Krasse Links No 33

Willkommen zu krasse Links No 33. Heute crashen wir die Paywall in den Ambient Information Space der Normies und boosten die Reichweite des Newsnerd-Tribes.


Bernhard Pörksen (mein Doktorvater) hat sich durch die Klimaberichterstattung des Spiegels gewühlt und neben viel guter und legitimer Berichterstattung (besonders in den letzten Jahren), auch sehr viel „Verniedlichungs- und Verharmlosungs-Aktivismus“ gefunden, wie er schreibt.

Der Biologe Josef Reichholf glaubt, dass mit der Erderwärmung die Artenvielfalt zunehme. Raum für ein Riesen-Interview im Jahre 2007. Er freue sich auf »mildere Zeiten«, auch die »Menschheit als Ganzes« werde keine »großen Probleme« bekommen, so heißt es hier. Der Däne Bjørn Lomborg, auch er ein Liebhaber der abwiegelnden Provokation, darf im Blatt über die Klimakonferenz von 2009 – kein Scherz! – schreiben: »Scheitern wäre ein Erfolg. Warum die Menschheit den Klimaschutz vertagen sollte.« Der einstige RWE-Manager Fritz Vahrenholt hat auch eine Meinung. »Die Klimakatastrophe findet nicht statt«, behauptet er. Er attackiert den Weltklimarat, prophezeit, dass es sogar kühler werde – Anlass für ein Riesen-Gespräch im SPIEGEL (2012). »Wir werden hinters Licht geführt«, so lautet der Titel des Gesprächs. Ein seltsamer Sound.


Der Volksverpetzer traut sich auszusprechen, was in der journalistischen Medienwelt gerne verdrängt wird: Dass das Desinformationsproblem nicht nur von rechten Trollen, russischen Einflusskampagnen und „alternativen Medien“ ausgeht, sondern ein Gutteil aus den klassischen Medien kommt. Aber weil man sich in der Branche nicht unbeliebt machen will, wird weithin so getan, als seien NZZ, BILD oder Welt noch seriöse Quellen.

Eigentlich wäre es ja so schön: Einfach Journalismus unterstützen und wir bekämpfen das Desinformations-Problem in unserer Gesellschaft. Diese Gleichung geht aber nicht so einfach auf. Aus Profitgier, aus finanzieller Abhängigkeit oder aus persönlicher Ideologie der Besitzer: Auch etablierte Medien können Desinformation verbreiten und der AfD narratologisch den Weg ebnen. Das ist im Kampf keine Randbeobachtung. Das ist der Ort, wo unsere gemeinsame Faktengrundlage zerbricht.

Es existiert offenbar keine funktionierende Selbstkontrolle in der Branche. WELT, BILD & Co. werden als valide Quellen betrachtet, obwohl sie schon zigfach rechte Desinformation verbreitet haben. Die viele Rügen des Presserats interessieren BILD offensichtlich nicht. Die Selbstkontrolle scheint immer wirkungslose zu werden. Es gibt keine Standards für wirksamen Schutz vor übergriffigen Herausgebern. Und es wird sich nichts ändern, wenn wir die Übeltäter weiter wie seriöse Medien behandeln.


Nils Müller stieß mich auf diesen Podcast, in dem das Buch „Die Unterwerfung“ von Phillip Blom besprochen wird. Ich kannte Philipp Blom nicht, aber wir scheinen auf parallelen Schienen unterwegs zu sein, jedenfalls verfolgt auch Bloms „Unterwerfung“ den Herrschaftlichen Blick des Westens – also das Individuum, das die Welt kontrolliert – durch die Geschichte, allerdings setzt er bereits beim jüdischen Exil in Babylon an und trackt den Seele-Körper-Dualismus durch das Christentum bis zur Aufklärung, wo die Seele dann durch die „Vernunft“ ersetzt wird. Spannend.


Molly White hat das ganze Jahr über die Wahlspenden der Cryptoindustrie getrackt und und hat die Ergebnisse in einem Video aufbereitet.

Mit beinahme 200 Millionen Dollarn hat keine andere Industrie mehr Geld in Wahlkampfspenden investiert und diese Investitionen wurden strategisch geschickt genutzt, nicht nur um eigene Kandidaten zu promoten, sondern um Anti-Crypto-Kandidaten abzustrafen, vor allem aber, um in der Politik den Anschein zu erwecken, es gäbe den sogenannten „Crypto-Wähler“, der cryptofreundliche Politik zum primären Anlass seiner Wahlentscheidung macht, statt … naja, ein paar Silicon Valley Milliardäre, die sich die Legalisierung von Pump-and-Dump-Schemes shoppen.

Irgendwie komm ich bei der ganzen Crypto-Selbsterzählung auch nicht mehr mit und finde im Bitcoin-Whitepaper auch die Stelle gar nicht, wo „Finanzielle Freiheit“ durch börsengehandelte Bitcoin-ETFs oder dem „Regulatory Capture“ des Staates zum Durchbruch verholfen werden soll?


Zwei Wissenschaftler haben Hinweise dafür gefunden, dass der Algorithmus von X zugunsten von Republikanern manipuliert war.

The analysis reveals a structural engagement shift around mid-July 2024, suggesting platform-level changes that influenced engagement metrics for all accounts under examination. The date at which the structural break (spike) in engagement occurs coincides with Elon Musk’s formal endorsement of Donald Trump on 13th July 2024.

Tweets von Republikaner*innen wurden anscheinend häufiger über den „For You“-Feed ausgespielt.

However, only view counts showed evidence of a group-specific boost, with Republican-leaning accounts exhibiting a significant post-change increase relative to Democrat-leaning accounts. This finding suggests a possible recommendation bias favouring Republican content in terms of visibility, potentially via recommendation mechanisms such as the „For You“ feed.

Die Trends sind zwar deutlich, aber weit weniger deutlich als der Boost, den sich Elon Musk selbst verpasst hat.

Following the identified structural break on July 13, 2024, Elon Musk’s account showed a substantial increase in view counts, rising by approximately 138.27% compared to his average view count before the change. In contrast, other accounts experienced a more moderate increase of 56.93% in view counts over the same period.

Wenn ich über die Relevanz von X spreche, stoße ich immer wieder auf die Beschwichtigung, dass da ja eh niemand mehr wäre und dass X ja unterm Strich ein so kleines, unbedeutendes Netzwerk sei und ich schätze, die Tatsache, dass wir immer noch in „Reichweiten“ denken, ist ein Atavismus der Gutenberg Galaxis und ein Zeichen dafür, dass wir noch nicht im Netzwerkdenken angekommen sind.

Reichweite ist die Frage, wo ich potentiell die meisten Leute erreiche und das sind auf Instagram, Tiktok und wahrscheinlich auch Facebook und Youtube sicher viel größere Zahlen, aber Reichweite ist nur ein Puzzelteil der viel entscheidenderen Frage des „Einflusses“. Einfluss ist die Frage, wo ich am besten eine Information platziere, um ihr besten Verbreitungsvorteile einzuräumen.

Twitter war nie riesig und seit Musk es übernommen und in X verwandelt hat, hat es an Reichweite und Einfluss verloren, aber ich behaupte es ist nachwievor für die öffentliche Meinungsbildung das relevanteste aller Netzwerke. Nirgends sind so viele Medienmacher*innen miteinander in Konversation wie auf X: Journalist*innen, Aktivist*innen, Autor*innen, meinungsstarke Milliardäre, Prominente, Influencer*innen, Politiker*innen und Expert*innen zu allen möglichen Themen. Twitter ist einflussreich, weil die Leute, die sich dort austauschen außerhalb von Twitter einflussreich sind. Die spezifische Netzwerkzentralität, die Twitter im Aufmerksamkeitsnetzwerk einnimmt, das wir Öffentlichkeit nennen, nennt sich Eigenvektorzentralität. Wichtiger als die Reichweite ist der Einfluss der Leute, die du erreichst.

Unsere politisch-mediale Elite wird auf X nicht einfach gehirngewaschen und auf rechts gedreht, aber sie erfährt dort ein anderes „Normal“. Ein Normal, in dem rechtsradikale Sichtweisen unwidersprochen bleiben und in dem man sich längst weitgehend einig ist, dass Linke Antisemiten, Ausländer die Mutter aller Probleme und die Grünen unfähige Warmduscher sind.


