Die Pfadgelegenheit

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Dies ist ein temporär stabiler Explainer über die Pfadgelegenheit. Ich editiere hier immer mal wieder rum, nicht wundern.
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Keine Angst! Der Begriff der Pfadgelegenheit ist das, was du dir intuitiv genau jetzt darunter vorstellst. Du stehst an einem Punkt eines Weges und von diesem Weg gehen mehrere andere Wege ab. Pfadgelegenheiten. Wo werden sie dich hinführen, wirst du fragen? Zu anderen Pfaden, zu anderen Pfaden.

Den Erleuchtungsmoment hatte ich, als ich mal zusammen mit meiner Freundin den Weidetorkreisel in Hannover zu Fuß überqueren wollte (blöde Idee). Das ist ein Autokreisel mit zwei bis drei Spuren und eine davon mündet in einer Autobahnauffahrt. Fußgängerampeln gibt es da nicht, also warteten wir am Straßenrand auf autofreie Gelegenheiten, um die jeweils aktuell vorunsliegende Straße zu überqueren und in all diesem Chaos erkannte ich mein Leben wieder. So bewege ich mich im Leben fort: Einbegriffen in Infrafrastrukturen, die ich nur zum Teil kontrollieren kann und dort, Zug um Zug, pfadopportunistisch auf die jeweils nächste Pfadgelegenheit lauernd.

In einer ersten Annäherung könnte man vielleicht sagen, dass Pfadgelegenheiten nützliche Konstellationen im Zusammenspiel der uns zur Verfügung stehenden Infrastrukturen sind.

Ob wir vor dem Herd stehen und etwas kochen wollen, ob wir am Computer mit Programmen arbeiten, ob wir durch eine Stadt navigieren oder ein Haus bauen: Überall wird unser Leben ermöglicht, reguliert und verhindert durch Pfadgelegenheiten. Und plötzlich sind sie überall.

Ich habe das Wort ganz beiläufig bei meiner Abkehr vom Individualismus erfunden und hatte es kaum beachtet, weil es so unscheinbar ist.

Jedenfalls setzte ich das Wort dann ein bisschen zum Nachdenken ein und dann puzzelte sich alles plötzlich ganz schnell zusammen: Pfadgelegenheiten sind der Missing Link zwischen Mensch und Netzwerk.

Der Ausgangspunkt: das Individuum

Versucht es mal: Man kann das Netzwerk nicht mit dem Subjektentwurf des Individuums zusammenbringen, jedenfalls nicht sinnvoll. Ganz grob geht die Erzählung doch so: Du bist ein Geist/eine Intelligenz in einem Körper und der Körper ist in einer Welt und in der Welt gibt es Objekte. Das Individuum hat „Agency“ oder „Freiheit“ in dieser Welt, insofern es fähig ist, sich in der Welt frei zu bewegen und das schließt die Fähigkeit ein, Objekte durch seinen Willen zu kontrollieren. Das ist der heroische Subjektentwurf, von dem wir runterkommen müssen, wenn wir ein vernetzes Subjekt denken wollen.

Ich hatte in Krasse Links No 42 ein Paper von analytischen Philosoph*innen besprochen, die versucht haben, dieses Modell von Agency einmal genau zu definieren und dabei heillos scheiterten.

Sie definieren Agency als „an input-output system’s capacity to steer outcomes toward a goal“ und destillieren daraus vier Kriterien: ein Agent hat Agency, wenn „it has (1) a boundary, (2) is the source of its own actions, (3) has a goal, and (4) adaptively selects outputs based on inputs„.

Es macht Spaß zu lesen, wie sie durch jeden dieser Punkte steppen und daran scheitern, diese Fragen „objektiv“ zu beantworten, aber zur Anschauung hier der Abschnitt über die Zuordbarkeit von Handlungen:

For instance, a wall being knocked over by a wrecking ball could be understood as taking the action of being knocked over. However, the source of this action (and the corresponding potential energy) did not ultimately originate in the wall, but rather in the wrecking ball and its operator.

Und was ist mit dem Chef des Operators, der ihm den Befehl gab, die Mauer abreißen? Was ist mit der Kapitalist*in, gemäß deren Plänen die Wand abgerissen wird? Etc.

Kenton et al. (2023) recently develop a causal account that determines which entities in a causal model might be said to satisfy roughly this property. The difficulty, as Kenton et al. note, is that reaching a conclusion about the source of action in a causal model rests entirely on the choice of causal variables. In this way, identifying whether a given subsystem originates its own action depends on an independent, unrelated choice: the causal variables. Kenton et al. state directly: ”Note [discovering an agent in a causal model] is relative to a frame – a choice of variables that appear in our causal model” (p. 2, Kenton et al., 2023).

Je genauer man hinschaut, sind Grenzen immer nur behauptet, ist der Beweger immer schon bewegt, das Ziel niemals komplett das Eigene und Adaption immer wechselseitig. Dieses Paper ist eine anschauliche Dekonstruktion der Ideologie des Individuums, aber ohne zu merken. […]

Es scheint fast so, als wäre der Agent nie der Agent, sondern immer nur der „Agent plus Welt“ und als residiere die Agency nicht im Agenten, sondern … in seinen Beziehungen zur Welt? Doch das ist halt im „Reference Frame“ des Individuums schlicht nicht darstellbar.

Dass wir über Netzwerkgraphen von Personen oder Institutionen, also Objekten, nicht hinausgekommen sind, hat einen einfachen Grund: All unsere Begriffe, Konzepte, Kategorien und Selbstentwürfe widersprechen der Vorstellung der Eingebundenheit. Und das wiederum liegt daran, dass sie zu einem Großteil auf dem Subjektentwurf des Individuums basieren und daran scheiterten auch die analytischen Philosophen. Sie kamen selbst nicht aus dem Subjektentwurf raus, obwohl seine Inkonsistenz ihnen vor Augen lag, denn dafür hätten sie erst ihr eigenes Modell von sich selbst in frage stellen müssen. Und sowas tut man ja in der analytischen Philosophie bekanntlich nicht.

Here is the thing: Das Individuum ist nicht nur abzulehnen, weil es inhärente faschistische Tendenzen hat und nicht nur weil es nicht netzwerkfähig ist, sondern auch, weil es, sorry, einfach Bullshit ist. Das Individuum ist eine männlich-hegemoniale Machtphantasie und als Modell unserer Subjektivität inkonsistent und extrem verzerrend.

Trotzdem ist das Individuum zumindest in unseren Kreisen ziemlich Hegemonial und das ist ein Problem, denn das heißt: wir alle haben von klein auf gelernt, uns als Individuen zu erzählen, weswegen uns das Netzwerkdenken erstmal fremd und ungewohnt vorkommt. Aber ich habe festgestellt, dass es, wenn man es ein bisschen einübt, auch sehr intuitiv ist und im Gegensatz zum Individuum/Agenten auch erstaunlich konsistent und wenn man es länger anwendet, dann merkt man bald, dass das Individuum eigentlich ein Bug im Betriebsystem unseres Denkens ist, der die Sicht auf die Gesellschaft verhindert.

Mit unseren bisherigen Netzwerkdenken haben wir schon vieles zu beschreiben gelernt: Personennetzwerke oder „Kommunikationsnetzwerke“, Infrastrukturnetzwerke, biologische Netzwerke. Aber das eigentliche Potential des Netzwerkdenken liegt in der Beschreibung der überpersonalen Netzwerke, in die wir eingebunden sind. Die „Strukturen“. Wir haben nie wirklich gelernt, uns selbst im Verhältnis zur Gesellschaft zu erzählen und damit auch zu sehen.

Aber um dahin zu kommen, müssen wir erst das Individuum überwinden. Das machen wir zum einen durch die Schaffung der semantischen Pfadalternative „Dividuum“ (Ausführlicher Explainer). Kurzversion: Das Dividuum ist ein Netzwerkknoten ohne Agency, vollkommen definiert durch seine Milliarden Verbindungen.

Dieser Text ist quasi der zweite Schritt: die Pfadgelegenheit zu denken. Die Pfadgelegenheit ist der wichtigste Begriff von allen. Erst mit der Pfadgelegenheit können wir den Subjektentwurf des Indviduums vollständig ersetzen und das tun wir, indem wir die „Agency“ des Dividuums und damit auch seine gesellschaftlich aggregierte Handlungslogik in die Kanten des Netzwerks verlegen.

Was ist eine Pfadgelegenheit?

Im Gegensatz zum Individuum, das sich selbst als handelnden „Agent“ begreift, hat das Dividuum seine Agency an die „Pfadgelegenheit“ ausgelagert. Die Pfadgelegenheit ist quasi ein dezentrierter Subjektentwurf: Statt ein Agenten-Modell haben wir ein Dividuums-Welt-Interaktions-Modell.

Das Wort Pfadgelegenheit ist einerseits einfach und intuitiv, aber andererseits auch theoretisch anspruchsvoll und komplex und fungiert deswegen wie ein „semantischer Hack“: Egal, wie tief man einsteigt, die intuitive Handlichkeit bleibt erhalten.

Die beste Überblicks-Zusammenfassung, was eine Pfadgelegenheit ist und umfasst, findet sich in Krasse Links 68.

der begriff der „pfadgelegenheit“ ist der versuch, das amalgam aus handlung und den dafür notwendigen infrastrukturen in einen netzwerkfähigen begriff zu verpacken und so menschliche handlungen wieder an die gesellschaftlichen strukturen rückzukoppeln.

die grundannahme: du kannst nur handeln, wenn es einen weg dazu gibt. wir gehen nicht „unseren“ pfad, wir entscheiden uns zwischen materiell gegebenen pfaden.

„pfadgelegenheit“ ist so ein einfaches, unscheinbares wort, aber auch so extrem nützlich. hier ein paar beispiele:

wir haben damit eine pfadgelegenheit für eine infrastrukturbewusstere semantik:

eine pfadsetzung ist eine pfadentscheidung aus einer gegebenen menge aus pfadgelegenheiten, die rückblickend zur pfadabhängigkeit wird.

zum netzwerk werden pfadgelegenheiten, wenn man versteht, dass der ganze sinn von pfadgelegehheiten ist, neue pfadgelegenheiten zu ermöglichen.
bonusnutzen: das denken in pfadgelegenheiten entfaltet implizit und ganz automatisch eine räumliche und historische struktur, die sich durch pfad-abhängigkeiten beschreiben lässt und damit implizit auch macht abbildet. das funktioniert sowohl für materielle wie für semantische infrastrukturen.

beispiel: die einfach scheinende handlung: „nudeln kochen“ können wir mithilfe der „pfadgelegenheiten/pfadabhängigkeiten“-semantik in ein beliebig feingranulares netzwerk aus logistikunternehmen, wasserrohren, stromkabeln, historischen ereignissen, kraftwerken, weizenfeldern und arbeitsbedingungen in anderen ländern auffalten.

semantische pfadgelegenheiten:

jedes wort, jeder satz, jeder gedanke ist pfadgelegenheit für weitere semantische pfadgelegenheiten.

jedes wissen bereitet pfadgelegenheiten für neues wissen. aber auch semantische pfadgelegenheiten haben materielle pfadabhängigkeiten. bücher im elternhaus, medienkonsum, schulalltag, der vermittelte „wert von bildung“ etc.

auch: verschwörungstheorien bieten pfadgelegeheiten in andere verschwörungstheorien, „rabbitholes“ bestehen aus semantischen pfadgelegenheiten.

das netz aus semantischen pfadabhängigkeiten in das wir reingeboren wurden, ist die matrix in der wir leben. wir haben nicht genug abstand dazu, sie zu hinterfragen. jedenfalls nicht „individuell“. auch hier sind wir auf pfadgelegenheiten angwiesen, auf andere kritische beobachter*innen und ihren alternativen semantischen pfadgelegenheiten zur erklärung der welt.

aus all dem ergibt sich die endgültige dekonstruktion des „individuums“. es gibt kein ungeteiltes res cogitans, alles ist res extensa. das dividuum ist der schnittpunkt aus milliarden netzwerken. es lebt nicht nur in seiner infrastruktur, das dividuum _ist_ seine infrastruktur.

ich nenne das „relationaler materialismus“. es ist im grunde eine fusion aus sience & technology studies und graphentheorie, inspiriert von spinoza, deleuze und donna haraway.

wer das spannend findet, kann meinem newsletter folgen, wo ich diese redepraxis selbst einübe und immer mal wieder weiterentwickle.

Eine Pfadgelegenheit ist immer materiell, aber sie ist immer auch semantisch, denn unsere Perspektive ist niemals „individuell“, sondern immer dividuell. Weil wir keine Individuen sind, die „aus dem Kopf“ oder „aus dem Bauch“ heraus entscheiden, sondern Dividuen, die einander beobachten, wie sie Pfadgelegenheiten wahrnehmen, folgen wir einander auf mehr oder minder etablierten und mehr oder minder populären Nutzenpfaden durchs Leben und erzählen uns die Richtigkeit unserer Pfadentscheidungen entlang der Rechtfertigungserzählungen, die wir dabei so aufgeschnappt haben.

Auch praktisch: Der Begriff ist skalenfrei: Die Pfadgelegenheit ist genauso das Jobangebot, der nächste Zug beim Schach, die Investition, die Beziehungsofferte, die Gelegenheit, ein anderes Land anzugreifen, der Link, oder die vor uns liegende Autobahnausfahrt.

Pfadgelegenheiten bestehen aus Pfadgelegenheiten, denn damit etwas funktioniert, muss immer erst etwas anderes funktionieren, etc. Und wenn das dann funktioniert, bauen andere Pfade darauf auf, etc. … Ich könnte den ganzen Tag über die Vorzüge dieses Begriffs schwärmen.

Hier eine vorläufige Definition:

Pfadgelegenheit bezeichnet den interdependenten Vektor aus Perspektive, projizierter Handlung und dafür notwendiger Infrastruktur, durch den sich an einem konkreten Ort zu einer konkreten Zeit unsere „Agency“ entfaltet.

  • Perspektive: Das heißt der spezifische materielle Kontext: Klar, die Relevanz und Plausibilität von Pfadgelegenheiten verändert sich durch die dir zugängliche materielle Infrastruktur. Aber auch der spezifische semantische Kontext macht die Perspektive aus: je nach deinem spezifischen Wissen, deiner spezifischen kulturellen Prägung und deinen spezifischen Plänen, siehst du unterschiedliche Pfadgelegenheiten in derselben Welt.
  • projizierte Handlung: Also eine Handlung, die sowohl materiell möglich, als auch semantisch plausibel sein muss, aber materiell noch nicht aktualisiert ist.
  • Infrastruktur: Alles, was funktionieren muss, um die projizierte Handlung möglich zu machen und alles was funktionieren muss, damit wiederum das funktioniert, etc.

Das klingt erstmal nicht so kompliziert, aber denkt man die Interdependenzen mit, wirds vertrackt. Mal sehen: Die projizierte Handlung ist von der Perspektive abhängig, die Perspektive ist von der verfügbaren Infrastruktur abhängig, die verfügbare Infrastruktur ist von der Perspektive abhängig, die ja selbst aus projizierten Handlungen besteht, die wiederum von der Infrastruktur abhängen.

Die dividuelle Weltinteraktion als materielle Turing-Maschine

Aber hier ist der Trick: die ständige neu erzeugte Spannung zwischen den interdependenten Vektoren Perspektive, projizierte Handlung und Infrastruktur, treibt die Machine voran.

Hier wie es doch eigentlich läuft: Die vorhandenen Infrastrukturen machen aus einer bestimmten Perspektive die projizierte Handlung einer Pfadgelegenheit plausibel, die, sobald sie genommen wurde, Teil der pfadabhängigen Infrastruktur wird, was wiederum die Perspektive um eine Pfadgelegenheit weiterschiebt, damit sie die nächste Pfadgelegenheit anvisieren kann.

Stellen wir uns vor, es ist Sommer und ihr wollt einen Sommerausflug nach München machen, denn Sommerausflüge nach München sind schön. Dafür muss man aber unterschiedliche pfadabhängige Pfadgelegegenheiten wahrnehmen, etwa „Ticket kaufen“.

Wir können uns das so vorstellen: Die Pfadgelegenheit „Ausflug nach München“ rückt die Pfadgelegenheit „Zugfahren“ in unsere Perspektive, die wiederum die Perspektive auf „Tickets Buchen“ verschiebt. Ist die bis dahin projizierte Handlung: „Tickets Buchen“ vollzogen, wandern die Tickets in die Infrastruktur und bereiten damit die Pfadgelegenheit des nächsten Schritts vor. Die Veränderung der Infrastruktur wiederum verschiebt die Perspektive, nämlich unter anderem, um eine Pfadgelegenheit weiter. Zu, z.B. Termin in den Kalender eintragen, Hotel buchen, oder zum Bahnhof kommen und dann geht der Spaß geht von vorn los. Und so kommt man Zug um Zug zum Zug und schließlich nach München.

P (Perspektive)
I (Infrastruktur)
δ (Handlung)

δ : (Pt, It​) → (Pt+1​, It+1​)

Pt: „Tickets Buchen“ (aktueller Fokus)
It: Bahnwebsite, BahnInfrastruktur, Kreditkarte, Erwartungen

δ: Ausführung der Buchung

Pt+1: „zum Bahnhof kommen“, neues Perspektivfeld.
It+1: Bisherige Infrastruktur + Tickets

Die dividuelle Weltinteraktion ist eine materielle Turing-Maschine, die die Welt entlang der Übergangswahrscheinlichkeiten δ und über die Herstellung und Nutzung von Pfadgelegenheiten Schritt für Schritt in Infrastruktur verwandelt. Ich nenne sie deswegen auch das „Beppo der Straßenkehrer„-Modell der dividuellen Subjektivierung. Ein Besenstrich nach dem anderen und irgendwann ist die Straße sauber.

Aber weil wir uns im Gegensatz zu Beppo als „Individuen“ erzählen, die eine von ihrer Infrastruktur unabhängige Agency haben, verhalten wir uns eher wie Markow-Bots, die bei jedem ihre Schritte ihre Pfadabhängigkeiten vergessen und dennoch ihre Wahrscheinlichkeiten reproduzieren. Das Dividuum und seine Pfadgelegenheiten zu denken, bedeutet auch, mentale Verantwortung für die eigenen Infrastrukturen zu übernehmen.

Was ist Freiheit?

In unserem Dividuums-Welt-Interaktions-Modell ergibt sich daraus ein anderes, aber gut formalisierbares Modell von Freiheit, bzw. Agency, das ich aus Anlass eines Interviews mit Joscha Bach in Krasse Links No 31 einmal so ausgemappt habe:

Das, was Joscha Agency nennt und sie der Intelligenz des „Agents“ zuschreibt, nennt die Cyborg Freiheit. Konkreter: horizontale Freiheit, bzw. Positive Freiheit. Man könnte sie auch relational-materielle Agency nennen.

Unsere Freiheit ist der Ausschnitt, der uns zugänglichen Pfade im Netzwerk der Pfadgelegenheiten.

Unsere Freiheit ist diskret, also abzählbar. Sie existiert nur in konkreten, materiellen Pfadgelegenheiten, die uns zu einem Zeitpunkt x zur Verfügung stehen: der Wasserhahn, das Stück Straße zum Weg auf die Arbeit, das Stellenangebot in der Zeitung, das Essen im Restaurant, das Wort auf der Zunge. Die Pfade, auf die die Pfadgelgenheiten führen sind ungewiss, aber das heißt nicht, dass wir ziel- und planlos sind.

Ziele sind Netzwerkzentralitäten im Netzwerk der Erzählungen. Wir sind immer auf Mission als Maincharakter in den vielen Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen und die steuern alle auf ein Happyend?

Pläne sind imaginierte Pfade im Netz der Pfadgelegenheiten auf dem Weg zum Happyend. Mal mehr mal weniger konkret, mal mehr oder weniger realistisch, etc. Damit ein Plan glückt, müssen Pfadgelegenheiten teils hart erarbeitet werden und manche Pfadgelegenheiten kann man nur erhoffen. Wenn die Ungewissheit zu groß wird, muss man Pläne auch beerdigen und das ist immer schmerzhaft.

Das Netz der Pfadgelegenheiten hat ebenfalls Netzwerkzentralitäten und die nennen wir „Liquidität“. Geld ist nicht der einzige, aber netzwerkzentralste Hub in diesem Netzwerk, zumindest im Kapitalismus.

Damit können wir schon mal drei Freiheiten ausmappen:

Die nominelle Freiheit ist die Anzahl, Vielfalt und Qualität der Pfadgelegenheiten, die von einem Dividuum zum Zeitpunkt X ausgehen und deren Länge durch das Geld als Radius begrenzt wird. Die nominelle Freiheit ist also der Ausschnitt im Netz der Pfadgelegenheiten, der für das Dividuum zum Zeitpunkt X zugänglich ist. Es ist nur eine theoretische Freiheit, weil sich niemand die Arbeit machen würde, diese Pfade auszukartographieren.
Die plausible Freiheit ist das viel kleinere Subset dieser Pfade, die dem Dividuum tatsächlich als „plausibel“ im Bewusstsein schwirren. Sie wird somit einerseits durch die nominelle Freiheit begrenzt, aber auch durch die dem Dividuum zugänglichen Erzählungen. Diese plausiblen Pfade sind natürlich imaginiert und auch hier gilt: sie sind nicht rigoros ausgemappt und schon gar nicht vollständig und oft auch gar nicht wirklich plausibel, wenn man genau hinsieht, aber sie bilden das Freiheits-Hintergrundrauschen, vor dessen Kulisse jede Pfadentscheidung getroffen wird. Sie ist der Raum, in dem wir planen und entscheiden. D.h. jede Pfadentscheidung ist immer eine Entscheidung gegen andere plausible Pfade in diesem Raum.
Die geplante Freiheit ist die Freiheit, die wir im Alltag spüren. Hier ist die Schmerzempfindlichkeit am größten. Geplante Freiheit ist die Leichtigkeit (oder nicht), mit der wir unseren Plänen nachgehen. Nichts vermittelt so sehr das Gefühl von Unfreiheit, als wenn Barrieren unsere Pläne verhageln.
Horizontale Macht (auch hegemoniale Infrastrukturmacht) begrenzt unsere nominelle und damit die horizontale Freiheit. Als Pfadopportunist*innen nehmen wir diese Form der Macht nicht als Gewalt wahr, weil die vorenthaltene Agency nie erwartet wurde. Wir fügen uns.

Vertikale Freiheit (auch negative Freiheit) ist geplante Freiheit. Vertikale Macht (auch souveräne Infrastrukturmacht), also Gewalt, kann sich jederzeit zur Netzwerkzentralität in den Pfadabhängigkeiten Deiner Pläne machen und macht Dich somit extrem abhängig. Freiheit von dieser Form der Abhängigkeit ist die Freiheit, planen zu können.

Und dann gibt es noch die semantische Macht (auch hegemoniale Semantikmacht), die die plausible Freiheit … zumindest mitgestaltet. Wer erzählt die Geschichten, die umherschwirren, an denen auch wir unsere Lebenspfade, also Pläne orientieren?

Was auch spannend wäre: „Chancengleichheit“ aus Cyborgsicht einmal auszubuchstabieren.

