser Zug abgefahren ist. Doch der Kampf hat längst begonnen und die bisherigen Medienregulierungen wirken heute schon antiquiert. Aber noch sitzen wir an Tischen zusammen (so wie ich letzte Woche) und diskutieren über den Jugendschutz, der als Medienregulation irgendwie in dieses Internet reingezimmert werden soll. Und nein, es ist noch nicht so weit, dass ein komplettes „Lassen wir es doch einfach“ überhaupt ernsthaft zur Sprache gebracht wird.
Das Internet wird sich nicht regulieren lassen. Zumindest nicht effektiv. Die Erkenntnis ist auf dem Weg, aber noch lange nicht angekommen. In spätestens 10 Jahren werden wir aber über diese Versuche nur lachen und das ganze Konzept „Medienregulierung“ wird uns zumindest altväterlich überholt vorkommen. Ja, sogar der CDU.
2. Depublikation – damit meine ich nicht nur, das, was die Öffentlich Rechtlichen so tun müssen. Ich meine damit die Idee, Daten aus welchem Grund auch immer, zu löschen. Früher habe ich die SMS aus meinem Telefon gelöscht, eine zeitlang auch die Mails aus meinem Posteingang. All das ist nicht mehr notwendig denn die Speicherkapazitäten steigen schneller als ich schreiben kann. Gelöscht wird nur noch, was eh redundant vorhanden ist und schnell wieder besorgt werden kann: Spielfilme, Musik, etc. Löschen ist auf längere Frist fatal. Eine volltextdurchsuchbare Datenbank mit den Mails der letzten 10 Jahre ist ein Schatz. Ich kann anhand der Daten mein Leben nachvollziehen und alte Dokumente wiederfinden.
Wir erleben einen kulturellen Wandel, der das Löschen von Information zu einer – ich sag mal – repressiven Sache machen wird. Löschen verweigert Zukunft. Nämlich die Zukunft diese Daten mit neuen Methoden zu bearbeiten, zu durchsuchen und Vergangenheit zu rekonstruieren. Wir werden nach und nach ein Volk von Archäologen und wir entwickeln langsam ein Bewusstsein dafür, dass Daten in ihrem Wert nicht festgelegt sind und dass dieser Wert mit zunehmedem zeitlichen Abstand und fortschreitender technologischer Entwicklung immer weiter steigt. (Im Grunde liegt diesem Gedanken die gesamte Ethik des Anderen zu Grunde, wie ich sie mal formuliert hatte) Datenlöschen wird in 20 Jahren das Bilderstürmen der Zukunft sein.
3. Lohnarbeit – ich glaube, dass wir auf eine Postarbeitsgesellschaft zusteuern. Neben den versteckten Arbeitslosen, die mit politischen Tricks aus der Statistik rausgehalten werden, haben wir meines Erachtens noch eine riesige stille Reserve. Nämlich die, die wegrationalisiert werden könnte, würde man den aktuellen Stand der IT-Technologie von heute konsequent anwenden. Einen kleinen Ausblick in diese Welt hat Gunter Dück ja auf der re:publica geleistet.
Und das, was an „Dingen, die es zu tun gibt“ übrig bleiben, wird keine repetitiven, langweiligen Elemente mehr erhalten und von den Leuten gern und selbstbestimmt erarbeitet werden. Die Lohnarbeit, wie wir sie heute kennen, wird in 40 Jahren als ein grausamer Anachronismus, als eine subtile Form von Gewalt und Unterdrückung angesehen werden.
4. Regiert werden – ich habe diesen Zusammenhang letztens schon bei ZEIT Online angedeutet. Die heutigen Versionen von Demokratie sind dem viel komplexeren Spektrum an politischer Willensbidlung durch das Internet nicht mehr gewachsen. Wir sehen heute schon ein deutliches Erodieren der Regierungsmacht und ein allgemeines Auflehnen der Menschen gegen die Entscheidungsmächtigkeit von Regierungen.
Historisch wird man sicherlich auch noch in Zukunft zwischen den Diktaturen und den Demokratien unterscheiden, aber insgesamt wird das Konzept des Regiertwerdens, der Regierung, etc. als ganzes diskreditiert. Ich weiß keine Lösung, ich habe keine Vorstellung davon, wie Politik in der Zukunft organsiert wird. Aber ich bin mir sicher, dass das, was wir heute „Demokratie“ nennen, in 50 Jahren als atavistische Gewaltherrschaft und als kollektives Unterdrückungssystem in den Geschichts-eBooks stehen wird.
FAZIT – Es wird Zeit, dass wir aufhören immer nur zu jammern, wie die hereinbrechende Zukunft unsere Welt gestaltet. Wir sollten lieber schauen, was die Zukunft für uns tun kann. Wir sollten Utopien entwickeln, die sich die Zukunft, die heutigen Trends zunutze machen und diese heute noch einfordern.
Die derzeitige Linke ist eine konservative Jammerlinke. Sie sieht überall nur die Felle wegschwimmen und meint alles festhalten zu müssen. Gentrifizierung, Neoliberalismus, Konsumwahn – das sind die Schreckgespenster einer sich in Rückzugskämpfen verzettelnden Linken.
Was wir brauchen ist eine neue Linke, die nicht nur gegen die Managergehälter nölt, sondern Managergehälter für alle fordert. Eine Linke, die sich über Effizienz, Rationalisierung und Arbeitsplatzabbau freut, weil sie die Geißel der Menschheit – die Arbeit – zum Verschwinden bringt.
Ich träume von einer Linken, die Startups gründet, um den Kapitalismus abzuschaffen. Eine Linke, die den Privilegierten nicht ihre Freizügigkeit vorwirft, sondern losgeht und diese Freiheit auch für die Nichtprivilegierte erstreitet.
Lasst uns mit dem abschätzigen Blick des zukünftigen Beobachters auf unsere Welt sehen und aus dieser Diskrepanz die Empörung über unser rückschrittliches „Jetzt“ gewinnen.