Krasse Links No 30

Willkommen zu Krasse Links No 30. Heftet Euch Gewalt an die Pfadentscheidung, heute dematerialisieren wir die Erlaubnisstrukturen der Superindividuen.


Wenn am 5. November Donald Trump die Wahl gewinnt, wird er Präsident der Vereinigten Staaten. Aber was passiert, wenn Kamala Harris die Wahl gewinnt? Entweder wird sie Präsidentin, oder …

A key swing state takes several days to finish counting votes. Harris edges Trump by a few thousand ballots, appearing to clinch the election. Trump then blankets the state with ads exhorting officials to “stop the steal,” sends top allies to rail daily outside counting facilities about a crooked process, files a blizzard of litigation urging judges to throw out ballots being counted after Election Day and spreads claims that the vote was swung by non-citizens. Threats rain down on election officials and vote counters, with protests driving up the local and national temperature. Then, Trump allies on a handful of county election boards resist certification, threatening to disenfranchise thousands of voters and disrupt the state’s effort to finalize an accurate count.

All die Verschwörungstheorien, Lügen und Grenzverletzungen aus dem MAGA-Lager sind nicht einfach „Desinformationen“ oder „Propaganda“. Wir sollten uns stattdessen fragen:

Wozu geben sie sich damit die Erlaubnis?


Neulich hatte ich hier über ein KI-Paper von Anthropic berichtet, in dem via „Sparse Autoencoder“ (ein spezielle Art von neuronalem Netz, das ich dort auch erkläre) einzelne Semantiken im Neuronengefüge eines Large Langugage Models identifiziert und isoliert wurden.

Nun haben Wissenschaftler*innen diese Methode dazu genutzt, unterschiedliche Modelle darauf zu testen, ob sie dieselben Semantiken (hier: monosemantische Features) implementieren und die Antwort ist: yep.

Our findings reveal a high degree of similarity in SAE feature spaces across various models. Furthermore, our research reveals that subspaces of features associated with specific semantic concepts, such as calendar or people tokens, demonstrate remarkably high similarity across different models. This suggests that certain semantic feature subspaces are universally encoded across varied LLM architectures.

Das beweist natürlich meine Theorie nicht, aber ein anderes als dieses Ergebnis würde sie hinfällig machen.


Der hier öfter zitierte François Chollet hat einen sehenswerten Vortrag über die technischen Grenzen von Large Language Models gehalten und ich bleibe dabei: er scheint einer der wenigen im Silicon Valley zu sein, die es geblickt haben.


2022 hatte ich zusammen mit anderen im Auftrag des Wikimedia e.V. die Konzeptstudie über die „Nationale Bildungsplattform“ (jetzt: „Digitale Vernetzungsinfrastruktur für die Bildung“) veröffentlicht und die eine Erkenntnis, die mich seitdem haunted, ist, wie pfadopportunistisch Technologieentwicklung ist.

Wir führten einige semistrukturierte Interviews mit allen möglichen Beteiligten und fanden heraus, dass das ganze Konzept von Anfang an und bis zum Ende des Prozesses auf einem Prototypen basierte (BIRD), der wiederum auf Softwarekomponenten basierte, die allesamt im Zuge eines anderen Projektes an der Universität Potsdam entwickelt wurden.

Ulrike Lucke hatte an der Uni Rostock bereits an vergleichbaren Problemen gearbeitet und in ihrer Zeit an der Universität Potsdam weiter die Vernetzung von Hochschuldiensten vorangetrieben. (Lucke Interview, 2022) Insbesondere über den ebenfalls vom BMBF geförderten »Qualitätspakt Lehre« wurden viele Technologien entwickelt und erprobt, die heute in BIRD stecken. So hatte das »Schaufenster«, das sich in den Ausschreibungsunterlagen findet, bereits ein Vorleben an der Universität Pots- dam. An Single Sign-on und einem Walletkonzept wurde ebenfalls gearbeitet, und auch der Metadatenaustausch wurde in verschiedenen Projekten erprobt. In den Worten von Ulrike Lucke: »Also, es ist nichts 100 pro neu, sondern nur wirklich zusammengesammelt, angepasst, zusammengefügt.«

Ich will das nicht skandalisieren, sondern fand das erst nur erstaunlich und dann fand ich erstaunlich, dass ich es erstaunlich fand, obwohl es im wahrsten Sinne des Wortes naheliegend ist?

Vielleicht, weil wir uns Technologieentwicklung als Heldengeschichten von genialen Individuen erzählen, haben wir das Offensichtliche übersehen, nämlich, dass jede neue Technologie eine Pfadentscheidung ist, die durch vorherige Pfadentscheidungen ermöglicht wurde. Technologieentwicklung ist ein Gestrüpp, dass sich nur entlang seiner Ränder weitererzählen lässt.

Sicher, die Navigation technologischer Pfadgelegenheiten ist (meist) profitgetrieben, aber weil das, was bereits im Regal liegt, die plausiblen Pfade vorzeichnet, entwickelt Technologie immer auch ein Eigenleben.

Umgekehrt heißt das auch: Einmal errichtete Infrastruktur determiniert und motiviert ihre Anschlussnutzung.


Italien baut mit EU-Geldern Konzentrationslager und andere militarisierte Infrastrukturen in Tunesien (und beginnend auch in Albanien) und der Guardian hatte vor ein paar Wochen eine ausführlich recherchierte Story mit vielen Einzelschicksalen.

Marie, from the Ivory Coast city of Abidjan, knows others who describe rape by Tunisia’s national guard. “We’re being raped in large numbers; they [the national guard] take everything from us.”

Andere werden in die Wüste getrieben.

Her body was found mid-August near Kasserine, face down in sand. Mohamed estimates up to 50 of his friends have been snatched from Sfax by the national guard and dumped in the desert. Of these five have disappeared or were found dead. Another 10 crossed into Algeria.

Die Zustände in den Camps sind menschenverachtend.

“They eat dead animals, roadkill, anything they find,” says Youssef.
Denied all healthcare, Yasmine says the camp is rife with disease including tuberculosis, HIV, scabies and syphilis. Concern is mounting over the infant mortality rate. “Babies are born in 40C heat without medical help, vaccination, food. How can they survive?”

Behaltet Eure Meloni-Beschimpfungen für Euch, denn das ist unsere Gewalt. Sie passiert in unserem Namen und wir erlauben das. Und diese Erlaubnisstruktur ist bereits eine wichtige Pfadentscheidung dafür, wie wir mit der Milliarde Flüchtlingen im Zuge des bevorstehenden Klimakollaps umgehen werden. Wer immer noch glaubt, in der Startrek Timeline zu leben, sollte langsam mal aufwachen.


In seinem Newsletter spielt Timothy Snyder einmal durch, was es bedeutet, wenn Trump seine Pläne für Massendeportationen wahr macht.

An attempt to rapidly deport twelve million people will also change everyone else. As Trump has said, such an action will have to bring in law enforcement at all levels. Such a huge mission will effectively redefine the purpose of law enforcement: the principle is no longer to make all people feel safe, but to make some people unsafe. And of course the diversion of law enforcement resources to deportation means that crimes will not be investigated or prosecuted. So some people will be radically less safe, but everyone regardless of status will in fact be less safe.
[…]
The deep purpose of a mass deportation is to establish a new sort of politics, a politics of us-and-them, which means (at first) everyone else against the Latinos. In this new regime, the government just stokes the fears and encourages the denunciations, and we expect little more of it. If Trump and Vance win, this dynamic will be hard to stop, especially if they have majorities in Congress. The only way to avoid it is to stop them in November with the vote.

Weil wir nicht einfach gewalttätige Individuen sind, sondern Dividuen, die einander Gewalt erlauben (siehe auch Milgram), kommt jede Gewalt mit ihrer Erlaubnisstruktur.

Es ist am Ende nicht so sehr die Gewalt selbst, die die Gesellschaft verändert, sondern die Infrastrukturen der Gewalt und ihre angeschlossenen Erlaubnisstrukturen. Weil Semantiken alle miteinander verkoppelt sind, kann man keinen Gewaltakt rechtfertigen, ohne einen ganzen Rattenschwanz von verknüpften Semantiken mitzuverschieben. Alles, was der Faschismus berührt, färbt er ein.

Das gilt nicht nur für Massendeportationen. Wenn ich tausende Tote und Konzentrationslager an den EU-Außengrenze erlaube, weil „wir nicht alle aufnehmen können“; wenn ich jahrelange Haftstrafen gegen Klimaaktivist*innen erlaube, weil sie den Verkehr stören; wenn ich den Tod von zigtausenden palästinensischen Zivilist*innen in Kauf nehme, weil „Israel sich verteidigen muss“, dann baue ich an immer monströseren Erlaubnisstrukturen, die immer mehr Gewalt normalisieren und also motivieren.


The Market Exit erklärt, warum Meritokratie Bullshit ist. Das eindrücklichste Beispiel war, fand ich, dass die Namen der normannischen Oberschicht, die England nach der Eroberung von 1066 regierte, immer noch überdurchschnittlich oft in den Immatrikulationslisten von Oxford und Cambridge zu finden sind.

