Krasse Links No 15.

Willkommen bei Krasse Links No 15. Stellt Eure Phaser auf Betäubung, wir müssen über Star Wars reden.



Apple hat zum Start seines neuen iPad-pro einen Werbespot veröffentlicht, in dem sie eine Menge Musikinstrumente und Kreativtools in einer riesigen Presse zu dem neuen iPad schmieden und die Reaktionen sind so aufgebracht, dass Apple sich entschuldigen musste.

Ich finde das deswegen interessant, weil ich glaube, dass der Spot vor zwei Jahren nickend durchgegangen wäre, denn eigentlich bringt er nur die altbekannte Selbsterzählung des Silicon Valley auf den Punkt: Wir disruptieren etablierte Praktiken, Tools und Institutionen, indem wir eine komprimiertere, kompaktere, zugänglichere Version davon anbieten. Das ist das Bild, das Apple von sich in seinem popkulturell ikonischen Werbespot von 1984 entwarf, und damit die Semantiken des rebellischen Selbstentwurfs lieferte, die von großen Teilen des Valleys adaptiert wurden.

Apple scheint aber gar nicht bemerkt zu haben, wie schal diese Selbstzählung heute wirkt und war daher blind für die offensichtliche Möglichkeit, dass sich viele Menschen – und ganz besonders Kreative seit dem Aufkommen von generativer KI – mit den zerquetschten Intrumenten in der Presse identifizieren würden. Man kann nicht besser auf den Punkt bringen, wie out of touch Silicon Valley mittlerweile ist.


Mike Pounds bespricht in einem neuen Video die Grenzen der Skalierbarkeit von aktuellen KI Ansätzen. Grundlage ist dieses Paper, das durch experimentelle Datenerhebung zeigt, dass die Performance von derzeitigen KI-Ansätzen bei zunehmenden Datenmengen abflacht, sich also asymptotisch verhält. Mit anderen Worten: Der Ansatz skaliert ab einem bestimmten Punkt nicht mehr.

Ich hatte ja auch schon die These aufgestellt, dass LLMs auf einem Sattelpunkt angekommen sind und auch Gary Marcus sieht das so. Es wird spannend sein zu sehen, was passiert, wenn alle aus ihren AGI-Träumen aufwachen und die hunderte von Milliarden Dollar Investitionen in Rechenzentren irgendwie abgeschrieben werden müssen, während KI immer noch für kaum etwas gut genug ist.


Der Deal, den Star Trek in seiner Zukunftserzählung unterbreitet, ist ja, dass wir unglaublich geilen und mächtigen technologischen Shit haben werden, aber im Gegenzug – weil große Macht auch große Verantwortung bedeutet (großes Spidyehrenwort!) – auch eine viel krassere Ethik. Wir sind klüger, reifer, weiser, abgewogener, weniger rassistisch, mit besseren Institutionen und höheren Idealen.

Und ich glaube, diese Grunderzählung war zumindest für die technooptimistischeren Menschen wie mich immer auch eine plausible Schneise der Erwartung, in die man sich selbst, das Silicon Valley, den Westen und schließlich die ganze Welt in eine positive Zukunft hinein-imaginieren konnte. Ich finde diese Erzählung immer noch ganz hübsch, aber auch etwas … cringe?

Ethik skaliert halt nur, wenn man sie als Suchbewegung nach einer unendlich optimierbaren Formel für Gerechtigkeit konzeptionalisiert. Wenn man sie dagegen nach Haraway als echte Verantwortungsübernahme denkt, wird Ethik eine asymptotische Funktion mit deminishing Returns, deren Horizont durch den Menschen limitiert bleibt.

Mir kam es schon immer komisch vor, dass der Captain der Enterprise ständig alle Probleme selber löst und mit jedem Alien in der Galaxis persönlich redet. Umgekehrt frage ich mich, wo ich als eines von dröfzigtrilliarden Aliens, das im von der Föderation kontrollierten Bereich der Galaxie lebt, bei der Sternenflotte anrufen kann, wenn ich ein konkretes Problem habe? Geht da eine Hotline ran? Sitzt da dann ein Mensch dran? Hat der ein Verständnis für meine Bedürfnisse? Hat er überhaupt eine Sprache, in der ich meine Probleme formulieren kann? Und kann ich auch etwas in der Sternenflotte bewegen? Ist also jemand verantwortlich, im dem Sinne, dass er oder sie Antworten kann, nicht wie ein Chatbot, sondern als jemand, der oder die im Zweifel bereit und fähig ist, sich selbst zu verändern oder gar die Sternenflotte oder die Föderation?

Ich würde gerne sagen, dass ich wegen solchen Widersprüchen lieber Star Wars geguckt habe, aber die Wahrheit ist wohl eher, dass ich einfach mehr auf Laserschwerter stehe? Doch je lauter um mich herum unsere super fortschrittlichen, westlichen Werte kollabieren, desto plausibler wird mir die Star Wars-Zukunftsvision und desto mehr fühle ich mich bereits als Bewohner des Galactic Empire, statt der Föderation.

Jedenfalls. Wenn ihr wie ich fast alle aktuellen Star Wars Serien todlangweilig findet, dann schaut Euch trotzdem Andor an. Andor erzählt gewissermaßen die Anfänge der Rebellion, als sich der Widerstand formt und wo normale Menschen plötzlich in Situationen kommen, in denen sie feststellen, dass „Sich wehren“ die einzige Option ist. Die Serie befasst sich sehr intensiv mit den sozialen Dynamiken des Widerstands, aber auch mit hintergründigen, strategischen Überlegungen, dazu Überlegungen zur Rolle von Technik, von Solidarität und Freundschaft, von Aufopferung, Moral und Gewalt. Rebellion ist der Versuch, das Imperium zum Antworten zu zwingen.