Das Orientierungswissen im Latentspace

Der Raum der Pfadgelegenheiten ist ein komplexes Netzwerk, aber in diesem Netzwerk finden wir uns intuitiv zurecht, weil wir ein Leben darauf trainiert haben, es zu navigieren. Wir kennen unsere Pfade und haben ein grobes Orientierungswissen. In Krasse Links 69 formulierte ich das so:

Wir werden immer schon in ganz konkrete materielle und semantische Strukturen hineingeboren und deswegen begegnen uns alle Dinge und Worte als immer schon in materiell funktionale Pfade (Löffel als Pfadgelegenheit zum Brei essen), und ihre Pfadabhängigkeiten (Schüssel, Tisch, Essen), sowie in soziale Netzwerke (Mama füttert mich mich Löffel) und in semantischen Pfade („Will Löffel!“) eingebunden.

Weil wir keine Individuen sind, die sich der Welt gegenüberstellen, sondern relationale Materialist*innen, denken wir weder in „Objekten“ noch in „Begriffen“, sondern in Pfaden.

Denkt mal über das Denken nach und beobachtet euch selbst: Nachhausefinden, Planen, Sprechen, Kuchenbacken, Singen, Erzählen, Nachdenken, Erinnern, Kopfrechnen, Forschen, ein Wissenschaftlicher Versuch – all das sind Pfade. Um uns unsere Schuhe zuzubinden, müssen wir zuerst in die Hocke gehen, dann mit der einen Hand den einen und mit der anderen den anderen Schnürsenkel greifen und so weiter. Jeder Schritt ist notwendig, also eine Pfadabhängigkeit für den nächsten Schritt.

Dieselben Bewegungs-Pfadabhängigkeiten sind aber selbst wiederum in andere Kontexte eingewoben. Wenn z.B jemand im Trainingsanzug in die Hocke geht, gibt es diesen Moment der Unsicherheit, ob er sich die Schnürsenkel binden will, oder in den „Slav Squat“ geht.

Handlungen und ihre Infrastrukturen sind als materielle Pfadgelegenheiten mit dem Raum der semantischen Pfdgelegenheiten rhizomatisch verwoben. Oder anders: Semantik und materieller Weltbezug bilden einen gemeinsamen Latent Space, den wir nur von innen und immer nur entlang konkreter Pfade kennenlernen. Alles ist eins. Ja, doch, Spinoza, aber mit Übergangswahrscheinlichkeitsmatrix statt Kausalitätsketten.

Der Latent-Space ist nicht zufällig anschlussfähig, an das was Deleuze das „Virtuelle“ nennt, denn auch Deleuze ist Spinozaleser. Das „Virtuelle“ nennt er das „Feld der Differenzen“, das zu jedem gegebenen Jetzt den Raum des Möglichen vorzeichnet, also eine Struktur, die immer schon vor jeder konkreten Handlung wirksam ist: sie legt fest, welche Aktualisierungen überhaupt in Frage kommen. Aber wenn das Virtuelle der globale Möglichkeitsraum von Differenzen ist, dann sind die Pfadgelegenheiten die lokale Zugriffspunkte eines Dividuums auf diesen Raum. Die kleinste relevante Einheit dieses Raums ist aus dieser Sicht nicht die abstrakte Differenz, sondern die konkrete Pfadgelegenheit: die Möglichkeit, eine Differenz als Pfad zu aktualisieren.

In Krasse Links 73 schrieb ich:

Man kann sich das Netz der Pfadgelegenheiten als eine riesige, komplexe, multidimensionale Landschaft mit Tälern und Schluchten vorstellen, die die wahrscheinlichen Pfade vorzeichnen, durch den der Nutzen entlang der infrastrukturellen Übergangswahrscheinlichkeiten pfadopportunistisch fließt und an dessen Engstellen sich Macht konzentriert und wo die Oligarchen ihre Schmerzkraftwerke betreiben.

Das bezog sich auf die Ökonomie als Ganze. Denn auch das ist eine Pfadgelegenheit, die in der Pfadgelegenheit steckt: Eine Politische Ökonomie der Pfadgelegenheiten mit der man die Wirtschaftlichen Zusammenhänge präziser und politischer beschreiben kann. Die Grundlagen dafür ist die Macht-Interdependenz-Theorie und wie man von dort zur Macht/Wert-Formel kommt.

Das Dividuum

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Dies ist ein temporär stabiler Explainer über den Subjektentwurfs des Dividuums. Ich editiere hier immer mal wieder rum, nicht wundern.
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Das Dividuum ist ein Subjektentwurf, der sich als semantische Pfadalternative zum Individuum positioniert. Genauso wie das Individuum ist das Dividuum einzigartig, aber anders als das Individuum ist das Dividuum kein abgeschlossenes Ganzes, dass der Welt gegenüber steht, sondern ein Verkehrsknotenpunkt für Milliarden Netzwerke.

Das Dividuum entstand aus Notwehr. Mein Argwohn gegen das Individuum trug ich schon länger mit mir rum und natürlich kannte ich bereits viel der philosophischen Kritik am Individuum, aber mit Kritik ist es ja nicht getan. Wenn man so tief in den Eingeweiden der westlichen Perspektive herumdoktort, hat man ein Problem: Alle möglichen Erzählungen, Konzepte, Begriffe und nicht zuletzt all unsere Selbsterzählungen, unsere Subjektivierungen sind Pfadabhängig vom Subjektentwurf des Individuums. Und ich will mich ja auch morgen noch, naja, subjektivieren. Deswegen war mir klar: ich brauche eine plausible Pfadalternative, die die pfadabängigen semantischen Verbindungen des Individuums übernimmt. Einen Bypass.

Ich hatte ein paar grobe Ideen eines vernetzten Subjektentwurfs und hatte zu diesem Zweck im Newsletters schon einiges an semantischer Infrastruktur zusammengesammelt und als ich die Pfadgelegenheit sah, verkündete ich in Krasse Links 27 meinen offiziellen Austritt aus der Kirche des Individualismus.

Ich hatte mir das lange überlegt, aber ausschlaggebend war letztendlich dieser Ted Talk von Deb Chachra über Rolle von Infrastrukturen in unserem Leben.

Ich kommentierte den Talk so:

Infrastrukturen sind das, was Deine „Agency“ überhaupt ermöglicht und damit auch Deine Fähigkeit, Dich als Individuum zu erleben.

Und als ich dann noch mit Ishay Landa im selben Newsletter verstand, wie der Transmissionsriemen zwischen Individualismus und Faschismus funktioniert, war für mich das Maß voll.

Okay, hier ist mein Deal: Ich habe aufgehört, ans Individuum zu glauben. Ja, es gibt Akteure, die Dinge anstoßen, aber wir alle navigieren nur innerhalb vordefinierter Strukturen. Wir können nur navigieren, weil uns zu jedem Zeitpunkt immer nur so und so viele Optionen zur Verfügung stehen, unsere Geschichte weiterzuerzählen. Wir sind also Opportunisten und alles was wir tun, ist mit den uns zur Verfügung stehenden semantischen Schablonen nach Pfadgelegenheiten Ausschau zu halten, um auf ihnen durchs Leben reiten.

Diese Gelegenheiten werden wiederum von Infrastrukturen bereitgestellt, materielle wie semantische und weil wir uns nun mal im Kapitalismus bewegen, ist eine besonders netzwerkzentrale Infrastruktur das Geld. Zugang zu dieser Ressource ermöglicht Zugang zu vielen anderen Ressourcen und damit Pfadgelegenheiten. Aber Eigentum/Geld/Preise sind nur ein Abstraktionslayer, den wir als Zugangsregime über einen Großteil unserer Infrastrukturen gelegt haben. Im Alltag erleben wir Normalos Geld deswegen als den entscheidenden Flaschenhals, der unsere individuelle Navigationsfähigkeit ermöglicht und begrenzt und damit das absteckt, was Lea Ypi neulich „horizontale Freiheit“ nannte.

Was Landa hier beschreibt, stelle ich mir konkret so vor: Leute, die vergleichsweise viele Pfadgelegenheiten vor sich zu haben gewohnt sind, also wir Mittelstandskids aus dem Westen, haben uns eingeredet, bzw, einreden lassen, dass wir Individuen sind. Das Framework des „Individuums“ erlaubt es uns auszublenden, dass sich unsere Freiheit aus den vielfältigen materiellen und semantischen Infrastrukturen speist, die unsere Vorfahren und andere Menschen um uns herum gebaut haben, bzw. bauen und maintainen. Statt also unsere Eingebundenheit in diese Strukturen anzuerkennen, reden wir uns seitdem ein, wir hätten unseren „Wohlstand“ „erarbeitet“ und wenn wir es materiell zu etwas gebracht haben, schließen wir daraus, dass wir besonders „intelligent“ sein müssen und damit auch individueller als andere Menschen.

Und dann schauen wir auf andere Menschen, deren Infrastrukturen ihnen deutlich weniger Pfadgelegenheiten bieten und unser Individualismus-Framing deutet diese mangelnde Agency dann als verminderte, oder gar abwesende Individualität, also ein Mangel an Intelligenz und/oder Zugehörigkeit zu einer „rückständigen Kultur“. Das ist der materielle Kern dessen, was Judith Buttler mit „Abjectification“ meint und es ist die Rutschbahn vom Liberalismus zum Faschismus, auf der gerade der gesamte Westen gleitet. Huiiii!

Den ersten Schritt, den man tun muss, um das Dividuum zu denken, ist vom Glauben abzufallen. Denn wir alle sind Gläubige in der Kirche des Individuums und man wird das mistige Ding nicht los, wenn man sich dessen nicht bewusst wird und aktiv Widerstand leistet.

Der zweite Schritt ist, die Pfadalternativen zu entwerfen. Im selben Newsletter sah ich den Fluchttunnel noch in Haraways „Cyborg“ und das ist immer noch metaphorisch richtig, aber aus formalen Gründen bin ich dann doch beim „Dividuum“ gelandet. Dennoch gilt, was ich hier über Cyborgs schreibe, auch für das Dividuum.

Cyborgs sind defizitäre, bedürftige Wesen, die auf ihre Infrastrukturen angewiesen sind, um und zu überleben. Und nur weil die Cyborg kein Individuum ist, heißt das nicht, dass sie ohne Agency wäre. Die Agency des Cyborgs speist sich nicht aus ihrer „Vernunft“ oder wie es heute heißt, „Intelligenz“, sondern aus den materiellen und semantischen Infrastrukturen, die ihr zur Verfügung stehen.

Die Cyborg lebt in den Infrastrukturen und ist die Infrastruktur. Sie arbeitet an den Infrastrukturen, baut sie, betreibt sie, hält sie in Stand. Als höfliche Pfadopportunistin navigiert sie die Schmerzarchitektur zwischen Arbeit und Konsum und versucht mittels der ihr zugänglichen Infrastrukturen ihre Geschichte weiterzuerzählen. Diese Geschichte ist ein Pfad im Netzwerk, der von der Vergangenheit bis ins Jetzt und durch Pläne, Ziele und Projekte bis in die Zukunft weitererzählt wird.

Die Cyborg ist Dividualistin. Sie beobachtet nicht die Welt, sondern beobachtet wie andere die Welt beobachten. Sie surft auf diesen Beobachtungen, Worten, Bildern, Gesten und Geschichten und sortiert sich in ihnen ein. Gleichzeitig sendet jede ihrer Bezugnahmen einen Impuls durchs semantische Netzwerk, weil sie ja ihrerseits beim Schreiben, Sprechen, Denken beobachtet wird.

Es kann sich nur noch um Minuten handeln, bis die Cyborg begreift, dass sie die Infrastruktur ist und den Laden übernimmt.

Die dividuelle Subjekterfahrung habe ich in Krasse Links 26 so skizziert:

Und jetzt kann man, wenn man will, die Intention wieder reinlassen, aber nicht mehr als eine aus sich selbst heraus sprechende Stimme, die sagt „ich will“, sondern als Navigator, Surfer, oder Trommler.

Navigator, weil wir zu jedem Zeitpunkt immer an einem konkreten semantischen Ort im Raum stehen, wann immer wir handeln. Das heißt, wenn wir irgendwo hinwollen (etwas sagen oder denken), müssen wir Schritt für Schritt von dort nach da hin-navigieren und unsere Fähigkeit zu Sprechdenken besteht, wie bei der LLM, vor allem aus allerlei gemerkten Weganweisungen.

Man kann das auch Surfen, wenn man etwas firmer mit einer bestimmten Semantik ist. Dann verknüpft man die vorbeifliegenden Sinn-Ereignisse wie Wellen, auf denen man reitet. (yeah!)

Und zuletzt drücken wir auf „Play“ und nehmen die Zeit mit dazu und dann beginnt sich dieses Netzwerk langsam aber stetig auf uns zuzubewegen. Semantiken verschieben sich, verwandeln sich, werden größer oder kleiner, zentraler, peripherer, mutieren, streuen, sterben, etc. Und wir sehen immer neue Ereignisse eintreffen, die immer neue Narrative aufs Gleis setzen. Die Narrative wiederholen sich, referenzieren sich, zitieren sich und in stetiger Wiederholung und Bekräftigung werden sie erwartbar und strukturieren wie ein Beat unsere Zeit und geben uns Orientierung nach vorn.

So richtig geboren wurde das Dividuum in Krasse Links No 28, in dem ich anlässlich meines Textes über KI und Semantik Derrida mit Haraway und Deleuze verbinde.

Wie schon Derrida sagte: Wir sprechen nicht, wir werden gesprochen. Das bedeutet nicht, dass man nicht auch neue Pfade finden kann, aber eben immer nur an den Rändern des bereits Gedachten und Gesagten. So wie die Nordpolexpiditionen erst machbar wurden, als die Infrastrukturen es erlaubten, so sind auch neue Gedankengänge nur als Verlängerung oder Abzweigung bereits existierender Routen denkbar. Es gibt kein Punkt außerhalb des Netzwerks.

Der Text selbst ist ein gutes Beispiel: Er basiert offensichtlich auf einer poststrukturalistischen Infrastruktur, aber wäre auch ohne Donna Haraway nicht denkbar. Mit ihrem „situierten Wissen“ stellte sie den Poststrukturalismus vom Kopf auf die Füße und ermöglicht, die richtige Perspektive aufs Netzwerk zu finden. Wenn Bedeutung stetiger Aufschub, aber dabei stets situiert ist, dann passiert Schreiben, Sprechen, Denken immer an einem ganz bestimmten Punkt eines ganz spezifischen Kontextes. An diesem je spezifischen „Hier und Jetzt“ gibt es immer nur eine überschaubare Zahl an plausiblen Pfadgelegenheiten, von denen man sich von einer zur nächsten stürzt. Wenn man dann die Zeit anstellt, bewegt sich der Punkt durchs Netzwerk und wird zur Linie, bzw. ein Pfad oder eine Route. Fertig ist die LLM, bzw. Sprechen und Denken.

„Die Individuen sind ›dividuell‹ geworden, und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder ›Banken‹.“ Schreibt Gilles Deleuze im „Postskriptum zu den Kontrollgesellschaften“ bereits Anfang der 1990er und verabschiedet damit Foucaults „Disziplinargesellschaft„, die sich noch auf die Zurichtung des Individuums und der Organisation von Masse konzentrierte. Aus dem Unteilbaren (lat. individuus) wird etwas per se Teilbares (lat. dividuus).

Das Navigieren in der Semantik – Schreiben, Sprechen, Denken – ist ein dividueller Akt. Man beobachtet nicht die Welt, sondern man beobachtet einander, wie man die Welt beobachtet. „Dividuell“ bedeutet also, sich selbst als Teil des Netzwerkes zu imaginieren, das Sprache, Denken und Öffentlichkeit und Infrastrukturen hervorbringt.

Es ist den Zitaten anzumerken und relevant zu verstehen, dass sich der Subjektentwurf des Dividuums parallel und in ständiger Korrespondenz mit der Enststehung der Semantiktheorie entwickelt hat. Das Dividuum ist ohne „semantische Pfadgelegenheiten“ nicht denkbar, bzw. es ist andersrum: Man kann das Individuum nur dann denken, wenn man Semantik nicht denkt und dann die Stimme in eigenen Kopf für ein unverbundenes „Res Cogitans“ hält, das als Agent einen Körper durch die Welt steuert, mit dem man sich dann fälschlicher Weise identifiziert. Und genau da ging und geht ja der ganze Schlamassel mit der Infrastrukturvergessenheit seit Descartes schon los, der uns gerade im Gesicht explodiert.

Klar, im Vergleich zum Individuum kann das Dividuum erstmal nicht viel. Das Dividuum hat keine Eigenschaften und „tut“ auch nichts, es ist halt ein Netzwerkknoten, der vollständig durch seine Verbindungen definiert ist. Und ausgerechnet durch Verbindungen, die nicht wirklich dem Dividuum gehören, sondern teil von Netzwerken sind, in deren Interaktion das Dividuum eingebunden ist und danach strebt sich darin temporär zu stabilisieren. Zu diesen Netzwerken gehören biologische Netzwerke, genetische Netzwerke, Bakterielle Netzwerke, Blutkreisläufte, Nährstoffkreisläufe, Klimakreisläufe, städtische Infrastrukturen, Gesetzesframeworks, Produktionskreisläufe, Lieferketten, die Sprachen, die ich spreche, Diskurse an denen ich teilnehme, die Geschichten die ich mir und anderen erzähle, mein Emailprovider, die Straßenbahn und die regelmäßigen Bedürfnisse meines Hundes.

Im Gegensatz zum Individuum, das in sich selbst ruht, hat das Dividuum einen ständigen Hang zur Instabilität. Das Dividuum ist immer im Flux, weil sich all die Verbindungen, aus denen es besteht, ständig verändern. Einerseits wechseln Dividuen ständig ihren Ort in der Welt, d.h. verlieren ständig Verbindungen und gewinnen neue. Andererseits verändern sich die Verbindungen selbst, weil sich die Welt verändert. Deswegen ist das Dividuum den Gezeiten und Turbulenzen seiner Netzwerke ausgeliefert und wird wie eine Boje im Wasser von den Wellenbewegungen im Netzwerk hin und hergeschüttelt. Das Resultat ist ein ständig instabiler Dividuums-Knoten, der die ganze Zeit damit beschäftigt ist, die veränderte Beziehung in einem Netzwerk, durch Veränderung von Beziehungen im anderen Netzwerk auszutarieren (dafür braucht es allerdings Pfadgelegenheiten).

Ohne seine Pfadgelegenheiten ist das Einzige, was das Dividuum „kann“, also „beeindruckt sein“ von der Welt. Aber genau in dieser strukturellen Berührbarkeit steckt der epistemische Wert des Dividuums: Im Sich-Verhalten des Divduums zur Welt verbrigt sich ein struktureller Spiegel der Gesellschaft. Man muss nur den Beat hinter dem Tanzmove erkennen. Hier ein paar nützliche Beobachtungen, die ich im Newsletter über die Zeit über das Dividuum und seinen Weltbezug trianguliert habe:

  • KL29: Weil wir keine Individuen sind, die die Welt beobachten, sondern Dividuen, die einander beobachten, wie sie die Welt beobachten, ist Öffentlichkeit ein Klangkörper, den wir alle miteinander bespielen.
  • KL30: Weil wir nicht einfach gewalttätige Individuen sind, sondern Dividuen, die einander Gewalt erlauben (siehe auch Milgram), kommt jede Gewalt mit ihrer Erlaubnisstruktur.
  • KL31: Weil wir keine generalisierenden Individuen sind, sondern Dividuen die gemeinsam an einer sozialen Skulptur arbeiten, die wir wechselseitig als „Wirklichkeit“ beglaubigen, verwenden wir einander als Erlaubnisstruktur für unsere Generalisierungen.
  • KL34: Weil wir keine Individuen sind, deren „Mind“ über psychologische Stimuli „manipulierbar“ ist, sondern Dividuen, die sich aneinander orientieren, funktioniert echte Manipulation nicht als Operation am Individuum, sondern über Modifikation der Öffentlichkeit.
  • KL35: Weil wir keine Individuen sind, die die Welt beobachten, sondern Dividuen, die ihre Beobachtungen dazu nutzen, aufgeschnappte Erzählungen zu plausibilisieren, tragen Milliarden Schmerzerinnerungen als verteilte Privatempirie die Thesen der Rogannomics.
  • KL39: Weil Silicon Valley Oligarchen keine ruchlosen Individuen sind, sondern Dividuen, die sich die Ruchlosigkeit voneinander abgucken, borgt sich Mark Zuckerberg die männlich-hegemoniale Erlaubnisstruktur von Elon Musk, wie Ryan Broderick aufzeigt.
  • KL40: Weil wir keine Individuen sind, die sich einfach entschließen können, die Matrix zu verlassen, sondern Pfadopportunisten, die immer nur den plausiblen Pfaden folgen, die sie vor sich sehen, brauchen wir Infrastruktur, um der Matrix zu entfliehen.
  • KL41: Weil wir keine Individuen sind, die mit „kognitiven Verzerrungen“ ihres eigentlich „objektiv-rationalen“ Denkapparates kämpfen, sondern dividuelle Pfadopportunisten, die einander auf Deutungspfaden folgen, bleiben wir auf die Deutungsangebote angewiesen, die uns materiell, semantisch und sozial zugänglich sind.
  • KL53: Weil wir keine Individuen sind, die einfach „verdrängen“, sondern Dividuen, die sich über ihre Verdrängungserzählungen zu semantischen Verdrängungsgemeinschaften verbinden, basieren die meisten echten Verschwörungen auf Groupthink.
  • KL60: Weil wir keine Individuen sind, die Entscheidungen im luftleeren Raum unseres „Minds“ fällen, sondern Dividuen deren Verbindungen die Entstehung von anderen Verbindungen beeinflussen, sind wir in jeder Lebenslage Netzwerkeffekten ausgesetzt.
  • KL62: Weil wir keine Individuen sind, die ihre Überzeugungen aus ihrem Inneren schöpfen, sondern Dividuen, die ihre Überzeugungen aus den Überzeugungen von anderen triangulieren, verändert es unseren Orientierungssinn, wenn wir „normale Menschen“ in der Öffentlichkeit dumme Dinge sagen hören.
  • KL62: Weil wir keine Individuen sind, die die Welt beobachten, sondern Dividuen, die einander beobachten, wie sie die Welt beobachten, akkumuliert sich unsere Aufmerksamkeiten dort, wo wir die Aufmerksamkeit anderer erwarten.
  • KL63: Weil wir keine Individuen sind, die einfach Sinn in ihrer Arbeit sehen, sondern Dividuen, die sich durch Einsatz ihrer Aufmerksamkeit gegenseitig den Sinn in ihrer Arbeit beglaubigen, schickt uns die Versloppung der Welt in eine Verantwortungslosigkeits-Spirale.
  • KL65: Weil wir keine Individuen sind, die die Welt beobachten, sondern Dividuen, die einander Beobachten, wie sie die Welt beobachten, können wir uns nicht einfach „eigene Gedanken“ machen, sondern sind gefangen in dem jeweils wechselseitig beglaubigten semantischen Raum, den wir „Wirklichkeit“ nennen.
  • KL68: Weil wir keine Individuen sind, die entweder egoistisch oder solidarisch sind, sondern Dividuen, die einander beim egoistisch oder solidarisch sein zuschauen, und daraus ihre Schlüsse für ihre Strategie ziehen, hat Trump eine Möglichkeit gefunden, die halbe gesellschaftliche Elite der USA – immer einen nach dem anderen – in die Knie zu zwingen.

