Netzpolitik: Das Ende einer Ära

Ich habe 2005 mit dem Bloggen angefangen. Zunächst war es reines Ausprobieren, vielleicht der Beginn eines lustigen Hobbys. Geändert hat sich das zur Bundestagswahl. Ihr erinnert euch: die, wo Schröder abgewählt wurde und in der Elefantenrunde besoffen rumpöbelte. Vor allem im Wahlkampf und schließlich zur Wahl intensivierten sich die Debatten in den Blogs, überschlugen sich die Analysen, Thesen und Argumente. Normale Leute tauschten sich da auf hohem Niveau aus und man konnte live dabei sein – beim politischen Diskurs. „Diskurs“, dieses Abstraktum wurde anfassbar, erfahrbar. So etwas hatte ich bis dato noch nicht gesehen.

Ich begriff damals das erste mal, welche enormen Möglichkeiten für die Politik im Internet schlummerten und wie relevant das alles eines Tages mal sein könnte. Ich begann, die Sache ernst zu nehmen.

Eine Bundestagswahl später – 2009 – sah alles ganz anders aus. Ich war Mitorganisator einer Konferenz namens Atoms&Bits in Berlin, direkt zum Wahlwochenende. Wir wollten all die neu aufkommenden Schnittstellen der digitalen Welt mit der Analogen – vom 3D Drucker bis zum Coworkingspace – unter die Lupe nehmen. Ich organisierte den Track Politik und hatte unter anderem eine Podiumsdiskussion ins Leben gerufen, die der Frage nachgehen sollte, wie man die neue digitale Schwungmasse in konkrete Politik kanalisieren konnte.

Mein damaliges Bauchgefühl zur politischen Relevanz des Netzes war inzwischen einer Gewissheit gewichen. Der Kampf gegen Zensursula, der da aus dem Nichts zu einer (aus damaliger Sicht) gigantischen Woge des Protestes ermergierte ließ uns von einer neuen Politik träumen. Wir wussten nur noch nicht welcher.

Die Piraten, bereits 2006 gegründet, erschien 2009 das erste mal als realistische Machtoption auf der Bildfläche. Aber nicht nur das. Auch die Aktivisten glaubten die neu entdeckten Superkräfte in politischen Einfluss ummünzen zu können. Netzpolitik.org wurde zu einem der meistgelesenen Blogs und allen Parteien saß der Schock über die Netzmacht tief in den Knochen.

Die Wahl selbst ließ die Euphorie kurz abkühlen. Merkel wurde bestätigt, die Vor- und Nachteile von Schwarz-Gelb zur großen Koalition wurden diskutiert. Den Piraten wurde mit den 2% immerhin ein kleiner Achtungserfolg attestiert. Keiner war zufrieden mit dieser Wahl, aber niemand blies deswegen wirklich Trübsal. Denn wir wussten ja, wo es in Zukunft hingeht. Das alles war ja nur der Anfang. Bei der nächsten Wahl, dachte ich und trank mein Bier aus, bei der nächsten Wahl wird alles anders.

Und in der Tat. Die Netzsperren wurden, obwohl bereits beschlossen, aus Angst vor der mächtigen Netzlobby beerdigt. Leutheusser-Schnarrenberger achtete peinlich darauf jedem CDUler, der mit der Vorratsdatenspeicherung um die Ecke kam, sofort auf die Patschen zu hauen. Netzpolitik war en vouge, alle Parteien gründeten Arbeitskreise und Lobbybeiboote zum Thema, von der Regierung gab es eine eigene Enquetekommission. Die Piraten eilten von Wahlerfolg zu Wahlerfolg und Tatort-Autoren und andere Besitzstandswahrer schrieben offene Briefe aus Angst um ihre Urheberrechtspfründe. Schließlich stoppte die Netzszene noch ein internationales Handelsabkommen – wo geht’s hier zur Weltherrschaft?

Nur ein Jahr später stehen wir da, wieder war Bundestagswahl und das Ergebnis ist erschütternd. Die Regierung Merkel hatte schließlich doch netzfeindliche Gesetze wie das Leistungsschutzrecht durchbekommen und es hatte bei der Wahl keinen Effekt. Der digitale Überwachungs-GAU war kurz vor der Wahl eingetreten und er hatte, trotz medialem Dauerfeuer, keinen Effekt. Die Piraten wurden auf ganzer Linie nicht mehr ernst genommen und „steigerten“ sich um 0,2% zur letzten Wahl auf jämmerliche 2,2%. Unsere Diskurse, unsere Belange, unsere Sicht auf die Welt kam bei dieser Wahl nicht vor, nicht im Geringsten. Vermutlich hatte der Deutsche Ruderverein einen größeren Impact auf diese Wahl als die Netzgemeinde.