Aber auch das Empire ist so plausibel und plastisch in Szene gesetzt, wie ich es noch nie gesehen habe. Wie dort Menschen auf allen Ebenen des Apparats einfach ihren Job machen und sich dabei einreden, das Richtige zu tun. Wie die Spitze durch Kämpfe, Intrigen und Ränkespiele bestimmt wird und das Empire auch intern immer Opfer produziert, dazu Karrieristen und sich stapelnde Widersprüche.

Aber das Wichtigste, was wir lernen ist, dass die entscheidende Schwachstelle des Empire nicht ein ungesicherter Lüftungsschacht am Todesstern ist, sondern seine eigene, bräsige Arroganz und seine Verachtung, mit der es auf die von ihm Beherrschten schaut.

Andor gibt es natürlich auf Disney Plus, aber hier verlinke ich vor allem auf diesen großartigen Video-Essay von Just Write „Andor: Anti-f*scist Art“


Der Guardian berichtet über das Ende des „Future of Humanity“ Institut in Oxford, das von dem Gründungsphilosophen der Longtermist-Bewegung Nick Bostrom geführt wurde und versammelt noch mal die vielen Probleme dieser Ideologie. Schon die Effective Altruists verschrieben sich ganz der Skalierbarmachung von Ethik, indem sie rationale Kriterien und Infrastrukturen schaffen, mit dem jeder per Knopfdruck Gutes tun kann. Der Longtermism nimmt diesen Impuls auf und skaliert die Ethik noch darüber hinaus, indem er die Probleme skaliert, mit denen er sich befasst: Astereoideneinschläge, außer Kontrolle geratene KI, das geistige Degenerieren der Weltbevölkerung … äh, ja, genau, richtig gehört. Gaanz wichtiges Thema auf Nick Bostroms Agenda:

“Currently it seems that there is a negative correlation in some places between intellectual achievement and fertility. If such selection were to operate over a long period of time, we might evolve into a less brainy but more fertile species, homo philoprogenitus (‘lover of many offspring’).”

Das ist natürlich rassistischer und im Grunde auch antifemistischer Bullshit, wenn man bedenkt, dass ein Geburtenrückgang an bestimmten sozialdemographischen Faktoren geknüpft ist, wie Bildung bei Frauen und ein gewisses Wohlstandsniveau. Die dahinterstehende Ideologie führt direkt in die Eugenetik und zum Projekt einer biopolitisch gezüchtete Intelligenz, die dann aber sicher auch zu einer noch viel höher skalierten Herrenrassenethik fähig sein wird?


Balaji Srinivasan ist ein gut vernetzter Tech-Bro der außerordentlich tief in das im Silicon Valley vorherrschende Coolaid-Glas geschaut hat. Er hat ein Buch darüber geschrieben, dass die Tech-Oligarchen einen neuen Staat bauen sollen (The Network State), was im Valley in in dessen erweiterten kulturellem Kosmos ziemlich abgefeiert wird, und wenn er Laune hat, sagt er Dinge wie:

“What I’m really calling for is something like tech Zionism,” he said, after comparing his movement to those started by the biblical Abraham, Jesus Christ, Joseph Smith (founder of Mormonism), Theodor Herzl (“spiritual father” of the state of Israel), and Lee Kuan Yew (former authoritarian ruler of Singapore). Balaji then revealed his shocking ideas for a tech-governed city where citizens loyal to tech companies would form a new political tribe clad in gray t-shirts. “And if you see another Gray on the street … you do the nod,” he said, during a four-hour talk on the Moment of Zen podcast. “You’re a fellow Gray.”

Aber wo wir gerade bei Serientipps waren, hier etwas Aktuelles, wovon ihr aber wahrscheinlich eh schon gehört habt: Fallout (Amazon) spielt wie das Computerspiel in einer parallelen Realität des 21, 22. und 23. Jahrhunderts, in dem der kalte Krieg nicht so kalt geblieben ist, wie bei uns. Die Erdoberfläche ist radioaktiv verseucht und die Zivilisation weitgehend kollabiert und unterschiedliche Gruppen verfolgen unterschiedliche Überlebensstrategien. Manche leben seit Generationen in Star Trek ähnlichen Bunkersystemen und Sozialstrukturen unter Tage, andere versuchen als militaristische Organisation alle anderen zu unterwerfen, wieder andere sind in der Rebellion, aber die meisten Menschen versuchen einfach nur in den Ruinen und fernab des Gesetzes so gut wie möglich zu überleben. Die Handlung ist kurzweilig, die Gewalt ist absurd splatterig, der Humor ist Dirk Gently-artig und es gibt viele vollkommen absurde aber auch interessante Plottwists und natürlich erfahren wir erst zum Schluss, wie diese Welt letztlich zu Stande gekommen ist.

Ich will nicht spoilern, aber die Serie hat eine ziemliche auf-die-12 Botschaft, die ich vor noch fünf Jahren gar nicht so ernst genommen hätte, weil zu absurd und comic-haft. Aber in einer Zeit, wo halb Silicon Valley mit einer ähnlichen Energie über Gesellschafts- und Bevölkerungsplanung nachdenkt, fühlt sich die enthaltene Gesellschaftskritik plötzlich ziemlich relevant an?


Trotz meines generellen Interesses für Kultur halte ich mich nicht für einen „Kulturmenschen“ und fühle mich im deutschen Feuilleton eigentlich nicht sehr zuhause. Ich schätze, das ist ein Teil der Erklärung, warum ich die vielen Antisemitismusdiskussionen, die es in den letzten Jahren gab, immer nur aus den Augenwinkeln beobachtet habe. Sei es die Ausladung von Achille Mbembe, die Diskussionen um angeblichen Antisemitismusskandal bei der Bienale, die Ausladung von Nancy Fraser und im Dezember letzten Jahres die versuchte Cancellation der Verleihung des Hannah Arendt-Preises an Masha Gessen.

Letzterer Fall ist deswegen besonders interessant, weil der Anlass Gessens außerordentlich lesenswerter Essay im NewYorker war, In the Shadow of the Holocaust, in dem sie diese deutsche Cancelpolitik detailliert auseinandernimmt und den Deutschen Institutionen vorwirft, den Holocaust politisch zu instrumentalisieren. Den Essay sollte wirklich jeder gelesen haben.