Alles was das Dividuum „kann“, „ist“ oder „hat“ ist entweder aus seiner ständigen Anpassungsleitung an die Umwelt entstanden, oder aus der Anpassungsleistung der Umwelt an seine Pfadbedürfnisse. Das Dividuum ist gleichzeitig Medium von Strukturen und Strukturgenerator (Pfadgelegenheiten vorausgesetzt).

Doch hier ist das Problem: Sobald wir Fragen, was das Dividuum „ist“, d.h. woraus es besteht, wie es abgegrenzt ist, wie es aufgebaut ist, usw., stellen wir es uns schon falsch vor.

Das Dividuum ist der oder das Andere, bei Levinas. Wir sind aufgefordert, uns in das Dividuum hineinzuversetzen, aber wir werden niemals alle seine Netzwerke kennen und selbst wenn. Das Dividuum ist niemals abgeschlossen und auch unabschließbar. Das Dividuum ist das Andere in uns – das Unverfügbare, das sich nicht messen, nicht besitzen, nicht zentralisieren lässt. Jedenfalls nie vollständig.

Genau deswegen ist das Dividuum ein antifaschistischer Subjektentwurf. Aber wie das bei linken Projekten immer so ist: Es ist leider ein unvollständiger Subjektentwurf. Es ist quasi das Individuum als entkernte Ruine und ohne seine Agency.

An einer anderen Stelle schreibt Deleuze im Postskriptum:

Weder zur Furcht, noch zur Hoffnung besteht Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen.

Das Dividuum allein ist noch keine Waffe. Damit das Dividuum handlungsfähig wird, braucht es eine oder mehrere Pfadgelegenheiten. Erst mit der (semantischen) Pfadgelegenheit zusammen, vervollständigt sich der alternative Subjektentwurf.

Von der Macht-Interdependenz Theorie zur Wert-Formel

Kernstück der Politischen Ökonomie der Pfadgelegenheiten ist die Macht-Interdependenz Theorie von Richard M. Emerson. Ich habe sie bereits an vielen Stellen erklärt, aber an dieser Stelle möchte ich den genauen Weg beschreiben, wie man von Emerson zu der Wert/Machtformel kommt.

Emersons Theorie ist deswegen von Vorzug, weil sie Macht nicht als etwas behandelt, das nur die anderen haben. Macht ist bei ihm aber auch nicht das schemenhafte Geraune, das sie in postmodernen Theorien annimmt. Macht ist bei Emerson einfach eine soziale Tatsache, in die wir alle jeden Tag und zu jederzeit, tausendfach eingebunden sind. Und gleichzeitig lassen sich alle beobachteten Machtphänomene mit Emerson beschreiben.

Im Plattformbuch habe ich Emersons Macht-Interdependenz-These so zusammengefasst.

Abhängigkeit definiert Emerson wie folgt: D(a|b) (D für “dependence”) sei die Abhängigkeit eines Akteurs A von einem Akteur B. Sie ist (1.) proportional zu As Motivation, jene Ziele zu erreichen, die B zugänglich macht, und (2.) umgekehrt proportional zur Erreichbarkeit dieser Ziele jenseits der A-B-Beziehung. Macht definiert Emerson folgendermaßen: P(a|b) (P für “power”) sei die Macht eines Akteurs A über einen Akteur B. Sie bemisst sich an dem Widerstand von B, den A fähig sei zu überwinden.

Zunächst gilt: P(a|b)=D(b|a) Die Macht von A über B entspricht der Abhängigkeit Bs von A. Da Beziehung jedoch wechselseitig abhängig ist, gilt:

P(a|b)=D(b|a) & P(b|a)=D(a|b).

Alle interdependenten Beziehungen lassen sich so darstellen. P(a|b)=D(b|a) & P(b|a)=D(a|b) bedeutet nicht, dass die Beziehung ausgeglichen ist. Eine ausgeglichene Beziehung entspräche: P(a|b)=D(b|a) == P(a|b)=D(b|a). (Die Macht und die Abhängigkeit von A über B entspricht der von B über A.)

Hier haben wir eine einfache Machtinterdependenz.

Wir denken Macht radikal relational. Macht ist immer bezogen und immer wechselseitig. Außerdem ist Macht latent. Sie tut erstmal nichts, sondern ist ein Potential. Außerdem heißt Interdependenz nicht, dass es keine Machtungleichgewichte geben kann.

Es lassen sich aber auch leicht ungleiche Beziehungen darstellen. Eventuell hat B einen guten Job und A lebt in Bs Haushalt und hält ihn am Laufen. Klar braucht B auch A, doch nicht so stark wie A B braucht. Eine solche Beziehung sähe dann so aus: P(b|a)=D(a|b) > P(a|b) = D(b|a). Emerson sieht Macht also nicht als Einbahnstraße, erkennt aber die Existenz von Ungleichgewichten an und kann sie aus den wechselseitigen Abhängigkeiten direkt ableiten.

Man kann sich das an einem Kinderspiel veranschaulichen.

Stellen wir uns eine ausgeglichene Beziehung vor: P(a|b) = D(b|a) == P(a|b) = D(b|a). A und B sind hier zwei Kinder aus der Nachbarschaft. Die beiden Kinder spielen gerne zusammen, denn allein spielen langweilt. Sie sind also von der wechselseitigen Kooperation abhängig. Würde A sich weigern, mit B zu spielen, könnte B sein Ziel (gemeinsames Spielen) nicht erreichen. Aber A könnte es ebenso wenig.

Nun zieht eine neue Familie in die Nachbarschaft, und A lernt C kennen, das gleichaltrige Kind der Familie. Die beiden freunden sich an. Das verändert auch die Beziehung zwischen A und B, da A jetzt eine alternative Spielpartnerin hat. Nun gilt P(a|b) = D(b|a) > P(b|a) = D(a|b). A hat nun mehr Macht über B, da er weniger abhängig von B ist als B umgekehrt von A.

B müsste nun einen Balanceakt vollziehen, um dieses Machtungleichgewicht wieder auszutarieren. Dafür hat sie vier Optionen.

  • Balanceakt 1: Sie kann ihre eigene Motivation, mit A zu spielen, zügeln. („A ist eh doof.“)
  • Balanceakt 2: Sie kann sich eine alternative Ressource erschließen, also zum Beispiel eine andere Spielkameradin finden. (Eine Spielkameradin D zum Beispiel.)
  • Balanceakt 3: Sie kann sich selbst als Spielkameradin für A wieder attraktiver machen (indem sie zum Beispiel in ein neues Legoset investiert), damit A wieder lieber zu B zum Spielen kommt.
  • Balanceakt 4: Sie kann As Zugang zu alternativen Ressourcen (in diesem Fall also zu C) versperren. Sie kann zum Beispiel Cs Familie überreden, wieder wegzuziehen (schwierig), oder sich mit C verbünden (leichter).

An dieser Stelle geht Emerson leider nicht in die Analyse. Er erklärt nicht, wieso und wie A mächtiger wurde, aber wir wissen, dass das Auftauchen von C offensichtlich ausschlaggebend ist.

Für meine Formel der Plattformmacht folgerte ich:

Stellen wir uns jetzt mit Emerson wieder A und B vor, die eine wechselseitig abhängige Beziehung mit komplementären Interessen führen. Durch die Graphnahme dieser Beziehung schafft es die Plattform C, dass A und B ihre Beziehung über ihre Infrastruktur fortführen. Für A und B ist das eventuell erstmal von Vorteil, denn C bietet verbesserte Techniken der Interaktion an, die die Beziehung zwischen A und B vereinfacht.

Da C aber durch seine Kontrollregime in der Position ist, die Verbindung zwischen A und B jederzeit zu unterbrechen, ergibt sich eine neue, vielleicht zunächst verdeckte Abhängigkeit von A und B zu C. A braucht C, um die Beziehung mit B fortführen zu können, und B braucht C, um die Beziehung mit A fortführen zu können. C hat somit sowohl die Macht von A über B als auch die Macht von B über A in sich aufgenommen. Dadurch ist C bereits der mächtigste Akteur in der Dreierkonstellation. As und Bs Abhängigkeit von C und damit die Macht von C reduziert sich allerdings insoweit, als A und B auch andere Möglichkeiten haben, ihre Beziehung zu führen. In der Realität sind A und B nicht nur über Facebook miteinander verbunden, sondern auch über SMS und Telegram.

Was wir bis hierhin als C beschrieben haben, ist noch nicht notwendigerweise eine Plattform, sondern ein ganz normaler Mittelsmann (oder -frau). Doch nichts anderes ist eine Plattform, nur eben mit wesentlich mehr Beziehungen. Sowohl A als auch B führen nämlich noch andere Beziehungen, zum Beispiel ist A mit D, E und F und B mit G, H und I befreundet. Auch diese Beziehungen verlagern sich zunehmend auf Plattform C, was die Abhängigkeit aller Beteiligten von C entsprechend erhöht. Was sich hier also akkumuliert, ist Netzwerkmacht, und bei Emerson wirkt sie wie Balanceakt 3: Alle Verbindungen, die über C stattfinden, erhöhen die Attraktivität von C gegenüber allen anderen Akteuren. Das Resultat sieht nun folgendermaßen aus: A, B, D, E, F, G, H und I bilden ein Netzwerk aus gegenseitig abhängigen Beziehungen, doch allesamt sind sie abhängig von C.

Vereinfacht ergibt sich daraus folgende Formalisierung der Plattformmacht P von Plattform C über eine Person X mit den Beziehungen Y:

P(c|x) = D(x|a) + D(x|b) + D(x|d) + D(x|e) … = D(x|y)
Vereinfacht:

P(c|x) = ∑D(x|y)

Wir haben also folgende Situation:

Aber die Macht wird relativiert durch die alternativen Plattformen.

Die Plattformmacht P über eine Person X, P(c|x), entspricht der Summe der Abhängigkeiten von X vom Zugang zu A, B, D, E … Y. Allerdings relativiert sich die Macht um die alternativen Möglichkeiten, diese Beziehungen auch abseits von Plattform C zu pflegen. Wenn die alternativen Plattformen C’ ebenfalls eine Beziehung zu Y ermöglichen, dann verteilt sich die Plattformmacht eben auf die Anzahl alternativer Plattformen – plus eins für Plattform C.

Und so kam es zu der Formel für Plattformmacht in meiner Dissertation.

Für die Buchausgabe, da drängte mein Lektor darauf, sollte ich die Formel rauszulassen und ich gab dem nach kurzem ringen statt. Ich gab auch deswegen nach, weil ich selbst merkte, dass da irgendwas noch nicht stimmte. Die Macht auf Personen, Plattformen und Zielen herunterzubrechen schien mir auf zweifache Weise verfehlt: Es geht doch eigentlich nie um die ganze Person und gleichzeitig geht es immer um mehr als die Person und ein irgendwie feststehendes „Ziel“. Das, was wir uns aus der Verbindung erhoffen, ist einerseits nur ein Aspekt der Person und andererseits so viel mehr: die sozialen und semantischen Pfade, die sie eröffnet, ihre Sympathie, ihre Nähe, ihr Wissen, ihre Berühmtheit (semantischer Wert), ihre Dienstleistung, ihre Unterhaltsamkeit, ihre Quellen, ihre Art auf die Welt zu schauen, etc. D.h. Ihre Pfadgelegenheiten zu weiteren Pfaden.

Das hat mich aber nicht davon abgebracht, das Konzept auf Supplychains anzuwenden, wo das Emerson-Konzept sogar noch besser als Erklärungsansatz passt.

Es brauchte aber noch ein paar Jahre, meine Beschäftigung mit Donna Haraway, meiner Beschäftigung mit LLMs und den Subjektentwurf des Dividuums, bis ich verstand, was falsch ist: Es geht nicht um die Abhängigkeit von Menschen, sondern um Abhängigkeit von Pfaden.

Enter: „Pfadgelegenheit

„Pfadgelegenheit“ ist für unsere Zwecke erstmal ein semantischer Hack, der das Denken in Netzwerken vereinfacht.

Die Pfadgelegenheit erlaubt es uns, Menschen in Netzwerken zu denken, das heißt, in den Strukturen, die sie bewohnen. Es entfaltet sich damit eine Netzwerk-Beschreibungsebene aus Handlung, Perpektive und Infrastruktur, die uns erlaubt, Realität anders zu formulieren. Siehe dazu den Pfadgelegenheits-Explainer.

Auch praktisch: Der Begriff ist skalenfrei: Die Pfadgelegenheit ist genauso das Jobangebot, der nächste Zug beim Schach, die Investition, die Beziehungsofferte, die Gelegenheit, ein anderes Land anzugreifen, der Link, oder die vor uns liegende Autobahnausfahrt.

Pfadgelegenheiten bestehen aus Pfadgelegenheiten, denn damit etwas funktioniert, muss immer erst etwas anderes funktionieren, etc. So muss A zu B oder B zu A kommen, damit sie zusammen spielen können, was ebenfalls infrastrukturelle Vorraussetzungen hat, etc. Und das Spiel ist nicht einfach das Spiel, sondern von der Pfadgelegenheit „gemeinsames Spiel“ gehen wiederum andere Pfade ab: Sozialität, Vertrauen, Vertrautheit, Lernen, gemeinsame Semantiken, Freundschaft, auf die wiederum andere Dinge aufbauen können, etc … Ich könnte den ganzen Tag über die Vorzüge dieses Begriffs schwärmen.

Mit der Pfadgelegenheit können wir auch das Kinderspiel leicht umschreiben:

Die Macht von A über B ist die Abhängigkeit Bs von der Pfadgelegenheit γ, die A zum Kinderspiel für B bietet und die Macht von B über A ist die Abhängigkeit As von der Pfadgelegenheit γ, die B zum Kinderspiel für A bietet und beide teilen das jeweils durch die Pfadalternativen zu der betreffenden Pfadgelegenheit + 1. Das + 1 steht für die irreduzibele Pfadgelegenheit, die γ bietet. Ohne 1 – ohne mindestens einen Pfad, den Pfad um den es geht – ist alles nichts.

Hier kommt die Substitutionsmatrix rein. Mit der Substitutionsmatrix können wir Austauschbarkeit berechnen, also die Pfadalternativen zum jeweiligen γ.

Hier für die Ausgangssituation von A und B.

Setzen wir die Austauschbarkeit als Pfadalternative ein, ergibt sich folgende Rechnung für die aggregierte Nettomacht der beiden Racker.

Wir sehen ein ausgeglichenes Machtverhältnis. Beide haben Macht übereinander, aber sie entspricht sich.

Doch sobald sich C sich mit A befreundet, verändert sich die Subsitutionsmatrix.

Weil aus As Sicht die Pfadgelgenheiten, die B und C jeweils zum Kinderspiel bieten, austauschbar sind, addieren wir für B und C jeweils eine 1 in den Nenner, womit ihre Pfadgelegenheiten nur noch die hälfte wert sind.

Wir sehen, wie B und C jeweils 0,5 einbüßen, die auf das Konto von A fließen.

Emerson hat über die Pfadgelegenheiten von B gesprochen, um das Ungleichgewicht wieder aufzulösen, aber nicht über die Pfadgelegenheiten von A, seine Macht auszunutzen. Dabei steckt darin das ganze Geheimnis des Kapitalismus:

  • Machtakt 1: A könnte seine Macht nutzen, um die Politik der Pfadentscheidung auszuüben: „Klar können wir spielen, aber nur wenn ich bestimmen darf, was.“
  • Machtakt 2: A könnte auch seine Macht ausnutzen, um eine Politik des Flaschenhals zu etablieren: A könnte Regeln aufstellen und zB. fordern, dass die anderen immer einen Schokoriegel zum Spielen mitbringen sollen.
  • Machtakt 3: Politik der Omniszenz, der Allwissenheit. A weiß über B und C bescheid und kann das für sich nutzen, B und C aber nur über A.
  • Machtakt 4: Politik der Sichtbarkeit. A könnte C gegenüber B verschweigen, oder andersrum.

Für die politische Ökonomie der Pfadgelegenheiten, insbesondere für die Analyse von Plattformen, sind alle Machtakte wichtig, aber Machtakt 2, die Politik des Flaschenhals, ist die Presse, aus der die Marge fließt.

Wir können unsere Interdependenz-Bilanz aufmachen und sehen, wie die Abhängigkeitsdividende in Marge verwandelt wird.

Jedenfalls wenn A ein kleines Arschloch ist. Um das hier auch einmal aufzuführen: Es gibt andere Möglichkeiten, mit Machtungleichgewichten umzugehen.

  • A könnte seine Macht ignorieren und einfach ganz normal mit B und C spielen. Wie ein ganz normaler Mensch.
  • A könnte seine eigene Macht nutzen, um sie loszuwerden. Etwa B und C miteinander bekannt machen und sich freuen, wenn sie sich anfreunden.
  • A könnte Verantwortung für die Macht empfinden und vorsichtig mit ihr umgehen und zum Wohle von B und C nutzen. Ein Konzept, dass sich „Fürsorge“ nennt, aber das aus Sicht des Kapitalismus schlicht ungehobene Marge bedeutet.

Jedenfalls wäre damit auch das Verhältnis zwischen Kapitalist*in und Arbeiter*in, sowie das zwischen Leitunternehmen und Zulieferern hinreichend erklärt. Die Effektivität von Gewerkschaften (Balanceakt 4) leuchtet auf Anhieb ein und auch die Musikindustrie lässt sich auf diese Weise gut erklären, wie es ich neulich in einem Talk vorgemacht habe, der hoffentlich bald veröffentlicht wird. Und natürlich lässt sich auch das Machtverhältnis zwischen Plattformuser und Plattform damit beschreiben.

Hier das Beispiel von Twitter zum Zeitpunkt der Übernahme: Twitter, also C sieht in uns Usern, also X, vor allem eine Pfadgelegenheit für 50 Dollar pro Monat an Umsatz, hat dafür aber noch 260 Millionen Pfadalternativen + 1. Aus unserer User-Perspektive sehen wir alle Pfadgelegenheiten, die die Plattform uns bietet, geteilt durch die Pfadalternativen, was bei Twitter damals gefühlt höchstens 1,6 waren (kann man drüber streiten), was aber eh egal ist, weil der erste Wert verschwindend klein ist. Mit anderen Worten: die Beziehung ist so ungleich, dass die Plattform den gesamten Wert der geschaffenen Pfadgelegenheiten als aggregierte Netto-Macht absorbiert, die sich dann so berechnet:

Wie wir sehen, setzt sich die aggregierte Netto-Macht (ANM) aus zwei Dimensionen, bzw. Faktoren zusammen: Breite mal Tiefe. Breite ist die Anzahl der Nettoabhängigen und die Tiefe ist die durchschnittliche Stärke ihrer Abhängigkeit und gibt damit Hinweise auf die erwartbare Schmerztoleranz. Bei Plattformen basiert auf der Breite die Netzwerkmacht, also die Hegemonie der Plattform und auf der Tiefe basiert ihre Plattform-Souveränität, das heißt, ihre Fähigkeit, sich gegen die Interessen und den Willen ihrer Nutzenden zu verhalten und weiterzuentwickeln, ohne relevant Verbindungen zu verlieren. Das Enshittyfication-Potential pro User, if you like.

Ich weiß, ich hatte die Plattformmachtformel in Krasse Links No 69 so formuliert:

Da ich die Formel bis zu diesem Zeitpunkt immer nur zum Denken benutzt habe, nicht zum Rechnen, machte es diesem Kontext Sinn mit γ‘x einen Parameter für den emergenten Nutzen mit aufzuführen, aber natürlich kann man formal γ‘x als pfadabhängigen Wert von γx subsummieren und erhält dann eine handliche allgemeine Macht/Wert Formel:

Die Macht von C über X ist die Summe der Pfadgelegenheiten γ, die X von C erwartet, geteilt durch die erwarteten Pfadalternativen von γ + 1.

All das bedeutet nicht, dass wir Macht berechnen können, denn der Wert von Pfadgelegenheiten ist ein messy Messwert, da er erstens subjektiv und zweitens latent ist. Das Preissignal ist ein Anhaltspunkt, aber man darf es nicht überbewerten, denn die wenigsten Unternehmen schöpfen die Abhängigkeits-Dividenden allzuweit aus, bzw. wir wissen es einfach nicht und auch die Kapitalist*innen wissen es nicht, sie müssen da auch immer erst vorfühlen. Aber wir können Mechanismen beschreiben, Strategien, Geschäftsmodelle, Strukturen und Ausbeutungszusammenhänge. Wir können damit einen Sensor für Macht entwickeln.

Habe ich hier etwas bewiesen? Nein. Ist die Formel beweisbar? Schwierig, aber ich denke, da werden sich Wege finden? Ich hab jedenfalls ein paar Ideen.

Davon abgesehen weiß ich eh, dass die Formel falsch ist. Alle Formeln, die versuchen, die Realität zu beschreiben, sind falsch. Aber ich glaube nicht, dass sie ganz falsch sein kann. Sie hat einen richtigen Kern. Aber wenn man das eine oder andere besser oder genauer berechnen kann, als ich es hier tue: Prima. Ich bin für Kritik und Vorschläge offen. Mathe ist echt nicht so mein Fachgebiet und ich bin für Feedback wirklich dankbar.

Was ich sagen kann ist das: Es ist die Formel, nach der ich gesucht habe. Es ist die Formel, die mir plausibel ist, die mit allem konsistent ist, was ich so beobachte: dazu gehören nicht nur die Plattformen, Supplychains und KI, sondern es matcht auch meine eigenen Erfahrungen mit Macht, d.h. Wert, d.h. Schmerz des Verlusts. Aber vielleicht ist das auch bei euch anders? Auch das interessiert mich.

Bis auf weiteres halte ich die Formel als grobe Annäherung an die Realität und damit als heuristisch-narratives Device für nützlich, weswegen mich die kommende Purge-Koalition und ihr Thanos-Effekt tatsächlich spooked.

Krasse Links No 73

Willkommen zu Krasse Links No 73. Absorbiert eure Supply-Schocks, heute drohen wir Mamdani mit Übergangswahrscheinlichkeiten, um in der Informations-Kanalisation eine antifaschistische Ökonomie zu errichten.


Ryan Broderick mit der Vogelperspektive auf die Mamdani-Wahl.

As chaotic as all of this is — and will continue to be until the midterms — there is one very clear conclusion here. American politics has changed. The Republicans felt it first. And the same way the Tea Party ate the GOP out from the inside, laying the groundwork for Trump and his MAGA rebrand, so too has what we once called The Dirtbag Left begun devouring the Democrats. The effects of the internet, a deeply alienating globalized economy, and the rise of a technofeudal billionaire class have finally cracked American Democrats wide open. We’re in a class war and it plays out on video feeds and those same billionaires own the algorithms that decide what side of it you end up on. And Mamdani and his team — and the burgeoning DSA political machine — arrived at the exact moment Americans were ready to talk about class and found the best way to hijack our new world of short-form (and long-form) video to make sure you actually heard them. Successfully turning his mayoral campaign into not just a referendum on President Donald Trump and the horrors of his second first year in office, but also the Democratic establishment. And with Mamdani’s big win this week, it’s safe to assume the Democratic civil war will be arriving on a ballot near you soon.