Ich hatte im letzten Newsletter dazu aufgerufen Marx‘ Perspektive des historischen Materialismus zu adaptieren, doch dabei schließe ich Semantik ausdrücklich mit ein.

Warum auch nicht? Schallwellen, Tinte auf Papier, Pixel, Festplatten: jedes „sich Ausdrücken“ ist materiell. Und jede Semantik zeitigt materielle Effekte: Ein falsches oder richtiges Wort, ein bestimmtes Aussehen, ein Song oder ein Buch können enorme materielle Unterschiede ausmachen.

Doch semantische Pfadgelegenheiten bleiben latent und damit immateriell, bis zum Zeitpunkt ihrer Manifestation. Semantiken sind nur materiell in der Relationalität ihrer Artefakte, Sprechakte oder Urherberrechtsverfahren.

Was Semantiken ebenfalls materiell macht, ist, dass sie eingeübt sind. Oberschichts- oder proletarische Semantiken zu navigieren, ist ein jahrelang trainierter Skill, dessen LockIn soziale Verortung gleichzeitig signalisiert und enforced, wie Pierre Bourdieu bereits in den 1970er gezeigt hat.

Weil wir alle nur Pfadopportunist*innen sind, die semantische und materielle Pfadgelegenheiten wahrnehmen, die die Infrastrukturen bereitstellen, die halt so um uns herumstehen, gleiten oder grinden wir durchs Leben und reproduzieren im Lockstep-Individualismus die Strukturen, die uns hervorgebracht haben.


Cory Docotorow warnt davor, auf die Urheberrechtsklagen der Verlage gegen die KI-Startups zu hoffen. Der Feind deines Feindes ist nicht immer Dein Freund.

Seit dem Aufkommen von genrativer KI gibt es in der linken techkritischen Szene eine art „Reckoning“ mit alten urheberrechtskritischen Positionen, jetzt, da das Urheberrecht die einzige wirksame Waffe gegen Big Tech zu sein scheint.

Doch die Erzählung ist Kokolores. Einerseits profitiert Big Tech selbst in enormen Maße, weit mehr als die Verlage vom Urheberrecht und anderen Immaterialgüterrechten und zum Anderen wird das Urheberrecht keine der befürchteten Entwicklungen verhindern.

Was passieren wird ist, was immer passiert: die Verlage handeln ihre Deals aus und die Urheber*innen gehen leer aus. Der Grund für das Darben der Kreativen ist nämlich nicht ein impotentes Urheberrecht, sondern die relative Reduktion ihrer Netzwerkzentralität gegenüber einer sich immer stärker konzentrierenden Kulturindustrie.

The biggest predictor of how much money an artist sees from the exploitation of their work isn’t how many exclusive rights we have, it’s how much bargaining power we have. When you bargain against five publishers, four studios or three labels, any new rights you get from Congress or the courts is simply transferred to them the next time you negotiate a contract.
[…]
Giving a creative worker more copyright is like giving your bullied schoolkid more lunch money. No matter how much you give them, the bullies will take it all. Give your kid enough lunch money and the bullies will be able to bribe the principle to look the other way. Keep giving that kid lunch money and the bullies will be able to launch a global appeal demanding more lunch money for hungry kids!

Weil wir keine Individuen sind, die eigene Musikgeschmäcker haben, sondern Dividuen, die sich gegenseitig Musikgeschmäcker beibringen, kann man die Geschichte des Rock n’Roll auch als die Geschichte der kommerziellen Erschließung semantischer Netzwerkmacht erzählen.

Das Verlagswesen hatte bereits den Weg gewiesen, aber mit dem Aufkommen der Tonträgerindustrie und den Massenmedien wurde klar, dass man auf Öl gestoßen war. Während die Kosten für die Produktion für Tonträger mit der Skalierung immer Bedeutungsloser wurden (Skaleneffekt), stiegen die Umsätze für virale Hits exponentiell ins Unermessliche (Netzwerkeffekt).

Jede Ölquelle braucht Infrastrukturen und so machten Stars, Drama, Spektakel die Einnahmen berechenbarer und es wuchs ein mächtiges Business heran, das in seiner korrupten mafiosität als weiteres Beispiel für den Ressourcenfluch gelten kann. Die Ausbeutung war schon immer brutal, doch mit der Konsolidierung hin zu nur noch drei großen Majorlabels, die gemeinsame Sache mit den Streamingdiensten machen, hat die Kulturindustrie eine Form von Gewalt gefunden, die im Kapitalismus legal ist.

Das Urheberrecht spielte die meiste Zeit nur als Spezialrecht eine Rolle, das die Angelegenheiten zwischen Urheber*innen und Verlagen regelt, doch als mit dem Aufkommen des Internets dieses Geschäftsmodell in Frage stand, wurde das Urheberrecht auf Druck der Musikoligarchie zu dem allgegenwärtigen Regime umfunktioniert, mit dem wir nun jeden Tag in Berührung kommen.

Handelsverträge (WTO, TRIPS, TTIP, etc) machten Immaterialgüterrechte (dazu gehören auch Patente und Markenrechte) zu globalen Regimes und erschufen ein neues Paradigma der Ausbeutung, das sich immer mehr auf die Erschaffung und Kontrolle von semantischen Infrastrukturen spezialisierte und die Produktion materieller Güter mehr und mehr in Entwicklungs- und Schwellenländer auslagerte, wo man Supplyer und Arbeiter*innen um die abfallenden Brotkrumen konkurrieren lässt.

In meinem Supplychain-Text spreche ich von „relationaler Dematerialisierung“ und meine, dass Arbeitskraft, Energieflüsse, Fabriken und alles Materielle immer austauschbarer gemacht werden, während man gleichzeitig an der Unaustauschbarmachung von immateriellen Gütern arbeitet. Der Anteil immaterieller Wertschöpfung hat in fast allen westlichen Ländern den des Materiellen längst überflügelt und die Machtkonzentration, die wir in den USA und den westlichen Ländern sehen, ist zum Großenteil auf die Monopolisierung semantischer Netzwerkzentralitäten zurückzuführen.

Dass ich die Geschichte der Plattformen von Napster her erzähle ist kein Zufall, denn mit dem Napstershock wurde nicht nur die explosive Kraft von Netzwerkeffekten offenbar, sondern auch das Problem, das der Kapitalismus mit dem Internet hat: Mangelnde Kontrolle. Apple etablierte mit iTunes die integrierte Bezahlschranke als Lösung und so wurden Plattformen die technologische Antwort auf den Kontrollverlust. Ergebnis ist ein rein technisches Regime, das kaum mehr auf staatliche Rechtedurchsetzung angewiesen ist, weil es seine infrastruktureigene Gewalt einsetzt, um Netzwerkeffekte ausbeutbar zu machen.

Generative KI ist gewissermaßen nur der Höhepunkt eines seit längerem fortschreitenden Prozesses, nämlich die endgültige relationale Dematerialisierung kreativer Arbeit, das heißt die Reduktion Eurer, liebe Urheber*innen, relativen Netzwerkzentralität ins Bodenlose. Es sollen künftig nur noch KI-Unternehmen von unserer Abhängigkeit von Tönen, Bildern und Texten profitieren und die Kulturindustrie verhandelt gerade ihren goldenen Fallschirm. Fuck Yeah, Urheberrecht!


Max Read hatte neulich in das Business des Newsletter-Schreibens eingeführt und weil ich gerade die freien 1000 Abonnent*innen bei MailPoet gesprengt habe und ab nun für den Spaß bezahlen muss, hab ich das interessiert gelesen.

Read haut seine wirklich relevanten Takes „for free“ raus, auch weil das Leser*innen gewinnt und seine „Payed Subscriber“ bekommen nur ein paar Literaturempfehlungen.

The paywalled post offers some kind of value-add (shopping guides, book recommendations, link roundups), the contents of which are teased above the paywall. This is the main way you convert your free subscribers to paid–they want access to all the good, valuable stuff you’re offering behind the paywall.

Das Newsletter-Business funktioniert so, dass Du mit einem bestimmten Wissen oder einer bestimmten Perspektive Aufmerksamkeit, also Netzwerkmacht aufbaust, die Du dann teilweise hinter die Infrastrukturen einer Bezahlschranke stellst.

Den Einsatz von Macht, um anderen seinen Willen aufzuzwingen, nennt man Gewalt. Das ist erstmal kein Problem, solange man dafür eine plausible Erlaubnisstruktur unterhält, aber blöderweise funktionieren die Existierenden nur für Individuen?