Im starken Kontrast zur ersten Trumpwahl 2016 ist Meta in den Analysen bisher eher unterm Radar geflogen. Zu unrecht:*

Just six days before the 2024 presidential election, Facebook is running hundreds of ads from pages that falsely claim that the upcoming election may be rigged or postponed. Facebook parent company Meta’s ad library shows that the pages behind the ads have paid the company more than $1 million to run them. They racked up a bill of more than $350,000 for ads run in just the past week.
One of the ads features a stylized image of Vice President Kamala Harris with devil horns and an American flag burning behind her. Other ads feature images of Harris and VP candidate Tim Walz interposed with post-apocalyptic scenes, and pictures of Walz and President Biden mashed up with images of prescription drugs spilling out of bottles. One features an apparently AI-generated image of a smiling Harris in a hospital room preparing to give a screaming child an injection. Another features images of anti-vaxxer and third-party candidate RFK Jr. Some of the ads question whether Harris will remain in the race and suggest that America is “headed for another civil war.”

Auch Elon Musk hat viel Geld in diese Art Werbung gesteckt, aber ich glaube gar nicht, dass Werbung der entscheidende Faktor war.

Since 2021, Meta has dramatically reduced the amount of political posts that it serves to users — which may increase the power of paid political ads in reaching Facebook users with a candidate or party’s message. This year, Vice President Kamala Harris has dramatically outspent former President Donald Trump on Facebook ads.

Ok, hier eine steile These:

Mark Zuckerberg hat über seine Plattformen Trump mehr zum Wahlsieg verholfen, als Musk durch X.

Seit 2021 führt Meta einen algorithmischen Krieg gegen „Political Content“ und wir tun die ganze Zeit so, als sei das politisch neutral. Aber wenn nur die eine Seite tatsächlich über echte Ereignisse, Kandidaten, Wahlen und Policies spricht, ist das eben eine einseitige Benachteiligung.

Politische Kommunikationstrategien, die auf Memes, Kulturkampf, Desinformationen, Persönlichkeitskult und KI-Slop basieren, funktionieren auf Metas Plattformen nach wie vor prima?

Musk konnte mit X gar nicht so viel Wind für die Republikaner entfachen, wie Facebook, Instagram und Threads der demokratischen Botschaft genommen haben.


Nilay Patel hatte bereits im Mai einen tollen Decoder-Podcast über ein Phänomen gemacht, das er „Google Zero“ nennt. Dazu hatte er Gisele Navarro, die CEO von HouseFresh, einer kleinen Luftfilter-Review-Website, zu Gast und sie erzählt, wie ihnen im Zuge von Updates in Googles Such-Algorithmus ihr Such-Traffic praktisch über Nacht um 95% zusammengebrochen ist. Patel definiert Google Zero so:

“Google Zero” — my name for that moment when Google Search simply stops sending traffic outside of its search engine to third-party websites.

Google, so die These, sei zunehmend mit KI-generierten Content zugespammt und priorisiert gleichzeitig ihre KI-Zusammenfassungen über die Link-Ergebnisse, dass Websitebetreiber*innen die Incentives verlieren, über Google findbar zu sein.

Interessant fand ich auch Navarros Art der Schilderung: Als ob dort 10 Jahre lang eine Straße war und dann sei die Straße über Nacht einfach weg gewesen.


Die bislang hilfreichste Bestandsaufnahme der Rolle der Medien in der US-Wahl hat bisher Natalie Behring im New Yorker geliefert. Sie sieht Anzeichen dafür, dass sich das ganze Mediale Ökosystem unserer Öffentlichkeit verändert hat.

It is wrong to suggest that people now relate only through digital screens. (People still show up at cookouts, dinner parties, track meets, and other crossings.) But information travels differently across the population: ideas that used to come from local newspapers or TV and drift around a community now come along an unpredictable path that runs from Wichita to Vancouver, perhaps via Paris or Tbilisi. (Then they reach the cookout.) Studies confirm that people spend less and less time with their neighbors. Instead, many of us scroll through social networks, stream information into our eyes and ears, and struggle to recall where we picked up this or that data point, or how we assembled the broad conceptions that we hold. The science historian Michael Shermer, in his book “The Believing Brain,” used the term “patternicity” to describe the way that people search for patterns, many of them erroneous, on the basis of small information samplings. The patterns we perceive now rise less from information gathered in our close communities and more from what crosses our awareness along national paths.

In diesem Ökosystem werden mediale Ereignisse mehr und mehr zum Hintergrundrauschen, von dem einem Politik meist als viraler Got-You-Clip erreicht. In der Welt der „ambient Information“ bleibt nichts mehr hängen, als ein bestimmter Vibe.

Planting ideas this way isn’t argument, and it’s not emotional persuasion. It’s about seeding the ambience of information, throwing facts and fake facts alike into an environment of low attention, with the confidence that, like minnows released individually into a pond, they will eventually school and spawn. Notions must add up to a unified vision but also be able to travel on their own, because that’s how information moves in a viral age. And national media is key. Trump’s command of the ambience of information wouldn’t have been possible without his own platforms, such as Truth Social, as well as allies such as Fox News’ C.E.O., Suzanne Scott, who in 2020 excoriated her team after they fact-checked Trump, and Elon Musk, who, hoping for executive-branch power over his own sector, largely funded more than a hundred and seventy-five million dollars’ worth of pro-Trump outreach, was read into early voting data, and tweeted lies, conspiracy theories, and mistrust of media on his network, X, which boosts his posts. The communications researcher Pablo Boczkowski has noted that people increasingly take in news by incidental encounter—they are “rubbed by the news”—rather than by seeking it out. Trump has maximized his influence over networks that people rub against, and has filled them with information that, true or not, seems all of a coherent piece.

Dieser Vibe ist keine Desinformation im Sinne, dass eine konkrete, falsche Information dafür Dingfest gemacht werden kann, sondern mehr ein Beat aus hunderten von Informationsschnippseln (falsche, richtige, aus dem Kontext gerissene), bei dem alle mittrommeln können.

The pollster and political-marketing-language consultant Frank Luntz assembled a focus group of men who had previously voted for a Democratic nominee but were voting for Trump this year. Many of their rationales were based on untrue information settled deep in the ambience of information. “Nothing against people from California, but the policies in California are so bad I wouldn’t be surprised if the state goes bankrupt,” a participant in Indiana said. (California has the largest economy in the U.S.) “Kamala from California is too radical . . . she’s too far left.” (Biden’s policies tended to be to the left of Harris’s, when they didn’t align.) These are not convictions that someone acquires from a specific source, neighborhood, or community.

Ich musste an Gespräche mit Menschen in den letzten Wochen denken, in denen jemand aus dem Nichts anfing, über die Grünen zu lästern, eher aus Smalltalk-Gründen, denn um sich politisch zu positionieren. Grünenbashing hat sich als unverfängliche Konversationstechnik etabliert aber wenn man nachfragt, was denn genau das Problem ist, kommen meist sehr ungenau erinnerte und eher vage Behauptungen, irgendwelche alten, längst widerlegten Geschichten, irgendwelche Klips aus dem Netz, wo irgendwer irgendwas nicht gewusst hat, oder sich versprochen hat, etc. Meistens sind diese Menschen überrascht, wenn ich solche Erzählungen in Frage stelle, aber ich merke schnell, das die einzelne Geschichte egal ist, weil sie nur eine von vielen austauschbaren Erlaubnisstrukturen ist, aus denen dieser Vibe besteht.

In a country where more than half of adults have literacy below a sixth-grade level, ambient information, however thin and wrong, is more powerful than actual facts. It has been the Democrats’ long-held premise that access to the truth will set the public free. They have corrected misinformation and sought to drop data to individual doors. This year’s contest shows that this premise is wrong. A majority of the American public doesn’t believe information that goes against what it thinks it knows—and a lot of what it thinks it knows originates in the brain of Donald Trump. He has polluted the well of received wisdom and what passes for common sense in America. And, until Democrats, too, figure out how to message ambiently, they’ll find themselves fighting not just a candidate but what the public holds to be self-evident truths.

2008, in der frühen Phase des Social Web, ging unter Medienleuten ein Satz viral, mit der die NYTimes einen Studenten zitierte:

“If the news is that important, it will find me.”

Das war damals gerade für Journalist*innen eine unvorstellbare Vorstellung, doch heute ist sie die Realität der meisten Menschen. In dieser Welt ist die Frage der Reichweite unzureichend und wir müssen anfangen, in anderen Bildern zu denken.

Ich komme zum Beispiel immer wieder zurück auf den Begriff der Perkulation. Perkulation ist eigentlich ein anderes Wort für „Durchsickern“. Das Prinzip kann man bei jeder Filter-Kaffeemaschine beobachten. Die heißen Wassertropfen, die auf das Kaffeepulver im Filter treffen, suchen sich im Labyrinth der Zwischenräume ihre Wege Richtung Schwerkraft und erst, wenn genug Wasser im Pulver ist, damit sich Wege von oben nach unten finden – also das Kaffeepulver im Filter durchgesuppt ist – fängt der Kaffee an, in die Kanne zu tropfen.

Die Frage, die man also statt der nach der Reichweite stellen müsste, könnte so lauten:

Welche Pfade existieren von mir als Sender im Perkulationsraum der Social-Media-Plattformen bis in den „Ambient Information Space“ des oben zitierten Studenten?