Wenn jemand wie Mamdani auftaucht, sortiert sich um ihn das politische Feld neu und machmal auch „besser“, in dem Sinne, dass die Bruchkanten des eigentlichen Konfliktes deutlicher zur Geltung kommen. In allen heute dafür relevanten Dimensionen ist Mamdani eine wichtige Orientierungsschneise für kommende Konflikte.


Netzwerkdenken bedeutet, Strukturen zu sehen, statt nur Objekte oder Leute. Es bedeutet, sich immer wieder die eigene Verortetheit im Netzwerk vor Augen zu führen. Netzwerkdenken bedeutet in Pfaden zu denken, denn der Pfad ist der einzige Weg durch das Netzwerk, den wir kennen. Netzwerkdenken bedeutet aber auch, in Dimensionen, statt in Kategorien zu denken und in Übergangswahrscheinlichkeiten, statt in Kausalitäten.

Das Gute ist, dass wir alle ein bisschen Netzwerkdenken gelernt haben. Ganz besonders in der Zeit Pandemie wurden wir angehalten, uns als Teil von exponentiellen Graphen zu imaginieren, die wiederum auf einem Netzwerkmodell von Ansteckungsereignissen basiert.


(Aktuelle Inzuidenz)

Das, was wir als den „R-Wert“ (oder auch R0) kennengelernt haben, ist die Übergangswahrscheinlichkeit für unfinfizierte Menschen, in der Gruppe der Infizierten zu landen.

An R können wir uns klar machen, was eine Übergangswahrscheinlichkeit ist. R bedeutet nicht, dass du dich auf jedenfalls ansteckst und es bedeutet nicht, dass du auf keinen Fall ansteckst. Übergangswahrscheinlichkeiten funktionieren anders als Kausalitäten.

R0 ist zudem ein Durchschnittswert und sehr unpräzise, wenn man ihn auf sich selbst anwendet. Übergangswahrscheinlichkeiten sind in Wirklichkeit zusammengesetzt aus den Übergangswahrscheinlichkeiten der heterogenen Strukturen, in denen Übergänge tatsächlich stattfinden.

Auf das Dividuum heruntergebrochen gibt es große Unterschiede des persönlichen R-Wertes: Gehst du wenig aus dem Haus, senkt das dein R, trägst du Maske, senkt das dein R, lässt du dich Impfen senkt das dein R, usw.

Man kann das sogar bis herunter auf Ereignisse auflösen: Eine Veranstaltung mit vielen Leuten besuchen erhöht dein R, Zugfahren erhöht dein R, mit Menschen draußen statt drinnen treffen, reduziert dein R.

Ein Beispiel: Ich war die bis letzte Woche zwei Wochen lang unterwegs, von Berlin, nach München, nach Hannover, nach Köln, nach Stuttgard und über Hannover wieder zurück. Ich war auf Theaterveranstaltungen, auf einer Hochzeit, habe ein Seminar gegeben und habe dabei ca. 6 längere Bahnfahrten zurückgelegt und ich habe nie Maske getragen und dennoch bin ich ohne eine Infektion durchgekommen.

Ein anderes Beispiel: Am Wochenende habe ich einen Freund auf dem Land besucht und zusammen haben wir ein bisschen draußen gearbeitet. Es waren auch zwei andere da, aber vor allem habe ich mit meinem Freund Zeit verbracht und vor allem draußen. Aber meinem Freund ging zum Abend hin immer schlechter und als ich schon wieder zu hause war, schickte er mir das Foto mit dem positiven Test. Und jetzt sitze ich hier mit meiner Covid Infektion.

Das scheint erstmal der Aussage von R zu widersprechen, oder?

Tja, das ist das Problem, wenn man in Kausalitäten denkt. Übergangswahrscheinlichkeiten produzieren contra-intuitive Ereignisse schon zum Frühstück!

Übergangswahrscheinlichkeiten repräsentieren in Wirklichkeit Pfade im Netzwerk, Ansteckungspfade im Falle von R. R0 ist ein aggregiertes Maß über alle Ansteckungspfade, also der Baumstruktur des Infektionsgraphen. Epidemiologie abstrahiert reale Pfade zu Wahrscheinlichkeiten und Wahrscheinlichkeiten zu Raten. Der R-Wert ist die komprimierte Form eines Netzwerks, das man nicht sehen, aber berechnen kann.

Oder andersrum: Wir, bzw. unsere direktphysischen Interaktionen miteinander, bilden das Netzwerk der Pfadgelegenheiten, in dem sich das virus bewegt. Was wir eigentlich machen, wenn wir versuchen, unseren R-Wert zu senken, ist unser relatives Zentralitätsmaß im Netzwerk der viralen Pfadgelegenheiten zu reduzieren. Idealerweise kapseln wir uns vom Netzwerk ab, was ich gerade machen muss, so ein Scheiß.

Die Epidemiologen können natürlich nicht jeden einzelnen Pfad verfolgen, aber für ihre Modelle braucht es das nicht.

Ein Markow-Modell ist ein iterativer Prozess, der zwischen endlich vielen Zuständen – etwa gesund, infiziert, genesen – entlang von Übergangswahrscheinlichkeiten wechselt. Im Zentrum steht also die Übergangswahrscheinlichkeits-Matrix und jede Zeile steht für den aktuellen Zustand, jede Spalte für den möglichen nächsten. Multipliziert man den momentanen Zustandsvektor mit dieser Matrix, erhält man die Wahrscheinlichkeitsverteilung des nächsten Zeitschritts. In jeder Iteration „vergisst“ der Prozess die vorherigen Schritte und handelt entlang der veränderten Zustände und ihrer Übergangswahrscheinlichkeiten im ewigen Jetzt. Und trotzdem ergibt sich eine realistische Dynamik.

Weil wir keine Individuen sind, die einfach tun und lassen, was sie wollen, sondern Pfadopportunisten in einem Labyrinth aus Pfadgelegenheiten, agieren wir in vielerlei Hinsicht selbst wie Viren oder Markowmodelle: Wir erinnern uns nicht an unsere Pfade (siehe Infrastrukturvergessenheit), aber reproduzieren ihre Wahrscheinlichkeiten.

Jedenfalls hier ein ganz einfachens SIR-Modell zum Rumspielen.


Issie Lapowsky mit einem Text in Politico, der das Potential hat, die Demokratische Partei zu revolutionieren.

Future Forward ist der Super-PAC, der bei der US-Wahl einen großen Teil der demokratischen Gelder für Werbung auf Plattformen ausgeben hat und weil der auch bei den Tech-Bros beliebt war (ja, einige haben auch für Demokraten gespendet), war es bei dieser Wahl auch der mächtigste Super-Pac und gab die Richtung vor.

Once the go-to Democratic super PAC behind Barack Obama’s 2012 and Hillary Clinton’s 2016 presidential campaigns, Priorities was effectively sidelined in 2024. Future Forward received the Biden campaign’s blessing, and Silicon Valley megadonors, drawn in by the group’s data-driven approach, funneled their fortunes into Future Forward’s giant pot. In the end, Future Forward’s PAC spent more than $500 million on ads — nearly 70 percent of all presidential super PAC spending from Democrats according to one count. Priorities, by contrast, spent about $2 million.

Von Future Forward kam nicht nur Werbegeldsteuerung hin zu den Plattformen, sondern auch auf die inhaltlich-strategische Ausrichtung hatten sie großen Einfluss, denn da ist eben alles „datengetrieben“.

Throughout 2024, Future Forward worked closely with the Democratic data firm Blue Rose Research, which tested thousands of ads from both parties, including ads Future Forward commissioned and ads made by other groups. Those tests found that the ads with clear economic messages about lowering the cost of living consistently proved the most persuasive to the most people. Future Forward cut its own ads from an array of ad makers in eight languages and produced different versions to appeal to different demographics. It spent heavily online, outspending Republicans in battleground states two-to-one on digital platforms. But for the most part, Future Forward’s ads stayed relentlessly on message, with 71 percent of them focused on the economy, according to a Future Forward adviser who was granted anonymity to speak with POLITICO Magazine because they didn’t have permission to go on the record.

Aber der Versuch, einer angeblich breiten Mitte in den Umfragen hinterzurennen, um sie mit halbseidenden Versprechungen zu Preisstabilität via getargeteten Ads zu catchen, vergisst Menschen zu überzeugen, Themen zu setzen und das Narrativ zu kontrollieren.

Die Trump-Campaign hat das ganz anders gemacht.

One example of this she frequently points to is the infamous “They/Them” attack ad, which Priorities tracked. It featured Harris talking in 2019 about paying for gender-affirming surgery for trans prisoners. The ad began life as a bit of opposition research, posted to the Trump War Room account on X. The post gained steam online until, in September of 2024, the Trump campaign ran it as an ad. The more pickup the ad got — in the news and on podcasts like The Breakfast Club — the more money Trump’s camp put behind it.

“That ad didn’t come from a poll telling them to talk about that clip,” Butterfield said. “They used the internet to signal to them that it was effective rather than a poll or a focus group.”

Democrats never really responded to the claims in the ads, though. Future Forward could see that the ad was effective. But according to the Future Forward adviser, the group decided that it was up to the Harris campaign itself, not an outside super PAC, to decide what kind of stand to take on the issue. According to The New York Times, the Harris campaign did craft a rebuttal ad, but it fell flat in ad tests and was shelved. And so, in another moment that Butterfield likens to the post-debate period, Democrats left one of Trump’s stickiest digs effectively unanswered.

After Trump won, one post-election poll found that, of all of the issues, from immigration to Israel, voters thought Harris had focused excessively on transgender topics. In reality, she hadn’t said much about those issues at all. It was Trump’s team doing the talking.

Es ist aber nicht nur eine falsche Strategie. Es ist eine veraltete Strategie in einer völlig veränderten Medienlandschaft.

Between 2020 and 2024, people who consumed at least three hours of YouTube a day had moved 10 points toward Trump — a bigger swing than Black voters, Black men, young voters and a slew of other categories that were dominating headlines.

“The driver of behavior in ‘24 was so much more about your media consumption,” Butterfield said.

Ich hatte das in Krasse Links No 35 so zusammengefasst:

Was die Pandemie gemacht hat, ist die Welt neu zu verdrahten. Die materielle Mediengeschichte der Pandemie kann man an vielen Daten ablesen, etwa wie das Öffentliche Leben zum Stillstand kam und sich nie wieder ganz erholte, weil Dritte Orte – Orte jenseits von Arbeit und Zuhause – ebenfalls mehr und mehr verschwunden sind.

Die Menschen sind seither einsamer, aber haben ihre Sozialität auch verstärkt ins Internet verlagert, wo sie „Influencer*innen“ folgen, eine Menge Podcasts abonniert haben, und ihre Informationen vermehrt aus Social Media beziehen. Als sie dann noch Aktien-Trading-Apps luden und Crypto kauften, richteten sich auch ihre Aufmerksamkeitskanäle auf die boomende Investment- / Cryptoinfluencer*innen-Szene aus und sie wurden empfänglich für deren Botschaften des baldigem Kollaps, usw.

Das ist nicht nur ein Shift von „Aufmerksamkeit“ und „Medienkonsum“, als wäre das sowas wie Süßigkeiten Essen. Es ist eine völlig andere Informations-Kanalisation entstanden, die sich seit der Pandemie nicht nur verfestigt hat, sondern auch pfadopportunistisch gewachsen ist.

Aber Experimente mit aggressiveren Clips von Demokratenseite zeigen, dass die Demokraten in dieser anderen Informations-Kanalisation nicht chancenlos sind.

But throughout the summer and early fall, Priorities’ data consistently found that the Epstein Files were the one political topic that continued to break through online. That led Priorities to create an ad about the shadowy powers of the billionaire class, drawing a straight line between Trump, Epstein and the Pennsylvania megadonor Jeffrey Yass who’s backing the opposition. The ad doesn’t make any claims about Yass, but it pushes the idea that money in politics corrupts. “With money and power, who knows what you can get away with,” the voiceover intones.

Like the “They/Them” ad before it, it’s a bit of a conceptual stretch, and it didn’t perform particularly well on ad tests. But amid a crowded field of ads featuring stale B-roll of judges in robes, Abbott said it’s worth leaning into a message “that’s catching people’s attention.” In the first few days the ad ran, Priorities said, it performed better on YouTube surveys than other more traditional ads about the race, and users were twice as likely to actually click through.

Wir, unsere Gespräche am Esstisch, unsere Social Media accounts, die Plattformen, die wir nutzen, Podcasts die wir nacherzählen, Newsletter, die wir weiterleiten, Bücher, die wir weiterempfehlen, die klassischen Medien, dir wir trotzdem gucken, etc. All das bildet das Netzwerk der Pfadgelegenheiten, durch das die Narrative perkulieren. Wege zu dir, Wege von dir weg, gute Wege, breite Wege, weite Wege, schnelle Wege. Wege nach oben, Wege nach unten, Wege in die eine Community oder die andere.

Wer in Zukunft medial erfolgreich sein will, muss sich obsessiv in diese Informations-Kanalisation reindenken, muss ein Orientierungswissen darin erlangen und lernen, plausible Pfade darin zu erkennen, um die richtigen Narrative in die richtigen Netzwerkzentralitäten zu speisen.

Aber vermutlich wird das nicht reichen, vor allem, wenn sich die Purge-Koalition materialisiert.

An Stelle der Demokraten würde ich das gesamte Werbegeld in den Aufbau eigener Medieninfrastrukturen investieren, um von den kommerziellen Plattformen unabhängige Kanäle aufzustellen.


Auch Isabella Weber schreibt begeistert über die Wahl von Zohran Mamdani als Bürgermeister von New York City.

Die Menschen sind so unzufrieden mit dem Status quo, dass sie alles außer Kontinuität wählen würden. Aber die Demokraten und die meisten demokratischen Parteien weltweit scheuen sich davor, echte Alternativen anzubieten. Das hat die Wähler in die Arme der extremen Rechten, ja sogar faschistischer Kräfte getrieben. Mamdani hat es sich zum Ziel gesetzt, deren Monopol auf Visionen für eine andere Zukunft zu brechen.
Mamdani konzentriert seine Kampagne darauf, das Leben wieder bezahlbar zu machen – und bietet damit Hoffnung. Er zeigt, dass demokratische Vertreter für die grundlegendsten materiellen Interessen ihrer Wähler eintreten können. Damit stellt er das Versprechen der Demokratie wieder her. Angesichts des weltweiten Vormarsches faschistischer Bewegungen bietet seine Kampagne etwas, das dringend benötigt wird: den Beginn eines antifaschistischen Wirtschaftsprogramms, mit dem Menschen zurückgewonnen werden können, die den Glauben an die Demokratie selbst verloren haben.

Mamdanis Antwort ist bestechend einfach: Sicherstellen, dass sich alle New Yorker das Nötigste leisten können. Ein Mietpreisstopp für stabilisierte Wohnungen in Verbindung mit dem Bau von 200.000 neuen erschwinglichen Wohnungen. Kostenlose Busfahrten. Universelle Kinderbetreuung im Alter von sechs Wochen bis fünf Jahre. Pilotprogramme für städtische Lebensmittelgeschäfte in Lebensmittelwüsten. Höhere Steuern für Millionäre und Unternehmen, um all das zu finanzieren.

Was Weber hier sagt, ist nicht nur ihre Meinung, das ist auch Ergebnis ihrer Forschung.

Neue Untersuchungen, die ich zusammen mit Kollegen durchgeführt habe, zeigen, welche Preise für die Ungleichheit am wichtigsten sind. Wir haben festgestellt, dass eine kleine Gruppe von wesentlichen Sektoren – Energie, Lebensmittel und Landwirtschaft, Gesundheitswesen, Chemie, Wohnen und Großhandel – eine überproportionale Fähigkeit hat, bei Preisanstiegen Umverteilungen auszulösen.

Je ärmer man ist, desto mehr gibt man für Grundbedürfnisse aus. Wenn die Preise für lebenswichtige Güter steigen, sind die Auswirkungen der Inflation auf das unterste Einkommensdezil viel größer als auf das oberste Dezil. Ein Ölpreisschock trifft die ärmsten Amerikaner mit einem um 54 Prozent höheren Inflationsanstieg als die reichsten zehn Prozent. Bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Lebensmitteln ist die Kluft mit 126 Prozent noch größer.

Diese Primärsektoren sind aber eben auch genau die Orte, wo man eine gerechte Preisstabilisierungspolitik ansetzen muss. Das hat Mamdani verstanden.

Die Gewährleistung erschwinglicher Preise für lebensnotwendige Güter, wie Mamdani verspricht, bekämpft Ungleichheit, ohne eine Gruppe gegen eine andere auszuspielen. Es gibt keinen Konflikt zwischen Arbeitslosen und Niedriglohnarbeitern, Menschen in Arbeiterberufen und unterbezahlten Fachkräften, verschiedenen ethnischen oder religiösen Gemeinschaften. Öffentliche Dienstleistungen wie kostenlose Busse und Kinderbetreuung sind für alle zugänglich. Das Konzept basiert auf Universalität statt Ausgrenzung – eine Wirtschaftsagenda, die Menschen vereint, anstatt sie in konkurrierende Gruppen zu spalten.

Öffentliche Optionen für lebensnotwendige Güter sind eine Form der Preisstabilisierung, von der alle profitieren, nicht nur die direkten Nutzer. Unsere Untersuchungen zeigen erhebliche Überschneidungen zwischen den Sektoren, die für Inflation und Ungleichheit am wichtigsten sind. Maßnahmen zur Verhinderung von Preisschocks in wichtigen Sektoren erfüllen eine doppelte Aufgabe: Sie begrenzen Inflationsrisiken und verhindern gleichzeitig einen plötzlichen Anstieg der Ungleichheit. Dies steht in direktem Gegensatz zur konventionellen Geldpolitik – der Anhebung der Zinssätze –, die die Ungleichheit durch höhere Schuldenkosten für die Armen und ein gedämpftes Lohnwachstum aktiv verschärft.

Genau deswegen halte ich es für so wichtig, sich Wirtschaft als Abhängigkeitsnetzwerk vorzustellen. Produkte, Services oder Ressourcen haben keinen Wert ansich, durch sie fließt Wert/Nutzen. „Nutzen“ empfinden wir in dem kurzen Moment, bei dem aus einer Sache, in Kombination unseres infrastrukturellen Kontextes und aus unserer jeweiligen Perspektive eine „Pfadgelegenheit“ entsteht.

Ich „will“ nicht diesen Schraubenzieher, ich will, dass die Spühlmaschine wieder läuft, damit ich meinen Abwasch machen kann, damit ich morgen aus dem Haus kann, ohne mir Gedanken zu machen, um dann auf die Arbeit zu fahren, um Geld zu verdienen, um mir einen Schraubenzieher kaufen zu können.

„Wert“ ist ganz grob gesprochen die Summe des erwarteten Nutzens einer Sache für jemandem in seinem spezifischen materiellen Kontext und seinem spezfischen semantischen Kontext – mit seinem spezifischen Wissen, seiner spezifischen kulturellen Prägung, seinen spezifischen Plänen, etc. Auf das Dividuum runtergebrochen ist es also eine Aggregation über alle von der Sache erwarteten Pfadgelegenheiten hinweg, geteilt durch die Pfadalternativen + 1. Das rechnet man natürlich nicht im Kopf aus, sondern imaginiert es, bis man es durch den Schmerz ihres Fehlens erfährt.


(Wir kennen die Formel bereits als unvollendete Plattformmachtformel und ich denke, sie passt ganz prima auf den „Wert“ von Dingen. Wert ist die Macht, die eine Sache über uns hat.)

Die Sache und damit ein Großteil des „Wert/Nutzen“ entsteht in einem anderen Netzwerk, den Pfad der Produktion, und dort über die gesamten dafür notwendigen Infrastrukturen hinweg, die den Schraubenzieher möglich und in der konkreten Situation nützlich machen und das inkludiert die lockere Schraube in der Spülmaschine, den Baumarkt, wo ich den Schraubenzieher gekauft habe, aber auch den Hersteller, den Zulieferer und deren Arbeiter*innen und deren Familienmitglieder, die den Haushalt schmeißen, ihre Wohnungen und ihren Warenkorb zum sattwerden, das Land, auf dem die Fabrik steht und das Land aus dem die nötigen Bodenschätze kommen und natürlich das Ökosystem, in dem all das eingebettet ist.

Aber dieses Netzwerk ist hierarchisch. Netzwerkknoten die weit unten liegen und sich schwer ersetzen lassen, haben einen überproportionalen Effekt auf alle nachgelagerten Pfadgelegenheiten. Wenn Energie teurer wird, ist die Übergangswahrscheinlichkeit auf andere Sektoren groß, denn Wohnen, die Produktion von Lebensmitteln und den ganze Rest der Pfadgelegenheiten ist stark von Energieflüssen abhängig. Dasselbe gilt etwas abgeschwächt für Lebensmittel und Wohnen. Werden die Grundbedürfnisse der Menschen teurer wird ihre Arbeit teurer, oder – wie es eigentlich läuft: Arbeiter*innen werden ärmer.

Ich habe dazu mit ChatGPT mal wieder ein Markowmodell gebaut, dass die wechselseitigen Anfälligkeiten der Sektoren für Schockweitergabe verdeutlicht: Es gibt vier Sektoren: Energie, Lebensmittel, Wohnen und Restwirtschaft deren Schocks man per Button auslösen kann (Erst Play drücken).

Die Schocks verbreiten sich dann entlang der abgebildeten Transitionsmatrix auf die anderen Sektoren und kühlen sich nach einiger Zeit wieder ab. Man kann das natürlich viel detaillierter und ausgefeilter konstruieren und gemessene Übergangswahrscheinlichkeiten einsetzen, wenn man die findet.


Das Paper, auf das Weber verweist ist ebenfalls interessant, Price Shocks are Redistribution Shocks.

Using the pre-pandemic sectoral price volatility and the price changes from early 2022 as the price shocks for our simulations, we show that a small set of sectors in energy, food and agriculture, healthcare, chemicals and, to a lesser extent, wholesale trade and housing, have a disproportionate capacity to increase inequality when their prices rise. […]

We have three main findings. First, we identify a small set of essential sectors—particularly in energy (e.g., Petroleum and coal products), agriculture and food (e.g., Farms, Food and beverage products), and healthcare (e.g., Hospitals, Ambulatory care services) but also in less obvious sectors like Chemical products and to a slightly lesser extent in Housing and Wholesale trade —as the most critical points of vulnerability that can exacerbate inequality. Second, we find that there is a large overlap between the sectors that are systemically significant for inflation and those that we identify as systemically significant for inequality. Third, we show that one simultaneous shock to all systemically significant sectors in 2022 has a direct effect on inequality equivalent to nearly one year of the average annual Gini increase during the neoliberal era (1980–2021).