Es ist das Ende einer Ära. So weitergehen, wie bisher wird es wohl nicht. Netzpolitik ist in dieser, jetzigen Konzeption tot. Eine Politik aus dem Netz, für das Netz als reine Selbstbespiegelung der Interessen der Netzgemeinde hat ausgesorgt. Hier müssen jetzt eingehende Analysen stattfinden: Ist Post-Privacy bereits so eine Gesellschaftsnormalität, dass die Prism-Debatte nicht verfängt? Ist es ein Deutsches Phänomen das Netz und seine Zukunft weniger wichtig zu nehmen, oder liegt es an der Demokratie? Ist die Netzgemeinde einfach nicht anschlussfähig für die neue Generation und andere Interessensgruppen? Haben wir versagt: organisatorisch, ideologisch, personell? Was ist das eigentlich, was da am Boden liegt? Eine Idee, eine soziokulturelle Gruppe, eine Haltung, ein Tool?

Klar ist, die Politik hat ihren Respekt vorm Netz verloren. Viel Getöse, nichts dahinter. Auch Shitstorms bestehen nur aus Dünnschiß. Es wird jetzt schnell gehen, ob mit der großen Koalition oder ohne. Vorratsdatenspeicherung, Netzsperren, mehr Überwachung, ein Trojanergesetz wird sicher kommen, Netzneutralität können wir uns in die Haare schmieren und vielleicht können sich die Urheberlobbyisten noch mit 3strikes oder anderem Ekelquatsch durchsetzen. Wer sollte sie aufhalten? Willkommen beim Rollback, bitte anschnallen.

Herausgefallenes zum Herbst

Noch mal kurz vor der Bundestagswahl ein Update von so dies und das:

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Ist schon etwas her, aber ich habe ja auf der Openmind 13 im Rahmen eines Vortrags meine Idee der Plattformneutralität weiterentwickelt und vor allem gründlich ausdefiniert. Das ist alles sehr dicht, sehr komplex und ganz schön theoretisch anzuhören, aber bringt hoffentlich etwas Klarheit in den Diskurs. Mir jedenfalls hat die Vortragsvorbereitung sehr weiter geholfen:

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Erst vor kurzem war ich auf der OER Konferenz der Wikimedia Deutschland und habe dort einen Vortrag über meine Kritik an den CC-Lizenzen gehalten. Sehr viel kürzer und und hoffentlich prägnanter und mit Diskussion mit Mathias Schindler:

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Und außerdem ist heute endlich die Online-Version meines langen Prism/Kontrollverlustartikels bei der SPEX veröffentlich worden. Jetzt also für jeden zum anklicken, hier.

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Noch ein kurzer Veranstaltungshinweis. Ich werde am Dienstag am 24. bei der Social Media Week auf einem Podium zu PrivacyTags und Privatsphäre im öffentlichen Raum sitzen. Das ganze findet in der design akademie berlin am Oranienplatz um 12:15 statt.
(Und zwei Tage später am 26.09.13 um 16:30 bin ich dann in Erfurt bei der Veranstaltung „Das Ende der Privatsspäre?“ in der Evangelischen Akedemie. Aber das hatte ich ja schon angekündigt.)

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Ach, und ein letztes. Am Sonntag ist ja bekanntlich Bundestagswahl. Mir ist völlig egal, wen ihr wählt, ich glaube nicht, dass diese Wahl überhaupt einen Unterschied macht. Es sei denn, ihr wohnt in Neukölln. Wenn dem so ist, dann müsst ihr in jedem Fall mit der Erststimme Anne Helm (@seeroiberjenny) von den Piraten (hier der WMR mit ihr) wählen. Sie ist großartig, macht wirkliche gute politische Arbeit und sie würde im Bundestag in der Tat einen Unterschied machen. Sie hat außerdem gar keine so schlechten Aussichten, die Stimme ist auf keinen Fall verloren. (Disclaimer: jaja, ich gebe zu, ich bin mit ihr befreundet.)