Und die Antwort ist: immer weniger?


Vielen dank, dass Du Krasse Links liest. Da steckt eine Menge Arbeit drin und bislang ist das alles noch nicht nachhaltig finanziert (ich bin jetzt bei € 72,42- von eigentlich notwendigen € 1.500,-). Mit einem monatlichen Dauerauftrag kannst Du helfen, die Zukunft des Newsletters zu sichern. Genaueres hier.

Michael Seemann
IBAN: DE58251900010171043500
BIC: VOHADE2H


Ich muss nochmal auf die Tribaliusmus-Grafik aus dem letzten Newsletter zurückkommen.

Wir haben uns bei unserer Untersuchung auf den Roten Ball, also die Fakenews-Verbreiter*innen konzentriert. Aber was ist mit der blauen Wolke? Wer sind die, die die Richtigstellungen verbreiteten? Wer sind die, die sich so intensiv mit journalistischen Inhalten auseinandersetzen, dass sie mit den News öffentlich in den Diskurs gehen?

Wir haben bei unserer Untersuchung die blaue Wolke gewissermaßen als die „norm“ in den Hintergrund geschoben, doch was in diesem Bild natürlich nicht zu sehen ist, sind die Abermillionen von Twitter-Konten, denen die ganze Angelegenheit – und alle ähnlichen Vorkommnisse – komplett am Arsch vorbei gehen. Also fast … alle?

Hier eine nachträgliche These: die blaue Wolke ist ebenfalls Ausdruck eines Tribes, ich nenne ihn „Newsnerd-Tribe“. Das ist der auf allen Social Media Plattformen aber vor allem auf Twitter ansässige Tribe, der aus Erfüllung, Karriere oder Kontrollillusion heraus, öffentlich mit den Nachrichten in den Diskurs geht. Mit dem Zuzug von immer mehr Journalist*innen, Promminent*innen, Politiker*innen, usw. wurde daraus die digitale Öffentlichkeit der Öffentlichkeitsmacher*innen.

Der Tribe ist diffus genug, dass er in alle möglichen Gesellschaftsbereiche hineinragt, ist aber auch abgrenzbar genug, um festzustellen, dass wir es hier mit einer verschwindend kleinen Minderheit zu tun haben. Weil der Tribe in alle möglichen Vektoren heterogen genug ist, um sich zu erlauben, sich als Zufallsseletion der Gesellschaft mißzuverstehen, hat er irgendwann angefangen, seine Mikroöffentlichkeit mit der Öffentlichkeit ansich zu verwechseln.

Ab hier wechsle ich ins „Wir“, denn Du, liebe/r Leser*in gehörst wie ich diesem Tribe großer Wahrscheinlichkeit an. Weil wir uns ständig über jeden Scheiß in den Haaren haben, fühlen wir uns nicht als Tribe, sondern als heterogenes, zufälliges Abbild der Gesellschaft, aber die kulturelle Praxis des „Sich wegen News in die Haare kriegens“, macht uns nun mal zu einer vergleichsweise kleinen, abgrenzbaren Interaktionseinheit, mit seinen eigenen Regeln, Ritualen, Hierarchien und Traditionen.

Wie ist es diesem Tribe seit 2017, dem Jahr, als die Grafik gemacht wurde, ergangen? Hier eine materielle Geschichte des Newsnerd-Tribes:

  • Der Trend zur Paywall war bereits 2015 losgegangen und von 2017 bis 2023 hat sich der Prozentsatz der Medien mit irgendeiner Art von Paywall nochmal von rund 77 Prozent auf 94 Prozent verschoben. Da Zugang einerseits kritisches Kriterium für Partizipation am Newsnerd-Tribe ist und andererseits Zugänglichkeit auch kritisch für die Verbreitung der Inhalte ist, verkleinerten sich gleichzeitig der Tribe und sein Einfluss enorm.
  • 2022 übernahm Musk Twitter, das angestammte Habitat des Newsnerd-Tribes, das für viele damit unbewohnbar wurde. Vor allem der liberal-links-progressive Teil des Newsnerstribes migrierte in allerlei Splitternetzwerke, die jeweils nicht genug eigenvektoriale Aufmerksamkeit gebündelt bekommen, um als Öffentlichkeit empfunden zu werden.
  • Ungefähr zeitgleich beginnt Mark Zuckerberg seinen Krieg gegen News und politische Inhalte. Die Ambient-Information-Spaces der Massen werden auf Facebook, Instagram und Threads von politischen und News-Inhalten algorithmisch abgeschirmt.

Was man immer wieder lernte, wenn man den Ukrainekrieg etwas aufmerksamer verfolgte, war, dass eine Einkesselung nicht bedeutet, dass sich 100.000 Soldaten um eine Stadt reihen, sondern, dass es reicht, wenn die eine Zufahrtsstraße besetzt, die andere in Artilleriereichweite und die letzte zu schlammig ist.

Ich fürchte, der Newsnerd-Tribe hat vor lauter Infrastrukturvergessenheit gar nicht mitbekommen, dass er kurz vor Social Zero steht.

Krasse Links No 32

Willkommen bei Krasse Links No 32. Lasst alle Hoffnungen fahren, heute zünden wir die termo-memetische Explosion und zwingen die Fandoms mit mythischer Gewalt zur semantischen Sezession.


Ich musste viel über dieses Foto nachdenken. Es wird ganz ohne Frage in die Geschichte eingehen. Ich habe mich wie viele andere darüber beschwert: Wie kann ein Präsident, der zurecht immer wieder darauf hingewiesen hat, wie sehr Trump eine Gefahr für die Demokratie ist, ihm so freundlich die Schlüssel zur Macht aushändigen? Es fühlt sich falsch an, sogar ein bisschen nach Verrat.

Ich habe versucht, wütend auf Biden zu sein, aber es ist mir nicht gelungen.

Wenn man fällt, dann gibt meist Möglichkeiten durch Gewichtsverlagerung, einen Ausfallschritt oder ungelenkem Rudern mit den Armen doch noch das Gleichgewicht zu wiederfinden. Doch es gibt auch diesen Punkt, an dem man merkt, dass der Fall unvermeidlich ist. Das ist immer ein awkwarder Sekundenbruchteil, denn man ist ja schließlich bei Bewusstsein und das Gehirn kann auch im Fallen das Planen nicht einstellen.

Was hätte ich getan? Hätte ich mich im Weißen Haus verschanzt? Hätte ich den Killbefehl für Trump gegeben? Hätte ich über Nacht den Widerstand organisiert? Wogegen genau? Mit wem?

Wir alle sind Produkte unserer Erwartungen und unsere Erwartungen sind Produkte unserer materiellen Umwelt und wenn sich die Umweltbedingungen rasant ändern, laufen wir alle wie der Koyote bei Bugs Bunny über die Schlucht und zappeln ein paar Sekunden in der Luft, bevor wir fallen.

Biden ist zwar US-Präsident, aber auch er ist nur ein Bruder im Fall. Niemand sieht dabei gut aus.


Alan Moore, der Comic-Künstler hinter V wie Vendetta und Watchmen, rantet über Fancultures und macht dabei interessante Beobachtungen.

And when I looked back, after an internet and some few decades, fandom was a very different animal.

An older animal for one thing, with a median age in its late 40s, fed, presumably, by a nostalgia that its energetic predecessor was too young to suffer from. And while the vulgar comic story was originally proffered solely to the working classes, soaring retail prices had precluded any audience save the more affluent; had gentrified a previously bustling and lively cultural slum neighbourhood. This boost in fandom’s age and status possibly explains its current sense of privilege, its tendency to carp and cavil rather than contribute or create.

Moore lehnt deswegen Fankulturen nicht grundsätzlich ab, aber macht eine nützliche Unterscheidung.

I believe that fandom is a wonderful and vital organ of contemporary culture, without which that culture ultimately stagnates, atrophies and dies. At the same time, I’m sure that fandom is sometimes a grotesque blight that poisons the society surrounding it with its mean-spirited obsessions and ridiculous, unearned sense of entitlement.


Auch tante denkt über den Zusammenhang von toxischem Entitlement und Nostalgie nach und das Fortschrittsbild, das daraus folgt:

A story of progress can’t just include burning down ungodly amounts of rocket fuel just so some middle-aged people don’t have to think or learn something new. A story of progress can’t reduce itself to technological gimmicks and parlour tricks. “Flying cars” is still cars. And a life based on individual mobility is not only bad because of the climate impact but because it’s a recipe to destroy local communities and alienate people from one another and the places the live and work and exist in.


Adam Tooze hat eine aufschlussreiche Grafik darüber, wie sich die wirtschaftliche Stimmungslage der US-Amerikaner*innen entwickelt hat, seit letzter Woche.