Sie nennen das „pathways to systemic significance for inequality“ und formalisieren das so:

These specifications allow us to define what we call the pathways to systemic significance for inequality. That is, the potential of a sector to increase income inequality depends positively on:

  • (1) The extent to which it is more important for the personal consumption of the poor than for the rich (direct channel).
  • (2) The extent to which it is used more intensively as an input by goods that are relatively more important for the consumption of the poor than for the rich (indirect channel).
  • (3) The magnitude of its price change, which in turn affects the magnitude of the inflation impact for each income group.

Auch Isabella Weber hat gelernt in Pfaden zu denken. Und das gilt auch für das, was sie „Übergewinne“ nennt.

There is one more reason why such a sectoral approach has the potential to prevent an increase in inequality: price spikes in systemically significant sectors for inflation can coordinate firms to hike prices across the economy in a process known as sellers’ inflation, which increases corporate profits and hence results in a functional redistribution of income from labor to capital (Weber et al., 2025; Weber & Wasner, 2023).

In previous work we devised an input-output simulation method to identify systemically significant sectors for inflation (Weber et al., 2024a; Weber et al., 2024b). We find that for the US, eight sectors have by far the greatest potential to trigger inflation when prices spike. These sectors are Petroleum and coal products, Oil and gas extraction, Utilities, Chemical products, Farms, Food and beverage and tobacco products, Housing and Wholesale trade. These are sectors that provide essentials for human livelihoods, essential inputs for production and essential infrastructure for the circulation of goods.

Wer im Nutzenpfad einer Sache Geld verdient, entscheidet nicht, wer den Wert konkret herstellt, sondern wer die netzwerkzentraleste Position im Abhängigkeitsnetzwerk seiner Herstellung und Vermarktung hat. (Ich bin immer noch nicht sicher, welches Maß an Netzwerkzentralität hier genau entscheidend ist. Seit ich alles konsequent in Pfaden zu denken versuche, tendiere ich zu einer Mischung aus Katz- und Current-Flow-Beweenness-Zentralität? Aber da würd ich gern mal mit nem richtigen Mathematiker drüber quatschen?)

Laufen viele Abhängigkeitlinien über deine Infrastruktur und gibt es im besten Fall auch nur wenige oder schlechtere alternative Pfade, kannst du es dir erlauben, Margen auf Kosten der anderen Netzwerkteilnehmer zu extrahieren. Von den Arbeiter*innen, klar, das hat Marx analysiert und weil Arbeiter*innen die am wenigsten netzwerkzentralen Einheiten im Nutzenfluss des Produktionspfads sind, d.h. am austauschbarsten sind, pressen die Oligarchen hier den Großteil ihrer Marge. Aber eben nicht nur? Wenn es die Abhängigkeiten hergeben, kommt die Marge eben auch auf Kosten von Zulieferern, Kund*innen, der eigenen Gesundheit, der Ökologie und über was man auch immer glaubt, genügend Macht zu besitzen.

Wir kennen diese Mechanismen vom „Monopol“ und mittlerweile hat man festgestellt, dass es auch ein Käufermonopol geben kann, aber „Monopsony“ und Monopol sind nur die unterdimensionalen Beschreibungen von Extremversionen dessen, wie der Kapitalismus funktioniert. Alle Akteure ringen miteinander um Netzwerkzentralität, denn wer Netzwerkzentralität hat, kassiert von den anderen Margen. Das heißt: Je mehr Wettbewerber, desto geringer die Macht der Unternehmen, desto kleiner die Margen. Auch abseits des Monopols lohnt es sich, Macht zu begrenzen.

Mit den Metaphern des „Marktes“ wurde die Macht in der Wirtschaft über Jahrzehnte verschleiert. „Der Markt“ sind drei Oligarchen im Trenchcoat, die zwar untereinander um ein bisschen um Einfluss konkurrieren, aber gemeinsam die „Choice Architecture“ aus Pfadgelegenheiten bereitstellen, die wir „Konsumfreiheit“ nennen und in der wir uns „frei“ bewegen dürfen – sofern wir es uns leisten können.

Der Preis, da hat die Neoklassik recht, ist der Ort, an dem sich der Pfad der Konsumption und der Pfad der Produktion/Vermarktung treffen, aber anders, als sie es sich denken.

Geld ist aus Usersicht eine universelle Pfadgelegenheit, eine art Joker-Pfadgelegenheit, die man in eine Vielzahl anderer Pfadgelegenheiten verwandeln kann. Und weil die meisten von uns zu Geld kommen, indem sie arbeiten, ist der Kapitalismus eine „Schmerzarchitektur„: Man geht so seiner Pfade und misst dabei den Wert der Pfadgelegenheiten aus dem Sortiment der einen Oligarchen am Schmerz ihres Fehlens und vergleicht ihn mit dem Schmerz, den es kostet, sich das Geld dafür bei einem anderen Oligarchen zu verdienen.

Weil nützliche Pfadgelegenheiten erst erwartet und dann zur Pfadabhängigkeit, bzw. Infrastruktur werden, besteht die Macht der Unternehmen gegenüber uns Konsument*innen in dem Potential, uns Schmerzen zuzufügen (planned Obsolescence, Preiserhöhung, Werbung, Shrinkflation, Enshittification, oder Beendung der Demokratie), ohne, dass wir das Abhängigkeitsverhältnis beenden.

Wenn Macht Netzwerkzentralität im Abhängigkeitsnetzwerk ist, dann bedeutet das aus Unternehmersicht, dass die Übergangswahrscheinlichkeit hoch ist, dass der Nutzenfluss durch die eigenen Infrastrukturen fließt. Supply-Schocks sind dann Ereignisse, die die Netzwerke verengen und damit die Macht einiger der Unternehmen erhöhen und ein Teil dieses Machtzuwachses setzen sie in steigende Preise, also in Margen auf Kosten der Konsument*innen, also in Übergewinnen um.

Man kann sich das Netz der Pfadgelegenheiten als eine riesige, komplexe, multidimensionale Landschaft mit Tälern und Schluchten vorstellen, die die wahrscheinlichen Pfade vorzeichnen, durch den der Nutzen entlang der infrastrukturellen Übergangswahrscheinlichkeiten pfadopportunistisch fließt und an dessen Engstellen sich Macht konzentriert und wo die Oligarchen ihre Schmerzkraftwerke betreiben.

Wenn wir den Oligarchen die Macht nehmen wollen, müssen wir ihnen ihre Netzwerkzentralität nehmen und das geht am besten, da hat Weber recht, indem wir die Pfadgelegenheiten aller Menschen erhöhen, durch Investition in möglichst freie und öffentliche Infrastrukturen und mit intelligenten Preiskontrollen bei pfadentscheidenden Primär-Gütern. Je mehr und bessere Alternativpfade angeboten werden, desto höher ist die Übergangswahrscheinlichkeit, dass die Menschen Oligarchmacht bypassen, was ihre Margenspielräume kollabieren lässt.

Ich nenne das die politische Ökonomie der Pfadgelegenheiten, oder auch: Kapitalismus aus Userperspektive. Aber ich bin auch mit Isabella Webers Begriff fine: antifaschistische Wirtschaftspolitik.

Einreichung Platformpower 39c3

Mein Vortrag für den wurde wieder mal abgelehnt, aber diesmal sticht es etwas härter, weil ich wirklich fühle, etwas wichtiges zu sagen zu haben, weswegen ich mir diesmal extra Mühe gegeben habe, einen verständlichen straight forward Talk einzureichen. Schade.

Controllable Standards. An Introduction to the Political Economy of Platform Power

China’s strategic interest in Taiwan, the Trump-TikTok negotiations, the drone warfare in Ukraine, Jimmy Kimmel’s dismissal, the race toward artificial general intelligence, Nvidia’s global datacenter expansion, the rise of the „Broligarchy“, cryptocurrency dynamics, Elon Musk’s transformation of Twitter into a geopolitical instrument, and his calculated development of the Starlink satellite constellation — these seemingly disparate phenomena share a common thread: our contemporary world is governed by platform power.

Unfortunately, we are semantically ill-equipped for this new reality. Our analytical vocabulary remains inadequate; our conceptual frameworks — whether invoking „market concentration,“ „techno-feudalism,“ or „surveillance capitalism“ — fail to capture what’s actually happening, leaving us functionally blind to the mechanisms shaping our political and economic landscape.

I spent the last fifteen years developing a framework to better understand and articulate platform power, culminating in my dissertation „The Power of Platforms: Politics in the Age of Internet Giants.“ This work conceptualizes platform power as a distinct force that emerges from and operates through our interconnections — a force that Silicon Valley has progressively learned to harness and leverage for profit and, increasingly, for political ends.

Since the book’s publication, the implications have intensified exponentially. Platform power now aggressively threatens democracy world wide in tangible, immediate ways. The imperative to comprehend platform power has evolved from academic interest to existential necessity.

But to grasp the nature of platform power — its mechanisms, its strategies, its implications, its potential for violence — we must first revolutionize how we talk about economics and how we think about our place in the world.

Krasse Links No 72

Willkommen zu Krasse Links No 72. Haltet eure Zivilgesellschaften fest, heute beschämen wir den Imperialist Boomerang mit der Moral Infrastructure des Tech-Faschismus.


Die CDU fordert im Windschatten ihrer rassistischen Stadtbild-Entgleisung mehr Überwachung und Gesichtserkennung im öffentlichen Raum.

Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Alexander Throm, geht nach der vielfach kritisierten Stadtbild-Äußerung von Kanzler Friedrich Merz noch einen Schritt weiter. Im Handelsblatt forderte er den Einsatz von Videoüberwachung mit Gesichtserkennung, um Städte sicherer zu machen. Er sagte, Videoüberwachung „mit automatisierter Datenauslesung“ sei vielerorts notwendig, um Straftaten besser zu verhindern und aufzuklären. Außerhalb von Bahnhöfen seien aber die Bundesländer dafür zuständig. Er forderte, Datenschützer müssten „ihre überkommenen Bedenken“ gegen den Einsatz KI-gestützter Technik aufgeben.


Anselm Mathieu in der taz über die regelmäßig außer Kontrolle geratene Polizeigewalt bei Gaza-Protesten.

In einem Video, das im Oktober aufgenommen wurde, kann man dabei zusehen, wie ein junger Polizist mit weit aufgerissenen Augen und weiten Pupillen einen Vater mit Kleinkind im Arm in Richtung einer Hausfassade drängt. Der Vater ist perplex und beteuert, er habe einfach nur an der Demo vorbeilaufen wollen.

Was der Mann getan haben könnte, ist nicht ersichtlich. Das Kind trägt eine schwarz-weiß gemusterte Jacke, die könnte von einem übereifrigen Polizeibeamten vielleicht auch mit einer Kufiya verwechselt werden. Und die wird schließlich getragen, um Palästina-Solidarität ausdrücken. Reicht das inzwischen womöglich aus, um von Po­li­zis­t*in­nen als Ge­fähr­de­r*in eingestuft und gewaltsam festgenommen zu werden?

Der Mann wird jedenfalls dazu gezwungen, sein schreiendes, verängstigtes Kind aus der Hand zu geben. Dann drücken einige Polizisten den Mann flach auf den Boden und wechseln sich dabei ab, gründlich auf den wehrlosen Vater einzuschlagen – im Hintergrund ist sein schreiendes Kind zu hören, das diesen Moment miterleben muss.

Ich war in meinem Leben bereits auf etlichen Demonstrationen und seit 2024 immer mal wieder auch auf Gaza-Demos und eine derartige Polizeigewalt wie dort, habe ich noch nicht erlebt. Die Polizei weiß genau, dass der weiße Mitte-Konsens in der Gesellschaft diese Menschen sowieso als „irgendwie antisemitisch“ und im Zweifel gefährlichen Fremdkörper im Land sieht und es deswegen mit den Grund- und Menschenrechten nicht so genau nimmt. Bei Gaza-Protesten, das hat die Polizei verstanden, hat sie einen Freifahrtsschein.


Der Soziologe Julian Go hielt einen spannenden Vortrag über die „Geschichte der Militarisierung der Polizei“ in westlichen Ländern und kommt dabei – nicht als erster – darauf, dass es sich dabei in Wirklichkeit um Boomerang-Effekte aus Kolonialprojekten handelt.

Auf einer seiner Folien steht:

Police imports the tools, taktics, techniques and forms of colonialism to rule, regulate, repress domestic populations.

„boomerang effect“

Der „Imperialist Boomerang“, also den Re-Import von Polizeitechniken aus der Kolonialunterdrückung passiert dabei jeweils über den Trasmissionsriemen der „Racialization“. Die neuen Polizei-Methoden werden beim Re-Import immer zuerst gegen rassifizierte Teile der Bevölkerung eingesetzt. Beginnend in England gegen die wachsende Zahl an Iren im Land, gegen Schwarze in den USA in direkter Tradition der Slave Patrols, aber das Muster setzt sich bis in die moderne Polizei fort.

The civil police adopt militaristic colonial modes of coercion on citizens and treat those citizens like colonial subjects because police see citizens and immigrants as colonial subjects. And the primary modality for this categorical transformation, the key social code by which this miraculous subsubstantiation of citizens into subjects occurs is racialization.

Just as white colonial settler populations constructed colonized peoples as inherently violent and criminal due to their racial status, thereby warranting militarized policing in the colonies. So too do white publics and officials in America’s cities today and in Britain, call for and justify militarized policing of black and brown populations, many of whom are immigrants, based upon racialized assumptions of the latter’s putitatively criminal and violent tendencies.

Die überboardende Polizeigewalt gegen Pro-Palästinensische Demos steht seiner Ansicht nach also in einer langen Tradition.

And so too, do white publics and officials justify militarized policing on black and brown students and their allies based upon ethnoracial assumptions of the latter’s supposed proclivities towards anti-semitism and violent terrorism.


Eine Studie der Uni-Marburg hat eine systemische Erhebung zu den Einstellungen innerhalb der Pro-Palästinenischen Demos veröffentlicht.

Die Teilnehmenden waren überwiegend jung, hoch gebildet und politisch links verortet. Ihr Protest war deutlich bürgerlich-zivilgesellschaftlich geprägt und konzentrierte sich auf gewaltfreie, legale und kommunikative Ausdrucksformen. Auffällig war eine differenzierte politische Haltung: Während eine klare Unterstützung für die Anerkennung eines palästinensischen Staates bestand, wurde gleichzeitig ein besonderer Schutz jüdischen Lebens in Deutschland befürwortet. Viele der Befragten berichteten zudem von Erfahrungen mit Ausgrenzung, Überwachung oder staatlicher Repression.


Henry Farrel schreibt interessant über die „Zivilgesellschaft„. Er geht verschiedene Sichtweisen auf die Zivielgesellschaft durch, etwa die von Gramcsi, der sie gewissermaßen als Battleground des Kampfes um kulturelle Hegemonie sah und von dem ausgerechnet Steve Bannon und Curtis Yarvin und andere gelernt haben. Und dann eben die liberale Tadition seit Humes, der in der Zivilgesellschaft eine Form der Befriedung der Gesellschaft durch die neuartige „Freiheit von Assoziation“ sieht. Diese Betrachtungen wurden durch den Schmerz der Glaubenskriege am Anfang der Neuzeit erworben, als Assoziation (speziell religiöse) identitär so fest verankert war, dass man sich deswegen gegenseitig umbringen musste. Farrel zitiert Ernest Gellner:

Modular man is capable of combining into effective associations and institutions, without these being total, many-stranded, underwritten by ritual and made stable through being linked to a whole inside set of relationships, all of these being tied in with each other and so immobilized. He can combine into specific-purpose, ad hoc, limited association, without binding himself by some blood ritual. He can leave an association when he comes to disagree with its policy, without being open to an accusation of treason. A market society operates not only with changing prices, but also with changing alignments and opinions: there is neither a just price nor a righteous categorization of men,, everything can and should change, without in any way violating the moral order. …

It is this which makes Civil Society: the forging of links which are effective even though they are flexible, specific, instrumental.

„modular man“ ist eine Pfadgelegenheit, die der Subjektentwurf des Individuums ermöglichte: Zur Etablierung einer modularen „Identität“, die nicht mehr fest verankert, sondern erwerb- und wechselbar ist, ist es hilfreich, sich als unabhängigen und „freien Geist“ zu entwerfen. Aber weil wir in Wirklichkeit keine Individuen sind, die sich einfach „selbst erfinden“, sondern Dividuen, die sich immer nur mit Versatzstücken anderer Leute Geschichten erzählen können, haben Identitäten, wie andere Semantiken, Netzwerkeffekte. Und so hat sich ein über die Zeit Prozess in Gang gesetzt, in dem nach und nach ein ganzer Garten aus identitären Pfadgelegenheiten entstand, alle mehr oder minder frei assoziiert, parallel betreibbar und ständig im gegenseitigen Klinsch. Die Zivilgesellschaft ist gleichzeitig ein Ergebnis und die Voraussetzung eines plausiblen „Modular Man“.

Aber die Zivilgesellschaft ist deswegen auch ein Gegenpol zur staatlichen Gewalt und damit Voraussetzung für Demokratie. Nur in der Vielfalt der Assoziationsmöglichkeiten und durch das „Sich-In-Check“-Halten dieser unterschiedlichen Identitätsangebote und ihren unterliegenden Ideologien, religiösen Strömungen, und wirtschaftlichen Dezentralitäten kann der Leviathan, der Staat und sein Gewaltmonopol, effektiv eingehegt werden und Demokratie ermöglichen. Wieder Gellner:

Civil Society is a cluster of institutions and associations strong enough to prevent tyranny, but which are, none the less, entered and left freely, rather than imposed by birth or sustained by awesome ritual. You can join (say) the Labour Party without slaughtering a sheep, in fact you would hardly be allowed to do such a thing, and you can leave it without incurring the death penalty for apostasy.

Ich finde diese Schilderung plausiblel, aber das heißt ja nicht, dass Gramscis Lesart der „Zivilgesellschaft“ falsch ist? Schließlich identifiziert Gramsci genauso wie Gellner die Zivilgesellschaft als entscheidenden systemstabilisierenden Faktor. Der gesellschaftliche Frieden, den die Liberalen feiern, ist – aus Sicht der Kommunisten – ein Frieden, der auf Ungerechtigkeit gebaut ist. Die Aufgabe der zivilgesellschaftlichen „Hegemonieapparate“ (Gramsci) ist auch die Verhinderung einer schlagfertigen Opposition gegen das System.

Die Zivilgesellschaft ist beides: Eine pluralistische Gegenmacht zum Gewaltmonopol des Staates und gleichzeitig eine Hegemoniearchitektur, die in einer „Teile und Herrsche“-Logik revolutionäre Strömungen marginalisiert und einhegt. Es sind einfach zwei Perspektiven auf denselben Gegenstand.

Doch dafür braucht es einen assoziationsübergreifenden kleinsten, gemeinsamen Nenner zwischen den (meisten) zivilgesellschaftlichen Akteuren: eine kulturelle Hegemonie in gewissen Fragen. Die modernen Gesellschaften wurden lange werden – so muss man wohl zugeben – nach wie vor durch die kulturelle Hegemonie eines „white supremacy“, patriarchal-heteronormativen und Pro-Kapitalistischen Konsens zusammengehalten.

Wir in der liberalen Tradition dachten bisher eigentlich, dass wir diesen Konsens die letzten 100 Jahre durchaus weiterentwickelt haben. Dass also zum Beispiel jetzt auch zum Konsens ein – zumindest verbalisiertes – Bekenntnis zu Demokratie, Menschenrechte, Antirassimus, Offenheit gegenüber anderen sexuellen Lebensentwürfen, ein minimales ökologisches Bewusstsein, etc gehört, der den alten Katalog zwar nicht verdrängt, aber doch … ergänzt hat?

Es hat sich gezeigt: Das System lässt sich nicht reformieren. Die korrupten Pfadabhängigkeiten sind zu stark und schlagen jetzt in Gestalt des Faschismus zurück.

Die Strategie der Rechten ist deswegen zweigeteilt: Zum Einen materialisiert sich Bannons und Yarvins Plädoyer für eine rechte Gegenhegemonie in der kapitalistischen Graphnahme der Öffentlichkeit in Form von Medieninfrastrukturen (Twitter, CBS, Tiktok). Gleichzeitig arbeiten Trump und seine Freunde von der Heritage Foundation an der direkten Schwächung netzwerkzentraler Hegemonieapparate: Universitäten, NGOs, Öffentliche Gelder, große Anwaltskanzleien und den übriggebliebenen Teil der „liberalen“ Medien.


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Michael Seemann
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Die Kontroverse um Ezra Kleines Parteinahme für den Faschismus hört nicht auf, spannende Texte zu produzieren. Hier antwortet Eric Reinhart auf Olúfẹ́mi O. Táíwò, der wiederum auf Ezra Klein antwortete und diesmal geht es um die Rolle der Scham in der Gesellschaft.

Aber von vorn: wie erinnern uns: In dem Monolog vor seinem Interview mit Ben Shapiro sagte Klein:

I have watched many on both sides entertain the illusion that there would be, either through the power of social shame and cultural pressure or the force the state could bring to bear on those it seeks to silence. It won’t work. It can’t work. It would not be better if it did. That would not be a free country.

Der Philosoph Olúfẹ́mi Táíwò entgegnete Klein:

The challenge for Klein and his fellow travelers is to specify what sort of ground rules could make life livable and social situations manageable for such a wide array of people whose values, commitments, and interests differ so sharply—that is, on terms other than various sorts of segregation or the most naked forms of domination and subjugation—if not precisely “social shame and cultural pressure,” now contemptuously referred to as “political correctness” or “wokeness.” We might more accurately call it exactly the “civility” that centrists like Klein otherwise pretend to champion, even while they seek to hollow out even this meager social protection of its efficacy. These codes of neighborliness or of common decency are, in other words, the bare minimum for us to exist peacefully as profoundly different people who nevertheless share the same time and place.

Scham, und die Möglichkeit sich gegenseitig zu beschämen, so Táíwò, sei die Grundlage jedes friedlichen und demokratischen Zusammenlebens.

Eric Reinhart wiederum antwortet auf Táíwò und stimmt ihm zu, was die Rolle von Scham in der Gesellschaft angeht, weist aber darauf hin, dass das System halt einfach nicht mehr funktioniert und das liegt daran, dass die Pfadabhängigkeiten von Scham nicht mehr einfach so gegeben sind.

It depends on cultural and psychic structures that make it meaningful — shared symbolic coordinates, common moral horizons, and broadly accepted authorities that can confer legitimacy on judgments of behavior. In earlier periods of liberal modernity, those structures, however contested, still exerted a stabilizing force. But today, the sturdy ground that once formed shame’s foundation has collapsed.

Mit Lacan verfolgt Reinhart diese notwendigen Pfadabhängigkeiten der sozialen Rolle der Scham auf das Symbolische zurück – zum „Namen des Vaters“.

Psychoanalytic theory helps illuminate what’s changed. In the French psychoanalyst Jacques Lacan’s account, shame arises at the intersection of two registers of psychic and social life. On the one hand, it is rooted in what Lacan calls the imaginary: the experience of seeing oneself exposed before the gaze of the Other, of recognizing one’s own insufficiency or failure. This is the affective, narcissistic dimension of shame — what happens in the psyche when the mirror cracks, when the ego or image one maintains of oneself proves to be a lie. But for shame to take hold socially, to shape collective behavior, it must be mediated by the symbolic: the shared network of language, law, and authority that tells us what counts as right or wrong, honorable or shameful. The feeling of shame originates in the imaginary, but its binding force in a society depends upon the symbolic that mediates its significance.