Antikapitalismus

Ich halte mich für einen Antifaschisten, einen Antirassisten und einen Antimaskulinisten. Das liegt nicht nur daran, dass ich rundheraus ablehne, was Faschisten, Rassisten und Maskulinisten sagen und tun, sondern auch daran, dass ich mir sehr gut eine Welt ohne diese Leute und Einstellungen vorstellen kann und zwar eine bessere.

Wie viele Nazis braucht man um eine Glühbirne einzuschrauben?
Keinen. Niemand braucht Nazis!

Kann ich das selbe über den Kapitalismus sagen?

Wenn ich durch die Straße gehe, wenn ich meine Nudeln koche, wenn ich an die Wand meiner Wohnung klopfe und wenn ich in das Internet reinschreibe – dann muss ich zugeben, dass die Welt in der ich lebe ein Produkt des Kapitalismus ist. Kapitalismus ist nicht einfach eine blöde Einstellung, kein doofes Gesetz, das man abschaffen könnte oder eine Maschine, der man den Stecker ziehen kann. Kapitalismus ist alles was der Fall ist und das stellt mich vor ein Problem: Wenn ich ein Antikapitalist sein will, kann ich nicht einfach das Vorhandene negieren, ohne eine Vorstellung darüber in der Hinterhand zu haben, was es ersetzen soll.

Solche Vorstellungen gibt es. Der Kommunismus ist das prominenteste Beispiel. Der Kommunismus ist eine ziemlich krasse Utopie, die wohl erst dann funktioniert, wenn wir Eigentum auf allen Ebenen komplett abgeschafft haben und die Nationen mit ihren Grenzen und Regierungen gleich mit. Irgendwie müssen wir dann noch das mit der Tragedy of the Commons regeln und eine effiziente Ressourcenallokation installieren, aber das kann durchaus alles machbar sein. Allerdings long way to go. Irgendwie nicht so richtig vorstellbar innerhalb die nächsten 3 Generationen. Und um ganz ehrlich zu sein: So richtig überzeugt von der Notwendigkeit dieses Mammutprojektes bin ich nicht. Nein, nein, ich bin kein Kommunist.

Die Marx’sche Vorstellung, man müsse nur die Produktionsmittel verstaatlichen, dann würden sich die Klassen schon auflösen, ist eh in mehreren Experimenten fehlgeschlagen. Wir leben heute in einem Kapitalismus, der Staatseigentum kennt und ganz normal damit umgeht. Auch Kollektivgüter existieren heute friedlich und mit eigens dafür geschaffenen Gesetzen mitten in unserem Gesellschaftssystem und stellen es nicht in Frage, ja sie widersprechen ihm nicht mal. Der Kapitalismus kennt kein Außen und wenn er es kennenlernt, ist das Außen schwuppdiwupp integriert. 100 mal gesehen in der Geschichte. Ja ja, all das ist der Kapitalismus.

Und ich habe noch nicht die Hoffnung aufgegeben, den Kapitalismus los zu werden. Ich habe ja eine zeitlang über die Überwindung des Eigentumbegriffs aufgrund des digitalen Fortschritts nachgedacht, aber im Grunde enthielten die Überlegungen keine Abschaffung von Eigentum, sondern nur dessen Überformung mit einem neuen Layer. Gute Sache das, aber ja, ja, auch das ist noch der Kapitalismus.

Der Kapitalismus ist doch nun mal scheiße! höre ich die Leute rufen. Und es ist schwierig ihnen zu widersprechen. Da verhungern Menschen, während nebenan Milliardenbeträge in Hochöfen verbrannt werden. Die Verteilungsgerechtigkeit auf der Welt ist eine Katastrophe und die Machtungleichgewichte führen zu schlimmen – für tausende tödlichen – Verwerfungen. Der Regenwald wird abgeholzt, Arten sterben aus, der Klimawandel schreitet voran und trifft natürlich die Armen. Außerdem musste die Lieblingskneipe wegen Mietwahnsinn zu machen, ist Arbeiten scheiße und das iPhone zu teuer. Ich kann das alles nachvollziehen.

Und es gibt gute Forderungen dagegen. Finanzmarkt regulieren, Lebensmittelspekulationen verbieten, Klimaschutz, Mietpreisbindung, Entwicklungshilfe reformieren und aufstocken, Bedingungsloses Grundeinkommen einführen, etc. All das sind im Einzelnen sicher sinnvolle Forderungen und die Welt wäre eine bessere, wenn man sie umsetzte. Aber: Ja, ja, das wäre immer noch der Kapitalismus. Und ja, er wäre auch dann immer noch scheiße genug.