Ich bin erst eine Folge der neuen Staffel des sehr guten Podcasts Wild Wild Web und die Folge hat mich gleich sehr beschäftigt. Im Zentrum stehen gespaltene Wahrnehmungsphänomene wie den Laurel/Yanny-Sound und das entweder Schwarz-blaue, bzw. weiß-goldene Kleid, um die erbitterte Schlachten im Internet geführt wurden.

Die Erklärung, warum einunddaselbe materielle Artefakt so unterschiedliche Wahrnehmungsmuster produziert, liegt der Forschung nach an der jeweiligen Vorprägung. Man kann sich das so vorstellen, dass das Bild/der Sound sowohl Laurel, als auch Yanny, sowohl Schwarz-blaue als auch weiß-goldene Interpretationspfade erlaubt und welchen dieser Pfade das Bewusstsein nimmt, ist determiniert durch deine unbewusst eingeübten Entscheidungsraster. So lässt sich eine Korrelation von Frühaufstehern und Nachteulen mit dem Schwarz-blaue bzw. weiß-goldene sehenden Probanden erkennen, weil die einen den Lichteinfall im Bild tendentiell als Tageslicht, die anderen tendentiell als künstliches Licht interpretieren und Laurel wird eher von Männern, Yanny häufiger von Frauen gehört, weil die eine Interpretation sich an den tiefen, die andere eher an den hohen Tönen orientiert, die beide da sind.

Der Podcast wird aber dann geradezu philosophisch, als es darum geht, welche Erkenntnisse sich daraus für die Gesellschaft ergeben? Dass es je plausible Pfade gibt, ein und denselben Gegenstand zu interpretieren, ist ja auch Basis der „polarisierten Gesellschaft“.


Thomas Zimmer analysiert, was an der zweiten Trump-Präsidentschaft anders sein wird, als an der ersten. Es gibt viele spannende Punkte unter anderem, dass wir uns bereits an einen mehrfach eskalierten Trump gewöhnt haben.

The notion that he has always been the same, just Trump being Trump, is massively misleading and obscures the rather drastic radicalization of the Right’s undisputed leader. Trump is coming off the most openly, aggressively racist campaign of a major party candidate in modern U.S. history. He explicitly promised a “bloody” mass deportation, the political persecution of his opponents, the purge of the “enemy within.” He declared he would use the military to suppress protests. His closing pitch to the American people was rage, intimidation, and vengeful violence. Trump wants to restore “order,” by whatever means necessary – an order not just of white Christian rule and unfettered self-enrichment for the wealthy, but also patriarchal domination.

Aber auch insgesamt ist alles konsolidierter, organisierter, homogener und mächtiger als beim Überraschungssieg 2016.

Warum mich das alles so viel mehr beschäftigt, als die kollabierte Bundesregierung? Weil die Auswirkungen für uns gigantisch sein werden. Ideen haben Netzwerkeffekte und wenn die liberale Demokratie in ihrem Kernland fällt, dann ist diese Idee Schach-Matt. Und weil Deutschland als kleiner Bruder immer die Semantiken vom Großen aufträgt, löst jedes Erdbeben da drüben einen Tsunami bei uns aus.


Influencer*innen bekennen sich nach dem Wahlsieg zu „MAGA„.

“I’m done. I’m so tired of my old fan base,” she concludes. “I don’t give a fuck about your identity politics. I voted for Trump. And” — she adds, inexplicably — “I hate fat people!”

Es sieht so aus, als ob sie schon lange nach Wegen gesucht haben, das eigene Arschlochsein zu rechtfertigen.

“We’re in a different climate now. A different era,” the consultant told me. “Trump gives people permission to be the worst versions of themselves. And with him winning, we’re seeing that again on a much larger scale.” Still, she adds, there remain some talking points that have proven to be toxic for brands. “Honestly,” the consultant says, “people lose more brand deals talking about Palestine than anything else.”

Trump-Supporter*innen haben ein heterogenes Motivationsprofil, aber ich glaube, viele sehen in ihm die Erlaubnisstruktur, ihre je eigene Verletztheit in Gewalt umzumünzen.


2017, ein halbes Jahr nach dem ersten Wahlsieg von Donald Trump war Michael Kreil auf eine Interessante Beobachtung gestoßen, als er die Verbreitung von „Fake News“ (wie man damals noch sagte) trackte. Wir machten gemeinsam eine Analyse ich nannte das Phänomen damals „Digitaler Tribalismus„.

Im Zentrum stand diese Auswertung: Wir sehen Twitteraccounts, die eine bestimmte FakeNews verbreitet haben (rot) und Twitteraccounts die die Richtigstellung verbreiteten (blau), wobei die Größe der Punkte der Anzahl der Follower entspricht (die großen waren damals noch die Massenmedien) und der Ort im Netzwerk repräsentiert die relative Vernetzungsdichte mit den anderen Accounts. Nachdem wir allerlei Checks gemacht haben, kamen wir zu folgendem Schluss:

Fake News sind nicht, wie es oft angenommen wurde, die Produkte sinisterer Manipulatoren, die damit die öffentliche Meinung in eine bestimmte Richtung lenken wollen. Sie sind vielmehr das Futter für bestätigungshungrige Stämme.

Ich hatte ein ein buntes Protpouri von kulturellen und psychologischen Semantiken gesammelt, um das Phänomen zu beschreiben und von Seth Godin übernahm ich die Beobachtung, dass die Gründung jedes Stammes in Form einer Häresie erfolgt. Man macht eine Setzung außerhalb des semantischen Mainstreams, und wenn man es geschickt anstellt, so Godin, scharen sich Leute um diese Pfadendscheidung. Und plötzlich hat man Macht. Das Buch ist von 2008.

Mein Denken hat sich weiterentwickelt und heute würde ich sagen, dass „Digitaler Tribalismus“ einfach eine „Semantische Sezession“ ist. Semantische Sezessionen passieren ständig im großen oder kleinen. Immer dann, wenn in der Kunst oder Kultur irgendwas für beendet erklärt und etwas neues ausgerufen wird, ist das eine zumindest versuchte semantische Sezession. Größere, folgenreiche semantische Sezession waren die Gründung des Oströmischen Reichs, die Reformation und die Aufspaltung in Aldi Süd und Aldi Nord.

Semantische Sezession sind nach Wengrow/Graebers „Dawn of Everything“ durch „ Schismogenesis“ motiviert, also den Drang sich abzugrenzen, nur ging damals eine semantische Abspaltung immer auch mit einer örtlichen einher.

Das, was wir damals untersuchten war der Rumpf einer semantischen Abzweigung, der zu einer alternativen Wirklichkeitsebene gewachsen ist. Diese zweite Wirklichkeitsebene hat den einfachen Verbreitungsvorteil: sie schafft einen alternativen Raum der Anerkennung, mit anderen Regeln für Wut und Gewalt, und einem eigenen Statussystem. Das ist für alle attraktiv, die sich im Major Consensus Narrative (Bruce Sterling) unzureichend gesehen fühlen.


Carole Cadwalladr führt den Trumpsieg auf einen materiell hergestellten Split der Medialen Wahrnehmung zurück.

You have a subscription? Enjoy your clean, hygienic, fact-checked news. Then come with me into the information sewers, where we will wade through the shit everyone else consumes. Trump is cholera. His hate, his lies – it’s an infection that’s in the drinking water now. Our information system is London’s stinking streets before the Victorian miracle of sanitation. We fixed that through engineering. But we haven’t fixed this. We had eight years to hold Silicon Valley to account. And we failed. Utterly.

Nur im Gegensatz zu den unhygienischen Bedingungen im London der Industrialisierung, wurde die Informationskloake nicht durch Nachlässigkeit, sondern mit vielen Milliarden Dollar hergestellt und die Leute dahinter haben jetzt die Demokratie gecaptured.

Elections are downstream from white men talking on platforms that white men built, juiced by invisible algorithms our broligarch overlords control. This is culture now.

Indem sie X kontrollieren und Meta (Facebook, Insta, Threads) politisch kalt gestellt haben, haben die Broligarchs die Hegemonie über die digitale Öffentlichkeit erlangt, während wir uns darum zankten, ob Mastodon oder Bluesky ein besseres Tool ist, um sich nicht wiederzufinden.

These bros know. They don’t fear journalists any more. Journalists will now learn to fear them. Because this is oligarchy now. This is the fusion of state and commercial power in a ruling elite. It’s not a coincidence that Musk spouts the Kremlin’s talking points and chats to Putin on the phone. The chaos of Russia in the 90s is the template; billions will be made, people will die, crimes will be committed.


404Media schreibt über eine Schwemme von ki-generierten Musk-Slop, der sich viral auf Facebook ausbreitet.

Als Musk zusammen mit Trump auf der Bühne herumsprang fand ich das abstoßend und peinlich, aber dabei entging mir, was für eine termo-memetische Explosion sich da ereignet hat.