Klar, ich habe Arbeit, ich will und muss leben, um die Arbeit weiter fortzusetzen, etc. aber das ist halt nicht, wie eine Bezahlschranke funktioniert? Bezahlschranken setzten einen allgemeinen Preis für arm oder reich gleichermaßen und vor allem bleibt der Preis derselbe, ob ich 100 oder 10.000 Abonnent*innen habe und d.h., selbst wenn ich satt bin, enthalte ich jemandem etwas vor, was er oder sie will, obwohl es mich literally nichts kosten würde, es bereitzustellen. Während also die Einnahmen unabhängig vom Aufwand sprudeln, korrumpiert das die Erlaubnisstruktur und macht sie zur verdrängten Gewalt und wir wissen ja wohin das führt: Privatjets, die den Klimawandel beschleunigen.

Als Individuum kann man sagen: ich bin so krass, wie ich all diese Gedanken aus der besonderen Individualität meines Geistes extrahiere, das habe ich mir verdient aber als pfadopportunistischer Navigator von Semantiken, die eh grad herumlagen ist das weitaus schwieriger. Im Gegensatz zum Individuum verdanke ich meinen moderaten Erfolg nämlich nicht meiner Genialität sondern Leuten, die angstfrei genug sind, zu meinen weirden Beats mitzunicken und die per Mouth-to-Mouth-Empfehlung die eigentliche Überzeugungsarbeit leisten. Habt vielen Dank dafür!

Also hier ist mein Deal:

  1. Der Newsletter bleibt frei und Du bezahlt mich einfach freiwillig. Aber bitte keine Einmalspenden, sondern monatliche Daueraufträge.
  2. Wenn Du weniger als 30.000 Euro im Jahr verdienst, will ich Dein Geld nicht. Es gibt tausend Arten, das Geld besser auszugeben. Kauf Dir lieber ein Eis!
  3. Zur Orientierung: nach derzeitigem Stand ich wäre gesundgestoßen, wenn alle 1,50 zahlen, oder 100 Leute 15 Euro, oder 10 Leute 150 Euro. Nein, ich erwarte keine initiale Gesundstoßung.
  4. Wenn Du so viel Geld hast, dass Du gar nicht so recht weißt wohin damit, bitte spende nicht über 150 Euro pro Monat. Ich schätze meine Unabhängigkeit.
  5. Ansonsten: Denk beim Ausfüllen der Sepa-Lastschrift nicht an mich, sondern an all die Leser*innen, denen Du mit Deiner Spende den Zugang zum Newsletter ermöglichst.

Michael Seemann
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Elon Musk telefoniert seit 2022 regelmäßig mit Putin, Donald Trump behgauptet, Tim Cook hätte ihn angerufen und Jeff Bezos killt der Washington Post ihr Kamala Harris-Endorsement.

Wenn meine These, dass das Individuum nur eine Projektion auf die eigene infrastrukturvermittelte Agency ist, stimmt, dann folgt daraus, dass das „Individuum“ skalierbar ist. Je mächtiger die kontrollierten Infrastrukturen sind und je weitreichendere Pfadgelegenheiten sie ermöglichen, desto mehr Agency kann man als „Individualität“ auf das Selbst projizieren.

Hier meine These zu Milliardären: Durch die ungebremste Machtakkumulation im Neoliberalismus entstand die Psychologie des Superindividuums. Menschen, die über so viel infrastukturvermittelte Macht verfügen, dass sie begonnen haben, sich als Superhelden zu erzählen.

Und meine weitergehende These ist, dass Milliardäre in Wirklichkeit gar keine Individuen sind, sondern Dividuen, die sich das Milliardärsein voneinander abschauen, weshalb Trumps ungesühnte Grenzüberschreitungen bei Bezos, Thiel, Sachs, Cook, Ackman, Zuckerberg und vor allem Musk ein Milliardärs-Klassenbewusstsein inspiriert. Sie beginnen zu verstehen, dass Trumps Wahlsieg eine universelle, ungecheckte Erlaubnisstruktur für Superindividuen wie sie in Aussicht stellt.


Da auch Klassenbewusstseine ihre Pfadentscheidungen haben, ist es vielleicht interessant, dass ein relevanter Teil der sich gerade radikalisierenden Milliardäre ihren herrschaftlichen Blick in Appartheits-Süd-Afrika eingeübt hat.

Elon Musk lived in apartheid South Africa until he was 17. David Sacks, the venture capitalist who has become a fundraiser for Donald Trump and a troll of Ukraine, left aged five, and grew up in a South African diaspora family in Tennessee. Peter Thiel spent years of childhood in South Africa and Namibia, where his father was involved in uranium mining as part of the apartheid regime’s clandestine drive to acquire nuclear weapons. And Paul Furber, an obscure South African software developer and tech journalist living near Johannesburg, has been identified by two teams of forensic linguists as the originator of the QAnon conspiracy, which helped shape Trump’s Maga movement. (Furber denies being “Q”.)
[…]
To whites of a certain mindset, this inequality wasn’t due to apartheid. They thought it was inscribed in nature. Certain people were equipped to succeed in capitalism, while others weren’t. That was simply the way it was, and it was pointless to try to mess with nature. Two of Thiel’s contemporaries at Stanford in the 1980s recall him telling them that apartheid “works” and was “economically sound”. His spokesman has denied that he ever supported apartheid.


Dazu passt diese Recherche vom Guardian, dass hinter dem erwachenden Interesse für „race science“ ebenfalls ein Netzwerk von unter anderem Tech-Oligarchen steckt, das über dubiose Think Tanks Journalismus und Wissenschaften beeinflusst. Nicht nur in den USA, auch in Deutschland.


Spencer Ackerman war bei „Tech Won’t Save us“ und erklärt überzeugend, warum Israels Krieg in Gaza Labor und Prototyp einer neuen Form der Kriegsführung ist, die wir bald überall sehen werden: Komplett KI-gestüzt, halbautomatisiert und erbarmungslos.


Roberto J. González schreibt in diesem Paper über die immer engere Verzahnung des Industriellen Militärischen Komplexes mit Silicon Valley. Zwischen 2019 and 2022 vergab das Militär bereits ca. $53 Milliarden und mit KI geht Trend steil nach oben.

Over the past two years, global events have further fueled the Pentagon’s demand for Silicon Valley technologies, including the deployment of drones and AI-enabled weapon systems in Ukraine and Gaza, and fears of a global AI arms race against China. The prospect of Russian cyberwarfare and disinformation campaigns have also motivated Defense Department officials to invest heavily in new digital technologies. Consequently, DoD officials have outlined plans to develop expansive fleets of autonomous aerial, maritime, and terrestrial drones for transportation, surveillance, and combat; acquire commercial cloud computing capabilities for data sharing, data storage, and “seamless connectivity”; bolster America’s cyberdefense systems; and employ AI for training and combat simulation exercises.

Hier, was ich glaube, was passieren wird:

  • Die Gen-KI-Blase platzt und das wird einige Startups killen, aber nicht die Großen.
  • Die gigantomatischen KI-Rechenzentren stehen aber jetzt in der Landschaft und determinieren und motivieren Anschlussnutzung.
  • Während sich die geopolitischen Spannungen überall auf der Welt hochschaukeln und alle sicher sind, dass der nächste Krieg durch KI entschieden wird.
  • Während die Tech-Billionär-Kaste von Superindividuen ihr faschistisches Klassenbewusstsein entdeckt und sich immer stärker an den militärisch-industriellen Komplex kuschelt.
  • Während wir unsere Erlaubnisstrukturen schneller skalieren, als Elon Musk seine Versprechen.
  • Gaza for the Rest of us.

WWIII wird … weird.

Krasse Links No 29

Willkommen bei Krasse Links No 29. Leitet Eure Schärfe in den Schmerz, heute dekonstruieren wir die „False Norm“ in der Schwerelosigkeit der Realität.


Ein Video mit dem in Tränen ausbrechenden Meterologen John Morales ging kurz vor Miltons Impact in Florida viral.

Mein Doktorvater Bernhard Pörksen sagte mal zu mir: „Realität ist das, was noch da ist, wenn du nicht dran glaubst“, was ich auf Anhieb schlüssig fand. Aber wenn man das zu Ende denkt, bedeutet das: Realität ist Schmerz. Schwerkraft ist nicht „wahr“, weil Newtons Formeln stimmen, sondern weil hinfallen weh tut.

Schmerz ist auch der Antrieb für diesen Newsletter. Ich habe mir am Netzwerk den Kopf gestoßen und seitdem verarbeite ich diese Erfahrung zu einer anderen Sicht auf die Welt.

Der Klimawandel ist wie das Netzwerk ein Hyperobjekt, und meine These zu Hyperobjekten ist, dass sie Dimensionen von Realität sind, zu denen uns noch der passende Schmerz fehlt. Deswegen hat dieser Clip wahrscheinlich mehr zum allgemeinen Verständnis des Klimawandels beigetragen als der letzte IPCC-Bericht.


Ich gucke immer mehr Videos auf Instagram (lasst mich!) und einem, dem ich supergern folge, ist Adam Aleksic, aka etymologynerd.

In diesem Video beschreibt er das Phänomen, dass Jungennamen in den USA immer häufiger mit „n“ enden und dieser Trend zur Uniformität lässt sich paradoxer auf einen Abgrenzungswillen zurückführen. Es wurden ganz viele neue Namen kreiert, aber meist welche, die auf „n“ enden, weil das irgendwie „low key“ männlich wahrgenommen wird. Das führte zu mehr Männern mit „n“ am Namensende, was den Eindruck verstärkte, etc. Network effects all over again.