Vielleicht lasse ich mich ja noch von der Überlegenheit und Erreichbarkeit des Kommunismus überzeugen. Vielleicht kommt demnächst auch mal eine wirklich neue, geile Idee vorbei, die ein echtes Alternativkonzept zum Kapitalismus bietet, das mich überzeugt. Bis dahin kann ich mich aber besten Willen nicht „Antikapitalist“ nennen.

Netzgemeinde

Unter den vielen Ankackungen, die mein Artikel hervorruft, ist einer der wiederkehrendsten und inhaltsleersten der Verweis auf die Tatsache, dass es ja „keine fucking Netzgemeinde gibt, verdammt noch mal!“

Natürlich gibt es die Netzgemeinde. Es gibt eine Netzgemeinde, so wie es Deutschland gibt, so wie es den FC Bayern gibt, so wie es Ruderer gibt. Im Gegensatz dazu, was viele sich in ihrer Kindergartensoziologie zusammenreimen, braucht es dafür kein Stück Papier mit Amts-Stempel oder ne Mitgliedskarte. Und es spielt auch keine Rolle, ob die Netzgemeinde ausgedacht ist und auch nicht von wem. Alle Gemeinschaften, in denen sich nicht tatsächlich jeder persönlich kennt, sind ausgedachte Gemeinschaften, „imagined Communities“ nach Benedict Anderson – was der faktischen Wirkmächtigkeit ihrer Existenz aber keinen Abbruch tut.

Eine Gemeinschaft besteht nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationen, die ihre Anschlussfähigkeit unter anderem in der Unterscheidung von Selbst- und Fremdreferenz gewährleisten. Luhmann nennt diesen ständigen Prozess der Selbstkonstitution von Gemeinschaften auch „Autopoiesis„. Wann immer wir von den „Internetausdruckern“ reden, oder den Journalisten (gern auch Mainstream- oder Qualitätsjournalisten, etc), auch wenn wir davon reden, dass wir den Anschluss an die Youtubegreneration verloren haben, wann immer wir „wir“ sagen und uns adressieren – unter welchem Namen auch immer – konstituieren wir die Netzgemeinde. Und ja, auch das Aufschreien, Rumblöken und Kritisieren des Begriffs „Netzgemeinde“ konstitutiert eben diese.

Und als diese Netzgemeinde haben wir bereits eine ganze Handvoll Institutionen (Shitstorms, Digitale Gesellschaft, Nonmentions), Semantiken (#ausgründen, „Netzgemeinde“ Grumpyirgendwas und andere Meme), Narrative („Solidarität durch Vernetzung“, „böse Conentmafia ist böse“, „Netz vor Politik schützen“) und sonstige Strukturen ausgebildet. Ihr seid da im Einzelnen nicht mit einverstanden? Macht nichts, auch der Metadiskurs über die Narrative, Semantiken und Institutionen konstituiert die Netzgemeinde. Wir haben Diskurs und wir haben sogar Geschichte. Und in all dem wird die alles entscheidende Unterscheidung von Selbst- und Fremdreferenz immer implizit mitgeschleift und aktualisiert. Und schon wieder: Zack! Netzgemeinde!

Sascha Lobo weist außerdem darauf hin, dass sich die Netzgemeinde aus freiwilligen Hobbylobbyisten des freien Netzes rekrutiert. Das ist auch als Kritik zu verstehen, denn wir lobbyieren für etwas, was wir nur scheinbar objektiv für das Gute halten, was in Wirklichkeit aber unsere eigene Interessenlage widerspiegelt. Und da demographisch die Netzgemeinde dann doch überwiegend männlich, weiß und hetero ist, hat diese Lobby einen klaren Bias und es werden oft Aspekte unbewusst ausgeblendet. Die Kritik daran hat Miinaaa in ihrem om13-Vortrag sehr detailreich ausgearbeitet (obwohl sie leider auch erst behauptet, die Netzgemeinde gebe es nicht, um sie hinterher zu kritisieren) *. Einer der wesentlichsten und wichtigsten Kritikpunkte, dieser mitunter selbstgerechten und unreflektierten Lobby ist meines Erachtens ihr Glaube daran, keine Netzgemeinde zu sein, sondern „ganz normale Leute, die halt das Internet nutzen“. Wenn die Netzgemeinde wenigsten einsähe, dass sie Einfluss nimmt und dass dieser Einfluss auch noch überproportional groß ist und sie deswegen ein bisschen selbstkritischer auftreten würde, wäre bereits viel gewonnen.