There are now dozens of antisemitism commissioners throughout Germany. They have no single job description or legal framework for their work, but much of it appears to consist of publicly shaming those they see as antisemitic, often for “de-singularizing the Holocaust” or for criticizing Israel. Hardly any of these commissioners are Jewish. Indeed, the proportion of Jews among their targets is certainly higher. These have included the German-Israeli sociologist Moshe Zuckermann, who was targeted for supporting the B.D.S. movement, as was the South African Jewish photographer Adam Broomberg.
[…]
The B.D.S. movement, which is inspired by the boycott movement against South African apartheid, seeks to use economic pressure to secure equal rights for Palestinians in Israel, end the occupation, and promote the return of Palestinian refugees. Many people find the B.D.S. movement problematic because it does not affirm the right of the Israeli state to exist—and, indeed, some B.D.S. supporters envision a total undoing of the Zionist project. Still, one could argue that associating a nonviolent boycott movement, whose supporters have explicitly positioned it as an alternative to armed struggle, with the Holocaust is the very definition of Holocaust relativism. But, according to the logic of German memory policy, because B.D.S. is directed against Jews—although many of the movement’s supporters are also Jewish—it is antisemitic. One could also argue that the inherent conflation of Jews with the state of Israel is antisemitic, even that it meets the I.H.R.A. definition of antisemitism. And, given the AfD’s involvement and the pattern of the resolution being used largely against Jews and people of color, one might think that this argument would gain traction. One would be wrong.

Meine persönliche Haltung zu B.D.S. ist: sowas unterstützt man nicht als Deutscher. „Kauf nicht bei Juden“ ist semantisch einfach zu nah dran. Aber grundsätzlich finde ich eine solche Protestform hart aber legitim? Außerdem denke ich, dass, wenn man den Palästinensern ihre Demos, ihre Konferenzen, ihre Parolen und auch noch ihren Boykott – also jede legale Ausdrucksform delegitimiert, könnte das auch nach hinten losgehen?

Trotzdem habe ich mir 2019 erlaubt, die Ächtung mit einem gewissen Schulterzucken zu begleiten. Wie gesagt: ich habe das Thema bisher eher aus den Augenwinkeln verfolgt und es kam mir etwas sinnlos vor, mich da tiefer mit zu beschäftigen. Es ist alles immer so furchtbar kompliziert, die Positionen sind so verfahren und irgendwie wird schon auch was dran sein, an den Vorwürfen? Zudem habe ich mir erlaubt, wegzuhören, wenn Menschen „Cancel-Culture“ rufen oder die Meinungsfreiheit bedroht sehen, einfach weil so viele rechte Spinner die letzten Jahre nicht damit klar kamen, für ihren Bullshit outgecalled zu werden.

Was mir dabei entging, war, dass durch die offizielle Adelung des entgrenzten Antisemitismusbegriffs eine Struktur entstand, die die staatlichen Kulturförderungsprogramme als Hebel nutzt, um in tief in die Kultur hinein zu regieren und so das heutige Klima der Verdächtigung und der Angst etablierte, das sich inzwischen auf die gesamte öffentliche Sphäre ausgedehnt hat.

Part of what has made the resolution peculiarly powerful is the German state’s customary generosity: almost all museums, exhibits, conferences, festivals, and other cultural events receive funding from the federal, state, or local government. “It has created a McCarthyist environment,” Candice Breitz, the artist, told me. “Whenever we want to invite someone, they”—meaning whatever government agency may be funding an event—“Google their name with ‘B.D.S.,’ ‘Israel,’ ‘apartheid.’ ”

Ich betone, dass es sich hier nicht um eine Verschwörung handelt. Ich denke, die Akteure agieren größtenteils unkoordiniert und aus Überzeugung, das Richtige zu tun. Der entgrenzte Antisemitismusbegriff ist eine semantische Verschiebung, die viele bereitwillig mitgegangen sind und die Erwartungsstrukturen haben sich bereits gesellschaftsweit angepasst.

Das macht sie aber nicht richtig, denn diese Verschiebung nimmt gerade den Palästinensern ihre Grundrechte. Sie macht sie zu einer politisch verfolgten Minderheit in diesem Land und jeder, der darauf aufmerksam macht, droht ebenfalls mit unter die Räder zu kommen.


Um kurz die Geschichte von Masha Gessens Hannah Arendt-Preis zusammenzufassen: Nachdem der NewYorker-Artikel herauskam, gab es einen Aufschrei, weil Gessen darin auch die Lage der Menschen in Gaza mit den Juden im Warschauer Ghetto in Beziehung setzt. Daran kann man sicher Anstoß nehmen, ich würde jetzt aber auch nicht ausschließen, dass die im Artikel so klar umrissene Struktur sich etwas angefasst fühlte?

Jedenfalls zogen sich sowohl die Heinrich Böll-Stiftung, als auch die Stadt Bremen aus der Preisverleihung zurück, was eine himmelschreiende Absurdität ist, wenn man sich auch nur mal fünf Minuten mit Hannah Arendt beschäftigt hat. Ich persönlich kenne wenige Denker*innen, die so unerschrocken und unagepasst ihre Gedanken formuliert haben, wie Arendt und auch wenn sie heute als unantastbare Säulenheilige herumgereicht wird, befand sie sich zu ihrer Zeit recht regelmäßig im Auge des ein oder anderen Shitstorms. Im heutigen Klima würde man Arendt wahrscheinlich die Einreise nach Deutschland verwehren, wie Masha Gessen ebenfalls in ihrem Essay andeutet:

In 1948, Hannah Arendt wrote an open letter that began, “Among the most disturbing political phenomena of our times is the emergence in the newly created state of Israel of the ‘Freedom Party’ (Tnuat Haherut), a political party closely akin in its organization, methods, political philosophy, and social appeal to the Nazi and Fascist parties.” Just three years after the Holocaust, Arendt was comparing a Jewish Israeli party to the Nazi Party, an act that today would be a clear violation of the I.H.R.A.’s definition of antisemitism.