Jedenfalls nennt man das wohl „Lockstep Individualism“ und ich musste herzlich lachen, aber dann fragte ich mich: gibt es einen Individualismus, der nicht lockstep ist? Ist nicht jede Abgrenzungsgeste bereits im lockstep mit all den anderen Abgrenzungsprojekten? Ist lockstep-Abgrenzung nicht auch irgendwie unser Thing?


Apple hat ein Paper zu den „Reasoning“-Fähigkeiten von LLMs veröffentlicht und ich bin mir fast sicher, dass es diese Forschung war, die Apple dazu bewegte, sich aus der letzten Fundingrunde von OpenAI herauszuziehen.

Die Apple-Forscher*innen haben ein populäres Datenset mit Reasoning-, Logik und Mathe-Aufgaben zur Hand genommen und von den Fragen Templates gemacht, mit denen sie allerlei Variationen der ursprünglichen Fragen austesten konnten. Und das Ergebnis ist, dass man die Modelle mit kleinen Änderungen am Setting komplett aus dem Konzept bringen kann.

We show that, likely due to potential pattern matching and the fact that the training distribution of models included only necessary information for solving questions, adding seemingly relevant clauses to the question that do not impact the reasoning process required to solve it significantly drops the performance of all models.

Outsch.

Overall, we find that models tend to convert statements to operations without truly understanding their meaning. For instance, a common case we observe is that models interpret statements about “discount” as “multiplication”, regardless of the context.

OutschOutsch.

It may resemble sophisticated pattern matching more than true logical reasoning.

OutschOutschOutsch.

Neulich, unter meinem LinkedIn-Post zu dem „Dickicht der Bedeutung“-Text diskutierten Martin Linder und ich, wieso die LLMs so besonders gut darin zu sein scheinen, kulturwissenschaftliche Texte zu produzieren und Martin schrieb:

„ja, kulturwissenschaften beruhen ja geradezu auf dem genauen umgang mit unschärfen.“

Das schien es mir auf den Punkt zu bringen. Wir KuWis haben ja immer mit „Fuzzy Objects“ zu tun und daher gilt es, durch Genauigkeit in der Beschreibung Konturen in die Unschärfen zu bringen. Das ist unser Beitrag. Aber dann fiel mir auf, dass das, erstens für alle Wissenschaften und zweitens sogar jede menschliche Äußerung gilt: Wenn wir sprechen, wollen wir etwas ausdrücken, das heißt eine Unschärfe konturieren, um sie mitteilbar zu machen. Das ist immer ein schwieriges Unterfangen, weil die Stimmung, die Beziehung, die Gefühle, die Welt eben … unscharf sind, uns aber nur vereindeutigende Worte dafür zur Verfügung stehen.

Das erinnerte mich daran, dass Derrida immer wieder darauf hinwies, dass nur das Unentscheidbare überhaupt entschieden werden kann.

A decision can only come into being in a space that exceeds the calculable program that would destroy all responsibility by transforming it into a programmable effect of determinate causes.

Und dadurch kam ich drauf, dass es bei der LLM genau umgekehrt ist. Statt auf Unschärfen greift sie auf einen klar determinierten Datenraum zu und folgt ihm entlang der Majority Vote. Die LLM will nichts ausdrücken, sondern optimiert ihren Output auf statistisch gemessene Erwartbarkeiten.

Und um das Ergebnis glaubwürdiger zu machen, streut man beim Generieren des Textes über den „Temperature“-Wert noch Randomness hinzu. Die Erfahrung zeigt, dass wenn die LLM immer nur stur das wahrscheinlichste Wort ausspuckt, die Texte auf weirde weise eindimensional, langweilig und redundant werden. Wenn aber nach einem Zufallsprinzip auch mal das zweit- oder drittwahrscheinlichste Wort gewählt wird, dann wirken die Texte „lebendiger“ und „kreativer“ und tatsächlich auch nützlicher.

Temperature ersetzt also das, was sonst wir Menschen beim Sprechen beisteuern. Das wirkt dann zwar menschlich, aber diese „Lebendigkeit“ und „Kreativität“ sind per Zufall simuliert. Die menschlichen Abweichungen von den ausgetretenen Pfaden sind aber eben nicht random, sondern entstammen unseren Bemühungen, uns auszudrücken, also das Unentscheidbare zu entscheiden. Deswegen tun LLMs das Gegenteil, von dem, was wir tun: Sie machen Scharfes ungenau. Und das wäre doch auch eine wunderschöne Definition von Slop?

D.h. auch wenn OpenAI sich mit Reinforcement-Learning eine vollständige Datenbank aller Lösungspfade zu allen vorstellbaren entscheidbaren Fragen kreiert und o1 und ihre Nachfolger alle noch zu schaffenden Benchmarks nach oben klettern, wird das keine Intelligenz in die Maschine bimsen. So lange sich die KI nicht ausdrückt, und das ist Voraussetzungsreich: so lange sie nicht mit der Fuzzy Welt in Beziehung tritt und das Unentscheidbare entscheidet, um die Erfahrung anschlussfähig zu machen, kann sie immer nur das längst Entschiedene slopen.

Was die KI-Bros nicht verstehen, ist, dass sie mit den LLMs keine Intelligenz geschaffen haben, sondern ein Modell unserer gesellschaftlich-medialen Erwartungen. Und weil auf Spiegel besonders Narzisten reinfallen, hat sich das Silicon Valley mit „AGI“ eine für sie selbst optimierte intellektuelle Venusfalle gebaut. Irgendwann muss das mal von den Coen-Brothers inszeniert werden.


Nachdem Lewis Waller bereits sehr sehenswert Kant und Hegel durcherklärt hat, ist diesmal Karl Marx dran und ich kanns wieder sehr empfehlen.

Das ganze Netzwerkdenken hat mich Marx ein großes Stück näher gebracht und egal, was man von seinen konkreten Analysen hält, sollte sich jeder die Perspektive des historischen Materialismus aneignen. Marx war einer der wenigen, die aus der Infrastrukturvergessenheit des Individuums aufgewacht sind. Statt wie die liberalen Ökonomen mit „Märkten“ herum zu theoretisieren, schaute er hin und versuchte Genauigkeit in die Unschärfe des wirtschaftlichen Geschehens zu bringen.

Außerdem hat Marx bereits die Cyborg beschrieben:

„Das menschliche Wesen ist keine dem einzelnen Individuum innewohnende Abstraktion. Es ist seiner Wirklichkeit nach die Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse.“


In seinem Newsletter hat Jonas Schaible eine interessante kleine Privatforschung zu medialer Berichterstattung und Umfrage von CDU und AfD gemacht.

Vor einer Weile habe ich hier eine kleine Analyse beschrieben, die ich aus Interesse versucht habe. Ich wollte wissen, ob man Muster findet, wenn man die Intensität der Berichterstattung über Migration mit dem Ausmaß vergleicht, in dem Menschen Migration als Problem empfinden.

Das Ergebnis: Die Problemwahrnehmung scheint nicht losgelöst zu sein von den realen Fluchtbewegungen, noch viel stärker aber scheint sie der Berichterstattung zu folgen.

Jetzt habe ich das ganze nochmal um Umfragewerte der Union und der AfD ergänzt und mir angeschaut, ob es Muster gibt.

Was sich zeigt: Sowohl AfD als auch Union steigen in Phasen, in denen Migration stärker als Problem wahrgenommen wird, und fallen, wenn das weniger so ist. Der Effekt ist allerdings wenig überraschend stärker für die AfD.

Aber zwischen der Menge an Zeitungsartikeln über Migration in den zwei Wochen vorher und den Umfragewerten gibt es bei der Union für 2023 und 2024 keinen erkennbaren Zusammenhang. Bei der AfD gibt es ihn sehr wohl.

Das stärkt erneut die Vermutung, die ihrerseits auf reichlich Forschung gründet: Wenn Migration großes Thema ist, dann hilft das der AfD. Der Union eher nicht.

Ich seh das so:

Weil wir keine Individuen sind, die die Welt beobachten, sondern Dividuen, die einander beobachten, wie sie die Welt beobachten, ist Öffentlichkeit ein Klangkörper, den wir alle miteinander bespielen. Öffentlichkeit ist in seiner Funktionsweise ein großes, diverses Trommelkonzert, wo alle möglichen Akteure Aufmerksamkeit auf sich und ihre Geschichten konzentrieren wollen – also einen Beat anstimmen, um andere zum Mitschwingen zu animieren.