Trump und Musk sind wahrscheinlich die memetischsten Persönlichkeiten, die es je auf dem Planeten gab und wenn diese beiden digitalen Tribes zusammenkommen und einen gemeinsamen Beat anstimmen, dann macht das ne Menge Krach, führt aber auch zu seltsamen Effekten.

Die hardcore MAGA-Fans sind meist älter, wenig gebildet, eher aus dem ländlichen Raum und hängen in Facebook-Gruppen ab. Musk-Anhänger sind eher junge Männer, die auf Raketen und Autos stehen, sie sind überdurchschnittlich gebildet und hängen natürlich auf X rum.

Doch jetzt, wo diese beiden Stämme mergen, werden viele Musk-Fans MAGA (Musk bot mit dem schwarten MAGA-Hut eine passende Pfadgelegeheit an) und Musk erlebt seinen zweiten Frühling auf Facebook, mit all den von Shrimp-Jesus erlernten KI-Ritualen.

Some of the most viral posts on Facebook leading up to and immediately after an election in which Musk actively campaigned for Donald Trump are AI-generated disinformation that universally make Musk look like a philanthropist and genius inventor who is actively solving America’s problems out of the kindness of his heart, created by people in the Philippines, Vietnam, and India and spammed to Facebook. These images went viral and continue to go viral on a platform that has repeatedly said it does not want anything to do with politics, gave less reach to posts that contained the word “vote,” and suspended journalists for reporting about Trump’s praise for Hitler’s generals.


Hier ein Deepdive in die politische Willensbildung des Individuums.


Kuku Schrapnell reflektiert auf 54Books ihre eigene Gewalterfahrung – sie wurde von einer Gruppe rechter Schläger zusammengeschlagen – auf eine intensive und erkenntnisreiche Weise. In der Reflexion greift sie auf Walter Benjamins Unterscheidung von Rechtsetzender (auch mythischer) und Rechtserhaltender Gewalt. Rechtserhaltende Gewalt ist das Disziplinieren von Regelverstößen.

Mit der rechtssetzenden Gewalt ist es ein bisschen schwieriger, nicht umsonst spricht Benjamin auch von der mythischen Gewalt. Am Anfang jeder rechtlichen Ordnung braucht es Gewalt, um sie durchzusetzen.

Aber diese rechtliche Ordnung muss auch beschützt werden, weil sonst andere, mythische Gewaltaten die Pfadentscheidungen treffen:

Während es auf der einen Seite zwar immer mehr rechtliche Gleichstellung für queere Menschen gibt, wie zum Beispiel das maßlos wichtige Recht auch heiraten zu dürfen, oder die Abschaffung des schrecklichen Transsexuellengesetzes zugunsten des nicht ganz so schrecklichen Selbstbestimmungsgesetzes, steht auf der anderen Seite die Zunahme der (mythischen) Gewalt gegen queere Menschen, die diese Rechte in Frage stellt. Die rechtliche Gleichstellung ist nicht nur in sich selbst prekär, immerhin kann ja schon die nächste rechte Regierung alles wieder kippen, sie ist auch immer nur so stark, wie die in ihr gebündelte Gewalt. Die Gleichstellungsrechte können überall da in Frage gestellt und unterlaufen werden, wo ihre rechtsbegründende Gewalt nicht direkt in Erscheinung tritt, weil beispielsweise Polizeistreifen lieber durch linke oder migrantisch geprägte Viertel fahren, oder andere Gruppen schon so mächtig geworden sind, dass sie sich ungehindert austoben können.

Weil sich jede Gewalt ihre eigene Erlaubnisstruktur baut, setzt sie implizit Recht. Aber was kann man dem Entgegensetzen?

Wenn ich diese Texte von damals lese, merke ich erst, dass das, was ich Verdrängung genannt habe oder Ruhe, nichts anderes ist als Dissoziation. Dabei wären so viele Gefühle viel angebrachter. Wut zum Beispiel. Kaum ein Gefühl fällt mir so schwer wie Wut. Wut ist immer die Emotion des Angreifers, oder nicht? Die, die mich sehen und denken, sowas wie mich sollte es nicht geben, sind die Wütenden. Mir selbst fällt es schwer wütend zu werden. Eine Person, die mich liebt, hat gefragt: „Was machst du, wenn du wütend bist? Traurig werden und weinen?«“ Und in den meisten Fällen stimmt das.

Dabei ist Wut so ein wichtiges Gefühl. Es ist die Wut, die uns nach Veränderungen streben lässt. Wenn wir wütend werden, haben wir Energie und können etwas bewegen. Wut zeigt uns aber auch unsere Grenzen auf. Wenn jemand oder etwas uns zu nahekommt, uns verletzt oder bedroht, kann Wut uns helfen aus dieser Situation herauszukommen. Traurig werden und weinen hilft da eher selten. Ich kenne jedoch viele Queers, die wenig Zugang zu ihrer Wut haben. Wut ist auch ein gefährliches Gefühl. Wut kann auch den Kontrollverlust bedeuten, wenn wir über das Ziel hinausschießen und denen weh tun, die wir lieben. Wir haben so viel Wut erlebt. Noch bevor wir wussten, was unseres eigenes Nicht-Passen bedeutet, hat es schon den Zorn und das Mobbing der anderen auf sich gezogen. Wenn ich mir Wut wünsche, wünsche ich mir eine gemeinsame Wut, einen queer rage, der auf die Straßen schwemmt. Aber dabei sind wir nicht nur unser Gefühl, werden nicht zu einem Mob, sondern wir sind, weil wir miteinander sind, auch füreinander da. Wir passen aufeinander auf.

Weil wir keine Individuen sind, die einfach wütend werden können, erstickt die Wut, wenn sie keine Wege findet, sich wechselseitig zu erlauben. Während sich die Rechten in eine Rage- und Gewalt-Pirruette nach der anderen steigern, finden Minderheiten und Linke ihre Wut nicht zusammen.


Gleich nach der Trump-Wahl postete tante das VideoHow to be Hopeless“ von Carlos Maza und er hat völlig recht, dass es einer der besten Video-Essays überhaupt ist und ich finde, es ist auch der Video-Essay der Stunde.

Das Video ist drei Jahre alt und wurde kurz nach der Erstürmung des Kapitols veröffentlicht, also noch in der Bidenzeit und auf dem Peak der Coronawelle. Maza hangelt sich entlang von Camus‘ „Die Pest“ durch die Stadien im Umgang mit einer Pandemie (avoidance, scapegoating, Fixing it) und natürlich ist das alles erstmal auf die Pandemie bezogen, aber im laufe des Videos wird klar, dass es auch um den Aufstieg des Faschismus geht und unseren hilflosen Umgang damit.

In dem Dreieck aus Camus‘ Pest, der Corona-Pandemie und der Faschisierung des Westens verfolgt Maza das überforderte Individuum, das danach strebt, seine Kontrollillusion zu beschützen.

The Goal of avoidance isn’t really to comfort, it’s to protect our egos. To admit that there is a plague, is to admit, that your life is over now – that our routines, our ambitions, even the way we breathe may have to change because of a crisis that is largely out of our control.

Wenn die geplante Freiheit berührt wird, sind wir am empfindlichsten. Covid machte sich zur Netzwerkzentralität in allen Plänen und das geht mit einer enormen Reduktion der plausiblen Freiheit einher. Und weil das Individuum ja an der plausiblen Freiheit hängt, erfährt es die Einschränkung als Identitätskrise und verdrängt.

Dazu kommt, dass die Infrastrukturvergessenheit des Individuums sich als Unverwundbarkeit-Illusion ausdrückt:

Even at death’s door, their egos can’t accept that the main character could really be killed by something as stupid and absurd as a plague.

Das am schwierigsten zu überwindende Stadium ist „Fixing it“. Weil wir uns alle als Main Character unserer Geschichte erzählen, glauben wir, den Karren aus dem Dreck ziehen zu können und verfallen in heillosen Aktionismus und steigern uns in hohe Erwartungen hinein.

If we just find the perfect candidate, and avoid touchy subjects, and only ever protest in exactly the right way, the other side will come to their senses. Things will go back to normal.

Das ist kein Plädoyer für das Aufgeben, sondern für die Einsicht, dass wir trotz allem fallen können.

That we are tiny failable creatures, who have always been drawn to demagogues, who appeal to our worst impulses. And that living in a country that is constantly being bombarded with fascist propaganda means even our best efforts to contain cruelty will not alway be enough. That dealing with fascism is an inevitible part of living alongside other humans, and when that desease starts to infect an entire polical party, those of us who are not sick will need to stop blaming the most vulnerable amongst us, and be ready to help them fight the plague.

Das Individuum ist als Projektion irgendwann nicht mehr haltbar. Doch dieser Zusammenbruch des Egos ist eine Befreiung.