Dementsprechend fand in der Kulturszene endlich ein angemessener Aufschrei statt, der die Organisator*innen dazu zwang, die Preisverleihung dennoch auszurichten und so fand sie schließlich in einem Privathaus statt, wo nur 50 Gäste zugegen sein durften. Gessen nahm trotz dieses demütigenden Theaters die Reise aus den USA auf sich, um, wie sie sagt, dann doch noch eine Debatte zu ermöglichen und die Böllstiftung gab dem statt, aber in einer gesonderten Veranstaltung in Berlin. Hier das Video, einmal mit englischer und mit deutscher Synchro.

Vor allem Gessens Redeteile sind relevant, aber auch Böll-Vorstand Jan Phillip Albrecht hat seinen Moment, wenn er Masha Gessen versucht weiß zu machen, dass wir in Deutschland überhaupt kein Problem mit Meinungsfreiheit hätten, schließlich stehe Meinungsfreiheit ja im Grundgesetzt und außerdem sitze man ja gerade zusammen und rede, womit er sie zwang, die ganze demütigende Behandlung noch mal für alle zu rekapitulieren, um klarzustellen, dass, nur weil der Versuch, sie zum Schweigen zu bringen scheiterte, es ja trotzdem ein Versuch bleibt?

Neulich auf einer Mastodon-Diskussion wurde jemand, der grundsätzlich den Krieg Israels verteidigt, gefragt, ob ihn denn das krasse Leid und die vielen Toten in Gaza nicht zu Herzen gingen und er entgegnete in etwa: doch doch, das kritisiere er auch. Das kritisiere ja auch die Bundesregierung.

Mich erschrak der Kommentar, aber ich musste erst drüber nachdenken warum. Zunächst ist es natürlich diese kalte Sachlichkeit, doch im nächsten Schritt kommt man drauf, dass sich diese Kälte im zweiten Satz erklärt: Sein Denken scheint beim Beantworten dieser Frage offenbar nicht, wie man es erwarten würde, in das eigene Empathiezentrum gesprungen zu sein, sondern … zur Bundesregierung?

Ich will das gar nicht zu sehr skandalisieren, denn ich glaube, wir alle funktionieren so. Wir können nicht jeden Tag über jede ethische oder politische Frage im Detail selbst nachdenken (da kommt man in teufels Küche kann ich euch sagen!), deswegen outsourcen wir eine ganze Menge Moral an allerlei Erlaubnisstrukturen, die uns ermöglichen, halbautomasiert Positionen zu schwierigen Fragen zu triangulieren. Und auch ganz normal scheint es mir, sich dabei am Urteil von Autoritäten zu orientieren, denn Autoritäten sind schließlich selten umsonst Autoritäten, sie sind gewählt, oder verfügen über ein besseres Wissen oder beides.

Doch eine solche Antwort bleibt halt eine Nicht-Antwort, denn der Bypass über die externen Erlaubnisstrukturen panzert davor, sich erschüttern zu lassen.

Ziemlich kurz vor Schluss der Diskussion meldete sich Hartmut Bäumer zu Wort, der viele Jahre selbst im Aufsichtsrat der Heinrich Böll-Stiftung tätig war und sagte, dass er sich in all der Zeit noch nie so für diese Stiftung geschämt habe,

„eine Organisation die für Menschenrechte und Meinungsfreiheit steht. Jan, was Du eben über Meinungsfreiheit gesagt hast, das zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Die fängt bei jedem einzelnen an und auch bei einer Organisation wie der Böllstiftung. Du kannst dich nicht auf den Staat berufen, und sagen, wir haben Meinungsfreiheit. Die stirbt hier! Und die stirbt dort, wo Gesellschaften nicht mehr dafür eintreten.“

Ich kenne Jan Phillip Albrecht seit vielen Jahren persönlich und weiß, dass er ein lieber Kerl ist, der sicher glaubt, das Richtige zu tun und gerade deswegen bin ich mittlerweile davon überzeugt, dass Star Wars schlicht erzählt, was früher oder später auch aus der Vereinigten Föderation der Planeten geworden wäre.


Und dann war da noch dieses merkwürdige Interview mit Jack Dorsey. Er preist seine Idee einer zensurresistenten Twitter-Infrastruktur an, sieht sie aber nicht in Bluesky, aber Nostr erfüllt. Außerdem verteidigt er Musk und X und kommt auf die komische Idee, dass Musk der Redefreiheit irgendwie zuträglich wäre, obwohl er im selben Interview erklärt, wie dem nicht so ist:

Yeah. Elon has taken a different tack. Our principle was around free speech on the internet as a general rule, and that we would fight governments on that. His is free speech as determined by local law, and that means if India says you have to take these accounts down, you have to take those accounts down, because they’re against the law.

Noch interessanter finde ich, wie Jack hier den Tech-Rebellen gibt, der es dem Corporate Internet mit dezentralen Crypto-Protokollen zeigen will. Man braucht nicht ins technische Detail zu gehen, um zu erklären, dass dieser ganze techno-libertäre Ansatz der Versuch ist, das Problem der Unskalierbarkeit von Verantwortung zu adressieren, indem man die Möglichkeit der Verantwortungsübernahme technisch aus der Gleichung streicht. Kein Anschluss unter dieser Nummer, aber als Feature.

Es gibt zwei Arten von Sith-Lords: diejenigen, die sich für Sternenflottenoffiziere halten (Tim Cook, Mark Zuckerberg, Sundar Pichai und Satya Nadella) und diejenigen, die sich als Teil der Rebellion inszenieren (Elon Musk, Peter Thiel, Marc Andreeson und Jack Dorsey). Zwischen ihnen gibt es machmal Showkämpfe, aber an Deiner Rebellenbasis werden sie früher oder später zusammen anklopfen.