Die Milliardäre haben sich in den letzten Jahren ihren Einfluss auf die großen Trommeln gesichert. In Deutschland können die Oligarchen per der Axel Springer Verlag einzelne Politiker*innen oder Policys auf Zuruf abschießen lassen, wie sie immer wieder demonstrieren. Politiker*innen versuchen schon gar keine gesellschaftsfreundliche Politik mehr zu machen, was nur dazu führt, dass sich die Frustspirale weiter Richtung AfD schraubt. In den USA sieht man diesen Mechanismus in einem späteren Stadium und mit Musks Twitterübernahme ist nun eine der größten Pauken in den Händen eines Rechtsextremen gefallen.

Wenn wir den Faschismus etwas entgegensetzen wollen, müssen wir Wege finden, wieder Laut zu sein. Die Linke ist aus dem Takt gekommen und ihre Trommeln sind kaputt oder nicht so geil und irgendwie trommelt gerade nur noch jeder nur noch für sich. Wir müssen einen neuen, attraktiven Beat anzuzetteln.


Dieser Aufsatz von Wissenschaftler*innen der Universität New York beschreibt den Effekt, den Social Media auf die Wahrnehmung sozialer Normen hat, mit dem lustigen Begriff „funhouse mirror factory“.

Research on social media has found that, while only 3 % of active accounts are toxic, they produce 33 % of all content [4]. Furthermore, 74 % of all online conflicts are started in just 1 % of communities [5], and 0.1 % of users shared 80 % of fake news [6,7].

Sie kommen zu dem Schluss:

False norms emerge, in part, because social media is dominated by a small number of extreme people who post only their most extreme opinions, and do so at a very high volume–often posting dozens of times more than others, while more moderate or neutral opinions are practically invisible online.

Ich teile diese Einschätzung, aber „False Norms“? Srsly? Wieso sollten die auf Social Media eingeübten Normen „fake“ sein? Sie sind nicht „fake“ im Kontext der Leute, die so sprechen. Diese Normen mögen weniger weit verbreitet sein, als Menschen auf Social Media denken, aber was da wächst, ist real und setzt bereits ganz materielle Gewalt in die Welt.

Indeed, 97 % of political posts from Twitter/X come from just 10 % of the most active users on social media, meaning that about 90 % of the population’s political opinions are being represented by less than 3 % of tweets online.

Manchmal bewundere ich all die Journalist*innen, Politiker*innen, die noch auf X geblieben sind. Man muss ein „echtes Individuum“ sein, um auf dieser Propagandatrommel trotzdem noch zum eigenen Beat zu tanzen.


Ta-Nehisi Coates ist gerade überall wegen seines neuen Buches „The Message“, in dem es unter anderem um Israel und Palästina geht, unterwegs und besonders hat mir das Gespräch mit Jon Stewart gefallen.

Aber auch das Gespräch mit Ezra Klein ist bemerkenswert, vor allem als Klein Coats fragt, was er denn einem Israeli sagen würde, der es politisch mit Aussöhnung versucht hat, vielleicht sogar in der Friedensbewegung war, aber angesichts der Intifadas und zuletzt dem 7. Oktober aufgegeben hat, an eine politische Lösung zu glauben, worauf Coats entgegnet:

„I can’t accept that the violence committed by the people who have less power somehow relieves you from the burden of forming a just society.“

Coates ist kein schwereloser Linker.


Ich habe mich entschlossen, die Verbrechen in Gaza „Genozid“ zu nennen. Natürlich könnte ich auch einfach ein paar Jahre warten, bis der ICJ entschieden hat, aber ich habe festgestellt, ich bin dafür nicht schwerelos genug.

Weil diese Entscheidung wahrscheinlich aus der deutschsprachigen Medienlandschaft heraus nicht so leicht nachvollziehbar ist, hier drei Videos, die mich dabei bestärkt haben.

Der Schmerz.

Das Argument.

Das Lachen der Täter.


Tomer Dotan-Dreyfus hat seinen Essay über die sich zuspitzende Meinungsvielfalt unter deutschen Juden, den er ursprünglich für die Böllstiftung geschrieben hatte, nun in Analyse und Kritik veröffentlicht und er ist sehr Lesenswert.

Der staatliche Schutz jüdischer Leben und jüdischen Lebens in Deutschland ist bedingt.

Wer in Deutschland eine Stimme bekommt, entscheidet die richtige Meinung, nicht die wissenschaftliche Expertise:

Es ist in Deutschland zudem verbreitet, dass Menschen, die jeglicher Expertise zu Antisemitismus oder internationalem Recht entbehren, sich häufig zu beiden Themen als »Expert*innen« äußern können, solange sie bei dem Fazit ankommen (oder von vornherein davon ausgehen), dass Israel kein internationales Recht breche und dass anderslautende Behauptungen antisemitisch seien. So kann etwa der kanadische Stand-up Comedian Daniel Ryan Spaulding als Experte gelten; der israelische Professor Omer Bartov jedoch, der buchstäblich eine lebenslange Expertise in Genozidforschung besitzt, wird zensiert.

Dotan-Dreyfus spürt aber auch Druck aus der jüdischen Gemeinde und führt das auf die Angst zurück, ein entziehen der Israelsolidarität könnte gleichzeitig ein Ende der Aussöhnung zwischen Deutschen und Juden bedeuten. Historisch ist das nicht unplausibel.

1950, nur fünf Jahre nach der Niederlage des Nazistaats und bloß ein Jahr, nachdem die Alliierten der BRD ihre Unabhängigkeit gegeben hatten, verabschiedete der Bundestag seine Empfehlung an die Länder, die Entnazifizierung offiziell zu beenden. Ein weiteres Jahr später kam es zu Artikel 131 des Grundgesetzes, der Nazibeamte, -lehrer und -richter entweder wieder in den Dienst nahm oder ihnen eine gute Rente zuwies. 1952 musste man zu dieser »Entnazifizierung« irgendein Gegengewicht schaffen, wenigstens zum Schein: Der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer schloss das berühmte Luxemburger Abkommen, besser bekannt als das Wiedergutmachungsabkommen, nach massiven Protesten von Holocaust-Überlebenden in Israel, an denen auch mein Großvater beteiligt war.

Dieses Abkommen hat nicht nur die Form der Wiedergutmachung festgesetzt, sondern auch ihren Adressaten: den Nationalstaat Israel. Dies zementierte den Ansatz, für den Deutschland bis heute steht und für den Deutschland von uns Jüdinnen*Juden Zusammenarbeit fordert: Den Jüdinnen*Juden wird ein Nationalstaat anderswo zugesichert, statt einer Entnazifizierung des hiesigen Nationalstaats. Und was ich nach Jahren in Deutschland endlich verstanden habe, ist, dass der staatliche Schutz für uns davon abhängt, dass wir mitspielen.

Ich kann diese Angst nachvollziehen und ich finde die Situation, in die der deutsche Staat jüdischen Menschen gebracht hat, unerträglich. Es muss deswegen Ziel der Palästina-solidarischen Bewegung sein, Antisemitismus in den eigenen Reihen sichtbar zu bekämpfen und jüdischen Menschen die Angst davor zu nehmen, nicht mehr mitzuspielen.

Booking, Lieferando, Airbnb, Amazon: Wie Plattformen die Wirtschaft (in Sachsen) verändern | MDR.DE

Ich war gestern in einer schönen Diskussionssendung zu Plattformen und wollte ein bisschen drauf aufmerksam machen, dass wir nicht nur darüber reden sollten, was wir an Plattformen gut oder schlecht finden, sondern über die Macht, die wir ihnen geben.

Ein Großteil aller Übernachtungen im Tourismus wird heute über Booking oder AirBnB gebucht. Lieferando ist allgegenwärtig und die in Dresden entstandene Dating-Plattform „Lovoo“ hat nicht nur viele schon zum ersten Kuss geführt, sondern gilt mit seiner filmreifen Story als damals erfolgreichstes Startup. Wie verändern Plattform-Unternehmen die wirtschaftliche Architektur von Sachsen? Was hat das für Folgen für den Tourismus, den Wohnungsmarkt, traditionelle Branchen und auch das Sozialversicherungssystem? Wie profitieren die Sachsen? Was ist der Segen und der Fluch der digitalen Ökonomie? Darüber sprechen wir bei Dienstags direkt.