For much of the modern era, this symbolic mediation was anchored by what Lacan called the “Name-of-the-Father.” This is not the literal father, but the fantasy of a paternal authority that stabilizes meaning and guarantees the law. This paternal function structured the symbolic order by defining what was real, true, and legitimate. It was reinforced by institutions like the state, the church, the university, the press, and the family. Shame worked because there was a shared, if hierarchical, moral universe in which judgments had weight.

Doch diese gemeinsame Grundlage des Symbolischen erodiert seit Jahrzehnten systematisch und größtenteils gewollt, aber wurde auch nie ernsthaft durch eine andere „moralische Infrastruktur“ ersetzt.

But that world has been unraveling for decades. Neoliberal political and economic transformations hollowed out the institutions that sustained our capacity to rely upon and trust in the paternal order. Unions were crushed, social welfare, upon which the state’s sometimes function as a benevolent father-like figure depended, was gutted, knowledge-producing institutions were privatized or undermined, and public life was financialized and increasingly left to the wolves of the market rather than the protective paternalism of planners, regulators, or elected representatives. Amid these shifts, cultural authority fragmented, truth became increasingly contested, and the paternal function could no longer be sustained — now too transparently a fantasy to exercise its traditional cultural force.

In this environment, shame has lost its footing. Táíwò is right that shame once provided a kind of moral infrastructure. But that infrastructure no longer exists. The idea that we can revive shame as a stabilizing political force assumes we are still living in a neurotic society—one governed by shared prohibitions, pervasive anxieties around transgressing them, and a coherent symbolic order. In fact, we inhabit a fragmented, post-paternal landscape in which shame circulates as free-floating humiliation or weaponized cruelty rather than as a mechanism of moral regulation. Social media platforms are engines of shame, but not of shared ethical life.

Es ist dabei wichtig zu verstehen, dass es auch gute Gründe gab, den Namen des Vaters und seine Formen der Beschämung zu bekämpfen.

It’s important, though, not to romanticize the world that came before. The paternal symbolic order was never simply benevolent. It sustained patriarchal norms that pathologized difference and targeted it for violence. Shame, even when it “worked,” often did so by cultivating hostility toward those who deviated from dominant norms — queer and disabled people, racialized minorities, dissidents—rather than by fostering a universal commitment to protecting a right to individual difference and cultivating collective support for this. Liberal ideals of civility and rational discourse similarly masked the violences that structured the social order: colonial exploitation, racial terror, gendered domination. One of the big reasons that the moral glue that held society together was so adhesive was that it so often excluded others.

Hier steckt eine wichtige Erkenntnis, die Liberale von Linken trennt: Auch ungerechte Standards haben, wenn sie hegemonial sind, enormen Koordinationsnutzen, der damit einen ganzen Strauß pfadabhängiger Infrastrukturen ermöglicht. Im Zweifel ganze Zivilisationen. Mir fällt dabei die Stelle in Kunderas „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ ein:

„Aber das gebrechliche Gerüst ihrer Liebe bräche gänzlich zusammen, weil dieses Bauwerk nur auf der einzigen Säule ihrer Treue ruhte und Liebesgeschichten Imperien gleichen: wenn der Gedanke, auf dem sie gebaut sind, untergeht, so gehen sie mit ihm unter.“

Trump ist alles andere als die „Wiederkehr des Namen des Vaters“, sondern eine Art Slop-Version davon. Wie der T1000 in Terminator II in den flüssigen Stahl fällt und kurz vor seinem Ende nochmal alle Formen annimmt, die er im Laufe seiner Reise imitiert hat, so produziert der Westen sich selbst in seinem Untergang nochmal als Freakversion. Was wir heute sehen ist die schmutzige Unterwäsche des Namens des Vaters. Die komplett unverhüllten dreckigen Ecken des westlichen Unterbewusstseins als ungeniert korrupte, rassistische, sexistische und kolonialistisch-imperialistische Clownsshow.

Trump doesn’t stabilize meaning; he floods the zone with nonsense, weaponizes overwhelming and untethered affect by channeling it into cruelty and violence, and turns politics into a spectacular theater of the imaginary. His power grows not by reinstating symbolic order but by further dismantling it, leaving opponents flailing as they attempt to deploy tools—fact-checking, rational debate, appeals to civility, anachronistic insistence that noxious political actors should be ashamed of themselves—that depend on symbolic conditions that no longer hold.

You cannot shame people who no longer recognize the legitimacy of shared norms. You cannot debate authoritarians into submission when language itself is treated as a game without stakes. You cannot appeal to civility when the entire political project of the far right is to revel in transgression and humiliation. These are not exceptions or pathologies at the margins; they are central features of our present.

Deswegen denke ich, dass das mit der rechten kulturellen Hegemonie nicht auf Dauer klappen kann, denn Hegemonie erreicht man nur durch ein Mindestmaß an Berechenbarkeit. Wenn eine Zivilgesellschaft auf deine Standards aufbauen soll, müssen sie erwartbar sein. Es gibt bei den Faschisten derzeit keinen Willen, eine neue symbolische Ordnung zu verankern, stattdessen wollen sie die symbolische Ordnung der anderen direkt kontrollieren und/oder zerstören.


Elon Musk hat einen Fork der Wikipedia veröffentlicht, den er mit allerlei Lügen und transfeindlichen, rassistischen und unwissenschaftlichen Quatsch vollgepumpt hat.

Unlike the Wikipedia entry for Chelsea Manning, the whistleblower and former US Army intelligence analyst who shared secret intelligence with WikiLeaks in 2010, the Grokipedia entry on her life deadnames and misgenders her at length.

As spotted on Bluesky, Grokipedia’s entry on Race and intelligence claims that science shows some races are more intelligent than others — and even lists the so-called IQ scores of different races. Wikipedia’s entry by the same name, meanwhile, points out that differences in IQ scores can’t be explained by genetics. (Grokipedia writes that “the extent to which genetics contribute to between-group differences remains contentious.”) The policy section of the Grokipedia entry also cites the pseudoscientific journal Mankind Quarterly, known for publishing “race science” and having ties to white nationalism.

While Wikipedia calls the January 6th attack on the US Capitol an “attempted self-coup,” Grokipedia’s language about “widespread claims of voting irregularities” seemingly justifies the riot by President Donald Trump supporters, and downplays the violence by saying that “most” insurrectionists “carried no firearms and the incursion was cleared within hours.” Wikipedia readers will learn, instead, that Congress itself found the riot to be an unsuccessful, but purposeful, part of Trump’s plan to overturn the election.

Wikipedia describes George Floyd as a Black man who was murdered by a white police officer in an event that set off a wave of nationwide protests against police brutality and racism. On Grokipedia, Floyd is best known for his criminal record, starting with a sentence that is difficult to read as anything other than intentionally racist: “George Perry Floyd Jr. (October 14, 1973 – May 25, 2020) was an American man with a lengthy criminal record including convictions for armed robbery, drug possession, and theft in Texas from 1997 to 2007.” Readers don’t learn that Floyd was murdered until the fourth sentence of Grokipedia’s entry.


Der von mir sehr geschätzte Pissed Magitus mit einem sehr wahrscheinlichen Szenario, wie der Techfaschismus auch in deinem Hinterhof installiert wird.


Ken Klippenstein berichtet über den „War on Anitfa“ der Trump-Administration als Reaktion auf den Kirk-Mord.

Within hours of Charlie Kirk’s shooting last month, politicos in the White House and lawyers at the Justice Department and Homeland Security scrambled to draft up back-of-the-envelope plans for a crackdown on their domestic foes, sources tell me. Illegal immigrants, anti-ICE protesters, leftists, trans people, gamers, Hamas supporters, Antifa; the administration had a hard time pinning down who exactly was the new enemy, so they ended up including them all.

All die Lacher, dass „Antifa“ ja keine Organisation sei und dass die Trump-Adaminitration den weißen Wal jagd, bleiben im Halse stecken, wenn man bedenkt, dass „wir“ uns zwar als voneinander unabhängige „Individuen“ erzählen, aber all unsere Pfadgelegeheneiten von nur wenigen Services abhängig sind, die sich leicht unter Druck setzen lassen. Und so ist eines der ersten Instrumente der Regierung, oppositionelle Akteure und Organisationen von ihren Bankverbindungen zu trennen.

The administration’s frantic planning session precipitated by Kirk’s murder was formalized days later in Trump’s National Security Presidential Memorandum 7. Called “NSPM-7” by insiders, the sweeping directive targets radical left “terrorism” by relying on so-called indicators like “anti-Christian” and “anti-American” speech. (I’ve reported on the significance of NSPM-7 here.)

Banking compliance expert Poorvik Mehra told American Banker that NSPM-7 “is basically asking you to follow the money, but within ideological movements, and compliance teams immediately ask which customers put the banks at risk.” She anticipates that banks will respond to NSPM-7 by simply dropping affected clients rather than deal with the headache.

Der Tech-Faschismus rekrutiert zunächst all deine Infrastrukturen, um Bürgerkrieg gegen dich führen.

Krasse Links No 71

Willkommen zu Krasse Links No 71. Verschandelt eure Stadtbilder, heute tarnen wir den Killswitch der Kontrollsucht als Honigbrot und frönen der Politik des Flaschenhals jenseits des Chokepoints.


Jonas Schaible dekliniert in seinem Newsletter all die Möglichkeiten durch, die deutsche Migrationspolitik zu interpretieren: Überlastung durch zu viele Geflüchtete (Theorie 1), mediale Überdramatisierung des Problems (Theorie 2), Überdruß der Deutschen gegenüber Regelverletzung (Theorie 3) und stößt mit Merz‘ Stadtbildäußerung auf Theorie 4:

Was Merz jetzt geäußert hat, ganz unabhängig davon, was er selbst glaubt und was man ihm selbst unterstellen will oder nicht, das ist im Grunde eine vierte Theorie. Es ist die düsterste, die bislang vielleicht auch deshalb in der Debatte kaum eine Rolle gespielt hat.

Man kann sie so zusammenfassen: Es gibt aus Sicht der Deutschen ein Problem, unabhängig von Berichterstattung und Ausstattung der Kommunen und Regelbruch und es liegt darin, dass zu viele Menschen im Land sind, die anders heißen, aussehen und sprechen.

Sie läuft darauf hinaus, die Gesellschaft für in hohem Maße xenophob und rassistisch zu erklären.

Um das gleich zu sagen: Ich halte Theorie 4 für falsch. Klar, es gibt eine bestimmte Klientel von Vorstadt-Boomern, die nach Berlin oder in andere Städte fährt und sich sofort ethnische Säuberungen wünscht und ich glaube sofort, dass Friedrich Merz die Hälfte davon persönlich kennt. Aber es ist sicher nicht die Mehrheit und ganz besonders nicht dort, wo die meisten Migrant*innen wohnen?

Jedenfalls wissen wir jetzt, warum die Correktiv-Enthüllungen von Sellners Remigrationsplänen so zurückhaltend aus dem bürgerlichen Lager kommentiert wurden.

Jonas weist darauf hin, dass, wenn die CDU dieser Interpretation folgt, sie sich in eine „politische Sackgasse“ manövriert.

Wenn es wirklich so wäre, dass das Stadtbild das Problem wäre, dass viele Menschen sich nicht mehr daheim fühlen in ihrer Stadt, wenn sie aussieht, wie eine deutsche Stadt heute aussieht – dann wäre demokratische Politik wahrscheinlich am Ende ihrer Möglichkeiten.

Man könnte diesem Gefühl nämlich nur begegnen, indem man Homogenität erzwingt, und das ginge in der real existierenden deutschen Gesellschaft nur mit autoritären Mitteln, mit schrankenloser Willkür und unvorstellbarer Gewalt.

Die Politik kann mehr Unterkünfte bauen, sie kann Kommunen mehr Geld geben und für schnellere Verfahren sorgen. Sie kann Patrouillen an die Grenze schicken, Abkommen mit Nachbarstaaten schließen und Geflüchteten weniger Geld zahlen. Sie kann den Görlitzer Park umzäunen.

Sie kann schneller und im großen Stil abschieben, wobei das, wenn man es ernst meinte, wahrscheinlich irgendwann so ähnlich aussehen muss wie in den USA derzeit, und da ist demokratische Politik dann auch am Ende. Sie kann falsch finden, wie früher Zuwanderung organisiert wurde. Ändern kann sie es nur sehr, sehr, sehr begrenzt.

Kurz gesagt: Sie kann entscheiden, wer neu ins Land kommt, aber sie muss in den allermeisten Fällen mit denen leben, die schon im Land sind.

Was sie niemals kann, ist ein Heimatgefühl herzustellen, das von der realen Heimat völlig entkoppelt ist. Was sie niemals kann, ist ein Stadtbild zu schaffen, das für jene ordentlich und sicher aussieht, für die Städte derzeit unordentlich und unsicher aussehen. Oder zu wenig Deutsch.

Kann sie das nicht? Vielleicht. Aber sie wird es dennoch versuchen?

Deswegen ist Merz’ Nebensatzentgleisung eben nicht der übliche „Onkel Erwin nach dem dritten Schnaps“-Rassismus, den man sonst von Merz und Konsorten kennt, der zwar auch schrecklich, aber vor allem schrecklich peinlich ist.

Das hier ist eine besonders deutsche Artikulation von Rassismus, die explizit auf „Reinheit“ abzielt und dabei Menschen als Fremdkörper markiert. Es ist die offene Artikulation eines rassistischen Begehrens, das nicht zu befriedigen ist, ohne eine monströse Infrastruktur der Gewalt zu errichten, deren Entstehung wir derzeit in den USA beobachten können.

Es ist klar, dass auch Trump es in Wirklichkeit auf das „Stadtbild“ abgesehen hat, auch wenn er es sich nicht traut, so offen auszusprechen, wie Merz. Aber hier ist das Ding: auch ICE wird das Stadtbild nicht genug „reinigen“, denn wann ist überhaupt „genug“? Nach wessen Maßstab?

Deswegen wird das Bedürfnis mit den Infrastrukturen – den Lagern, den Paramilitärs, der Armee in den Städten, den Sonderbefugnissen und rechtlichen Ausnahmezuständen – nicht gestillt werden, sondern wird weiter wachsen, gemeinsam mit den Erlaubnisstrukturen, mit Menschen auf bestimmte Weise zu verfahren.

Es gibt Forderungen, die kann eine liberale Demokratie nicht erfüllen. Es wäre deshalb weise, sie nicht auch noch selbst zu formulieren.

Vorsicht, Jonas. „Liberale Demokratie“ könnte ein Preis sein, den die CDU zu bezahlen bereit ist.


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LowerClassJane ordnet Merz‘ Stadtbildäußerung in den größeren Rassismuskontext dieses Landes ein.

Die Wahrheit ist: Wir leben in einem Land, das seit Jahren nach rechts rutscht, ohne jemals nach links geschaut zu haben. Ein Land, das sich selbst als „wehrhaft“ bezeichnet – aber immer nur gegen die Schwächsten aufrüstet.

Ein Land, in dem Geflüchtete in Lagern gehalten werden, unter Bedingungen, für die man in anderen Ländern diplomatische Noten verschicken würde. Ein Land, in dem die Polizei Menschen erschießt, die Schutz bräuchten – und der Innenminister dann über Vertrauen redet. Ein Land, das Sozialhilfe kürzt, aber Aufrüstung finanziert, als wäre Krieg die bessere Fürsorge.

In diesem Land sind Menschen nun mal nicht gleichviel Wert und es gibt – jenseits der Sonntagsreden – keinen Willen, das zu ändern.

Es ist das Schweigen der Institutionen. Es ist der Reflex, lieber Palästina zu zensieren als die eigene Geschichte zu hinterfragen. Es ist das Weggucken, wenn Geflüchtete erfrieren. Es ist das Wegmoderieren, wenn jemand sagt: „Das ist Rassismus.“

Vielleicht war es nie anders. Vielleicht ist das die eigentliche Wahrheit über Deutschland: Dass es immer nur bis zum Punkt der Bequemlichkeit kämpft. Und dann wieder „zurückrutscht“ in den Konsens der weißen Mitte.

Ich früchte, es ist mit den Bekenntnissen zum Antirassismus genauso wie mit den Bekenntnissen beim Klimaschutz: Die Deutschen würden ja gerne so sein, wie sie sich erzählen, aber nur so lang es sie nichts kostet.


Henry Farrell über die Ironie der Geschichte, dass China mit dem Ausfuhrstopp der seltenen Erden jetzt dieselbe Politik des Flaschenhals – oder wie Farrell es nennt „weaponized Interdependence“ – gegenüber den USA fährt, wie sie selbst gegenüber China, Russland und Iran gefahren sind.

First, and most simply: China seems to be moving from one mode of exercising its power to another. China has exercised effective control over rare earths and other critical minerals for years, but when it has used or threaten to use it, it has done so implicitly and indirectly. Specifically, it has used informal restrictions: mysterious blockages, strange frictions and other means to hamper other countries’ access to China’s internal markets, and Japan’s access to rare earths in 2010. This led some observers even to doubt that China had introduced systematic restrictions on exports. […]

It has created an entire regulatory infrastructure to underpin this claim, and has effectively banned the export of rare earth processing equipment abroad, to try to maintain its chokepoint as long as possible.

Man könnte meinen, China hat sich strategisch vom dem Shock der Trumpzölle berappelt und nimmt den Handelskrieg ernsthaft auf. Allerdings nicht so amateurhaft wie Trump.

China appears to be better placed than the U.S. to use its powers of economic coercion intelligently in pursuit of its own long term interests. The Trump administration has junked the systems that allow the U.S. government to calibrate economic coercion and to anticipate possible downsides. The National Security Council – which had come to play a crucial role in coordinating and setting policy under the Biden administration – has lost more than half of its personnel, on the theory that it is the ultimate representative of the “Deep State.” Its key China people have been Loomered. Careful bureaucratic process has been replaced by the whimsical decision making of Trump himself, as in his infamous meeting with Jensen Huang. Bessent’s criticisms of officials “gone rogue” might better have been aimed at his own boss.

Wenn eine Netzwerkzentralität ihre Macht mißbraucht, wie es USA über ihre Infrastrukturen immer wieder getan haben und mit Trump radikaler denn je tun, verändert das zwangsläufig auch das gesamte Abhängigigkeits-Netzwerk.

When interdependence is used by privileged states for strategic ends, other states are likely to start considering economic networks in strategic terms too. Targeted states—or states that fear they will be targeted—may attempt to isolate themselves from networks, look to turn network effects back on their more powerful adversaries, and even, under some circumstances, reshape networks so as to minimize their vulnerabilities or increase the vulnerabilities of others.

China hat sich gerüstet und mißbraucht seinerseits die Pfadabhängigkeit der USA und des Westens von seltenen Erden, um zurückzuschlagen.

China has indeed reshaped networks so as to maximize the vulnerabilities of the US, creating a much more dangerous and unpredictable set of dynamics. The U.S. is currently very poorly positioned to manage these complex problems. The Trump administration is more concerned with attacking perceived internal enemies than the outside world, and has stripped the bureaucracies that would allow it to begin to think straight about the problem.

Wir alle müssen jetzt ganz schnell Netzwerkmacht lernen.


Dieses Tiktok-Video fasst kurz und verständlich die Politik des Flaschenhals der trumpifizierten FCC-Behörde mit dem Frequenzband zusammmen, die hinter der Kimmel-Feuerung und Disneys Einknicken steckt und die den eigentlichen Sinn hat, mehr mediale Infrastrukturmacht zur Broligarchie zu schaufeln.

Aus dieser Richtung dürften noch einige Angriffe auf die Öffentlichkeit kommen.


Signal war kurz offline, weil Amazon Webserives down war und wenn ihr jetzt so „Hä? Ich dachte Singal wäre diese mega-sichere Hackerapp, was hat die denn mit Amazon zu tun?!?“ seid, dann hat Tech policy Press einen Artikel für euch.

On Monday, a global technical failure at Amazon Web Services (AWS), Amazon’s cloud computing division, sent hundreds of applications and services from Snapchat and Signal to Fortnite and Lloyds Bank offline. Even a range of British government services were crippled by the fault.

While precise technical details have yet to be reported, here is what we know now: There was a significant technical issue beginning in Amazon Web Services’ ‘us-east-1’ region that brought down large portions of the internet, including services like Signal. Us-east-1 is one of AWS’s key geographic regions—a cluster of data centers where companies can host their cloud infrastructure. It is located in Northern Virginia, near the United States capitol.

Deswegen steht dieses Ereignis für mehr, als uns lieb sein kann.

The “open” internet, it turns out, rests on a remarkably closed foundation. Cloud providers control information access. When AWS or other cloud behemoths, like Google and Microsoft, are down, so is the rest of the internet.


Cory Doctorow über den Killswitch des „Mad Kings“.

Remember when we were all worried that Huawei had filled our telecoms infrastructure with listening devices and killswitches? It sure would be dangerous if a corporation beholden to a brutal autocrat became structurally essential to your country’s continued operations, huh?

Wir alle leben im Territorium des verrückten Königs und er hat längst angefangen unsere Möglichkeiten zu beschneiden.

Apple and Google capitulated. Apple also capitulated to Trump by removing apps that collect hand-verified, double-checked videos of ICE violence. Apple declared ICE’s thugs to be a „protected class“ that may not be disparaged in apps available to Apple’s customers

Es gibt aber auch einen literal „Killswitch“, bzw. Abhörmechanismus namens CALEA, der in all unseren Netzwerken verbaut ist.

Take CALEA, a Clinton-era law that requires all network switches to be equipped with law-enforcement back-doors that allow anyone who holds the right credential to take over the switch and listen in, block, or spoof its data. Virtually every network switch manufactured is CALEA-compliant, which is how the NSA was able to listen in on the Greek Prime Minister’s phone calls to gain competitive advantage for the competing Salt Lake City Olympic bid […]

CALEA backdoors are a single point of failure for the world’s networking systems. Nominally, CALEA backdoors are under US control, but the reality is that lots of hackers have exploited CALEA to attack governments and corporations, inside the US and abroad. Remember Salt Typhoon, the worst-ever hacking attack on US government agencies and large corporations? The Salt Typhoon hackers used CALEA as their entry point into those networks

Leider haben wir uns vor Jahren die Möglichkeit genommen, diese Mechanismen zu umgehen, als Techfirmen und Urheberrechtslobbyisten darauf drängten, kommerzielle Systeme vor ihrer technischen Umgehbarkeit zu schützen.

These anti-jailbreaking laws were designed as a tool of economic extraction, a way to protect American tech companies‘ sky-high fees and rampant privacy invasions by making it illegal, everywhere, for anyone to alter how these devices work without the manufacturer’s permission.

But today, these laws have created clusters of deep-seated infrastructural vulnerabilities that reach into all our digital devices and services, including the digital devices that harvest our crops, supply oxygen to our lungs, or tell us when Trump’s masked shock-troops are hunting people in our vicinity.

Ganz heruntergebrochen stehen wir als Europa vor demselben Problem, wie 2022 mit den russischen Gaspipelines. Nur ist alles viel komplexer, lebenswichtiger und schwieriger zu tauschen.

