Willkommen bei Krasse Links No 13. Steigt mal kurz aus Euren Leopards aus, heute lassen wir uns berühren.
Was Marina sagt.
Während die Klimakatastrophe immer krasser vor sich hineskaliert, wird hierzulande überall der Sinn von Klimapolitik in Frage gestellt. Im Angesicht des immer weiter auseinander klaffenden Problembewuwsstseins mit der Wirklichkeit stellt sich die Frage: sind wir noch ganz bei Trost?
Tazio Müller hat seine Theorie der Verdrängungsgesellschaft daher nochmal für die taz zusammengerafft und kommt zu dem Schluss:
Stattdessen brauchen wir einen kollektiven Trauerprozess. Den können nicht die wenigen leisten, die sich jetzt schon in Aktivismus, Medien und Politik mit der Klimakrise befassen. Warum nicht im Alpenverein über Klimagefühle sprechen, wo der Gletscherschwund offensichtlich ist? Oder bei der Freiwilligen Feuerwehr, die die Brände in ohnehin völlig verdorrten Wäldern löscht? Dann könnte es auch wieder mit der Rationalität in der Klimapolitik klappen.
Tazio hat recht. Im Gegensatz zur vorherrschenden Vorstellung kann man Rationalität nicht intellektuell herstellen, sondern Rationalität entsteht, wenn wir uns berühren lassen. „Rationalität“ ist keine Abstraktionsleistung, sondern das Gegenteil: sie ist die Erlaubnisstruktur, die sich aus der Einsicht in die eigene Verwundbarkeit ergibt.
Cory Doctorow hat wieder lesenswert über KI und Automation geschrieben und sein broader Point ist mal wieder, dass viel Hype dabei ist, aber auch, dass es dort, wo KI tatsächlich zum Einsatz kommen wird, es sowohl Arbeiter*innen, als auch Kund*innen zum Nachteil gereichen wird. Dazu führt er eine interessante Ontologie der Automation ein, die ich hier teilen möchte:
Let’s pause for a little detour through automation theory here. Automation can augment a worker. We can call this a „centaur“ – the worker offloads a repetitive task, or one that requires a high degree of vigilance, or (worst of all) both. They’re a human head on a robot body (hence „centaur“). Think of the sensor/vision system in your car that beeps if you activate your turn-signal while a car is in your blind spot. You’re in charge, but you’re getting a second opinion from the robot.
Likewise, consider an AI tool that double-checks a radiologist’s diagnosis of your chest X-ray and suggests a second look when its assessment doesn’t match the radiologist’s. Again, the human is in charge, but the robot is serving as a backstop and helpmeet, using its inexhaustible robotic vigilance to augment human skill.
That’s centaurs. They’re the good automation. Then there’s the bad automation: the reverse-centaur, when the human is used to augment the robot.
Amazon warehouse pickers stand in one place while robotic shelving units trundle up to them at speed; then, the haptic bracelets shackled around their wrists buzz at them, directing them pick up specific items and move them to a basket, while a third automation system penalizes them for taking toilet breaks or even just walking around and shaking out their limbs to avoid a repetitive strain injury. This is a robotic head using a human body – and destroying it in the process.
Die These ist nun, dass KI, weil ihre Einführung in erster Linie profitgetrieben ist, natürlich in die zweitere Variante des Reverse-Zentaurus führen wird. Ich finde es schwer, Gegenargumente zu finden.
Aber Corys Unterscheidung gibt mir noch weiter zu denken: Der erste Zentaur mit menschlichen Kopf erweitert ja vor allem seine Sinnesorgane und das heißt, seine Empfindlichkeit gegenüber der Welt, während der zweite, Reverse-Zentaur durch das System von seiner Umwelt abgeschieden wird, um effektiver ein ganz spezifisches Set von Skills (Handkoordination) auszubeuten. Berührbarkeit wird dabei über das Armband zum Befehlsempfang-Rezeptor degradiert, über den der Mensch mit dem System kurzgeschlossen ist.