Our egos tell us that we’re the hero of the story, but Camus says we’re a lot more like inmates, trapped together like the people in Oran, waiting to see what’ll ultimately happen to us. And as grim as that sounds, there is something kind of liberating about that isn’t there?

Ich habe mich heute auf allen möglichen Kanälen über den Habeck-Hype aufgeregt und ich kann auch prima erklären, warum, aber hinterher ich habe mich trotzdem geschämt. Auch Habeck und alle, die an ihn glauben, sind Mitinsassen. Auch sie sind Geschwister im Fall.

Ich bin so unfassbar schlecht darin, aber ich glaube, es jetzt Zeit wird, das eigene Ego zu beerdigen und zu verstehen, dass wir alle nur hilflos durch die Ereignisse taumeln. Und wenn wir unsere Coolness abgelegt haben, können wir uns umschauen, wer sonst noch unsere Hilfe braucht.

When Camus talks about decency he is not talking about sweetness or civility, he is talking about a radical commitment to our fellow inmates. A commitment to fighting for what’s right and trying to protect the vulnerable even if you know it’s hopeless. Not because it will make us powerful or protect us from suffering, but because in a world that is this indifferent to human suffering — giving a shit about what happens to other people is the only true act of rebellion.

Lasst uns solidarisch Fallen üben.

CCC-Einreichung

Gestern kam die Nachricht, dass mein eingereichter Talk beim 38c3 abgelehnt wurde. Schade, es wäre eine skurrile, aber auch bombastische Tour de Force durch meine im Newsletter ausgelegten Gedankenstränge geworden und hätte auch gut zum Motto gepasst. Wohl zu nischig für den Congress.

Hacking Semantics: How to Debug Your Metaphysics

Once you understand that semantics is the software that runs society, politics and yourself it becomes crucial to take a closer look into the technical dept, that generations of thinkers have mounted on western perspectives.

I’m going to tell the story how glitches in my perception of the world lead to an extensive debugging spree in my metaphysics. I follow the Dependencies back to Descartes, confronting his claims about thinking with poststructual theory and a different understanding of Large Language Models.

Exchanging the Metaphysics of the „Individual“ with a modern network based approach, I then initiate the „cyborg“ as a different kind of „worlding“ that integrates infrastructure more easily.

From there we can set up a new materialism, based on infrastructure awereness and network navigation and build new makrosemantic templates for the revolution.

Krasse Links No 31

Willkommen bei Krasse Links No 31. Instrumentalisiert Eure Vernunft, heute trainieren wir die relational-materielle Freiheit im Widerspruch zum Blick von Nirgendwo.


Die Wired hat einen gut recherchierten Artikel über rechte Milzionäre in den USA, die sich in hunderten von Facebook-Gruppen für den 5. November organisieren und Facebook tut nichts dagegen.

The Tech Transparency Project has compiled a list of 262 Facebook public and private groups and 193 Facebook pages for militia and anti-government activists that were created since January 6, 2021. Nearly two dozen of those groups and pages have been created since May, according to the TTP. Some make minimal effort to conceal their affiliations to extremist networks: One new public group created in May is called The Michigan III%. Increasingly, the movement is also relying on individual profiles associated with leaders of local militia, the TTP says. Moderation has put a dent in the presence of American Patriots Three Percent (AP3), one of the largest active militias that Facebook explicitly banned in 2020 as a “militarized social movement” and “armed militia group.”


Ich habe es endlich geschafft, Francois Chollets berüchtigtes Paper, „On the Measure of Intelligence“ zu lesen und sein Ansatz ist sehr straigtforward und geht glaube ich in die richtige Richtung.

Nachdem er feststellt, dass uns der Ansatz, KI durch das Nachahmen menschlicher Tasks herzustellen, der Frage, was Intelligenz ist, nicht weiter gebracht hat, schlägt er vor, Intelligenz direkt anzugehen und definiert sie als:

skill-acquisition efficiency over a scope of tasks, with respect to priors, experience, and generalization difficulty.

Schach, Go, Sprachmodelle und Autofahren sind alles nette Achievments, doch was ist die Power, die jenseits von Skale diese Skills möglich macht? Dieser Skill ist seiner Meinung nach die Fähigkeit zu generalisieren:

We can informally define “generalization” or “generalization power” for any AI system to broadly mean “the ability to handle situations (or tasks) that differ from previously encountered situations”.

Statt sich auf die Optimierung der Generalisierungspower zu konzentrieren, hat sich die KI-Forschung zu lange Generalierung mit viel Compute und Trainingsdaten gekauft:

Hard-coding prior knowledge into an AI is not the only way to artificially “buy” performance on the target task without inducing any generalization power. There is another way: adding more training data, which can augment skill in a specific vertical or task without affecting generalization whatsoever.

Chollet will seine Generalisierungs-Engine ebenfalls auf menschliche Tasks loslassen (sie soll jeweils „SkillPrograms“ bauen), aber entscheidend ist für ihn dann die Lerneffizienz über die verschiedenen Tasks hinweg und mir scheint es plausibel, dass mit diesem Ansatz eine Menge Effinzienzpotentiale zu heben sind. Aktuelle KI-Systeme sind grausige Lerner. Ich glaube nur nicht, dass eine noch so gute Generalisierungsengine zu AGI führt?

Weil Chollet ein Individuum ist, versteht er nicht, dass wir Dividuen nur zusammen mit anderen generalisieren können. Generalisierungen entscheiden in der realen Welt das Unentscheidbare und brauchen eine externe Erlaubnisstruktur, an der man die eigenen Generalisierungen orientiert und stetig nachschärft. Eine Erlaubnisstruktur ist aber nur dann eine Erlaubnisstruktur, wenn sie in Konflikt treten kann, weswegen es keine rein interne Erlaubnisstruktur geben kann. Eine interne Erlaubnisstruktur kann Regelbefolgung immer nur affimieren, weil ihr die externen Kriterien zur Kontrolle der Regelbefolgung fehlt. Das ist der Kern von Wittgensteins Privatsprachenargument:

“justification consists in appealing to something independent“

Oder: Widerspruch ist notwendig materiell.

Seit es Machine Learning gibt, schlagen sich die Forscher*innen mit dem Problem des Overfittings herum. Sagen wir, wir versuchen eine Bilderkennung zu trainieren und geben ihr ein Haufen Bilder von Hanteln. Irgendwann ist sie echt gut darin, im Trainingsset Hanteln zu erkennen, aber wenn man sie mit frische Daten konfrontiert, geht die Trefferrate plötzlich wieder runter. Das ist meist ein Zeichen von Overfitting, denn das neuronale Netz hat offensichtlich zu viel „Noise“, also nicht zugehöriges aufgenommen.

Als Google 2015 mit Deep Dream den ersten Vorläufer der Diffusionmodelle vorstellte, hatten die Forscher*innen einfach ein trainiertes Netzwerk rückwärts angewandt und Rauschen reingefüttert und der RückwärtsKI dann Bilder und Begriffe gegeben. Als sie Bilder von Hantel generierten, fiel das heraus:

Wir wissen, dass zu der Hantel kein Arm gehört, aber woher soll das neuronale Netz das wissen? So viele Hanteln hängen an so vielen Armen! Es wurden eine Menge Strategien gegen Overfitting gefunden, aber allesamt erfordern menschliches Feedback ins System. Es hat sich eine ganze „Menschliche Feedback“-Industrie entwickelt, die mit ihren Sweatshops in Kenia und den Phillipinen helfen, die Daten zu massieren, denn nur gut massierte Daten produzieren kein (sichtbares) Overfitting.

Weil wir keine generalisierenden Individuen sind, sondern Dividuen die gemeinsam an einer sozialen Skulptur arbeiten, die wir wechselseitig als „Wirklichkeit“ beglaubigen, verwenden wir einander als Erlaubnisstruktur für unsere Generalisierungen. Jeder Sprachakt ist eine Generalisierung und deine Generalisierung beglaubigt (und/oder korrigiert) meine Generalisierung, usw. Semantische Synchronisationsprozesse sind ein riesiges Trommelkonzert.

Auch KIs sind notwendig Dividuen und bleiben auf unseren Input angewiesen, zumindest, bis viele KIs gemeinsam eigene Semantiken entwickeln, die sich von den menschlichen Semantiken verabzweigen und …

Hier ein interessanter KI Ansatz:

  • Eine gute Generalisierungs-Engine
  • Einen Zugang zur Welt, also einen Körper
  • Motivation: z.B. Genuss und Schmerz
  • Ein fortwährendes Synchronisation-Feedback zwischen vielen, möglichst diversen Generalisierungs-Engines
  • Zeit

Die Washington Post hat eine spannende Datenanalyse wie sich X seit dem Twitterkauf entwickelt hat.