Quelle: Booking, Lieferando, Airbnb, Amazon: Wie Plattformen die Wirtschaft (in Sachsen) verändern | MDR.DE

Schwerelose Linke

  • Schwerelose Linke fordern mehr Regulierung.
  • Schwerelose Linke glauben, dass der Kapitalismus durch ein überlegenes „Ressourcenallokationssystem“ überwunden werden kann.
  • Schwerelose Linke sehen im Nahostkonflikt eine „tragische Gewaltspirale“ zwischen zwei sich „radikalisierenden“ Seiten.
  • Schwerelose Linke verurteilen Greta Thunberg, weil sie auf einer Demo gegen einen gerade stattfindenden Genozid mit den falschen Leuten geredet hat.
  • Schwerelose Linke sorgen sich um die „Polarisierung der Gesellschaft“.
  • Schwerelose Linke reden mit der Polizei.
  • Schwerelose Linke finden, Neoliberalismus war eine „doofe Idee“.
  • Schwerelose Linke suchen nach einer „besseren Erzählung“.
  • Schwerelose Linke „debunken“ Deine „Desinformation“.
  • Schwerelose Linke sehen Reichtum als falschen Lebensstil.
  • Schwerelose Linke glauben an „Green Growth“.
  • Schwerelose Linke distanzieren sich von jeder Gewalt.
  • Schwerelose Linke fordern von den Muslimen in Deutschland eine klare Distanzierung vom Islamismus.
  • Schwerelose Linke verändern das System von innen.
  • Schwerelose Linke arbeiten an „Lösungen“.
  • Schwerelose Linke hoffen darauf, dass Star Trek wahr wird.
  • Schwerelose Linke glauben, dass die Ostdeutschen immer nur jammern.
  • Schwerelose Linke glauben, dass die Leute den Klimawandel noch nicht „verstanden“ haben.
  • Schwerelose Linke glauben, selbst niemals faschistisch sein zu können, weil sie dafür zu schlau und abgewogen sind.
  • Schwerelose Linke glauben, man müsse nur die AfD verbieten.
  • Schwerelose Linke finden die Klimakleber ja aber schon auch nervig.
  • Schwerelose Linke glauben an den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“.
  • Schwerelose Linke finden immer einen Kompromiss.
  • Schwerelose Linke wollen mit Putin verhandeln.
  • Schwerelose Linke betrachten das differenziert.
  • Schwerelose Linke bohren dicke Bretter.
  • Schwerelose Linke distanzieren sich.
  • Schwerelose Linke mögen Netanyahu nicht, aber was soll Israel denn machen?
  • Schwerelose Linke sehen überall Putin am Werk.
  • Schwerelose Linke fordern vom globalen Süden mehr „Solidarität mit der Ukraine“.
  • Schwerelose Linke verurteilen die Gewalt „auf allen Seiten“.
  • Schwerelose Linke beteuern, dass wir „Migration brauchen“ wegen der „Wirtschaft“.
  • Schwerelose Linke „tone policen“ Opfer von Gewalt.
  • Schwerelose Linke haben eine Petition gestartet.
  • Schwerelose Linke verurteilen Dich, wenn Du nicht wählen gehst.
  • Schwerelose Linke setzen sich für die Menschenrechte von Milliardären ein.
  • Schwerelose Linke verurteilen den „Terrorangriff“.
  • Schwerelose Linke schauen auf die Statistik und sagen: so schlimm ist es doch gar nicht.
  • Schwerelose Linke finden, es gibt gar kein „Palästinensissches Volk“, denn es ist ja so, dass das Osmanische Reich damals …
  • Schwerelose Linke haben eine Powerpoint-Präsentation gebaut, mit der sie Kapitalist*innen für eine Vermögenssteuer überzeugen wollen.
  • Schwerelose Linke fordern moralisch bessere Opfer.
  • Schwerelose Linke haben noch ein Argument gefunden.

Krasse Links No 28

Willkommen zu Krasse Links No 28. Und nun tut Euren Memestocks infrastrukturelle Gewalt an, heute manifestiert der Ape die Choice Architecture im Dividuum.


Die Idee, man könne sich Dinge, die man will, einfach manifestieren, ist im Internet weit verbreitet und ich glaube, zu verstehen warum.

Hier wie „Manifestieren“ funktioniert:

  1. Wünsch Dir etwas und glaube daran, dass das Wünschen hilft.
  2. Halte die Augen offen, für die Pfadgelegenheit, die Dir „das Schicksal“ bereitstellt.
  3. Gewinn!

Das funktioniert manchmal, weil der zweite Punkt halt auch ohne den ersten Punkt ein guter Ratschlag ist und man kann durchaus argumentieren, dass Punkt eins die Motivation für Punkt zwei erhöht?

„Manifestieren ist Bullshit“ ist deswegen kein hinreichend gutes Gegenargument, aber ich finde, Hannah Jones hier hat ein besseres:

„If you beliefe in manifestation you should be legally required to explain it to a homeless person and make eye contact the whole time.“

Bei genauerer Betrachtung ist die Wahrscheinlichkeit, dass Manifestieren bei Dir funktioniert, direkt proportional zu Deiner Privilegiertheit, also der Summe der Infrastrukturen, die dir Pfadgelegenheiten zuschustern. Manifestieren ist in seiner performativen Infrastrukturverdrängung gewissermaßen nur eine zugespitzte Karrikatur des Individuums.


Für das Magazin „Human“ habe ich meine Theorie zu LLMs und Semantik aufgeschrieben und auch auf CTRL-Verlust gepostet (auch auf englisch).

Dass Sprache ein Regelsystem ist, zweifelt auf der orthographischen und grammatikalischen Ebene niemand an und die LLM zeigt eben, dass das auch für Bedeutungen und auch für alle Konzepte, Logiken, Methoden und Theorien gilt. Egal ob Grammatik, Algebra, Multistakeholder-Analyse oder Gedichtinterpretation: Alles das sind regelgeleitete Denkschablonen, Strukturen des Richtigen Sagens oder Fabriken wahrscheinlicher Sätze.

Wie schon Derrida sagte: Wir sprechen nicht, wir werden gesprochen. Das bedeutet nicht, dass man nicht auch neue Pfade finden kann, aber eben immer nur an den Rändern des bereits Gedachten und Gesagten. So wie die Nordpolexpiditionen erst machbar wurden, als die Infrastrukturen es erlaubten, so sind auch neue Gedankengänge nur als Verlängerung oder Abzweigung bereits existierender Routen denkbar. Es gibt kein Punkt außerhalb des Netzwerks.

Der Text selbst ist ein gutes Beispiel: Er basiert offensichtlich auf einer poststrukturalistischen Infrastruktur, aber wäre auch ohne Donna Haraway nicht denkbar. Mit ihrem „situierten Wissen“ stellte sie den Poststrukturalismus vom Kopf auf die Füße und ermöglicht, die richtige Perspektive aufs Netzwerk zu finden. Wenn Bedeutung stetiger Aufschub, aber dabei stets situiert ist, dann passiert Schreiben, Sprechen, Denken immer an einem ganz bestimmten Punkt eines ganz spezifischen Kontextes. An diesem je spezifischen „Hier und Jetzt“ gibt es immer nur eine überschaubare Zahl an plausiblen Pfadgelegenheiten, von denen man sich von einer zur nächsten stürzt. Wenn man dann die Zeit anstellt, bewegt sich der Punkt durchs Netzwerk und wird zur Linie, bzw. ein Pfad oder eine Route. Fertig ist die LLM, bzw. Sprechen und Denken.

Die Individuen sind ›dividuell‹ geworden, und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder ›Banken‹.“ Schreibt Gilles Deleuze im „Postskriptum zu den Kontrollgesellschaften“ bereits Anfang der 1990er und verabschiedet damit Foucaults „Disziplinargesellschaft„, die sich noch auf die Zurichtung des Individuums und der Organisation von Masse konzentrierte. Aus dem Unteilbaren (lat. individuus) wird etwas per se Teilbares (lat. dividuus).

Das Navigieren in der Semantik – Schreiben, Sprechen, Denken – ist ein dividueller Akt. Man beobachtet nicht die Welt, sondern man beobachtet einander, wie man die Welt beobachtet. „Dividuell“ bedeutet also, sich selbst als Teil des Netzwerkes zu imaginieren, das Sprache, Denken und Öffentlichkeit und Infrastrukturen hervorbringt.


Die Berliner Zeitung hatte letztes Jahr ein Portrait des Künstlers Martin Binder, der „Hostile Architecture“ oder wie sie auch genannt wird, „Anti-Homeless-Architekture“, thematisiert.

In seinen Videos zeigt Binder Metallpyramiden vor dem Berliner Ostbahnhof mit Spitzen, die es verhindern sollen, dass sich jemand hinsetzt. Er zeigt Sitzbänke am Alexanderplatz, die so abgerundet sind, dass längeres Sitzen unangenehm wird. Vor wenigen Wochen postete er ein Video von einer neonfarbenen, abgespacten Lichtinstallation im S-Bahnhof Savignyplatz.

„Dieses Objekt wurde unter einer Brücke platziert, die häufig zum Schlafen genutzt wurde, da sie einen trockenen und relativ geschützten Raum bietet“, schreibt Binder auf Englisch unter das Video. Das Licht sei installiert worden, um Menschen zu vertreiben, die draußen schlafen müssen. „Die 200.000 Euro, die es gekostet hat, hätten in die Bereitstellung tatsächlicher Alternativen für die Menschen gesteckt werden können.“

Infrastruktur ist nicht immer da, um Pfadgelegenheiten bereitzustellen, manchmal ist Infrastruktur extra so gebaut, dass sie manchen Pfadgelegenheiten nimmt. Das ist eine Form von Gewalt und wie verroht unsere Semantiken sind, sieht man daran, dass Designer*innen, die sich sowas ausdenken oder Politiker*innen, die sowas anordnen, mit Wohlstand und Ansehen versorgt werden, statt sie auf eine Stufe mit Nazischlägern zu stellen.