When Putin invaded Ukraine, he inadvertently pushed the EU to accelerate its solarization efforts, to escape their reliance on Russian gas, and now Europe is a decade ahead of schedule in meeting its zero-emissions goals

Today, another mad dictator is threatening the world’s infrastructure. For the rest of the world to escape dictators‘ demands, they will have to accelerate their independence from American tech – not just Russian gas. A post-American internet starts with abandoning the laws that give US companies – and therefore Trump – a veto over how your technology works.

Ich kenn ja auch die Zukunft nicht, aber ich sehe derzeit keinen plausiblen Pfad, wie das irgendwie gut geht.


Diese Zeichnung von XKCD ist insbesondere innerhalb der Open Source Communities beliebt, weil es die Realität unserer digitalen Infrastrukturen so schön beschreibt.

Es wird Zeit, es umzuinterpretieren. Das größere Problem ist nicht mehr das kleine Projekt mit kaum Entwickler*innen, der Chokepoint sind heute die großen, kommerziellen Infrastrukturen, die sich mit dem verrückten König verbündet haben.


Nafeez Ahmed über die geleakten Papiere des Gaza International Transitional Authority (GITA) und wie Peter Thiel und Larry Ellison wohl dafür die Überwachungsinfrastruktur liefern werden.

A Byline Times review of the leaked Gaza International Transitional Authority (GITA) framework, procurement guidance documents, and FEC filings shows that its digital-governance backbone – covering identity, border control, aid logistics and donor coordination – matches the Oracle-Palantir technology ‘stack’ of digital technologies currently used in Israel’s defence network. They further suggest that the GITA board structure is planned to allow this stack an easy entry-point into reconstruction contracts.

The plan was drafted by the Tony Blair Institute for Global Change (TBI), whose biggest financial backer is Larry Ellison, the billionaire co-founder and executive chairman of tech giant Oracle Corporation. Since 2021, the institute received donations or pledges of at least £257 million from the Larry Ellison Foundation, an amount that dwarfs all other donors combined.

Natürlich sind Thiel und Ellisons Firmen, Oracle und Palantir genauso wie Microsoft, Google und andere bereits knietief im Genozid eingebunden.

Über Peter Thiel ist ja bereits viel bekannt, aber Ellison macht ihm und Elon Musk wie kein anderer den Platz als „Worlds biggest Tech-Supervillan“ streitig.

Ellison himself is a Trump supporter and Republican Party megadonor, who has given tens of millions of dollars to the party and embedded Oracle across the American federal government following extensive lobbying. Oracle is also poised to oversee TikTok’s US algorithm after the completion of its US sale, under Trump’s deal with China.

Ellison has close ties to fellow pro-Trump billionaire Peter Thiel, through a little-known partnership between Oracle and Palantir, the surveillance and defence-analytics firm co-founded by Thiel.

Both companies have directly supported Israel’s military operations in the Gaza Strip. But the same companies are also in prime position to profit from the technocratic management of Gaza after the war.

Seit letztem Jahr sind Oracle und Palantir eine stratgeische Partnerschaft eingegangen, die sich wie ein Bewerbungsschreiben für Nachkriegsordnung des Gazastreifens liest.

In April 2024 Oracle and Palantir announced a deep “strategic partnership” to deliver “mission-critical AI solutions to governments and businesses.” It was a relationship nearly a decade in the making – back in 2017 Ellison had held exploratory talks with Peter Thiel about acquiring Palantir outright.

By July, Palantir and Oracle jointly unveiled deployment guides showing its Foundry and AI platforms running on Oracle’s sovereign, government and “air-gapped” clouds, tailored for national security clients. In June 2025 Oracle launched its Defence Ecosystem including “Palantir for Builders.”

In dem geleakten GITA-Framework findet sich folgende Ausschreibung dazu.

That vision, which proposes a “Gaza Reconstitution, Economic Acceleration and Transformation (GREAT) Trust”, envisages creating a “blockchain registry for land” to underpin the construction of up to eight “AI-powered, smart planned cities on the inner side of the Gaza Ring. All services and economy in these cities will be done through ID-based digital system.” It even mentions an “Elon Musk Smart Manufacturing Zone” – Musk’s companies such as xAI have cultivated close partnerships with both Oracle and Palantir. Ellison invested $1 billion to support Musk’s purchase of Twitter in 2022, and sits on his board at Tesla.

Ich interpretiere das so: In Gaza entstehen die Infrastrukturen einer neuen Form von Staatlichkeit im Zeitalter der Digitalisierung. Als integrierter Tech-Faschismus.

Larry Ellison’s Oracle and Peter Thiel’s Palantir now form a single operational spine for digital governance and defence, from cloud infrastructure to predictive analytics. And Trump’s Gaza peace plan looks like the vehicle through which that spine could extend into Gaza’s reconstruction.

The technologies that mapped, targeted and managed Gaza in wartime are now the same ones perfectly positioned to administer it during peace. Which means the Gaza International Transitional Authority risks becoming not a clear break from the conflict, but a potential continuation of it by digital means.

Unsere Polizei nutzt bereits fleißig Palantir und verlangt mehr davon und es ist nur eine Frage der Zeit, bis der gesamte Stack auch hier implementiert wird.

Unter anderem das meine ich, wenn ich sage: Gaza ist bald überall.

Aber ich meine auch etwas anderes. Es ist eben nicht nur die Technologie, sondern die Technologie als Soziotechnisches System, oder wie wir hier sagen: als Materiell-Semantischer Komplex.

Mit den Infrastrukturen kommen bestimmte Pfadabhängigkeiten in die Zukunft. Sie implenentieren eine bestimme Art auf Menschen zu schauen und damit verbunden die Erlaubnis, mit Menschen auf eine bestimmte Weise umzugehen. Und das wichtigste: Diese Infrastrukturen stillen kein Bedürfnis, sondern entfachen es: das Bedürfnis nach Kontrolle.

Ob wir es wollen oder nicht, diese Infrastrukturen werden, allein dadurch, dass wir ihre Existenz erlauben, Gesellschaften weltweit verändern und damit schließlich auch uns.


Ich war in Fatih Akins Amrum und finde, es ist sein bester Film bisher. Und wer ihn noch nicht gesehen hat, hier eine Besprechung mit **** MEGA SPOILERS ****.

Als wäre es das leichteste der Welt, verwebt Akin die Themen Migration und Indentität, Familie und Depression, das Ende des Nazireichs, Ideologie und Erziehung zu einer Erzählung aus der Sicht eines kleinen Jungen, Nanning, der sich nichts anderes wünscht, als das seine Mutter wieder lacht.

Der Höhepunkt ist m.E. die Unterhaltung von Nanning mit seinem Freund, wo dieser erzählt, jemand habe Hitler mit Captain Ahab aus Mobby Dick verglichen und zusammen raissonieren sie, dass Deutschland dann ja das Schiff und die Deutschen die Crew seien, aber … so fragen sie, wer oder was ist dann der weiße Wal? Sie probieren „die Amerikaner“, „Churchill“ und „Gott“, aber so richtig zufriedenstellend wird die Frage nicht beantwortet.

Das hat mich nicht mehr losgelassen: Was woll(t)en Faschisten wirklich? Einfach alle Juden umbringen? „Lebensraum im Osten“? Weltherrschaft? Ja sicher, aber wozu? Was war der eigentliche weiße Wal, den sie jagten?

Vielleicht Kontrolle? Den Wunsch nach Kontrolle hegen wir alle, doch in einer Welt, in der manche Menschen unbegrenzte Macht über andere durch die Kontrolle von Infrastrukturen erlangen können, ergeben sich aus ihrer Sicht auch Pfadgelegenheiten zur Kontrolle des Unverfügbaren.

Kontrolle des Gegners, Kontrolle der Massen, Kontrolle über andere „Rassen“, über „die Welt“, Kontrolle über Grenzen, Kontrolle der Öffentlichkeit, Kontrolle der Sexualität, Kontrolle über das „Stadtbild“, etc. Aber auch Kontrolle über das Leben, Kontrolle über den eigenen Körper und, vielleicht am entscheidensten: Kontrolle über die eigenen Gefühle?

Doch je unverfügbarer etwas ist, desto eher führt der Versuch seiner Kontrolle zur Kontrollsucht. Je mehr man kontrolliert, desto mehr will man kontrollieren, usw. Faschismus ist in seinem im Kern keine Ideologie, sondern eskallierende Kontrollsucht.

Nachdem Nanning den ganzen Film über etliche Abenteuer durchlebt hatte, um die bizarren Pfadabhängigkeits-Ketten von Weizenmehl, Butter und Honig unter den Bedingungen des Nazi-Kollaps zu navigieren und schließlich der Mutter das Honigbrot präsentiert, das sie definitiv und auf jedenfall gesund machen wird, reagiert sie mit einem kalten „Stells in die Küche“ und der kleine Ahab bricht weinend zusammen.

Aber wenn der eigentliche Weiße Wal das Trauma der abwesenden Liebe ist und seine Ersetzung durch Honigbrot teil desselben Traumas wird, wenn also Trauma zu Konsum, Konsum zu Kultur und Kultur wieder zu Trauma wird, dann ist Fatih Akins „Amrum“ eigentlich eine Inszenierung von „Schrei nach Liebe“, aber als intergenerationale Traumaarchitektur.

Annäherung an Arendts Gedankenwelt – Zeitgeister – Das Kulturmagazin des Goethe-Instituts

Susann und ich wurden nach unserem re:publica Talk gefragt, die Idee mit Bezug auf Hannah Arendt für eine Spezial des Goethe-Instituts als Text zu formulieren, was uns sofort einleuchtete. Die größte Herausforderung war allerdings den Einstundenvortrag auf weniger als 10.000 Zeichen zu komprimieren. Ich hatte schon nicht mehr an die Machbarkeit geglaubt, aber Susann gab nicht auf und jetzt ist das wahrscheinlich der dichteste Text, den wir beide je veröffentlicht haben.

Beide Serien, Andor und Sense8 zeigen, dass Widerstand möglich ist. Widerstand fängt mit Empathie und Hinsehen an und wird mit der Zeugenschaft real – und manchmal kostspielig. Egal ob der Kampf gegen ein materielles Imperium, oder in der Selbstverteidigung gegen eine hegemoniale Gesellschaftsordnung; ein Mittel gegen die Banalität des Bösen ist Zeugenschaft – semantischer Widerstand gegen Wegsehen und Ignoranz.

Quelle: Annäherung an Arendts Gedankenwelt – Zeitgeister – Das Kulturmagazin des Goethe-Instituts

Hier auch der Text auf Englisch.

Krasse Links No 70

Willkommen zu Krasse Links No 70. Holt den Leviathan aus dem Markow-Modell, heute stellen wir den Thanos-Effekt auf den Kipppunkt und kollabieren die Constraints zum „Superorganism“ des Antichrist.


Liebe Fahrgäste, wir erreichen soeben den ersten klimatischen Kipppunkt: das Absterben der Korallenriffe.

Mit dem weltweiten Absterben der Warmwasser-Korallenriffe hat die Erde den ersten Klima-Kipppunkt erreicht. Zu diesem Ergebnis kommt der internationale Forschungsbericht »Global Tipping Points Report 2025«. Damit sei die Welt in eine neue Realität eingetreten, heißt es in dem Bericht, den 160 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 87 Institutionen in 23 Ländern verfasst haben. […]

Der »Global Tipping Points Report 2025« stellt fest, dass die Warmwasserkorallenriffe – von denen ein Viertel aller Meereslebewesen sowie fast eine Milliarde Menschen abhängen – ihren Kipppunkt erreicht haben. Diese Strukturen würden weit verbreitet absterben, heißt es. Der wichtigste Faktor dabei sind Korallenbleichen. Bei hohen Wassertemperaturen stoßen die Korallen ihre lebenswichtigen symbiotischen Algen aus, die sie mit Nährstoffen versorgen.[…]

Mit der bereits erreichten globalen Erwärmung von rund 1,4 Grad sehen die Fachleute die Grenze zu dieser sich selbst beschleunigenden Riffzerstörung überschritten. Selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass sich die menschengemachte Erderwärmung künftig bei 1,5 Grad stabilisieren lasse, sei ein weitreichender Verlust dieser Ökosysteme praktisch sicher.

Die nächsten Haltestellen sind

  • „großflächiges Absterben des Amazonas-Regenwalds“ (bei 1,5 Grad) und
  • das Kippen des Atlantic Meridional Overturning Circulation, AMOC) bei irgendwo unter 2 Grad.

Vielen Dank für ihre Vertrauen in den Kapitalismus und auch weiterhin eine angenehme Reise.


Relational Materialism“ is all about Constraints. Die Idee ist, dass uns das „freie Denken“ übelst in die Irre geführt hat und dass wir das Denken durch das Einsperren in „Constraints“ wieder produktiv machen können. Die Inspiration dafür ist Donna Haraways Einwand gegen die „Perspektive von Nirgendwo“, die als „Objektivität“ nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in unserer Alltagssprache ihr Unwesen treibt.

Aber weil ich gleichzeitig nicht glaube, dass mit der Objektivität auch die Möglichkeit und Notwendigkeit verschwindet, Aussagen mit Allgemeingültigkeitsanspruch zu formulieren, sammle diese Constraints und behaupte:

Der Mensch ist ein situiertes, pfadabhängiges und sequenzielles Wesen.

Als Erkenntnis ist das im Einzelnen nichts wirklich neues, sogar trivial, klar, aber die eigene Sicht auf die Welt ändert sich, wenn man diese Constraints wirklich ernst nimmt und übt, mit diesen Beschränkungen zu denken und zu sprechen und meine Hoffnung war zunächst, dann weniger Unsinn zu reden. Aber nach und nach merke ich, wie diese Sichtweise auch neue sprachliche und damit gedankliche Pfade öffnet.


Peter Thiel gab vier Vorlesungen zum Antichrist. Mir behagt es nicht wirklich, seine Gedanken widerzugeben, als wären sie etwas, was man irgendwie intellektuell ernst nehmen müsste. Weil Peter Thiel aber leider enorme Macht hat – ja, über uns alle – müssen wir alles, was er sagt und schreibt, als mehr oder minder konkret formulierte Drohung interpretieren. The Guardian hat in die geleakten Mitschnitte reingehört.

Der Constraint gegen die „Objektivität“ zwingt mich z.b. dazu, Dinge multiperspektiv zu denken und das hört sich gleichzeitig banaler und anstrengender an, als es ist: Klar, jede Perspektive ist „Einzigartig“ und so, aber dann halt auch doch nicht?

Hier kommt nämlich eine der zweite Constraint produktiv zum Tragen: wir sind materielle Wesen in einer materiellen Welt, also zweifache Weise pfadabhängig: Wir kommen immer irgendwo her und wollen/müssen immer irgendwo hin. Als Menschen sind wir abhängig von Nahrung, Sauerstoff, Wasser, körperliche Sicherheit, ein Dach über den Kopf, Gesundheit, einem Einkommen, der Kanalisation, Freunden und Familie, dass ich den Bus noch erwische und diesen Newsletter endlich fertig kriege. Aber alle Abhängigkeiten haben eine Geschichte, sind also ihrerseits pfadabhängig und zu einem früheren Zeitpunkt waren die Pfadabhängigkeiten einmal Pfadgelegenheiten, usw.

Der Constraint wird produktiv, wenn wir daraus ableiten, dass jeder Mensch in jeder Situation ebenso eingeschränkt ist, wie ich, nur anders, d.h. ein endliches, plausibles Set an materiellen Pfadgelegenheiten hat.

Nehmen wir hier Peter Thiel als nur scheinbar schwieriges Beispiel (ich hatte das bereits mal grob ausgeführt). Er ist sehr, sehr reich, er ist tief konservativ geprägt und er ist ständig nur unter seinesgleichen: weiße, reiche, mächtige Männer aus Silicon Valley und kaum jemand darunter, der „nein“ zu ihm sagt. Turns out: Es ist gar nicht so schwer, sich in jemanden hineinzuversetzen, der gleichzeitig so viel und so wenig Pfadgelegenheitsvielfalt genießt.

Thiel said that international financial bodies, which make it more difficult for people to shelter their wealth in tax havens, are one sign the antichrist may be amassing power and hastening Armageddon, saying: “It’s become quite difficult to hide one’s money.”

Thiels Gebrabbel ist nicht wirklich eine Reflexion über die Welt, sondern ein unwillkürlicher Ausdruck seiner pfadabhängigen Perspektive: Alles, was ihn, Christus, äh, Thiel an der Ausübung seiner unbeschränkten Macht (und die seiner Freunde) hindert – ja was soll das schon anderes sein, als der Antichrist?

In the 21st century, the antichrist is a luddite who wants to stop all science. It’s someone like Greta or Eliezer.

Peter Thiel hat einfach den intellektuellen Hosenstall offen, ist aber zu mächtig, als das jemand lacht. Das macht ihn aber nicht ungefährlich, im Gegenteil. Und speziell angepasste Religiosität als Erlaubnisstruktur zur Weltherrschaft ist jetzt nicht wirklich was neues.


Nach dem Raussenden des letzten Newsletters hat mich das Thema Purge-Koalition nicht losgelassen und daher habe ich immer weitergeschrieben, meine Formel zu Netzwerkmacht aktualisiert und anhand einer Beispielrechnung versucht, vorstellbar zu machen, welche Effekte eine solche Purge-Koalition zwischen allen großen Plattformen hätte.

Ich bin danach noch weitergegangen und habe extra den Thanos-Effekt erklärt und versucht, den Effekt der Zusammenarbeit großer Plattformen auf ihre Plattformmacht anhand einer editierbaren Beispielrechunung plausibel zu machen.

Auch wenn das alles quick und dirty war, stehe ich zu den Schlussfolgerungen, weswegen ich mich mit den verhaltenen Reaktionen immer noch nicht abfinden will. Deswegen ist dieser Newsletter auch der Versuch, den dahinterstehenden und zugegebenermaßen ideosynkratischen Begriffs- und Methodenapparat nochmal etwas besser zu erklären.


Die hier schon mal behandelte neuerliche Parteinahme Ezra Kleins für den Faschismus wird immer genauer aufgearbeitet. Der aktuelle neue beste Text dazu kommt jetzt von A.R. Moxon.

Er analysiert zwei Zitate von Klein, unter anderem „we are going to have to live here with each other“ aus dem Monolog vor dem Interview mit Ben Shapiro und arbeitet exakt heraus, was daran so falsch ist. Das andere Zitat ist nicht so wichtig, aber kommt aus dem absolut hörenswerten Gespräch mit Ta-Nehisi Coates, ein Podcast, den ich wirklich jedem ans Herz legen kann.

Moxon schreibt:

This is the grain of sand at the center of the pearl of my ire, because „we are going to have to live here with each other“ is the exact premise that Republicans do not agree with any of us about, and while Klein in his remarks pays lip service to some of the recent proofs of this clear fact, in his analysis of what to do about it, he excises this reality entirely. In his mind, he and Kirk were just two guys, both trying to change the country for what they thought was good. It’s a bond. Never mind that what Kirk thought was good was the American military in the streets of Chicago, and mass kidnapping in service of a white ethnostate, and the end of bodily autonomy for women and queer people, and so forth. In the Klein world, moral clarity about abuse is polarizing, and polarization, not abuse, is the problem to solve.

„we are going to have to live here with each other“. Dieser Satz hört sich so richtig und absolut unverfänglich an, jeder Mensch bei Verstand würde ihm zustimmen, aber er ist eben kein allgemeingültiger Satz. Der Satz ist teil eines konkreten Sprechaktes an einem konkreten Ort und konkret an jemanden gerichtet. „Living together“ ist niemals nicht relational und niemals nicht pfadabhängig.

We are going to have to live here with each other. Not an option if you are trans, as long as supremacists (or those who would capitulate to them in the name of winning) are still permitted to wield the levers of power. Not an option if you are an immigrant. Not an option if you are pregnant with a complication. Not an option if you are sick, or out of work. Not an option if you are homeless. And eventually not an option if you are in opposition in any way to the dictator president and his coterie of supremacists, or if you just happen to fall afoul of somebody with a grudge and a trigger finger and not much to lose. Not even an option if you are Charlie Kirk, it turns out.

Damit entlarvt Moxon Ezra Kleins Kirk und Shapiro-Apopologien als das, was sie sind: als persönliche Pfadentscheidung darüber, mit wem er „going to live together“ praktizieren will und mit wem nicht.

By his own admission, Kirk’s murder affected Ezra Klein in a personal way that all the previous acts of supremacist violence committed against all its other targets across the span of history did not. So we see that Klein recognizes a „we“ in Charlie Kirk that he does not recognize in trans people or in any of the other people I listed in the previous paragraph. In this, he reveals to us—perhaps without even knowing he is doing so—that for him, the disagreements he has with Charlie Kirk and Ben Shapiro are window dressing compared to the fundamental kinship he feels to them, three princes of public discourse, just trying their best to do what’s best, whether „what’s best“ is feeding a hungry kid or blowing him up or zip-tying his hands behind his back in the middle of the Chicago night.

When Klein scolds that „we have to live here with each other“ he is making a statement about who it is he is getting ready to live with and who he is getting ready to live without, and most gallingly he is ignoring the fact that when it comes to supremacists all of us have been living with them already all along. Nobody is suggesting mass deportation of white supremacists, or the dissolution of straight marriages, or stripping away health care for conservatives. The troops and the cops weren’t ever sent down primarily white streets, masked kidnappers aren’t terrorizing white churches or corporate boardrooms or white-collar courts. These supremacist hatemongers are being criticized, yes, and opposed, yes, and yes the culture of violence they have created sometimes ricochets back on them, but we are living in the country they demanded on having. We are all now experiencing the Republican proposition for humanity.

Eine plausible Möglichkeit, den Menschen in seinen Constraits zu modellieren, ist es, sich ihn als Pfadopportunisten vorzustellen. Das was Menschen sind, sagen, denken, glauben und tun ist weniger eine Reflexion ihrer individuellen „Persönlichkeit“ (wobei: das spielt sicher auch mit rein), als ihrer materiellen und semantischen Pfadabhängigkeiten. Das Sein bestimmt das Bewusstsein.

Klein ist weiß, Staatsbürger, wohlhabend, mit hoher gesellschaftlicher Stellung – er hat etwas zu verlieren. Gleichzeitig ist er als vornehmlich linksintellektuell wahrgenommener Vordenker auch sehr angreifbar gegenüber dem Trumpfaschismus. Kirk und dann Shapiro, waren für ihn jeweils Pfadgelegenheiten diese Vulnerabilität, wenn nicht aufzuheben, so doch abzuschwächen? Auf Kosten von wem auch immer. Coates war eingeladen, um ihm die Erlaubnis dafür zu geben. Er bekam sie nicht.


Macht ist ein Potential und daher äußert sie sich abseits von konkreten Gewaltakten nie direkt, sondern meist indirekt über aggregierte Effekte auf Dividuen (wie Ezra Klein oder Peter Thiel) und ihren Pfadentscheidungen. Man kann sich das besonders gut an der Netzwerkmacht klar machen.

Von der Wikipedia gibt es diese Darstellung von Netzwerkeffekten.