Ich persönlich finde den Namen auch gerade wegen dieser provinzialistischen Konnotation besonders gut geeignet. Wie schon „Kleinbloggerdorf“, damals 2005, assoziiert man Leute, die auf Kissen gestützt aus dem Fenster lehnen und sich den neusten Klatsch und Tratsch der Woche zurufen. Die Netzgemeinde ist auf diese provinzielle Art verbohrt und wirkt oft ein bisschen dumm und gleichzeitig auch ein bisschen liebenswert. Sie ist Heimat und gehassliebte Familie, oder zumindest eine schlechte Simulation davon.

Wer bestimmt denn nun wer in der Netzgemeinde ist und wer nicht?

Niemand und alle und jeder für sich selbst. Man kann der Netzgemeinde zwar nicht per Deklaration entkommen oder beitreten. Aber man kann ihr den Rücken kehren, indem man die Diskurse an sich vorbei ziehen lässt. Man kann aufhören, sich mit dem ganzen Kram zu identifizieren – ja auch negativ zu identifizieren. Ich habe das gesehen, bei vielen schon, die erfolgreich „ausgestiegen“ sind. Das fällt erst gar nicht auf, sie Twittern immer weniger über die neuste Sau im Dorf, dann immer weniger generell, irgendwann sind sie weg und man muss sie anrufen, um mit ihnen ein Bier trinken zu gehen. Für mich ist so ein Ausstieg nicht ganz leicht, weil die Netzgemeinde einen nicht unwesentlichen Teil meiner heutigen Identität ausmacht. Ich bin, was ich bin, durch die Netzgemeinde. Ich weiß nur nicht, ob ich das noch sein will. Und ich bin mir durchaus bewusst, dass ich mit diesem Posting die Netzgemeinde nicht nur wieder kräftig mitkonstituiert habe, sondern mich auch wieder tiefer in ihre Eingeweide eingeschrieben habe. Aber ach.

* NACHTRAG: Frau Mina Dingens ergänzt hierzu:

„Ja, das war im Vortrag vielleicht nicht gut ausgedrückt: es sollte heißen, *die* Netzgemeinde(tm) gibt es nicht – siehe die x-verschiedenen Definitionen, jede_r versteht was anderes darunter (laut Wikipedia sind es alle, die online sind, laut (Selbst)Definition alle auf Twitter oder mit Blog oder mit netzpolitischem Engagement oder oder oder…). „Netzgemeinde“ als Synonym für „Netzelite“ hingegen – also die wenigen Menschen, die auf Grund von Blogs, Kolumnen, Twitter oder sonstigem mehr oder weniger Sichtbarkeit haben und/oder sich mit netzpolitischen Themen beschäftigen, und da meinen „für alle Nutzer_innen“ zu sprechen – habe ich dann versucht zu kritisieren.
Ich wollte das eh mal alles etwas länger und ausführlicher aufschreiben, vielleicht wäre es mal an der Zeit…“

* NACHTRAG 2: Mina hat jetzt noch mal ausführlich zum Thema gebloggt.

Freiheit statt … was eigentlich?

Für die Freiheit haben wir demonstriert, gestern. So hieß es jedenfalls. Obwohl man eigentlich einen anderen Eindruck bei den Auftaktrednern bekam. Da ging es darum, nicht mehr „US-Vasallen“ zu sein, nicht der „Vorgarten der Amerikaner“ in dem sie tun dürfen, was sie wollen. Dass „amerikanische Konzerne unsere Daten verkaufen“ und dass es ja nun auch gut sei mit der Bevormundung, denn wir haben Deutschland ja jetzt erfolgreich „entnazifiziert“. Es werde Zeit, dass „wir“ den Amis auf „Augenhöhe“ begegneten und dass „Wir“ unsere „Bürgerrechte“ verteidigen müssen. Überhaupt fiel das Wort „Bürger“ sehr häufig. Gleich zu Anfang wurde der Polizei zugerufen, dass „wir“ eine friedliche Demo seien, in der sich „die Mitte der Gesellschaft“ für die Freiheit engagiere und wir deswegen ja auf der „selben Seite“ kämpften, denn es gelte: „Sicherheit durch Freiheit“. Ah ja. Und als wir mit dem Demozug wieder angekommen waren, platzte Padeluun vor Stolz, um verkünden zu dürfen, dass „die Polizei uns gelobt“ habe, weil wir so friedlich seien. Ich wollte auf der Stelle im Boden versinken vor … ich wünschte, ich könnte an dieser Stelle „Fremdscham“ schreiben, aber er sprach ja auch für mich.

