Wie angekündigt habe ich für das Literarische Colloquium Berlin einen Vortrag über das Lesen im digitalen Zeitalter gehalten. Hier die ausformulierte Rede.
Ich bin hier eingeladen als der Vertreter der digitalen Generation. Und als dieser habe ich zunächst eine gute Nachricht für Sie. Ich lese heute mehr denn je. Eigentlich mache ich fast gar nichts anderes mehr.
„Das sind doch gute Nachrichten für die Zukunft des Lesens!“ wird der eine oder andere sagen. Aber ich will Ihnen gleich etwas gestehen. Ich gehöre nicht der vielzitierten Generation der „digital Natives“ an. Deswegen kann und will ich meine Erfahrungen an dieser Stelle nicht als repräsentativ für eben jene Generation verstanden wissen. Was die digital Natives mögen, oder nicht mögen, finde ich zum teil selbst schwer verständlich, obwohl ich mir auch Mühe gebe, da Einblick zu finden.
Mein Blick ist also nicht der, eines mit dem Internet selbstverständlich Aufgewachsenen. Meine Perspektive ist vielmehr die, eines „digital Imigrants“, eines Zugezogenen, wie man in Berlin sagt. Meine Jugend spielte sich hauptsächlich analog ab. Ich kann von mir sagen, dass ich das Analoge und die analog geprägte Welt noch bewusst mitbekommen habe und erst mit der Zeit mehr und mehr in das Digitale emigrierte, aber dann doch recht vollständig emigrierte.
Als Jahrgang 77 spreche von mir lieber als Teil der „Achsengeneration“. Die Achsengeneration ist es, die beide Welten kennt. Es ist die Generation die vergleichen kann. Wir gehören zu den wenigen, die wirklich verstehen lernen mussten, was sich alles verändert hat, wir haben den Monolithen dieses Paradigmenwechsels vor Augen geführt bekommen wie keine andere Generation vor uns und erst recht nicht nach uns. Das versetzt uns in die Lage und die Verantwortung eines Scharniers zwischen den Welten, der digitalen und der analogen.
Ich werde in meinem Vortrag also versuchen, die Bruchlinie zwischen diesen Welten abzuschreiten, so wie sie mir passierte und wie sie sich für mich ausgewirkt hat. Vieles davon lässt sich wohl nicht verallgemeinern, aber eventuell schaffe ich es dabei Denkanstöße über das Wesen dieses Bruches zu geben.
Das Mentale Exoskelett
Als Kind habe eigentlich nicht besonders viel gelesen. Das Lesen für die Schule fand ich meist langweilig, die Texte interessierten mich wenig. Erst nach dem Abi wurde mein Lesehunger geweckt. Dann, als ich endlich ohne schlechtes Gewissen meine Lektüre selbst auswählen konnte. Und ich wählte vor allem Sachbücher.
Für mein Studium der Kulturwissenschaft war ich gezwungen, sehr viele Texte, sehr intensiv zu lesen. Ich lernte die Kritik, die Hermeneutik, die Dekonstruktion kennen. Lesen bekam für mich ganz neue Dimensionen. Mein Bücherregal wuchs und wuchs und wuchs. Denn im Gegensatz zu vielen meiner Kommilitonen kaufte ich mir einen Großteil der Literatur, die ich las. Nicht, weil ich viel Geld gehabt hätte oder gar einen Sammlertick. Vielmehr war es so, dass ich fühlte, dass das Wissen des Buches verloren geht, wenn es für mich nicht unmittelbar erreichbar bleibt. Lesen war für mich von Anfang an auch etwas materielles. Das geht mit einer bestimmten Vorstellung der Funktion des Lesens einher. Eine Vorstellung, die ich sicher schon damals hegte, die mir aber erst später bewusst wurde und die ich hier kurz erläutern möchte:
Wenn ich ein Buch lese, nehme ich zwar auch Wissen auf. Diese Wissensaufnahme ist bei mir aber nie von nachhaltiger Natur gewesen. Meist waren die Fakten, Sätze und Ideen von denen ich las bereits nach kurzer Zeit wieder vergessen. Dennoch kam mir das Lesen nicht unnütz vor, denn etwas zweiteres, viel wichtigeres geschah außerdem: Ich kartographierte. Wenn ich ein Buch lese, weiß ich auch viele Jahre später noch, welche Themen, Beispiele und Fakten sich in ihm versammeln. Und bereits nach kurzem Durchblättern kann ich auf dieses Wissen wieder zugreifen. Ich erstelle also quasi einen internalisierten Index des Buches. Deswegen war mir schon damals das Besitzen der Bücher so wichtig. Wenn ich zwar noch weiß, in welchem Buch ich welche Information finde, ich aber erst das Haus verlassen muss, um das Buch erst aufwändig in einer Bibliothek zu suchen, bringt mir das Gelesenhaben nur wenig. Es braucht eine gewisse Unmittelbarkeit in der Interaktion mit dem externen Wissen.