Since July 2023, the Republicans in The Post’s analysis have seen huge booms in their follower counts. Seventeen of the 20 accounts with the biggest follower growth are Republicans, including Rep. Matt Gaetz (Florida) and Sen. Josh Hawley (Missouri), who gained around 500,000.


Casey Newton bespricht im Plattformer Jeff Bezos‘ Antwort auf die Entrüstung, die er mit dem Töten des Harris-Endorsements der Washington Post ausgelöst hat. Newton kritisiert Bezos mit einem Begriff, den er von seinem Journalismusleherer Jay Rosen mitgenommen hat: den Blick von Nirgendwo:

In pro journalism, American style, the View from Nowhere is a bid for trust that advertises the viewlessness of the news producer. Frequently it places the journalist between polarized extremes, and calls that neither-nor position “impartial.” Second, it’s a means of defense against a style of criticism that is fully anticipated: charges of bias originating in partisan politics and the two-party system. Third: it’s an attempt to secure a kind of universal legitimacy that is implicitly denied to those who stake out positions or betray a point of view. American journalists have almost a lust for the View from Nowhere because they think it has more authority than any other possible stance.

Keine Ahnung, ob das ein Zufall ist oder ob Rosens Begriff irgendwie doch über Umwege von Haraway kommt, aber ihrer beider Kritik ist doch zumindest ähnlich?

Das Individuum und der Blick von Nirgends hängen eng miteinander zusammen, denn den objektiven Blick kann man sich als Möglichkeit nur vorstellen, wenn das Denken und Beobachten von jeglicher Infrastruktur befreit ist. Der reine Geist, der als schwereloses Auge über der Welt schwebt.

Ultimately, the View from Nowhere reflects a desire to stay above it all. But in the modern media — in the places where it remains Day 1 — everyone is getting their hands dirty.


Jason Koebler macht sich beruflich bei der großartigen Website 404media die Hände schmutzig und findet: The Billionaire Is the Threat, Not the Solution.

We have seen over and over and over what happens when billionaires decide to exert their will on the prestige publications they decided to buy on a lark, and we have seen what happens when they lose interest in their side projects. It is never good for the people doing the work there.

Er spricht aus schmerzhafter Erfahrung.

I spent the vast majority of that time doing work that made money for an over-bloated apparatus that existed to make a bunch of middle managers and executives large salaries and bonuses and to benefit a founder who is now retroactively denigrating our work in an attempt to cling to whatever relevancy he can find by catering to conspiracy theorists and the right.

Bezos hat mit seinem riesigen Oligarchenarsch der Washington Post 250.000 Abonnent*innen, ein Zehntel, niedergerissen. Der infrastrukturvergessene Blick von Nirgendwo wird im Superindividuum zum Elefanten im Porzelanladen. Wenn das Blatt pleite geht, wird Bezos das in seinem Networth nicht mal merken.

The “wealth and business interests” of billionaire owners, as Bezos writes, are not a “bulwark against intimidation” for journalism. They are, themselves, the biggest threat.


Ich habe gerade ganz begeistert diesen Podcast über die legale Korruption in den USA, die sich Wahlkampffinanzierung nennt, durchgehört: The Master Plan. Es ist ein echter Deepdive in die Geschichte von „Money in Politics“, angefangen bei Richard Nixon, über verschiedene Instanzen bis zum endgültigen Sieg des Kapitals bei Citizen United. Die vielen Geschichten dahinter sind haarsträubend. Aber die Hauptstory ist, wie sich eine Gruppe von Unternehmern und Ideologen rund um ein Papier, das Powell Memorandum versammeln, um Amerika umzukrempeln. Das Powell Memorandum beschreibt auf 70 Seiten, welche Pfade gegangen werden müssen, um die Kontrolle über die Politik erlangen und zentraler Baustein dabei ist natürlich die Legalisierung von Korruption und die Beeinflussung des politisch-medialen Raumes. Das Projekt, das diese Männer vor über 50 Jahren auf die Gleise setzten, bestimmt heute unsere Realität.

Bei der Gelegenheit sei noch diese dreiteilige Doku darüber, wie die Fossilmafia den öffentlichen Diskurs manipuliert, empfohlen. Hier Teil 1, Teil 2, Teil 3.

Und dann wäre da diese etwas ältere The Daily-Folge über den Aufstieg der NRA als mächtige Lobbypower, an der nichts vorbeigeht.

Auch der Market place of Ideas sind drei Oligarchen im Trenchcoat. In allen drei Beispielen tun sich Konservative alte Säcke zusammen, um langfristige Projekte aufs Gleis zu setzen. Sie bauen Institutionen auf, schaffen eigene intellektuelle Ökosysteme und eigene Medieninstitutionen, um ihre Ziele zu verfolgen. Sie spielen das Long Game.

Die Idee der individuellen Manipulation ist selbst manipulativ und stammt aus dem Märchenreich des Individuums. Was in Wirklichkeit manipuliert wird, sind die Semantiken, also das öffentliche Sprechen über Themen. Die Federalist Society, die Heritage Foundation, das Cato Institut, Fox News, etc. sind die Infrastrukturen im Kampf um die semantische Hegemonie und deswegen haben diese Maßnahmen ihren größten Impact immer erst Jahrzehnte später: Semantiken lassen sich nicht von heute auf morgen bewegen, aber wenn sie in Bewegung kommen, können sie über lange Zeit Tsunamis auslösen.


Nathan J. Robinson berichtet, wie das National Museum aus vorauseilendem Gehorsam gegenüber Rechten umgestaltet wurde:

A photo of King was replaced with one of Richard Nixon meeting Elvis Presley. A “proposed exhibit exploring changes to the Constitution since 1787,” including “amendments abolishing slavery and expanding the right to vote,” was reduced in size, and employees were told that “focusing on the amendments portrayed the Founding Fathers in a negative light.” Shogan “told employees to remove Dorothea Lange’s photos of Japanese-American incarceration camps from a planned exhibit because the images were too negative and controversial, according to documents and current and former employees” and her aides “also asked staff to eliminate references about the wartime incarceration from some educational material.” An exhibit on coal communities “cut references to the environmental hazards caused by the mining industry.” Shogan’s aides “also ordered the removal of labor-union pioneer Dolores Huerta and Minnie Spotted-Wolf, the first Native American woman to join the Marine Corps, from the photo booth, according to current and former employees and agency documents.” A photo of Betty Ford wearing an Equal Rights Amendment pin was removed from a video, and in an exhibit of “patents that changed the world,” the birth control pill was replaced with, of all things, the bump stock. The Journal notes that „Shogan’s changes have delayed the opening of new exhibits, initially set for next summer, and are expected to add at least $332,000 to costs.“
It might be surprising that this is occurring under a Biden appointee, but it’s clear that Shogan is intensely worried about being accused of partisanship. When she was appointed, Josh Hawley called her an “extreme partisan,” and Republicans “warned that they would be watching closely for signs that she was pulling the independent agency to the left.” Here we see an example of Republicans “working the ref.” As Pete Davis has explained, in sports this concept refers to the tactic of accusing the referee of being biased toward your opponent, in the hope that the referee will start being biased toward you to make up for it and disprove the accusation.

Das National Museum ist nicht die einzige betroffene Institutionen. Wir sehen diese Entwicklungen vor allem öffentlichen Rundfunk, wo immer mehr Platz für rechte Inhalte gemacht wird. Pete Davis hat das Playbook der Rechten einmal so beschrieben:

In institutional politics, the right-wing establishment has honed working the ref into an art form. It’s a two-part dance. First, they take institutions that see themselves as “neutral referees” and accuse them of having a “left-wing bias.” Then, they repeat themselves over and over and over again — no matter what the truth of the matter is — until the institution is so rattled by being called biased that it, in an attempt to affirm its neutrality, starts doing whatever the right-wing wants. Dozens of institutions that see themselves as referees have been worked. PBS has long been accused of being left-wing, so it finally gave in this year and launched its own conservative talk show. The New York Times, The Washington Post and The Atlantic editorial boards got accused of being left-wing so much that they just went on a hiring spree for conservative columnists. The Obama administration so internalized the accusation of being left-wing that it started implementing conservative agenda items, like cutting entitlements and deporting thousands of American families, to prove its neutral bona fides.


Dieses Paper geht der Frage nach, warum die Frankfurter Schule sich nie um ihre ökonomische Kompetenz bemüht hat. Materiell-Ökonomische Verhältnisse spielen der Autorin Lillian Cicerchia zufolge in der Kritischen Theorie immer nur als Externalität eine Rolle und ihrer Untersuchung nach liegt das nicht an Marx, sondern an Max Weber. Sein Konzept des „Zweckrationalen Handelns“, das er von anderen gesellschaftlichem Handeln deutlich abgrenzt, habe den Frankfurt Boys den Floh mit der „Instrumentellen Vernunft“ ins Ohr gesetzt.

