Netzkommentar: Postprivacy

Mein neuer Netzkommentar bei dradio.wissen befasst sich mit Postprivacy als Chance:

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Der Student Tyler Clement sprang am 22. Septmeber von einer Brücke in den Tod. Sein Mitbewohner hatte ihn mit einem Mann im Bett gefilmt und das Material in’s Internet gestellt. Niemand durfte wissen, dass Tyler schwul ist. Glaubte er.

2007 stellten Studenten vom MIT eine Software namens „Gaydar“ vor. Sie kann recht zielsicher Homosexuelle bei Facebook ausfindig machen, indem sie die öffentlich einsehbaren Freundeslisten auswertet.

Datenschützer stehen solchen Phänomenen hilflos gegenüber. Sie haben weder Antworten auf die Boshaftigkeit von Mitbewohnern, die mit Kamera und weltweitem Publikum ausgestattet sind, noch auf die Macht verknüpfbarer Datenmassen, wie sie „Gaydar“ nutzt.

Hilfe kommt von anderer Stelle. Auf der Internetplattform „It Gets Better“ stellen Menschen – meist Homosexuelle – Videos ein, in denen sie von ihrer Jugend erzählen. Wie sie gemobbt wurden, wie sie auf das Unverständnis ihrer Eltern stießen, wie sie alle Hoffnung verloren. Manche Geschichten sind so schlimm, dass sie sie teilweise niemandem sonst je erzählten.

Wer könnte Hoffnung besser vermitteln, als die einst Hoffnungslosen? In der Intimität dieses Augenblicks der Entblößung versichern sie, dass „es“ besser wird und dass sie der Beweis dafür sind. Heute anerkannt, geliebt und mitten im Leben stehend, stellen sie die demütigenden Details ihrer Jugend der Öffentlichkeit zur Verfügung. Als eine Art stützendes Geländer, als eine reichende Hand in die dunkle Höhle, damit sich die Jugendlichen daran aufrichten können.

Zwischen diesen beiden Polen: „Gaydar“ einerseits und „It Gets Better“ andererseits, lässt sich die Zukunft ablesen: Andersheit lässt sich kaum mehr durch Privatheit schützen. Aber sehr wohl durch Öffentlichkeit stärken.

Postprivacy – das Ende der Privatheit – ist die Realität, auf die wir unweigerlich zusteuern. Postprivacy ist deswegen aber vor allem ein Appell an alle, die sich Öffentlichkeit heute schon leisten können. Denn jeder kann dem anderen ein Geländer sein.

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Darum geht es in Wirklichkeit: Erfahrungen, Daten und gerade die intimen helfen anderen Menschen. (Und es geht nicht nur die Homosexuellen. Und es geht nicht nur Leben retten. Es geht im zweifel nur um das Sich-Nicht-Anders-Fühlen. Das fängt im klitzekleinen an.)

Wir können nie wissen, ob, wie sehr und wann und wo unsere Bekenntnisse etwas bewirken. Der Empfänger wird uns fast immer unbekannt bleiben. Aber das Internet erhöht die Chancen so dramatisch, dass unsere Daten für den Anderen einen Nutzen haben, dass diese Chance geradezu zum Appell wird. Keine Pflicht, aber Appell an diejenigen, die es sich leisten können, ihren Datengeiz aufgeben.

10 Gedanken zu „Netzkommentar: Postprivacy

  1. Pingback: engl @ absurdum » Blog-Archiv » die theorie der philosophie

  2. Der Text wirkt nachdenklich und eben nicht so bedrohlich wie es manchmal Deine Schreibart ist. Der letzte Satz ist klarstellend, das find ich in Ordnung, denkt man des Öfteren Du forderst eben jene Pflicht.
    „Institutionelle“ Datenschützer hätten Anworten, nur mögen diese nicht jedem gefallen, fallen sie fast ausschließlich in die Sphäre des Rechts, „akademische“ Datenschützer haben sicher andere, „modernere“ Antworten. Ein Besuch auf der Homepage von Bernd Lutterbeck lohnt beispielsweise.

  3. horax – dass ich sowas fordern würde ist eine Erfindung der Netznervenkranken. Selbst schuld, wer das liest. Ich sage nur, dass es so kommen wird.

    Ja, wir werden uns eines Tages so wenig entscheiden können, wie es Tyler konnte. Das wird passieren, bzw. passiert bereits. Aber nicht ich werde es sein, der die Privatsphärendecke wegzieht. Ich bin nur der Übermittler. Den jetzt manche am liebsten hängen wollen, weil er schlechte Nachrichten hat.

  4. Schöner Text. Ich verhandle das ja quasi jeden Tag neu mit mir selber, was ich den Internet anvertrauen will, genau weil man eben nie weiß, wer der Empfänger ist.

    Einerseits die Hoffnung, mit der Welt in Verbindung treten zu können, was bewirken zu können, guten Zwecken Unterstützung zukommen zu lassen, andererseits die Angst, denjenigen, die einem Böses wollen, in die Finger zu spielen – den Spammern, den Phishern, den Advertising-Profilern, den Kriminellen jeglicher Couleur.

    Mehr Offenheit – gut! – versus anderen Menschen auf die Nerven gehen mit dem eigenen Leben – doof. Was halt besonders bei Push-basierten Diensten wie Twitter oder Facebook jedes Mal eine Frage des Abwägens ist.