Versteht man den Nutzen des Lesen wie beschrieben, folgt daraus auch ein anderes Verhältnis von Leser und Gelesenem. Ich glaube nicht daran, dass es wirklich sinnvoll ist, Wissen in sich aufzunehmen. Ich will mich viel lieber mit ihm vernetzen. Meine Bildung endet nicht an meiner Schädeldecke sondern erstreckt sich auch auf mein Bücherregal. So wie sich das mentale Modell meines Körpers um mein Auto erweitert wenn ich es einparke, erweitert sich auch das mentale Modell meines Geistes, wenn ich unmittelbaren Zugriff auf externe Wissensressourcen habe. Ich nenne diesen Zustand mein „Mentales Exoskelett„.
Der Link
In der Nachabi-Zeit hatte ich ein SPIEGEL-Abo. Schnell stellte ich aber fest, dass mein Archivierungsbedürfnis mit dem Zustrom an Papier nicht mithalten konnte. Die Papierberge stapelten sich und im Gegensatz zu den Büchern wollte mir das Indizieren nicht so recht gelingen. Ich bestellte den Spiegel ab. Wie später auch die Süddeutsche und die c’t.
Im Netz lernte ich den Link kennen, die so genannte URL. Der Unified Resource Locator hielt in den meisten Fällen, was er versprach. Man sammelte URLs in seinen Bookmarks, später bei social Bookmark-Diensten. Mein Mentales Exoskelett wucherte nun unabhängig von den räumlichen Gegebenheiten meines Bücheregals im Internet weiter und weiter. Noch heute empfinde ich es als Körperverletzung minderer Güte, wenn einer der von mir erfassten Artikel depubliziert wird.
Lesenschreiben
Die echte Immigration ins Netz passiert aber nicht durch das Lesen. Sie passierte bei mir 2005, als ich selbst anfing in das Internet reinzuschreiben. Ich bin Blogger. Ich teile meine Gedanken und Ideen online mit allen anderen. Ich spinne ein Netz aus Artikeln, die hinter Links erreichbar sind und bleiben. Es sind Anknüpfungspunkte an mich selbst, die mich im Netz auch in meiner Abwesenheit repräsentieren. Sie sind ein Heim, eine Stätte, der Ort an dem ich mich einrichte.
Seit ich im Internet lebe, kann ich nicht mehr vom Lesen als eine in sich abgeschlossene Tätigkeit sprechen. Mein Lesen ist zu einem Lesenschreiben geworden. Jeder gelesene Text, der auf die eine oder andere Weise einen Unterschied macht, endet in einer Veröffentlichung. Das muss keine aufwändige Replik sein, aber schon ein kommentierter Link auf Twitter, manchmal ein Blogpost oder nur ein Eintrag in den Bookmarkdienst. Das Gelesene wird eingewoben in das Spinnennetz meines externalisierten Bewusstseins.
Wenn jemand einen meiner Artikel kommentiert, vibriert mein Smartphone. Mein Mentales Exoskelett bediene ich zum großen Teil über dieses Device hier. Es bindet mich mit einer ungeahnten Unmittelbarkeit ein, in die Mentalen Exoskelette der anderen und sie in meines. Man kann in gewissem Maße durchaus von einer Auflösung der Persönlichkeit sprechen, denn wenn man das Internet von heute auf morgen abschalten würde, wäre ich auf einen Schlag dumm wie Brot.
Bücher
Ich lese auch Bücher auf meinem Smartphone, neuerdings aber vor allem auf meinem Kindle. Aber es hat sich einiges verändert. Ich lese seltener Bücher und das hat nur in geringem Maße mit Faulheit zu tun. Bücher, das ist die schmerzhafte Erkenntnis, sind zum großen Teil inhaltlich und rhetorisch aufgeblasen. Es wird meistens eine These verhandelt, die auch in einen Blogpost gepasst hätte. Der Rest ist Redundanz und die Anhäufung von Anekdoten und Referenzen zur Untermauerung der These. Das Buch verdankt seinen Umfang meinst eher der Form (Wer würde schon ein Buch mit unter 100 Seiten kaufen?), nicht der inhaltlichen Notwendigkeit.