Der Physiker Miles Cranmer stellt in diesem Talk vor, wie er glaubt, dass künstliche neuronale Netzwerke in Zukunft die Wissenschaft revolutionieren werden. Die Idee ist im Grunde KI an Daten zu trainieren, die für das menschliche Verständnis zu Komplex sind, und dann das zu interpretieren, was die KI aus diesen Strukturen gelernt hat, also darin die Muster und Gesetzmäßigkeiten zu suchen und zu interpretieren. Auch hier haben wir wieder einen Zentaur, der seine Sinne durch eine Art künstliche Information-Vorverdauung erweitert und wenn man bedenkt, was für ein evolutionärer Booster das Kochen für den Menschen war, darf man durchaus einiges an wissenschaftlichen Fortschritt erwarten.
Der immer mal wieder lesenswert wütende Silicon Valley Insider Edward Zitron hat in aus den internen E-Mails von Google, die im Zuge eines Prozesses zu tage kamen, ein ziemlich überzeugend klingendes Narrativ zusammengezimmert, wie die Enshittification bei Google konkret von statten ging und es ist, Überraschung!, eine hollywoodreife Geschichte vom Kampf Gut gegen Böse herausgekommen.
„These emails are a stark example of the monstrous growth-at-all-costs mindset that dominates the tech ecosystem, and if you take one thing away from this newsletter, I want it to be the name Prabhakar Raghavan, and an understanding that there are people responsible for the current state of technology.“
Die beiden Protagonisten sind Ben Gomes, seines Zeichens Google-Mitarbeiter (fast) der ersten Stunde, ehrlicher Erschaffer und Bewahrer der Search-Power(*Katusch*), die die Menschen mit wichtigen Informationen und gutem Service versorgt. Sein böser Gegenspieler ist Prabhakar Raghavan, gewissenloser Excelschubser, dem es nur um Geld und Number go up geht, der vom Advertising-Business her kommt (ihhh!) und auch ausgerechnet von Yahoo!, dieser Loserklitsche! Leider, leider gibt es kein Happy End, weil Raghavan schließlich Gomes von seinem Platz drängt und unter seiner Ägide die Search-Qualität rapide abnahm und jetzt Alphabets Core Business gefährdet ist.
„This is what I mean when I talk about the Rot Economy — the illogical, product-destroying mindset that turns the products you love into torturous, frustrating quasi-tools that require you to fight the company’s intentions to get the service you want.“
Es ist nicht so, als hätte ich diese Geschichte nicht gerne gelesen oder als würde ich die Details anzweifeln (dafür kenne ich die Fakten zu wenig), aber grundsätzlich nehme ich solche personalisierten Narrative immer nur unter einer ordentlichen Schippe Salz zu mir. Es ist einfach viel zu leicht, die Agency von sowohl Raghavan und als auch von Gomes zu überschätzen, sind sie doch nur vergleichsweise austauschbare Spieler in einem Spiel, bei dem sie nur wiederstreitenden Interessen repräsentieren. Gomes vertrat die Interessen einer wachsenden Firma, die gerade erkundet, wie sie mit immer mehr Nutzen immer mehr Nutzer*innen für sich gewinnen kann und Raghavan vertritt halt die Interessen der Investoren, die nach der Wachstumsphase trotz eines weitgehend saturierten Search-Markt dennoch wachsenden Umsätze erwarten. Denn das ist, was Enshittification im Kern ausmacht: Die Diskrepanz zwischen einem endlichen „Adressable Markets“ und der unendlichen Wachstumserwartung seiner Investoren.
Aber über Kapitalismus reden ist immer etwas langweilig und produziert nicht solche Sätze:
„Rot Master Raghavan is here to squeeze as much as he can from the corpse of a product he beat to death with his bare hands.“
Sowas geht voll ins Mark und ging verständliocherweise super viral und zwar so krass, dass Google sich gezwungen sah, zu antworten, was Zitron natürlich sofort wieder zu einer Replik aninimierte. Das Wort „Kapitalismus“ ist allerdings immer noch nicht gefallen.