  5. Michael, das Problem vieler Zeitgenossen mit Deinen Thesen liegt doch nicht darin, dass Du schlechte Nachrichten bringst oder Entwicklungen beschreibst.

    Du kannst doch nicht ernsthaft behaupten, nur Paranoiker könnten in Deine Vorträge und Texte reinlesen, dass Du Forderungen aufstellst à la „alle Schleusen auf“ und „nieder mit Persönlichkeitsrechten, wenn sie der Filtersouveränität im Weg stehen“ und „wer nicht alles an Informationen preisgibt, was er hat, handelt unethisch und egoistisch“.

    Wenn Du ernst genommen werden willst, dann musst Du schon etwas klarer machen, worum es Dir eigentlich zu tun ist, ob Du den Guru und normativen Wegweiser geben willst, aber dann kannst Du nicht glaubhaft zurückrudern und behaupten, das wäre ja alles nur deskriptiv zu verstehen.

    Da, wo Deine Texte und Kommentare (so wie hier) Nachdenklichkeit und ergebnisoffenes Fragen durchscheinen lassen, gibt es inhaltlich wenig dagagen zu sagen, selbst wenn man Deine Ansichten nicht 1:1 teilt. Wo Du Dich aber in Richtung allgemeingültiger normativer Forderungen und ins Proklamieren einer neuer Ethik versteigst, dort wird es haarig. Und das liegt nicht an den schlechten Nachrichten an sich, sondern an dem Versuch, sie uns als potenzielle Krebsheilung und neuen Altruismus schmackhaft zu machen.

  6. lieber mark – vielleicht solltest du ein bisschen genauer lesen. meine „forderungen“ sind durch den einleitenden text nicht zuschreibbar. ich spinne darüber, wie eine solche ethik des anderen beschaffen sein /müsste/.

    das solltest du nicht durcheinander kegeln. den kontrollverlust stellr ich fest. eine neue ethik entwerfe ich als umgang damit.

  7. Hm, ich weiß nicht, ob das so einfach funktioniert, sich mit Hilfe ein paar vager Prämissen die Zuschreibbarkeit seiner Forderungen vom Hals zu halten. Das erinnert mich ein bisschen an den Grundirrtum, der dem sogenannten „Deppen-Disclaimer“ zugrundeliegt – nämlich zu glauben, man habe sich mit einer pauschalen Distanzierungserklärung hinreichend von verlinkten Inhalten distanziert, um Haftung wirksam auszuschließen.

    Es ist müßig, darüber zu streiten, ob das Missverständnis (wenn es denn eines ist) mehr meinem mangelnden exegetischen Feingefühl geschuldet ist oder eher Deinen nicht immer sehr präzise ausgearbeiteten Gedankengängen. Aber Deine gern verwendete Rhetorik des Müssens klingt eben oft genug nicht nach „ich spinn jetzt mal so rum, wie eine solche Ethik aussehen müsste“ – sondern mehr so nach „so isses, nehmt es und fresst es.“ So kommt es jedenfalls oft an, und zwar nicht nur bei mir.

  8. natürlich hau ich gern auf den putz. kann man mögen, muss man nicht. der reichweite schadet das nie. ich will ja mwine gedanken unter die leute bringen.

    warum alle gleich zusammenzucken, wenn ein kleiner blogger irgendwo etwas „fordert“ oder meint dass man irgendwas „muss“ werde ich nie verstehen.

    es ist sicher auch anders: der von mir diagnostizierte kontrollverlust ist da und spürbar und macht angst. mit dem datenschutz fällt ein ganzes gedankengebäude, vielleicht sogar ein bestimmtes menschenbild. und da braucht es nur noch wen, der das offensichtliche ausspricht oder einer, der seine rechte auf öffentiche fotografie in anspruch nimmt und alle kreischen um die wette.

    es ist die botschaft, die ihr nicht hören wollt. mein reden vom „müssen“ ist nur die projektionsfläche eurer angst.

  9. Etwas Projektion und Stellvertreter-Debatte mag da schon im Spiel sein. Wie denn auch nicht, wenn die Forderungen des kleinen Bloggers in weiten Teilen mehr oder weniger darauf hinauslaufen, den immer weiter gehenden Zugriff der Datenkraken mit einer Pseudo-Ethik des Nackigmachens auch noch zu legitimieren und als potenzielles Krebsheilungsmittel zu verkaufen.

    Wie gesagt: Die Diagnose des Kontrollverlustes an sich stört mich dabei weniger, sondern eher Dein Ausblenden von ein paar potenziell unschönen Entwicklungen, die sich daraus ergeben. Ich habe keine Aktien in Angstmache, aber darüber, dass die Folgen des Kontrollverlustes eben nicht alle gleichermaßen betreffen dürften (sondern im Zweifelsfall die Schwächeren der Gesellschaft härter), mache ich mir schon Gedanken. Natürlich kann man darauf hoffen, dass irgendwann einmal der neue Mensch nachgewachsen ist, der mit all den Folgen so gar kein Problem mehr hat und sich vielleicht sogar mit einer wohlmeindenden Transparenzdiktatur (wie z.B. im Juli-Zeh-Roman „Corpus Delicti“) arrangiert. Muss man aber nicht.

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