Das sieht man auch daran, dass das E-Book auch als Form neue Wege geht. Die E-Books, die nicht mehr über einen Verlag erstellt und vertrieben werden, sondern beispielsweise von Amazon, pendeln sich auf eine durchschnittliche Länge von 60 – 80 Seiten ein. Nicht ganz ein halbes Buch, aber doch deutlich länger als ein Hintergrundartikel in einer Zeitung. Das Internet kennt keine Platz- oder Druckökonomischen Notwendigkeiten. Hier sind alle Format- und Preisstrukturen denkbar.
Klar, hat sich auch meine Aufmerksamkeitsspanne verringert. Aber vor allem meine Geduld. Ich bin kritischer geworden, in welche Texte ich meine Zeit investiere. Die Parameter Gedruckt/Online, sowie Verlagsnamen taugen aber schon lange nicht mehr als Qualitätkriterien. Das Angebot zu lesender Texte ist viel reichhaltiger geworden, denn ich habe mich längst daran gewöhnt, auch englischsprachige Texte zu lesen. Die Hälfte meines Lesekonsums ist auf englisch und es wäre ein absurder Gedanke für mich, bei einem frisch erschienen Sachbuch auf die deutsche Übersetzung zu warten.
Öffentlichkeit
In meiner Tätigkeit als freier Publizist kommt es auch vor, dass ich angefragt werde, Texte für Zeitungen und Magazine im Print zu schreiben. Dafür gibt es dann immer vergleichsweise viel Geld und deswegen mache ich das durchaus gerne. Das Problem ist aber, dass ich, sobald der Text endlich erschienen ist (das dauert im Print ja auch immer …) nicht das Gefühl habe, dass er wirklich veröffentlicht ist.
Mein Begriff von Öffentlichkeit hat sich verändert. Öffentlich ist, was einen Link hat. Ein Text ist öffentlich, wenn jeder, der ihn gut findet, darauf hinweisen kann und jeder, der ihn schlecht findet ihn kommentieren und kritisieren kann. Öffentlich ist, was man vernetzen kann, mit dem eigenen mentalen Exoskelett, mit anderen Diskurse, mit den Diskursen des Anderen. Rein Gedrucktes ist immer nur das Privatvergügen einer eng abgrenzbaren Gruppe. Ich lege deswegen schon länger Wert darauf, dass meine Texte entweder auf den Webseiten der Magazine selbst veröffentlicht werden, oder mache es selbst.
Selbst wenn ich „nur gedrucktes“ lese, fühle ich mich bereits eingeengt, im Wissen, dass ich das Gelesene nicht öffentlich teilen und kommentieren kann. Ein unangenehmes Gefühl, dass mir allein dadurch die Freude am Text verleidet. Das Bewusstsein, Wissen jederzeit referenzieren zu können, wertet dieses Wissen auf.
Bücher zu Wissensgeflechten
Ich habe mal getwittert:
Ich bin heute anders informiert. Aktueller, punktueller, umfassender und genau so tief, wie ich es zulasse. Ich kann mich eigentlich nicht beklagen und würde das Heute ungern gegen das Gestern eintauschen. Als Teil der beschriebenen Achsengeneration sehe ich es aber auch als meine Aufgabe, hier eine Forderung zu formulieren:
Ich weiß um die intellektuellen Schätze, die in den Büchern gespeichert liegen, denn ich hatte eine Phase, in der ich einen Einblick erlangen konnte. Es ist hinderlich für mich und meine Generation, dass wir dieses Wissen nicht in die Wissensgeflechte einbinden können. Der Umgang mit gedruckten Wissen erfordert aus unserer Sicht einen Overhead an unnützen Transaktionskosten – und auch tatsächlichen Kosten. Wir wollen dieses Wissen aber, wir brauchen dieses Wissen.
Ich bin der Überzeugung, dass das Wissen, dass heute in den Büchern schlummert im Netz zu neuem Leben erwachen würde. Es steht der kommenden Generation zu und sie will es in den Infrastrukturen abrufen können, die sie für besser hält. Es muss digital sein und für alle zugänglich. Das kostet nicht allzuviel. Google hat das eine Zeitlang so nebenher gemacht: Bücher digitalisiert. Aber die Verlage liefen Sturm, das Projekt stockt, vor allem was deutschsprachige Bücher angeht. Auch das Gutenbergprojekt, dass gemeinfreie Texte zugänglich macht ist ein wichtiger und lobenswerter Schritt. Aber wir brauchen auch die Literatur der letzten 100 Jahre und die ist größtenteils noch mit dem Fluch des Urheberrechts belegt. Hier braucht es dringend eine Reform, denn es wäre schade, wenn die vielfältigen ineinander greifenden Gewebe von mentalen Exoskeletten, die wir langsam anfangen als „Wissensgesellschaft“ zu erkennen, einen blinden Fleck entwickeln, der den kommenden Generationen dieses reichhaltige Potential vorenthält.
Danke.