Ich finde, dafür haben wir uns etwas Kultur verdient und zwar von savannahxyz und ihrem Song: „Google doesn’t work anymore“
Für diesen außerordentlich lesenswerten Essay für Noema nehmen Maria Farrell und Robin Berjon die Metapher des „Ökosystems“ im Technologiediskurs einfach mal ernst und lassen sich dabei nicht von den vorherrschenden PR-Semantiken blenden:
„Our online spaces are not ecosystems, though tech firms love that word. They’re plantations; highly concentrated and controlled environments, closer kin to the industrial farming of the cattle feedlot or battery chicken farms that madden the creatures trapped within.“
Die ständige Rückkopplung von Tech-Diskurs mit einem tiefen Verständnis von Ökologie generiert dabei immer neue Einsichten:
„The internet made the tech giants possible. Their services have scaled globally, via its open, interoperable core. But for the past decade, they’ve also worked to enclose the varied, competing and often open-source or collectively provided services the internet is built on into their proprietary domains. Although this improves their operational efficiency, it also ensures that the flourishing conditions of their own emergence aren’t repeated by potential competitors. For tech giants, the long period of open internet evolution is over. Their internet is not an ecosystem. It’s a zoo.“
Und diese Sichtweise ist nicht nur eine gute Analyse-Schablone, sondern zeigt darüber hinaus auch Lösungswege auf:
„But what if we thought of the internet not as a doomsday “hyperobject,” but as a damaged and struggling ecosystem facing destruction? What if we looked at it not with helpless horror at the eldritch encroachment of its current controllers, but with compassion, constructiveness and hope? […] We don’t need to repair the internet’s infrastructure. We need to rewild it.“
Das Wichtigste: Während das neoliberale Paradigma in jeder erfolgreichen Spezies (Individuen, Firmen, Plattformen) einen positiven Anreiz an alle anderen sieht, sich auch mehr anzustrengen, sieht das ökologische Paradigma in besonders erfolgreichen Spezies eine Gefahr für das Ökosystem:
„But rewilding a built environment isn’t just sitting back and seeing what tender, living thing can force its way through the concrete. It’s razing to the ground the structures that block out light for everyone not rich enough to live on the top floor.“
Ich denke schon tatsächlich seit langem darüber nach, dass sich aus der politischen Ökonomie der Abhängigkeiten als logische Konsequenz eine „Ökologie der Abhängigkeiten“ ergibt – also ein Verständnis von Abhängigkeiten (keine Ablehnung), ein Auge dafür wie sie strukturiert sind, wo sich Abhängigkeiten ungesund konzentrieren und wie sie man einhegt. Eine Ökologie die immer mal wieder auch beherzt eingreift, um das Ökosystem im Gleichgewicht zu halten – und das bedeutet am Ende, allzu erfolgreiche Spezies aktiv zurück zu kämpfen.
Die gesellschaftlichen Ökosysteme sind längst kurz vor dem Kippen und deshalb glaube ich, dass die Linke sich voll und ganz auf die Skandalisierung und Bekämpfung der Machtakkumulation von Big-Tech und Milliardären konzentrieren sollte.