Wie Online-Plattformen unser Leben prägen und die Welt verändern – mit Michael Seemann – yeet-Podcast

Ich war im Yeet-Podcast der evangelischen Kirche zu Gast und wir haben über Plattformen im Allgemeinen und das Problem mit X im Besonderen gesprochenen. Und sogar über Religion?

Wie verändern die großen Online-Unternehmen unsere Welt und unsere Gesellschaften? In seinem Buch „Die Macht der Plattformen“ hat Michael Seemann 2022 diese Frage umfassend beantwortet. Im yeet-Podcast beschreibt er, was digitale Stämme sind, welchen Einfluss Online-Plattformen sowohl auf die Demokratie als auch auf den Kapitalismus haben – und wie sich die Plattformen gleichzeitig in einer Wechselwirkung mit diesen Systemen befinden, die unsere Welt in rasendem Tempo verändert. Zudem argumentiert er ausfüh

Quelle: Wie Online-Plattformen unser Leben prägen und die Welt verändern – mit Michael Seemann – yeet-Podcast

Krasse Links No 14.

Willkommen bei Krasse Links No 14. Putzt Eure die Antisemitismuskeulen, heute sprechen wir über Israel.


Lysia Golgreen war für die New York Times viele Male auf dem Campus der New Yorker Columbia-Universität und berichtet angenehm differenziert von den Studierendenprotesten. Sie ordnet dabei auch die Berichte über Hamassolidarisierungen und antisemitische Übergriffe ein aber ihr Fazit ist, dass die Studierenden zwar oft übers Ziel hinausschießen, das jedoch nicht bedeutet, dass sie im Unrecht sind. Und dafür zieht sie eine interessante Parallele zu den Studierendenprotesten gegen den Vietnamkrieg.

It is easy when looking backward to remember the fight for a good cause as pure and untainted, even if it did not seem so at the time. In the same way, we now remember the Vietnam War as an American tragedy. The students at Columbia University who protested it seem, in retrospect, to have been right. But our memories elide some of their more outré tactics. A list of popular chants employed by antiwar protesters at a time when thousands of American soldiers were dying each year fighting in the war included things like “One side’s right. One side’s wrong. We’re on the side of the Viet Cong!” and “Save Hanoi. Lose Saigon. Victory to the Viet Cong!”
[…]
„There are clear signs that Israel is prosecuting a war just as brutal and unwinnable as the United States did back then. Some people may not like the slogans, tactics or proposals of today’s pro-Palestinian protesters. But the truth is that a majority of Americans have qualms about Israel’s pitiless war to root out Hamas, whatever the consequences for civilians. As politicians send riot police onto campuses to try to smother a new protest movement, we’d do well to keep in mind why we’ve forgotten the ugliest aspects of the Vietnam protests: Those memories have been replaced, instead, by an enduring horror at what we did.“

Die Debatte um die Studierendenproteste verläuft in den USA ähnlich schlimm, wie die in Deutschland, aber mit dem Vorteil, dass dort die Rollen eindeutiger verteilt sind. Eine grundsätzliche Ablehnung – sogar mit Rufen nach der Nationalgarde – kommt dort von den hart rechten Republikanern und obwohl sich auch einige Demokraten als Israel-Hawks geben ist Solidarität mit den Palästinensern sehr deutlich links kodiert. So schlimm der Kulturkrieg da drüben auch ist, beneide ich sie um diese klaren Fronten.

In Deutschland gibt es nur Sprachlosigkeit auf der einen und eine geschlossene Pro-Israelische Front von Bild bis taz auf der anderen Seite, wobei die taz dann ungefähr mit dem Differenzierungsgrad von Fox News operiert. Ich habe mittlerweile das Gefühl, dass man der deutschen Berichterstattung zu dem Thema nicht mehr trauen kann; zumindest aber die Außenperspektive mit in Blick nehmen sollte, deswegen habe ich hier noch ein paar Lesetipps zum Thema zusammengestellt:

Der Historiker Thomas Zimmer denkt in diesem Essay noch etwas ausführlicher über die Studierendenproteste nach. Wie auch Lysia Golgreen sieht er tatsächliche antisemitische Vorfälle sehr kritisch und diskutiert sie ausführlich und setzt sie mit Werten wie Freier Rede ins Verhältnis.

Again, Jewish Americans have a right to demand “the Left” and everyone at these pro-Palestinian protests be vigilant and hold the line against antisemitism. But unless we characterize every form of criticism of the Israeli government and any expression of solidarity with the Palestinian people as inherently antisemitic, the idea that all of these protests are just manifestations of vile antisemitism is bizarre. A lot of people want us to ignore that there are many Jewish students among the protesters; or want us to see people with no connection to the university – antisemites from off campus inevitably attracted to these events like moths to the flame because they see as a chance to stir shit up – as somehow representative of the students. We must not fall for it.

Ich finde auch die Innenperspektive der Studierendenproteste spannend, hier von jüdischen Studenten Jonathan Ben-Menachem, der so ziemlich seit Anfang an dabei ist.

It’s true, the fact that CUAD organizers fundamentally reject bigotry and hate has not stopped unrelated actors from exploiting opportunities to shamefully harass Jewish students with grotesque or antisemitic statements. I condemn antisemitism – which should seem obvious since I have experienced it many times myself. (This likely won’t keep controversial Columbia Business School professor Shai Davidai from calling me a kapo.) But the often off-campus actions of a few unaffiliated individuals simply do not characterize this disciplined student campaign. The efforts to connect these offensive but relatively isolated incidents to the broader pro-Palestinian protest movement mirror a wider strategy to delegitimize all criticism of Israel.

Das alles macht die antisemitischen Vorfälle nicht besser, aber ich denke, es wird auch klar, dass diese Fälle nicht die Normalität darstellen und dass sie medial aufgebauscht und instrumentalisiert werden, um die Proteste als Ganze zu delegitimieren. Antisemitismus ist weit verbreitet und eventuell ist es gar unmöglich, eine pro-palästinensische Demonstration durchzuführen, ohne dass irgendwelche Spinner aufkreuzen? Und eines wird auch klar: ein trennscharfer Antisemitismusbegriff wäre, im Gegensatz zur Nationalgarde, ein Asset bei der effektiven Bekämpfung des Antisemitismus.