James Jani hat in einem einstündigen Videoessay die verrückte Geschichte hinter dem Memestock-Desaster rund um Bed Bath and Beyond (BBBY) dokumentiert.

Kurz zusammengefasst: Eine hardcore auf ein börsennotiertes Unternehmen eingeschworene Online-Community, die anhand von selbst perpetuierten Erzählungen koordinierte Finanzentscheidungen trifft, driftet immer weiter in einen sektenhaften Wahn ab. Soweit, so Game Stop. Doch all das ging bei BBBY auch nach dem endgültigen Bankrott des Unternehmens weiter und sogar heute hoffen überraschend viele darauf, dass ihre längst vaporisierten Aktien noch gerettet werden.

Ihre Erzählung besteht aus zwei Teilen:

  1. Märkte sind Effizient, weil sie Informationen verarbeiten und wenn man über eine unverarbeitete Information verfügt, dann kann man den Markt schlagen.
  2. Die unverarbeitete Information. Die ist ziemlich beliebig und ändert sich ständig, stützt sich aber auf die Annahme, dass es ein Superindividuum mit geheimen Spezialwissen gibt, ein Mann namens Ryan Cohen, der das Unternehmen mit einem noch zu enthüllenden „Move“ retten wird und damit auch ihr Geld.

Behauptung Nummer zwei zu debunken ist leicht, aber an Behauptung eins glauben nachwievor fast alle? Sie glauben daran, weil sie sich den „Markt“ als Informationssystem vorstellen, in dem derjenige gewinnt, der die besseren Informationen hat. Das ist ernstmal die Erzählung der Neoklassik, aber plausibel wird sie durch Phänomene wie „Insiderhandel“ und die Tatsache, dass manche in dem Spiel besser sind, als andere. Die müssen also über bessere Informationen oder mehr Intelligenz verfügen, sonst könnte ja jeder kommen!

Aber weil wir eben keine Individuen sind, die die Welt beobachten, sondern Dividuen, die einander beim Beobachten der Welt beobachten, ist der Finanzmarkt kein Informationssystem, sondern eine Séance. Ein paar tausend Trader beschwören Geschichten von Unternehmen und in einer wochentäglichen Zeremonie murmeln sie sich in einen ekstatischen Zustand, um ihre Geschichten vom „Markt“ (TM) segnen zu lassen. Sicher: die Realität trommelt über die Nachrichten immer wieder dazwischen und beeinflusst den Beat (schlägt auf die Stimmung der Trader und zwingt sie nicht kompletten Quatsch zu erzählen), aber eben auch nicht immer, wie man beim anhaltenden KI-Boom beobachten kann.

Die Trommeln bei dieser Séance – das muss man immer wieder betonen – sind unterschiedlich groß. Warren Buffet hat kein besseres Wissen oder eine überlegene Intelligenz, er hat einfach eine ziemlich große Pauke. Er kann damit den Beat enorm beeinflussen und alle anderen versuchen Finanz-Oligarchen wie Buffet hinterher zu trommeln. Die meisten wetten auf die Geschichten, die sich die Finanz-Oligarchen auf dem Golfplatz erzählen.

„Apes“ – so nennen sich sowohl die Meme-Stock-Irren, wie auch die Crypto-Irren – glauben offiziell an das „Indivuduum“, seine Intelligenz, an Warren Buffet und an die „effizienten Märkte“ als Aggregation „verteilter Intelligenz“. Sie hängen sogar meist einer besonders libertären Semantik an, die eine groteske Überhöhung des Individuums und seine ungezügelten „Freiheit“ in den Mittelpunkt von allem stellt.

Doch ihre dividuellen Handlungen verraten, dass sie längst wissen, wie der Hase wirklich läuft. Sie vernetzten sich, sie erschaffen gemeinsame Geschichten, Werte, Sprüche, Gags und Durchhalteparolen. Ganz. Besonders. Viele. Durchhalteparolen. Würden sie einmal ernst nehmen, was sie tun, statt den Bullshit, den sie glauben, wären sie nur einen Schritt davon entfernt, es zu raffen.


In Fast Company veröffentlichte Marietje Schaake einen Auszug aus ihrem BuchThe Tech Coup„, in dem sie die immer stärkere Abhängigkeit der USA aber auch anderer Staaten durch die Tech-Unternehmen beschreibt.

Google, Maxar, Microsoft, and SpaceX and Clearview have few, if any, legal mandates according to international law. They are private, not public, actors. The rules that surround companies cover reporting revenue, accounting costs, and filing taxes—not when or how they should act in military confrontations. Yet companies like these exude sovereign power in new ways. They have monopolies on key insights and data analytics and make decisions about affairs that were once the exclusive domain of states, while these companies are not subject to comparable checks and balances. Moreover, companies that operate at a global scale often chafe against geographic borders. Even when governments want to exert control over such companies, which happens far less frequently than it should, they face a variety of constraints.

Im Cyberspace sind die Plattformunternehmen nicht nur Akteure, sondern sind, bzw. besitzen das Schlachtfeld. Ein Befund, dem ich bereits in die „Die Macht der Plattformen“ ausführlich Raum gegeben habe, aber die Lage hat sich seit 2021 enorm zugespitzt.

By reserving room for flexibility and opening the door to private companies in cyberwar, democracies have ceded both their sovereignty and their commitment to the rule of law. From building platforms for conducting elections, to curating public access to information in app stores, to interfering in the front lines of war to decide who does and doesn’t get internet access, these companies and their leaders share or have even overtaken the responsibilities of the democratic state.

Yet there are no elections for consumers to share thoughts on corporate policy; CEOs cannot be voted in (or out) by the public; C-SPAN doesn’t cover these companies’ internal deliberative processes. The decisions that they make in the public interest are locked behind the fortress of private-sector protections. And unless democracies begin to claw back their power from such companies, they will continue to experience the erosion of their sovereign power.

Und jetzt kommt KI dazu. What could possibly go wrong?


Gabriel Yoran schreibt bei Krautreporter seine immer lesenswerte Kolumne von der „Verkrempelung der Welt“, quasi eine Dokureihe über Glitches in der spätkapitalistischen Matrix. In seiner vorletzten Kolumne geht er der Frage nach, warum es in anderen Ländern oft so überlegene Produkte gibt, die man in Deutschen Supermarktregalen nirgends finden kann und mutmaßt:

Meine unangenehme Vermutung ist die: Unternehmen machen Produkte gerade so gut, wie es die Akzeptanzkultur in der jeweiligen Produktkategorie im jeweiligen Absatzmarkt erfordert.

In der Erzählung vom effizienten Markt müsste ein besseres Produkt zum vergleichbaren oder gar besseren Preis sich „am Markt durchsetzen“, doch weil „der Markt“ drei Oligarchen im Trenchcoat sind, ist es nun mal ihre erstaunlich sichtbare Hand, die das Sortiment bestimmt.

Wenn wir unter „Markt“ all die Orte und die Situationen summieren, in denen wir mit Kaufgelegenheiten in Berührung kommen, dann besteht „der Markt“ erstmal aus all den materiellen Infrastrukturen, die diese Begegnung ermöglichen. Von Verteilcentern, Lieferketten, Logistikunternehmen, Zwischenkäufer, Werbung und PR-Agenturen, etc. Schon hier entwickeln sich die ersten Netzwerkzentralitäten und spitzen das Angebot ihrer Interessenlage entsprechend zu.

Das Interface dieses „Marktes“, also das, womit wir tatsächlich interagieren: die optimierten Standorte der Discounter, die optimierten Supermarktregale, und die optimierten Dark Patterns des Amazon Such-Algorithmus kann man mit Cas Sunstein et.al. „Choice Architectures“ nennen. Weil die Leute, die „den Markt“ tatsächlich betreiben, den ganzen Bullshit vom nutzenmaximierenden Homo Oekonomicus eh nie geglaubt haben, werden diese Architekturen immer schon auf dividuelle Pfadopportunist*innen optimiert.

Probiert mal eine wild wachsende Tomate und ihr werdet überrascht sein, wie intensiv und köstlich Tomaten eigentlich schmecken. Wenn man sich durch diese „rote Pille“ aus der Matrix erwecken lässt, erscheint hinter dem Schleier der Choice Architectures eine Maschine, die darauf konfiguriert ist, uns möglichst billig bei Laune zu halten.


Man muss Scott Galloway nicht mögen, aber manchmal plaudert er ganz unterhaltsam Wahrheiten über den Kapitalismus aus.

„The biggest myth in marketing is that choice is a good thing. Choice is a tax. Consumers don’t want more choice, they wanna be more confident in the choices presented.“

Temu, Shine, Ali Express und Co sind der nächste Schritt: auch die „Choice Architectures“ sind am verschwinden, die KI übernimmt.


Die hoch geschätzte Eva von Redecker hat in einem Essay für den Guardian ihre Gedanken zu den Wahlen in Ostdeutschland aufgeschrieben und beschreibt unter anderem ein bekanntes Routingproblem.