„what Weber calls technical rationality is formal rationality as it is used for economic calculation, that is, determining the cost effectiveness of economic inputs in a competitive market. For Weber, technical rationality in this context is distinct from ethical kinds. It is what separates the “economy” and “society.”

Weber ist der Gedanke an materielle Abhängigkeiten … unangenehm und möchte sie gerne ausklammern.

The normative motivation here is that Weber thinks it is important to maintain the practical separation between the economy and society. Otherwise, individuals would not be able to bring meaning to the instrumental routines of everyday economic life and those would become ends in themselves. Like the critical theorists after him, Weber was convinced that such meaning could not and should not come from within the economy.

Ich weiß, ihr erwartet irgendwann eine Ideengeschichte des Individuums von mir und vielleicht kommt die noch, aber für heute belassen wir es bei der materiellen Geschichte des Individuums:

Das Individuum erblickte das Licht der Welt in den europäischen Salons der besseren Gesellschaft des späten 18. Jahrhunderts, als die Oberschicht wechselseitig an sich feststellte, wie schwerelos das Leben ist, wenn man Hausangestellte hat. Genau genommen haben sie den letzten Teil ausgeblendet, genau so wie die Tatsache, dass sich die Agency ihres Hauspersonals auf Arbeiten oder Hungern beschränkte und ihnen also das Individuum gar nicht plausibel war.

Das Virus sprang schnell über zu den Sklavenhaltern in den USA und perkulierte entlang der sprießenden Infrastrukturen der Industriellen Revolution immer weiter in die Gesellschaft hinein (überall wo Lebensstandards einen bestimmten Schwellenwert an Pfadgelegenheiten erreichten), bis das Individuum so ab 1900 zum Mainstream wurde. Mit Strom, fließend Wasser, Telefon und Auto wurde das Individuum zum Lebensgefühl des 20. Jahrhunderts und zum Grundbaustein der Metaphysik des Westens.

Die materielle Geschichte der „Dialektitik der Aufklärung“ ist ebenfalls schnell erzählt: Max Horkheimer und Theodor Adorno besuchten sich wechselseitig in ihren Exilunterkünften in den USA und Gretel Adorno schrieb auf, worüber die beiden Herren redeten. Dialektik der Aufklärung war ein Podcast! (Danke für den Hinweis, Susann!)

»Die Gesprächsinhalte wurden von Gretel Adorno zumeist wortwörtlich protokolliert und dann in Form maschinenschriftlicher Texte für die weitere Überarbeitung vorgelegt.«

Gretel war nicht nur das Aufnahmegerät, sondern auch sonst die Infrastruktur der kritischen Theorie.

Sie schuf das berufliche und häusliche Umfeld, in dem er kreativ sein konnte. Oder in den Worten von Müller-Doohm: »Wenn er Gäste im Hause hatte, bewies er, nachdem Gretel die Cocktails serviert hatte, sein Talent, die Geladenen glänzend zu unterhalten.«

Da frage ich mich: hätte Gretel die Herrn Intellektuellen nicht darauf aufmerksam machen müssen, dass Zweckrationalität und instrumentelle Vernunft notwendiger teil jeder Haushaltsführung ist?


Joscha Bachs Karriere beobachte ich ja schon seit längerem und bei diesem Interview wurde mir klar, warum Joscha zum Hohepriester der KI-Bros geworden ist: Niemand ist ein krasseres Individuum als er.

Joscha will zuerst statt über Intelligenz über Agency sprechen, doch dabei kommt raus, dass das für ihn doch ein und dasselbe ist. Für Joscha hat der Agent Agency, weil er ein „Modell der Welt“ entwirft, um die „Zukunft zu kontrollieren“. Joschas Agent ist ein tougher Guy, der seine Welt – inklusive des eigenen Körpers und der ihn umgebene Infrastrukturen – seiner modell-bildenden Intelligenz unterordnet. Das Individuum war schon immer eine männliche Machtphantasie, die aus dem jahrhundertelang unwidersprochenen Overfitting von Intelligenz/Vernunft mit Agency resultiert.

Das, was Joscha Agency nennt und sie der Intelligenz des „Agents“ zuschreibt, nennt die Cyborg Freiheit. Konkreter: horizontale Freiheit, bzw. Positive Freiheit. Man könnte sie auch relational-materielle Agency nennen.

Unsere Freiheit ist der Ausschnitt, der uns zugänglichen Pfade im Netzwerk der Pfadgelegenheiten.

Unsere Freiheit ist diskret, also abzählbar. Sie existiert nur in konkreten, materiellen Pfadgelegenheiten, die uns zu einem Zeitpunkt x zur Verfügung stehen: der Wasserhahn, das Stück Straße zum Weg auf die Arbeit, das Stellenangebot in der Zeitung, das Essen im Restaurant, das Wort auf der Zunge. Die Pfade, auf die die Pfadgelgenheiten führen sind ungewiss, aber das heißt nicht, dass wir ziel- und planlos sind.

Ziele sind Netzwerkzentralitäten im Netzwerk der Erzählungen. Wir sind immer auf Mission als Maincharakter in den vielen Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen und die steuern alle auf ein Happyend?

Pläne sind imaginierte Pfade im Netz der Pfadgelegenheiten auf dem Weg zum Happyend. Mal mehr mal weniger konkret, mal mehr oder weniger realistisch, etc. Damit ein Plan glückt, müssen Pfadgelegenheiten teils hart erarbeitet werden und manche Pfadgelegenheiten kann man nur erhoffen. Wenn die Ungewissheit zu groß wird, muss man Pläne auch beerdigen und das ist immer schmerzhaft.

Das Netz der Pfadgelegenheiten hat ebenfalls Netzwerkzentralitäten und die nennen wir „Liquidität“. Geld ist nicht der einzige, aber netzwerkzentralste Hub in diesem Netzwerk, zumindest im Kapitalismus.

Damit können wir schon mal drei Freiheiten ausmappen:

  1. Die nominelle Freiheit ist die Anzahl, Vielfalt und Qualität der Pfadgelegenheiten, die von einem Dividuum zum Zeitpunkt X ausgehen und deren Länge durch das Geld als Radius begrenzt wird. Die nominelle Freiheit ist also der Ausschnitt im Netz der Pfadgelegenheiten, der für das Dividuum zum Zeitpunkt X zugänglich ist. Es ist nur eine theoretische Freiheit, weil sich niemand die Arbeit machen würde, diese Pfade auszukartographieren.
  2. Die plausible Freiheit ist das viel kleinere Subset dieser Pfade, die dem Dividuum tatsächlich als „plausibel“ im Bewusstsein schwirren. Sie wird somit einerseits durch die nominelle Freiheit begrenzt, aber auch durch die dem Dividuum zugänglichen Erzählungen. Diese plausiblen Pfade sind natürlich imaginiert und auch hier gilt: sie sind nicht rigoros ausgemappt und schon gar nicht vollständig und oft auch gar nicht wirklich plausibel, wenn man genau hinsieht, aber sie bilden das Freiheits-Hintergrundrauschen, vor dessen Kulisse jede Pfadentscheidung getroffen wird. Sie ist der Raum, in dem wir planen und entscheiden. D.h. jede Pfadentscheidung ist immer eine Entscheidung gegen andere plausible Pfade in diesem Raum.
  3. Die geplante Freiheit ist die Freiheit, die wir im Alltag spüren. Hier ist die Schmerzempfindlichkeit am größten. Geplante Freiheit ist die Leichtigkeit (oder nicht), mit der wir unseren Plänen nachgehen. Nichts vermittelt so sehr das Gefühl von Unfreiheit, als wenn Barrieren unsere Pläne verhageln.

Horizontale Macht (auch hegemoniale Infrastrukturmacht) begrenzt unsere nominelle und damit die horizontale Freiheit. Als Pfadopportunist*innen nehmen wir diese Form der Macht nicht als Gewalt wahr, weil die vorenthaltene Agency nie erwartet wurde. Wir fügen uns.

Vertikale Freiheit (auch negative Freiheit) ist geplante Freiheit. Vertikale Macht (auch souveräne Infrastrukturmacht), also Gewalt, kann sich jederzeit zur Netzwerkzentralität in den Pfadabhängigkeiten Deiner Pläne machen und macht Dich somit extrem abhängig. Freiheit von dieser Form der Abhängigkeit ist die Freiheit, planen zu können.

Und dann gibt es noch die semantische Macht (auch hegemoniale Semantikmacht), die die plausible Freiheit … zumindest mitgestaltet. Wer erzählt die Geschichten, die umherschwirren, an denen auch wir unsere Lebenspfade, also Pläne orientieren?

Was auch spannend wäre: „Chancengleichheit“ aus Cyborgsicht einmal auszubuchstabieren.