Die investigative Website Bellingcat hat sich der systematischen Zerstörung der Gebäude und ganzen Stadtteilen in Gaza gewidmet und ist dabei auf eine dezidierte Einheit der IDF gestoßen, die für einen Großteil der Sprengungen verantwortlich ist. Das 8219 Commando ist in Gaza unterwegs und identifiziert die Gebäude zum Abschuss oder legt selbst Hand an. Dabei scheinen sie relativ offen auf Social Media zu kommunizieren, was dann eben der Ausgangspunkt der Bellingcat-Recherchen ist, bei der sie diese Posts mit Sattelitenfotos und weiteren Recherchen verknüpfen. Das Resultat ist ziemlich schockierend, insbesondere der Stolz, mit dem sich die Einheit ihrer Taten auf Social Media rühmt (Die Bilder und Videos sind hier entscheident, also am besten am großen Bildschirm lesen.) Diese und ähnliche Recherchen werden vermutlich in die Bewertung des Strafgerichtshofs für Menschenrechte eingehen, ob es sich bei den Handlungen Israels in Gaza nun um einen Genozid handelt.

We asked Professor Balakrishnan Rajagopal, the UN’s Special Rapporteur on adequate housing and the Professor of Law and Development at the Massachusetts Institute of Technology about the demolitions carried out by 8219 Commando. He told us that these demolitions were relevant to the ICJ case on genocide, supporting South Africa’s case that Israel was, in effect, rendering Gaza uninhabitable. He noted that even if it was not possible to establish genocidal intent, widespread destruction rendering a place uninhabitable could still amount to a crime against humanity.


Ich persönlich finde es zu früh, sich festzulegen, ob sich die Gewalt in Gaza als Genozid qualifiziert und halte mich mit solchen Bewertungen zurück. Aber zu behaupten, dass solche Anschuldigungen antisemitisch seien, ist mittlerweile nicht mehr haltbar, auch wenn es manche immer noch versuchen. Es ist nicht nur das Verfahren in Den Haag, sondern immer mehr ausgewiesene Forscher*innen, jusristische Expert*innen und die zuständige UN-Rapporteurin positionieren sich so.

Doch besonders bemerkenswert fand ich die Einschätzung des israelischen Genozid-Forscher Amos Goldberg:

It will be several years before the court in The Hague will hand down its verdict, but we must not look at the catastrophic situation purely through legal lenses. What is happening in Gaza is genocide because the level and pace of indiscriminate killing, destruction, mass expulsions, displacement, famine, executions, the wiping out of cultural and religious institutions, the crushing of elites (including the killing of journalists), and the sweeping dehumanization of the Palestinians — create an overall picture of genocide, of a deliberate conscious crushing of Palestinian existence in Gaza.

Konkret wendet sich sein Text gegen die israelische Gegenerzählung, dass es sich beim Einsatz in Gaza um Selbstverteidigung handle. Er bezweifelt diese Motivation gar nicht, betont aber, dass sich (selbstempfundene) Selbstverteidigung und Genozid historisch nie ausgeschlossen haben und geht dafür viele Beispiele durch, unter anderem den Genozid der Deutschen an den Herero und Nama in Afrika:

The first genocide of the twentieth century was also executed out of a concept of self-defense by the German settlers against the Herero and Nama people in southwest Africa (present-day Namibia). As a result of the severe repression by the German settlers, the locals rebelled and in a brutal attack murdered some 123 (perhaps more) unarmed men. The sense of threat in the small settler community, which numbered only a few thousand, was real, and Germany feared that it had lost its deterrence vis-à-vis the natives.

The response was in accordance with the perceived threat. Germany sent an army led by an unrestrained commander, and there, too, out of a sense of self-defence, most of these tribesmen were murdered between 1904 and 1908 — some by direct killing, some under conditions of hunger and thirst forced on them by the Germans (again by deportation, this time to the Omaka desert) and some in cruel internment and labour camps.

Goldberg endet mit einem kassandrischen Selbstzitat von 2011:

We can learn from the Herero and Nama genocide how colonial domination, based on a sense of cultural and racial superiority, can spill over, in the face of local rebellion, into horrific crimes such as mass expulsion, ethnic cleansing and genocide. The case of the Herero rebellion should serve as a horrifying warning sign for us here in Israel, which has already known one Nakba in its history.

Eventuell ist das stumme Einverständnis, das Israel in seiner eskalierenden Zerstörungswut in Deutschland entgegengebracht wird nicht nur durch eine falsch verstandene Vergangenheitsbewältigung zu erklären, sondern verweist vielmehr noch auf eine andere, bisher nicht vollzogenen Vergangenheitsbewältigung?


Der Rant von Hanno Hauenstein in der WOZ über die autoritäre Instrumentalisierung der Antisemitismusbekämpfung war für mich eine Art Erlösungsmoment. Ich kann wirklich jedes einzelne Wort unterstreichen und wenn Ihr den Text lest, werdet Ihr vieles wieder erkennen, was ich auch im Newsletter beklagt habe.

Beispiele institutioneller und polizeilicher Eingriffe sprechen Bände: der vorschnelle Rückzug der Böll-Stiftung von der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises an Schriftsteller:in Masha Gessen; die Kündigung des Anthropologen Ghassan Hage durch die Max-Planck-Gesellschaft; der Entzug der Albertus-Magnus-Professur für die Philosophin Nancy Fraser; die Stürmung und Unterbindung des Palästina-Kongresses in Berlin und dubiose Einreise- und Zoomverbote für bekannte Teilnehmende; die gewaltsame Unterdrückung eines propalästinensischen Protestzeltlagers vor dem Reichstag. Fast immer steht der Vorwurf des Antisemitismus im Raum – und das, obwohl Jüdinnen und Juden in mehreren dieser Fälle selbst direkt von diesen Repressionen betroffen sind. Der Mangel an Gegendruck vonseiten der deutschen Presse und Zivilgesellschaft wirkt eklatant.