The core remedy that the AfD promises is control in another realm: an entitlement to treat racialised others like disposable objects. They promote white supremacy and ethnic homogeneity. At least some of the AfD sympathisers I have been in conversation with argue, in stark contrast to the party’s economic neoliberalism, that they would like to see the state crack down on the super-rich and address social inequality. But they consider this so unlikely, so out of reach, that another demonstration of sovereignty takes precedence: Germany for the Germans.

Ich will AfD-Wähler*innen nicht verteidigen, aber wenn die Route Richtung gerechte Gesellschaft so unplausibel geworden ist, wie es derzeit aussieht und der Rest der Parteienlandschaft nur ein zynisches „Weiterso“ propagiert, ist es zumindest eine unglückliche Fügung, dass die AfD derzeit das Monopol auf Notausgang hat.


David Remnick war bei Ezra Klein und beschreibt die Situation im Westjordanland so:

„The last time you were in the West Bank, when you go to it, when you drive around it. Just visually, what do you see if you were taken by someone on a 20 minute trip from Jerusalem to one of the more established, bigger settlements outside the green line in the West Bank, and you were inclined to believe it, you might think, well, what’s so bad here. But if you take a much more varied ride. And you go to Janine and to Nablus and you go to the outskirts, villages of Ramallah, and you see how. There is an architecture of isolation and oppression that has been building and building and building over the decades in the West Bank.“

Visuell wird man meist mit solch einer Karte konfrontiert, aber die ist halt hoch irreführend.
(Karte via BBC von 2020)

Die Draufsicht aufs Westjordanland ist irreführend, weil die einzig gültige Weise auf ein Netzwerk zu schauen ist, aus einem Punkt im Netzwerk heraus zu schauen. Es geht nicht um die Quadratmeter, die die israelischen Siedlungen einnehmen, es geht um die Netzwerkzentralitäten, die sie schaffen. Es geht um Mauern, gesperrte Straßen und Checkpoints. Es geht um Flaschenhälse, die Routen und damit horizontale Freiheit für Palästinenser verunmöglichen. Es geht um infrastrukturelle Gewalt.

Ich werde manchmal in Diskussionen gefragt, warum ich die Palästinenser immer als Opfer hinstelle und ob ich ihnen gar keine Agency zugestehe. Doch doch, ich gestehe ihnen Agency zu, aber tut das Israel?

Wenn Agency die Summe der Pfadgelegenheiten ist, die Dir Deine Infrastruktur zur Verfügung stellt, dann ist die „architecture of isolation and oppression“ im Westjordanland und der halbautomatisierte (und mittlerweile kaputtgebombte) Hühnerkäfig Gaza eine „Choice Architecture“ mit nur zwei plausiblen Routen: In Unfreiheit leben oder im Aufstand sterben.


Joe Pinsker hat vor längerer Zeit im Atlantic das Buch von Krishnendu Ray: The Ethnic Restaurateur besprochen, indem dieser unter anderem der Frage nachgeht, warum bestimmte Einwanderergruppen in den USA unterschiedlich hoch- oder niedrigpreisige Restaurants hervorgebracht haben. In den USA galt Italienisch lange Zeit als Billigessen, während die teuren Restaurants vor allem französische Küche servierten. Das hat sich inzwischen angeglichen, aber immer noch gilt chinesische Küche als billig und Japanische als hochpreisig.

This hierarchy, which privileges paninis over tortas, is almost completely shaped by a simple rule: The more capital or military power a nation wields and the richer its emigrants are, the more likely its cuisine will command high menu prices.

Wert und Preis sind Semantiken, die von allerlei geteilten Wertvorstellungen beeinflusst sind und so ist es auch nicht überraschend, dass die Agency Hierarchie aus dem letzten Newsletter sich auch in den Restaurantpreisen reflektiert. Als Teil des Semantikraums bilden die Preise Gestirnskonstellationen, in der sich der Wert des einen Dings, am Wert des anderen Dings orientiert. Es ist ein Netz aus Erwartungen und auch hier bestimmt die größe der Trommel den Beat.

Freakonomics hatte einmal eine Folge zur Matratzenbubble. Mitte der 2010er sprossen überall im Land die Matratzen-Stores aus den Boden und alle Podcasts waren mit Matratzenwerbung zugequasselt und die einfache Erklärung ist, dass man mit Matratzen 50 bis 100 Protent oder sogar mehr Marge machen konnte und wahrscheinlich immer noch kann?

Völlig egal wie geil die verbaute Technologie ist, die Dinger zu produzieren ist spottbillig, aber in den Erzählungen der Kundschaft kann man für guten Schlaf halt einfach nicht genug Geld ausgeben! Und so kostet einunddieselbe Matratze manchmal von 200 bis 1000 Dollar je nachdem unter welchem „Brand“ sie firmiert.

Oligarchen bestimmen die Preise natürlich nicht beliebig. Bei unterschiedlichen Produkten ist es unterschiedlich schwierig, solche Erzählungen aufs Gleis zu trommeln, egal wieviel Geld man in PR und Marketing steckt.

Außerdem gibt es durchaus einen regulierenden Faktor: Die beiden Netzwerke der Preise und Werte sind zwar eng verwoben und beeinflussen sich wechselseitig, aber sie sind durch unterschiedliche Schmerzen an der Realität geeicht.

  • Das Netzwerk der Werte setzt alle Dinge ins Verhältnis zum Schmerz ihres Fehlens, das heißt zu den Netzwerkzentralitäten im Abhängigkeitsgefüge unserer Pläne (Nutzwert).
  • Das Netzwerk des Preises setzt alles ins Geld-Verhältnis, also am Ende des Tages zum Schmerz der verlorenen Lebenszeit, die man auf der Arbeit verbracht hat (Tauschwert).

Kapitalismus ist eine Schmerzarchitektur, die Dich ständig vor die Frage stellt, welchen der beiden Schmerzen Du eher auszuhalten bereit bist.


Ich liebte diesen Gag, aber wenn man einmal das Indivuduum aus der Gleichung gestrichen hat, dann ist das nicht mehr lustig, sondern eine ziemlich akkurate Darstellung der Ideologie in ihrer ganzen inhärenten Blödheit.

Aber ich seh schon. Ihr seid noch nicht überzeugt. Mit Dividuum, Pfadopportunist, Navigator, Surfer, Trommer mögt ihr Euch nicht so identifizieren?

Wie wäre es mit „Cyborg“?

Also Cyborg im Donna Harawayschen Sinne: Cyborgs sind defizitäre, bedürftige Wesen, die auf ihre Infrastrukturen angewiesen sind, um und zu überleben. Und nur weil die Cyborg kein Individuum ist, heißt das nicht, dass sie ohne Agency wäre. Die Agency des Cyborgs speist sich nicht aus ihrer „Vernunft“ oder wie es heute heißt, „Intelligenz“, sondern aus den materiellen und semantischen Infrastrukturen, die ihr zur Verfügung stehen.

Die Cyborg lebt in den Infrastrukturen und ist die Infrastruktur. Sie arbeitet an den Infrastrukturen, baut sie, betreibt sie, hält sie in Stand. Als höfliche Pfadopportunistin navigiert sie die Schmerzarchitektur zwischen Arbeit und Konsum und versucht mittels der ihr zugänglichen Infrastrukturen ihre Geschichte weiterzuerzählen. Diese Geschichte ist ein Pfad im Netzwerk, der von der Vergangenheit bis ins Jetzt und durch Pläne, Ziele und Projekte bis in die Zukunft weitererzählt wird.

Die Cyborg ist Dividualistin. Sie beobachtet nicht die Welt, sondern beobachtet wie andere die Welt beobachten. Sie surft auf diesen Beobachtungen, Worten, Bildern, Gesten und Geschichten und sortiert sich in ihnen ein. Gleichzeitig sendet jede ihrer Bezugnahmen einen Impuls durchs semantische Netzwerk, weil sie ja ihrerseits beim Schreiben, Sprechen, Denken beobachtet wird.

Es kann sich nur noch um Minuten handeln, bis die Cyborg begreift, dass sie die Infrastruktur ist und den Laden übernimmt.

Die Kunst des Netzwerkens (4) | DO | 03 10 2024 | 9:05 – oe1.ORF.at

Für dieses sehr empfehlenswerte Radiofeature wurde ich ausführlich zur Macht der Plattformen befragt.

Mit Ende der 1990er Jahre verlagern sich soziale Netze in den digitalen Raum. Mit dem Start des Web 2.0 etablieren sich ab den frühen 2000er Jahren digitale Plattformen, die immer mehr zum Ort des öffentlichen und privaten Austausches werden. Es entsteht eine Art Parallelgesellschaft im digitalen Raum – eine Plattformgesellschaft. Aber nicht nur soziale Netzwerke ersetzen schrittweise die persönliche Interaktion, das Face-to-Face Gespräch. Auch Dienstleister setzen auf das Plattformmodell.

Quelle: Die Kunst des Netzwerkens (4) | DO | 03 10 2024 | 9:05 – oe1.ORF.at