Der Kuschelkurs hat sich für die FSA gelohnt, denn nach „Absprachen mit dem Veranstalter“ verzichtete die Polizei großzügig darauf, eigene Teilnehmerzahlen zu veröffentlichen (NACHTRAG: „anfangs“ (laut Ole Reismann 15:00) sprach sie wohl noch von 4800), so dass Padeluun die für jeden Anwesenden klar pathologisch übertriebene Zahl von 20.000 Teilnehmern unwidersprochen verkünden durfte. Ich kann gar nicht sagen, wie mich diese Mischung aus schlichtem Bullshit, kaum verdecktem Nationalismus und Antiamerikanismus und der Unehrlichkeit, Anbiederei und Kungelei mit der Polizei ankotzt. Und doch unterstreicht es nur das Unwohlsein, dass ich während der gesamten Demonstration spürte.

Es war meine 5. FSA. Ich war auf allen seit 2008. Auf keiner habe ich mich so fremd gefühlt. Da waren die Schilder, die die NSA Affaire mit Nazideutschland gleichsetzen. Da waren Leute, die für Männerrechte kämpften. Klar, die Datenkrate der Digitalcourage, die immer noch nicht verstanden hat, was struktureller Antisemitismus ist, durfte nicht fehlen. Da waren die Rufe „Wir sind das Volk“ – überhaupt war neben „Freiheit“ und „Bürger“ „Volk“ das drittbeliebteste Wort der Demo. Natürlich gab es auch normale Leute, natürlich waren da viele Freunde und Bekannte und natürlich war es wieder ein Klassentreffen. Aber die bekannten Gesichter schauten mich mit ebenso müden Augen an, lästerten mit der selben Genervtheit über das, was sie umgab. Die FSA war kein Aufbruch, es war eine Pflichtübung.

Und ich kam ins Grübeln. „Für die Freiheit des Individuums sich zu entfalten“ hörte ich aus einem Boxenwagen und dachte an die letzten Wochen. Ich dachte an ochdomino und dem fast erfolgreichen Versuch eines Maskulinisten mithilfe des anonymen Internets den Feminismus zu diskreditieren. Ich dachte an all die Hasskommentare und -Mentions, die ich sehen musste, immer wenn sich Frauen zu kontroversen Themen zu Wort meldeten oder über sexuelle Übergriffe berichteten. Ich dachte an all die Tränen und Zusammenbrüche, immer dann, wenn eine Frau mal in wieder in einem Sturm aus Maskuscheiße unterging. Ich dachte an den letzten Post von Frau Dingens und ich fragte mich, wie die NSA es schafft, die „persönliche Freiheit“ von Frauen zu beeinträchtigen, die sowas hinter sich haben. Ich fragte mich, für wessen Freiheit ich hier eigentlich demonstriere.

Ich bin noch nicht fertig mit dem Fragen. Ich weiß nur, dass ich mich in der „Netzgemeinde“ nicht mehr wohl fühle.

Freiheit statt Angst

fsa13alexgrNächsten Samstag ist die Freiheit statt Angst Demo in Berlin. Endlich wieder kann man sagen, nachdem sie letztes Jahr ausgefallen ist. Nun aber kann niemand leugnen, dass eine Demonstration gegen Überwachung zu kaum einem besseren Zeitpunkt stattfinden könnte, als derzeit. Die größte Überwachungsmaschinerie der Geschichte der Menschheit wurde aufgedeckt und hat alle Ängste der Überwachungsgegner übertroffen.fsa2011

So aussichtslos die Lage aber auch wirkt, ist es wichtig ein deutliches Zeichen gegen diese Praxis zu setzen. Deswegen werde ich dieses Jahr, wie all die anderen Jahre auch, wieder mitmarschieren. Ich denke, in der Opposition zur Überwachung sind wir uns alle einig, also sollten wir gemeinsam beweisen, dass die Snowdenenthüllungen eben nicht egal sind und nicht einfach hingenommen werden.Jetzt ist der Zeitpunkt seinen Unmut auf die Straße zu bringen und dabei die Differenzen, die manche von uns in der Frage des richtigen Vorgehens haben, beizulegen.

Also lasst uns am 7.9. um 13:00 am Alexanderplatz treffen und zeigen, was wir von der Internettotalüberwachung halten.