Im Merkur verteidigt Danilo Scholz einige der grundlegenden Akteure des Postkolonialen Denkens gegen die allzu platten Charakterisierungen, die sie in der FAZ über sich ergehen lassen mussten. Dabei stellt er unter anderem das komplizierte Verhältnis des eigentlich kommunistischen Aimé Césaire zum (damaligen) französischen Kommunismus heraus und zitiert ihn folgendermaßen:
„Ich bin der Ansicht […], dass es niemals einen afrikanischen, madagassischen oder karibischen Kommunismus geben wird, weil die Kommunistische Partei Frankreichs ihre Verantwortung gegenüber den Kolonialvölkern als eine Art Lehrauftrag begreift und selbst der Antikolonialismus der französischen Kommunisten noch immer den Makel des Kolonialismus in sich trägt, den sie bekämpft.“
Ich finde, in diesem Zitat wird das tatsächliche Missverständnis, das viele in Europa der postkolonialen Perspektive entgegenbringen, offen zu Tage gefördert. Etwas arg herunter gebrochen sind wir uns Westen weitgehend darüber einig, dass es schon irgendwie einen abstrakten, idealen Zustand von Gerechtigkeit gibt und in unseren jeweiligen ideologischen Strömungen (Liberalismus, Kommunismus, etc.) streiten wir uns nur darüber, wie genau der aussieht und/oder wie der zu erreichen ist.
Aber Gerechtigkeit ist kein Zustand, den man Leuten einfach geschehen lassen (oder wie Effektive Altruists vom Himmel regnen lassen) kann. Das – schon das – ist die Geste des Kolonialisten, der die „Zivilisation“ über die Welt bringt. Haraway spricht meines Wissens nicht von „Gerechtigkeit“, aber ich wette, sie würde darunter eher einen notwendig risikoreichen Prozess verstehen, bei dem sich alle Beteiligten voneinander berühren lassen müssen?
Berühren ohne berührbar zu sein is how we rule in Europe, aber Scholz hat sicher nicht unrecht, wenn er dabei auch Rassismus wittert:
Die unbedarfte Urteilsfreude, mit der man im Feuilleton über bedeutende Intellektuelle schwadronieren kann, solange sie nicht weiß sind – Felix Klein hat es in der FAZ mit seinem peinlichen Text über postkoloniale Theorie vorgemacht –, ist bemerkenswert. Man gefällt sich in pauschalisierendem Geschwätz, weil man eh nicht damit rechnen muss, dass jemand mal einen Blick in die Texte dieser Autoren geworfen hat, die nie Teil des eigenen kulturellen Lexikons waren und es wohl auch nicht werden sollen.
Die Repression der berliner Landesregierung gegen linke Künstler*innen, Intellektuelle, Demos, Konferenzen und linke Einrichtungen unter dem Banner der Antisemitismusbekämpfung geht unvermindert weiter. Jetzt hat es zwei Jugendtreffs/queere Frauenhäuser getroffen, denen unvermittelt gekündigt wurde. Grund: Mitarbeiter*innen des Treffs waren wohl auf pro-palästinensischen Demos und haben sich pro-palästinensisch geäußert. Beweise: Artikel aus Focus und BZ, die wiederum in den privaten Instagram-Accounts der Betroffnen gegraben haben.
Die Entscheidung wird nicht mit der Arbeit begründet, die in den Zentren gemacht wird, sondern mit den politischen Einstellungen von Mitarbeitenden. In einem Artikel des Nachrichtenmagazins »Focus« sei ein Bild veröffentlicht worden, auf dem Mitarbeitende des Vereins auf einer angemeldeten pro-palästinensischen Demonstration zu sehen seien, die von der Polizei aufgelöst wurde, führt das Schreiben aus. Der Bezirk befürchtet deswegen, dass von den Mitarbeitenden eine »gezielte konfrontative Auseinandersetzung mit den Polizeikräften als Vertretung des Staates gesucht wurde«.
Die Springer-Wegner-Pipeline ist kurz, da braucht man keine Beweise anführen. Hier der Brief des Amtes, hier die Entgegnung der betroffenen Einrichtung.