Noch deutlicher als ich stellt er heraus, wie die liberale Mitte gerade die Drecksarbeit für die AfD leistet:

Die liberale Mitte, dieser Eindruck erhärtet sich gerade, macht somit die Drecksarbeit für Rechtsaussen – und zwar freiwillig. Sei es in Form eines selektiven Kampfes gegen «importierten Antisemitismus», sei es durch die Kopplung von Einbürgerungs-, Aufenthalts- und Zugehörigkeitsgarantien an ein Bekenntnis zur deutschen «Staatsräson». Oder in Form einer Agitation gegen «den Postkolonialismus». In der nichtakademischen öffentlichen Debatte ist «Postkolonialismus» längst eine Art Dog Whistle für Antisemitismus. Von der FAZ über die NZZ und selbst bis zur «taz» wird in einer Regelmässigkeit dagegen polemisiert, dass man meinen könnte, ein AfD-Antrag vom Sommer 2022 – «Förderung des Postkolonialismus umgehend einstellen» – sei längst die Norm.

Ich sags mal ganz offen: In den letzten Wochen hatte ich immer mal wieder das Gefühl, dass ich den Verstand verliere. Die Vorgänge hinsichtlich der politischen Verfolgung und Unterdrückung von pro-pälestinensischen Bezugnahmen ist der krasseste Bruch mit rechtsstaatlichen Prinzipien, die mir in meinem Leben begegnet sind, aber ich sehe in den klassischen Medien kaum angemessene Berichterstattung dazu, dafür ziemlich viel jolenden Beifall, der ein dröhnendes Schweigen der Zivilgesellschaft durchbricht und das geht sogar so weit, dass ich gerade einige meine für bisher „links“ gehaltenen Freunde verliere, weil ich mich als einer der wenigen traue, mich dagegen zu positionieren. Ich fühle mich mit meinen Äußerungen sehr, sehr einsam gerade und ich frage mich: where is everybody?? aber Hanno hat auch darauf eine Antwort:

Seit über sechs Monaten erreichen mich fast täglich Nachrichten in Gruppenchats, in denen Menschen versuchen, eine Sprache dafür zu finden, was in Deutschland gerade passiert. Menschen aus Politik, Universität, Zivilgesellschaft und Kultur; Rechtsanwältinnen, Akademiker, Journalistinnen, mit palästinensischem, jüdischem oder (wie ich selbst) schlicht deutschem Hintergrund. Menschen, die Dinge beobachten, die sich kaum anders fassen lassen denn als autoritäre Wende in liberalen Gewändern.

In diesen Gruppen werden Texte geteilt, wird Rat gesucht, werden Entwicklungen besprochen. Etwa die sich türmenden Cancel-Fälle im Kultur- und Wissenschaftsbetrieb seit dem 7. Oktober, die inzwischen schon derart üblich sind, dass das Sprechen darüber wie ein klischeehaftes Festhängen in einer repetitiven Zeitschleife wirkt.

In Gruppenchats reden die Menschen über das Thema also, nicht wie ich Idiot (und Hanno) in der Öffentlichkeit? Ich meine, ich kann das schon verstehen, wenn man bereits Konsequenzen für das Liken von Israekritk befürchten muss, aber die Chilling Effects davon sind gespenstisch. Alles, was ich zu dem Thema schreibe wird auf allen Plattformen eisern ignoriert. Kein Like, kein Retweet – aber auch kein Widerspruch. Stille. Leere. Als ob alle so tun, als hätten sie es nicht gelesen.

Nun kann ich nicht ausschließen, dass das Thema tatsächlich nicht interessiert oder dass meine Ausführung einfach schlecht und unerwünscht sind und glaubt mir, ich frage mich das immer wieder. Aber Texte wie der von Hanno oder wie dieser im Verfassungsblog und das Feedback, das über private Rückkanäle kommt und fast alle Gespräche, die ich im Privaten führe, versichern mir, dass mit mir noch alles stimmt. Die meisten Menschen sehen und fühlen sehr genau was gerade passiert, doch sie fühlen sich auch hilflos. Die Menschen in meinem Umfeld haben Angst, das erste Mal wirklich Angst davor, ihren Mund aufzumachen und ich finde das fucking unheimlich (und ja, mir ist durchaus bewusst, was das für ein Privileg ist, sowas das erste Mal zu erfahren). Haben wir aus den Diktaturen – unsere eigenen und den vielen anderen – nichts gelernt? Wissen wir nicht sehr genau, was passiert, wenn wir Unrecht sehen und erkennen und uns dann, aus Angst vor Konsequenzen, abwenden? Haben wir nicht gelernt, welches Signal das an die Faschisten sendet?

Ich werde jedenfalls auch weiterhin in diese Wüste rufen, so lange es mir notwendig scheint. Vielleicht verspiele ich damit die Leser*innen meines Newsletters oder gar meine Karriere, wer weiß? Aber Euer Schweigen könnte ich mir nicht verzeihen.


Die von mir schon immer hochgeschätzte Naomi Klein hat auf einer pro-palästinensischen Veranstaltung eine Rede gehalten, die den Zionismus als ein „falsches Idol“ bezeichnet.

It is a false idol that takes our most profound biblical stories of justice and emancipation from slavery – the story of Passover itself – and turns them into brutalist weapons of colonial land theft, roadmaps for ethnic cleansing and genocide.

It is a false idol that has taken the transcendent idea of the promised land – a metaphor for human liberation that has traveled across multiple faiths to every corner of this globe – and dared to turn it into a deed of sale for a militaristic ethnostate.

Political Zionism’s version of liberation is itself profane. From the start, it required the mass expulsion of Palestinians from their homes and ancestral lands in the Nakba.