Manchmal kommen mir Zweifel, dass es Kai – Elon ist mein bester Freund – Wegner wirklich um Antisemitismusbekämpung geht und ich bin nicht allein damit. Es sieht eher so aus, als ob er die aktuelle Stimmung im Land ausnutzt, um gezielt linke Infrastruktur in Berlin zu zerschlagen. Der hat die Gelegenheit gewittert und schaut mal, wie weit er gehen kann. Ich finde das fucking scary, vor allem auch die Tatsache, dass die Zivilgesellschaft weitgehend still hält. Ich höre reihenweise Linke sagen „ja, wird schon was dran sein“ und „kann schon verstehen, dass der Staat sowas nicht fördern will“ und diese Unberührtheit, dieses Sich-Abwenden finde ich am beängstigendsten. Dazu die etlichen NGOs, die wir uns zum Thema Grundrechtsschutz leisten, von denen ich bisher keinen Piep zur krassesten politischen Verfolgung seit der Kommunistenjagd gehört habe.
Wir sprechen überall sehr viel von der AfD, doch in den Köpfen regiert sie bereits. Überall werden bereits ihre Semantiken adaptiert, ihre Frames, ihre Narrative und ja, auch ihre Brutalität und Gewaltbereitschaft. Man merkt es an einem anschwellenden autoritären Ton, an einem gepanzerten Auftreten bis tief in die Gesellschaft hinein. Und deswegen macht es mich auch so fertig, dass selbst ein Teil der Linken nicht merkt, wie die grundrechtswidrige Repression gegenüber pro-palästinensische Bezugnahmen teil derselben Bewegung ist, teil desselben radikalen Vibe Shifts.
Wir stecken in einer sich selbst fütternde Spirale aus staatlicher und rhetorischer Grenzüberschreitung und Gewaltbereitschaft und ich fühle ganz stark, dass jetzt der Zeitpunkt ist, dem Einhalt zu bieten und zwar auf allen Ebenen. Aber zumindest müssen wir jetzt mit uns selbst wachsam sein. Wir sollten uns jeden Tag fragen: Wo gebe auch ich mir bereits die Erlaubnis wegzuschauen, mein Herz zu verengen, Empathie und Solidarität zu verweigern.
Im letzten Newsletter beklagte ich ja bereits, dass ein „semantisch eskalierter“ Antisemitismusbegriff der Politik als „Permission Structure“ diene, Linke und Palästinenser auf Linie zu bringen und kurz nach abschicken des Newsletters gibt mir ausgerechnet der Autor genau jener semantischen Eskalation recht:
„None of us anticipated that it would be used as this blunt instrument to suppress pro-Palestinian speech,”
Der Satz stammt von Kenneth Stern, derjenige der mehr oder weniger im Alleingang die I.H.R.A. Antisemitismusdefition geschrieben hat. Diese Definition wartet mit einigen etwas fuzzy Beispielen auf, welche Form von Isrealkritik als antisemitisch zu sehen ist und welche nicht und ich denke, es ist fair zu sagen, dass jede Form der Israelkritik, die Israel als Staat in Frage stellt, nach dieser Definition als „antisemitisch“ gilt.
Der Artikel im New Yorker ist sowieso sehr gut und ausgewogen geschrieben und es wird auch deutlich gemacht, dass Kenneth Stern seine eigene Antisemitismus-Definition nicht bereut oder zurückzieht, aber schon findet, dass Palästinenser das Recht haben sollten, ihre Sicht auf den Konflikt artikulieren zu dürfen, ohne als Antisemiten gebrandmarkt zu werden. Ich verstehe auch nicht ganz, wie diese zwei Auffassungen zusammengehen, aber da müsst ihr Kenneth Stein fragen.
Neben der I.H.R.A. Antisemitismusdefition gibt es natürlich auch andere Definitionen, etwa die Jerusalem-Definition, die versucht, Israel-Kritik komplett rauszuhalten und natürlich wird sich überall und immer heftig darüber gestritten, welche Definition denn nun die richtigere ist. In den USA wird I.H.R.A.-Definition vor allem von den Republikanern verwendet, um damit, dort wie hier, auf jede pro-palästinensische Bezugnahme einzuprügeln.
Ich würde also zu der Jerusalem-Definition tendieren, aber eigentlich finde mal wieder, dass der Denkfehler wo ganz anders liegt. Ich hielte es z.B. für absolut berechtigt, mich des Antisemitismus zu verdächtigen, wenn ich als Deutscher mit der entsprechenden Geschichte im Rucksack sagen würde „Israel als Staat sollte nicht existieren“ (was ich weder sage, noch finde, btw). Wenn aber jemand, der in dritter Generation im Freiluftgefängnis Gaza vegetieren muss, weil seine Vorfahren von ihrem Land vertrieben wurden und der Israelis nur in Uniform und mit gezogener Waffe kennt, sagt: „Israel als Staat sollte nicht existieren“, dann fielen mir spontan noch so ein, zwei Gründe neben Antisemitismus ein, die auch eine gute Erklärung für diese Meinungsäußerung wären. Obwohl die beiden Aussagen wortgleich sind, wären sie auf einer semantischen Landkarte nicht mal in derselben Region.
Antisemitismus ist real und überall auf dem Vormarsch und ja, es gibt auch auf pro-palästinensischen Demos und Veranstaltungen immer wieder auch unzweideutig antisemitische Ausfälle und dagegen muss etwas getan werden. Aber liegt es nicht auf der Hand, dass es schwerer, nicht leichter wird, sich innerhalb dieser Strukturen dem tatsächlichen Antisemitismus entgegenzustellen, wenn gleichzeitig von außen ein undifferenzierter „Antisemitismus“-Begriff genutzt wird, um Dein ganzes Anliegen zu delegitimieren und Dich auf eine Stufe mit Faschos zu stellen?
Man muss weder die Hamas noch die Anschläge vom 7. Oktober gutheißen, um anzuerkennen, dass die Palästinenser keine Nazis sind, sondern eine Gruppe Menschen, die in einem handfesten Konflikt mit dem Staat Israel stehen und gerade in Deutschland wird diese Differenz nur allzu gerne verwischt. Denn wenn Hamas die neuen Nazis und die Palästinenser die neuen Nazimitläufer sind, dann darf man sich erlauben, die eigene Empathie zurückzustellen und in Sachen Menschenrechte auch nicht so genau hinzuschauen. Außerdem fühlt sich das ja auch irgendwie ganz befreiend an, diese verdammte Schuld endlich mal zu teilen? Diesmal stehen WIR auf der richtigen Seite!
Ärgerlicherweise – und ich hasse es wirklich, die gute Stimmung kaputt zu machen, aber ich hab es gerade noch mal nachgeschlagen – waren das mit den Weltkriegen und mit dem industriellen Massenmord immer noch wir. Wir ganz alleine. Nein, die vielen jungen Leute, die da draußen demonstrieren, sind keine Faschos und die sterbenden Kinder in Gaza haben außer den Bomben wirklich gar nichts mit Deinen Großeltern in Dresden gemeinsam.
So, nachdem diese Erlaubnisstruktur aus dem Weg geräumt ist, können wir dann mal ein bisschen Empathie – und zwar für beide Seiten – üben?
Dafür eignet sich z.B. dieses Interview mit fünf Deutsch-Pälestinenser*innen in der Zeit. Ich fand die alle ziemlich ruhig und moderat. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob mir das so gelingen würde.
Chahin: Meine Großeltern sind als Kinder 1948 aus der Stadt Safed in den Libanon geflüchtet. Sie haben mir, schon als ich klein war, oft davon erzählt. Dass sie mit Waffen vertrieben wurden, ihnen aber versprochen wurde, dass sie wieder zurückgehen könnten. Sie dachten, sie müssten ihre Häuser nur kurz verlassen, mit dem Schlüssel abschließen, und nach ein paar Wochen oder Monaten wären sie wieder zurück. Ich glaube, meine Großeltern hier in Deutschland haben schon gecheckt, dass es unmöglich ist, zurückzukehren. Aber meine Großeltern im Libanon warten eigentlich immer noch darauf. Mein Urgroßvater hat auch noch den Schlüssel zu seinem Haus. Aber es bringt ihnen ja nichts, weil das Haus längst zerstört wurde.