Antisemitismus – ich betone es immer wieder – ist real, ist im Aufwind, ist eine Gefahr, aber darüber hinaus ist Antisemitismus auch perfide. Er kann sich in die Gedanken mischen, ohne, dass man es bewusst mitbekommt. Man muss sich selbst gegenüber immer wachsam sein und so wie auch Frauen misogyn, Schwarze rassistisch und Juden antisemitisch sein können, ist niemand von der Verantwortung enthoben, sich selbst immer wieder kritisch zu befragen und nie aufzuhören, sich antisemitische Tropen bewusst zu machen.

Und natürlich habe ich mich gefragt, ob mein Umdenken zur Nahostfrage und mein plötzliches Engagement in dieser Sache vielleicht nicht nur Ereignisbezogen ist, sondern vielleicht auch durch irgendeinen unterschwelligen Hass auf „die Juden“ oder „das Jüdische“ getrieben ist? Hat sich vielleicht doch die ein oder andere antisemitische Trope in mir eingerichtet und drängt mich zu ungerechtfertiger Israelkritik?

Ich kann diese Frage mit großer Sicherheit verneinen und ich bin mir deswegen so sicher, weil ich, wenn ich über Israels Rolle in dieser Gemengelage nachdenke, gar nicht den „Judenstaat“ sehe. Stattdessen sehe einen Staat in der Tradition, Assoziation und engen Koalition mit „dem Westen“ und das ist auch das, was das Ganze so schmerzhaft für mich macht. Ich fühle mich ein Stück weit verantwortlich, als teil derselben semantischen Traditionslinie. Mein Zorn beschränkt sich deswegen auch nicht auf Israel, sondern erstreckt sich auch auf die USA, Deutschland und alle anderen westlichen Staaten, die bei diesem Verbrechen nicht nur tatenlos dabeistehen, sondern Waffen liefern und die lokale Opposition unterdrücken. Kurz: Ich sehe Israel überhaupt nicht als „das Andere“, sondern als Komplizen.

Die Semantiken, die sowohl für den Krieg in Gaza als auch für die Unterdrückung der Palästinenser hierzulande die Erlaubnisstruktur bilden, habe auch ich mit der Muttermilch aufgesogen und noch vor wenigen Jahren schienen sie mir plausibel – zumindest nicht verdächtig genug, um ihnen tiefer nachzuspüren und sie auf den Prüfstand zu stellen. Ich spreche von den oft gut getarnten Semantiken der „White Supremacy“.

White Supremacy ist nicht wie der Faschismus oder der Nationalsozialismus eine politische Strömung und sie ist auch nicht wirklich an die weiße Hautfarbe als Phänotyp gekoppelt, sondern sie ist vielmehr ein perspektivisches Korsett, das tief aus unserem europäisch geprägten Semantik-Kanon heraus unsere Sicht auf die Welt strukturiert. White Supremacy ist das nach wie vor in westliche Gesellschaften hinein wirkende Gefühl der Überlegenheit gegenüber nichteuropäischen Traditionen und Lebensweisen. Sie ist der Blick von oben herab und er geht immer mit einer unausgesprochenen Abwertung von Menschenleben einher.

Meiner Meinung nach hat der Massenmord in Gaza also nichts mit dem Judentum oder jüdischer Kultur oder Juden als Volk, Religion oder Personen zu tun. Gaza und die hiesige Unterstützung dazu kann passieren, weil wir im Westen immer noch glauben, unsere (mittlerweile im Schwinden begriffene) Stärke sei ein Resultat unserer Besonderheit. Dass wir uns unsere Stellung in der Welt durch unsere „Errungenschaften“ erarbeitet hätten. Wir räumen uns aufgrund unserer technologischen Stärke ein natürliches Vorrecht ein, über andere zu herrschen, uns unberührbar zu machen und rühmen uns dabei unserer aufgeklärten Moral.

Ich sehe den Zionismus im Kern gar nicht als jüdisches Gewächs, sondern als die lokale Ausprägung des alten, westlich-kolonialen Denkens. Natürlich vermischt sich dieses Denken mit jüdischen Motiven vom „auserwählten Volk“ und anderen biblischen Erzählungen und natürlich auch mit der sehr berechtigten Sehnsucht nach einem sicheren Hafen vor Antisemitismus. Aber gerade die toxischen Anteile am Zionismus, die Rücksichtslosigkeit, die Selbsterlaubnis, der gepanzerte Blick auf die Anderen, „Zehn von denen für einen von uns!“, „Meine Sicherheit ist wichtiger als Deine Existenz“ – all das sind Gesten, die wir nur allzu gut kennen von Christopher Columbus bis George W. Bush. Und ich denke, das ist es auch, was Naomi Klein in ihrer Zionismuskritik ausdrücken will: der Zionismus ist nicht jüdisch. Er ist ein falsches Idol, nur dass das heutige goldene Kalb eben der Kolonialismus europäischer Prägung ist. Ist es nicht bezeichnend, dass ausgerechnet dieser emphatische Versuch der Inschutznahme jüdischer Identität vor dem Horror der israelischen Verbrechen einigen als antisemitisch gilt?

Mir scheint es kein Zufall zu sein, dass Konservative weltweit so viel Energie in die Bekämpfung postkolonialer Theorien stecken. Diese Repression ist der beste Wirkungsnachweis einer Theorie, die in der Tat etwas revolutionäres ermöglicht: Palästinenser und andere Opfer kolonialer Gewalt als komplexe Menschen zu sehen und, infolgedessen, ihren Schmerz, ihre Wut und ihre Ohnmacht gelten zu lassen und anzuerkennen.

Die postkoloniale Perspektive ist ein wirksames Gegengift gegen die White Supremacy und ein großer Teil der Jugend hat das Gegengift bereits getrunken. Nur die alten wittern Verrat. Und ja, vielleicht es ist es das auch, wenn der Verrat sich auf die semantische Loyalität zum Westen bezieht, als eine Kündigung der Komplizenschaft, als ein Auszug aus Omelas. Aber to be honest, zumindest ich fühle mich kein bisschen schlecht dabei. Nur sehr, sehr traurig.