Stellen wir uns vor, diese Netzwerke repräsentieren unterschiedliche Kommunikationsstandards mit verschieden großen „installed bases“ – Netzwerk A, B und C –die qua Größe unterschiedliche Netzwerkmacht inne haben.

Der relationale Materialismus (und Richard M. Emerson) zwingt uns, Macht als relationales Verhältnis zu denken: Macht ist immer Macht von jemanden über jemanden. Genauer: sie ist die Kehrseite von Abhängigkeit und damit ist sie integraler, aber genau deswegen unsichtbarer Teil unserer Perspektive auf die Welt.

Um sich das vorzustellen, muss man sich von einem mechanischen, kausal determinierten Abhängigkeits- und Machtbegriff lösen und zu einem kleinteiligen, alltäglicheren und bezogeneren Machtbegriff kommen. Macht ist eine soziale Tatsache, in der wir alle auf vielfältige Arten einbegriffen sind, ob wir es merken oder nicht, oder ob es uns das passt oder nicht.

Wie Netzwerkmacht in der jeweiligen konkreten Wirklichkeit aussieht, kann man sich an einer plausiblen Entscheidungsmatrix eines Nutzenden klar machen.

Klar, kann ich Netzwerk A oder B nehmen, aber C beinhaltet die wichtigsten Pfadgelegenheiten? Die Substitutionsmatrix sieht dann so aus.

Weil Netzwerk C so netzwerkzentral für meine Pfadgelegenheiten ist, fällt meine Entscheidung auf C. Aber hier die Preisfrage: Habe ich das nun „frei“ entschieden?

Die relativ hohe Netzwerkmacht des Netzwerks C bedeutet weder, dass ich zu Netzwerk C gezwungen werde, noch, dass alle zu Netzwerk C rennen, sondern „nur“, dass es wahrscheinlich ist, dass viele zu Netzwerk C rennen, weil das ihre je relational materielle Sicht auf das Netzwerk nunmal nahe legt.

Es ist wichtig zu verstehen, dass die „plausible Entscheidungsmatrix“ auch ganz anders aussehen könnte. Manche haben alles was sie brauchen in Netzwerk B, manche brauchen eh nicht viel und nutzen A, manche sehen keinen Nutzen in irgendwas davon. Aber das sind wahrscheinlich weniger. Aber diese unterschiedliche Wahrscheinlichkeit – diese Nichtzufälligkeit – ist Ausdruck der relativen Netzwerkmacht von Plattform C.

Dieser Unterschied ist real und hat Effekte auf die Welt und bei entsprechend großen Netzwerken sind die aggregierten Effekte eben so groß, dass du von dem, was dort passiert, selbst dann betroffen bist, wenn du dort gar keinen Account hast.


Schon 2020 schrieb N.J. Hagens ein Paper namens Beyond the superorganism, in dem er eine, wie ich finde plausible Erzählung unseres Wirtschaftssystems als „self-organized, mindless, energy seeking Superorganism, functioning in similar ways to a brainless amoeba using simple tropisms“ vertritt.

Diese Superstruktur – oder wie wir hier sagen: der materiell-semantische Komplex des Kapitalismus, ernährt sich nicht nur, wie Marx analysierte, von Menschenblut (Arbeit), sondern vor allem auch von Energie, vorrangig fossile Energie.

Major transitions in human societies over the past 10,000 years were linked to the benefits from different energy types and availability (Day et al., 2018). Industrialization changed the historic human relationship of energy capture from using the daily flows of nature to using technology fueled by large amounts of cheap fossil energy.

One barrel of crude oil can perform about 1700 kW h of work. A human laborer can perform about 0.6 kW h in one workday (IIER, 2011). Simple arithmetic reveals it takes over 11 years of human labor to do the same work potential in a barrel of oil. Even if humans are 2.5x more efficient at converting energy to work, the energy in one barrel of oil substitutes approximately 4.5 years of physical human labor.

This energy/labor relationship was the foundation of the industrial revolution. Most technological processes requires hundreds to thousands of calories of fossil energy to replace each human calorie previously used to do the same tasks manually. Consider milking a cow using three methods (see Fig. 2): manual (human labor energy only), semi-automated electric milking machines (1100 kW h per cow per year), and fully au- tomated milking (3000 kW h per cow-year). The manual milker, working alone, requires 120 h of human labor per year per cow; semi-automated machines require 27 h of labor; and full automation, 12 h. We’ll estimate that the human milker generates economic value of $5 an hour working alone. Using electric milkers at $0.05 per kWh, output rises significantly and—because cheap electricity substitutes for so many human hours of labor—the revenue increases to $19 per hour with semi-automated milkers and to $25 per hour with the fully automated technologies.[…]

At 4.5 years per barrel, this equates to the labor equivalent of more than 500 billion human workers (compared to ∼4 billion actual human workers). The economic story of the 20th century was one of adding ancient solar productivity from underground to the agricultural productivity of the land. These fossil ‘armies’ are the foundation of the modern global economy and work tirelessly in thousands of industrial processes and transportation vectors. We didn’t pay for the creation of these armies of workers, only their liberation. Transitioning away from them, either via taxation or depletion, will necessarily mean less ‘benefits.’

Ein gehöriger Teil der ökonomischen Blindheit, die die Hegemonie der Neoklassischen Wirtschaftstheorie in die gesellschaftlichen Diskurse injiziert hat, ist die Verdrängung von Pfadabhängigkeiten. Das Gleichsetzen aller Güter und Rohstoffe über ihren Preis erschafft die Illusion einer allgemeinen Austauschbarkeit aller Güter. Daher fiel gar nicht auf, dass wir Energie einfach als „yet another Production Input“ behandelt haben, statt als pfadentscheidenden Anker aller Produktion.

Today, energy is still treated as merely another input into our economic system – $10 of gasoline is considered to have the same contribution to human output as $10 of Pokemon cards. This is in spite of the fact that: a) energy is needed to create and transform all material inputs and b) energy can only be substituted by other energy.

However, biophysical analysis of all production inputs shows that the economic importance of energy is substantially larger than energy’s share in total factor cost, with the opposite being true for labor. This means that energy has a significantly greater role in our wealth and productivity than its nominal cost share signal. In the case of Japan and Germany over 60% of economic productivity is explained by energy input (Kümmel and Lindenberger, 2014)

Interessanterweise gibt es von Anfang an bis in die 1970er eine enge Korrelation zwischen Enegergiehunger und Wirtschaftswachstum.

Until the 1970s, energy and GDP were nearly perfectly correlated; a 5% in- crease in GDP required a 5% rise in energy consumption (Cleveland) […]

Soaring GDP in the 20th century was tightly linked to soaring burning of fossil hydrocarbons. Society doesn’t yet recognize these links because we conflate the dollar cost of energy extraction (tiny) with the work value (huge). Energy is only substitutable with other similar quality energy. Increasingly, advanced technology is achieved with energy, and most technological advances increase future energy requirements.

Das Paper geht noch tiefer und hat auch eine interessante Betrachtung von Schulden, aber mir geht es um die Totalitätsbetrachtung des Kapitalismus ansich.

Wir alle sitzen in unseren je unterschiedlichen Nischen dieses materiell-semantischen Komplexes und so haben wir erstmal völlig unterschiedliche Perspektiven darauf. Weil wir sequenzielle Wesen sind, nehmen wir von diesem Ort aus immer nur eine Pfadgelegenheit nach der anderen wahr. ein Wort, ein Schritt, ein Gedanke, eine Handlung nach der anderen. Egal, in welchem Netzwerk wir unterwegs sind: Wir sind Pfadwesen.

Und das gilt für die Gesamtheit des materiell-semantische Komplex des Kapitalismus eben auch? Seine Pfadabhängigkeiten sind unsere Pfadabhängigkeiten, unsere Pfadentscheidungen schreiben seine Pfadgelegenheiten fort; er bewegt sich wie wir und mit uns und durch uns pfadopportunistisch durch seine Umwelt. Wir sind mit dieser Struktur verwachsen und das macht das Problem so vertrackt.

Dazu kommt, dass wir darüber kaum reden können, weil wir keine Sprache dafür entwickelt haben. Unsere Semantiken des „Marktes“, des „Geldes“ und des „Individuums“ stehen unserem Nachdenken über unsere Pfadabhängigkeiten aktiv im Weg. Aus demselben Grund, warum wir Macht ausblenden, verpassen wir unseren eigenen Untergang.

Weil Netzwerkeffekte/Netzwerkmacht Infrastruktureffekte sind, muss man zuerst eine Menge Unsinn verlernen und dann erstmal seine eigene Vulnerabilität gegenüber den eigenen Infrastrukturen eingestehen, also nicht nur eingestehen, dass man abhängig ist, dass man beeinflussbar ist, sondern dass man immer schon beeinflusst war. Man muss sich als abhängiges, immer schon in den Strukturen anderer eingezwängtes und allerlei Machteinflüssen ausgesetztes Wesen begreifen.

Ja, das tut weh. Sorry, aber ich fürchte, da kommen wir eh nicht mehr dran vorbei?


Jane Goodall ist tot und erst letztens lief auf Netflix eine Doku-Serie über und mit ihr und jetzt, nach ihrem Tod, veröffentlichen die Macherer*innen Ausschnitte des Interviews, die Goodall erst nach ihrem Tod veröffentlicht sehen wollte.

Ich finde, man merkt ihr beim Sprechen die Angst an. Das ist nicht die Angst vorm Tod, sondern die Angst um uns, die Angst um das Projekt Menschheit.


Um meinen Überlegungen zur Plattformmacht etwas mehr Kontext zu verleihen, habe ich auch an einer dynamischen, zeitbasierten Simulation gearbeitet (in Zusammenarbeit mit ChatGPT und Claude).

In der Simulation haben wir ein Haufen der bekannten Social Media Netzwerke, aber auch „Offline“ als eigene Sektion. Das Modell rechnet damit, dass ca. 5 % der User ständig das Netzwerk wechseln und die Subsititionsmatrix entscheidet in jeder Iteration darüber, mit welcher Wahrscheinlichkeit die User von einem Netzwerk ins andere wechseln. Es ist also quasi eine Markow-Simulation.

Markow-Modelle sind deswegen so gut geeignet, Macht zu modellieren, weil sich Macht nie direkt, sondern wie jede Struktur, immer nur als verknüpfte Wahrscheinlichkeit äußert. Wenn wir zwischen Netzwerk A, B und C mit unterschiedlicher Netzwerkmacht wählen, bedeutet Cs Machtvorsprung nicht, dass wir gezwungen sind, zu Netzwerk C zu wählen, aber dass wir wahrscheinlicher zu C wechseln, als zu A. und wenn ich zwischen den Netzwerken wechsle, dann ist eben nicht gleichwahrscheinlich, in welches Netzwerk ich wechsle, usw.

Ich habe versucht einen Feedback von der errechneten Plattformmacht auf die Subsitutionsmatrix mit einzubeziehen, also die Matrix bei jeder Iteration zu aktualisieren. Über die genaue Berechnung müsste man nochmal brüten, aber auf diese Weise zeigen die Userströme sowohl Machtakkumulationeffekte, als auch die Angreifbarkeiten von Plattformmacht.

Man kann die Purge-Koalition ein- und ausschalten, einzelne Netzwerke dabei ein- oder ausschließen. Außerdem kann man in jedem Netzwerk eine „böse Sache“ tun – denkt an die Twitterübernahme von Elon Musk oder den Cambridge Analytica Skandal bei Facebook. In diesen Fällen springen ein signifikanter Teil (ich glaub 10 %?) der User von der Plattform ab, und der Nutzen – γ – sinkt für drei Iterationen, erholt sich aber knapp unterhalb des vorherigen Werts wieder.

Auch die Purge-Koaliton ist in diesem Modell ein „Böses Event“ und lässt viele User von den betroffenen Plattformen fliehen, was den Thanos-Effekt logischer und erwartbarer Weise etwas mitigiert (nur doch knapp Verdopplung, statt Verdreifachung der Plattformmacht). Außerdem kann man Enshittyfication ausprobieren: dabei sinkt der γ-Wert weniger aber dauerhaft. So schöpft die Plattform „Wert“ ab.

γ ist wie in allen vorherigen Rechnungen aus Verlegenheit einfach überall auf 1 gesetzt und γ‘ – also der Wert der unerwarteten Pfadgelegenheiten wird bei jeder Iteration anhand von γ mit einem festen Prozentsatz errechnet, das heißt also, eine Plattform, die γ verliert, verliert auch an Pfadgelegeneheits-Wachstum. Ansonsten ist die Veränderung γ fest an das Nutzerwachstum gekoppelt.

Ihr merkt, das ist keine Simulation, um konkrete Ergebnisse zu errechnen, oder Zukunftsvorhersagen zu machen, sondern dient dazu, sich Effekte, Verhältnisse und Systematiken plausibel zu machen. Es ist voller willkürlicher Designentscheidungen und Pi mal Daumen Werten (die man aber perspektivisch durchaus mit besseren Daten ersetzen kann). Es ist ein Prototyp, der ein paar Dinge zeigen kann aber vor allem das generelle Konzept und die Funktionsweise von Plattformmacht erklärt.

Auch wenn das nur ein Prototyp ist, kann man viele Dinge ausprobieren und bekommt halbwegs plausible Ergebnisse. Das Modell auszubauen wäre ein echtes Forschungsprojekt und das kann ich gerade nicht so nebenbei leisten, deswegen belass ich das erstmal so. Have fun.


Luke Kemp vom Centre for the Study of Existential Risk in Cambridge schreibt im Guardian über den Kollaps.

“I’m pessimistic about the future,” he says. “But I’m optimistic about people.” Kemp’s new book covers the rise and collapse of more than 400 societies over 5,000 years and took seven years to write. The lessons he has drawn are often striking: people are fundamentally egalitarian but are led to collapses by enriched, status-obsessed elites, while past collapses often improved the lives of ordinary citizens.

Today’s global civilisation, however, is deeply interconnected and unequal and could lead to the worst societal collapse yet, he says. The threat is from leaders who are “walking versions of the dark triad” – narcissism, psychopathy and Machiavellianism – in a world menaced by the climate crisis, nuclear weapons, artificial intelligence and killer robots.

Jaja, man sollte bei Leuten aus derartigen Zukunftsinstitute vorsichtig sein, aber ich mag seine Gedanken. Unsere Historie, unsere Erzählungen, Selbsterzählungen und Begriffe sind von Beginn an bis zum Bersten vollgestopft mit Propaganda der jeweils Mächtigen und sie grundlegend zu hinterfragen muss der erste Schritt sein, wenn man sie verstehen will.

His first step was to ditch the word civilisation, a term he argues is really propaganda by rulers. “When you look at the near east, China, Mesoamerica or the Andes, where the first kingdoms and empires arose, you don’t see civilised conduct, you see war, patriarchy and human sacrifice,” he says. This was a form of evolutionary backsliding from the egalitarian and mobile hunter-gatherer societies which shared tools and culture widely and survived for hundreds of thousands of years. “Instead, we started to resemble the hierarchies of chimpanzees and the harems of gorillas.”

Instead Kemp uses the term Goliaths to describe kingdoms and empires, meaning a society built on domination, such as the Roman empire: state over citizen, rich over poor, master over slave and men over women. He says that, like the biblical warrior slain by David’s slingshot, Goliaths began in the bronze age, were steeped in violence and often surprisingly fragile.

Goliath states do not simply emerge as dominant cliques that loot surplus food and resources, he argues, but need three specific types of “Goliath fuel”. The first is a particular type of surplus food: grain. That can be “seen, stolen and stored”, Kemp says, unlike perishable foods. […]

The second Goliath fuel is weaponry monopolised by one group. Bronze swords and axes were far superior to stone and wooden axes, and the first Goliaths in Mesopotamia followed their development, he says. Kemp calls the final Goliath fuel “caged land”, meaning places where oceans, rivers, deserts and mountains meant people could not simply migrate away from rising tyrants. Early Egyptians, trapped between the Red Sea and the Nile, fell prey to the pharaohs, for example.

“History is best told as a story of organised crime,” Kemp says. “It is one group creating a monopoly on resources through the use of violence over a certain territory and population.”


Der wunderbare Videoessay Leviathan von Alexander Beiner wurde mir von kaa Faensen empfohlen und ich sehe mich mal wieder darin bestätigt, dass ich hier nichts neues oder außergewöhnliches erzähle, sondern vielmehr sammle und konzentriere, was „in der Luft liegt“.

Zumindest sieht auch Beiner in den aktuellen politischen Unruheherden den Anfang vom Ende des Individuums. Ich gehe nicht alle seine geschichtlichen Eindordnungen mit, aber im Großen und Ganzen kann ich den Film als Einführung in die dividuelle Weltsicht nur empfehlen.

Der Thanos-Effekt

Ich bin gerade etwas in einer Ausnahmesituation. Mit Krasse Links 69 hatte ich einen Durchbruch im Verständnis von Netzwerkeffekten, bzw. Plattformmacht, ein Thema über das ich seit 15 bis 20 Jahren nachdenke und über das ich promoviert habe. Auf der anderen Seite war die neuerliche Motivation, die Plattformforschung wieder aufzunehmen und sie mit dem relationalen Materialismus weiterzuentwickeln, Angst. Wirkliche Angst vor einer Graphnahme und effektiven Gleichschaltung der digitalen Öffentlichkeit.

Ich hatte schon lange ein flaues Gefühl im Magen, seit es um den Tiktok-Verkauf ging, mehr noch, als Larry Ellison als Käufer ins Gespräch kam aber ich hatte genug Themen, die schlimm waren, also habe ich das Thema trotzdem eher nebenbei verfolgt.

Erst beim Schreiben des letzten Newsletters stieß ich auf den tieferen Grund für das flaue Gefühl: ich sah die Möglichkeit einer Koalition aller großen Plattformen: Genauer: eine Purge-Koalition auf pro-palästinensische (und im Endeffekt alle linke) Accounts.

Ich denke, jeder von euch versteht auf Anhieb, dass das ein Problem ist und dass die personellen und deren ideologischen Parameter der Bieterkonstellation alles andere als Grund zur Beruhigung gibt, ist hoffentlich auch allen klar. Wir reden hier über ein sehr wahrscheinliches Szenario – ich würde fast sagen, ein unumgängliches, wenn der Deal durchgeht.

Aber was ich glaube, was noch nicht verstanden wird, ist die Skalierung des Problems. Mir war sie jedenfalls nicht wirklich bewusst, bevor ich sie mir selbst, Schritt für Schritt, plausibel gemacht habe.

Der Grund, warum der Purge in der Koalition möglich wird und vorher aber nicht, liegt daran, dass ihre Macht durch die Koalition nicht additiv wächst, sondern sich vervielfacht. Ich nenne das den Thanos-Effekt. Aus dem Newsletter:

Wie die Infinity Stones haben die einzelnen Plattformen jeweils eine enorme Plattformmacht, aber wenn man sie kombiniert – so dass die Alternativen wegfallen, explodiert die entstandene Macht weit über die kombinierte Plattformmacht der Einzelplattformen hinaus.

Im Newsletter habe ich versucht, die Plattformmacht der Purge-Koalition ins Verhältnis zur Twitterübernahme durch Elon Musk zu setzen und dabei so grob überschlagen, dass die akkumulierte Plattformmacht der Purge-Koalition irgendwo zwischen 90 und 180 mal so groß, wie die Plattformmacht von Twitter 2022 sein wird. Der fucking Todesstern.

Aber hier will ich den Thanos-Effekt selbst plausibel machen.

Dafür nehmen wir die Formel für Plattformmacht und modellieren die Purge-Koalition mit möglichst realistischen Daten.

Ich habe die Schritte mit Chat-GPT als editierbare Modell-Rechnung auf dieser Website nachvollziehbar gemacht.

Zunächst bauen wir uns eine Subsitutionsmatrix der involvierten Plattformen. Darin geben wir an, wie sehr oder nicht, eine Plattform für die andere austauschbar ist, also eine grobe Annäherung an die Idee der Wechselkosten, nur relational zwischen den Plattformen. Das sind Schätzwerte, aber ich finde sie in sich plausibel?

Die Idee ist einfach. Instagram ist nett, aber wenn die doof werden, kann ich relativ günstig zu Tiktok wechseln, aber weniger einfach zu Youtube. Oder Elon macht Ärger, dann ist Threads nicht weit, aber Tiktok ist weniger eine Alternative, etc. Die Plattformen sind einander keine vollen Substitute, aber … something to work with – in unterschiedlichem Maße.

Indem wir die Zeilen aufaddieren, können wir damit den Wert für die Pfadalternative (γ,x), also die durchschnittliche Austauschbarkeit der jeweiligen Plattform errechnen.

Danach holen wir uns die Monthly Active Users (MAUs) der Plattformen und setzen die erwarteten und unerwarteten Pfadgelegenheiten (γx + γ‘x) – wie im Rechenbeispiel im Newsletter – auf 1.

Erklärung dazu: Ja, dass die Plattformen alle ähnlich wertvolle Pfadgelegenheiten bieten ist unrealistisch, aber es ist quasi unmöglich den Wert von Pfadgelegenheiten zu messen, jedenfalls fallen mir keine überzeugenden Proxis ein. Wer eine Idee hat, ist willkommen. Das Ist aber in diesem Fall auch nicht so wichtig, denn die Veranschaulichung der Rechnung funktioniert auch unter der Annahme, einheitlicher Pfadgelegenheitswerte und ich gehe sogar fest davon aus, dass der Effekt bei realistischeren Werten für (γx + γ‘x) derselbe wäre, und im Verhältnis zu anderen Plattformen außerhalb der Koalition (die ich hier der Einfachheit halber jetzt weggelassen habe) eher stärker wird, als schwächer.

Damit haben wir jetzt alles zusammen, um die Plattformmacht der einzelnen Plattformen zu berechnen.

Im Falle der Koalition passiert nun folgendes: Es bildet sich quasi eine neue Plattform mit der MAU-Größe der aufaddierten Einzelplattformen, aber statt dass die akkumulierten Pfadgelegenheiten durch ihre Pfadalternativen (γ,x + 1) aus der Subsitutionsmatrix dividiert werden, setzen wir γ,x = 0,1 und dividieren also durch (0,1 + 1 = 1,1). Weil plötzlich (fast) alle Pfadalternativen wegbrechen. Die User sind gefangen.

Was man hier sieht: Die Plattformmacht der einzelnen Plattformen aufaddiert ergibt bereits unglaubliche 3.596, aber die Plattformmacht der Koalition ist 2,82 mal so groß wie die aufaddierten Plattformmächte und liegt bei 10.137.

Das ist der Thanos-Effekt. Nur durch die Eliminierung der Pfadalternativen hat jede Plattform jetzt fast drei mal mehr Macht über dich, als vorher. Und ja, wenn du mehrere Accounts auf den betreffenden Plattformen hast, musst du den Effekt auf dich entsprechend multiplizieren. Wenn du die Purge-Koalition verlassen willst, musst du nicht nur dein Instagram und dein X Konto aufgeben, sondern eigentlich alles von big Tech: Google, Tiktok und alle Metadienste. Das ist ne Menge Lockin.

Was bedeutet das für dich?

Das bedeutet, dass die Koalition dadurch bemächtigt ist, mehr und schlimmere Dinge zu tun, die gegen deine Interessen, Erwartungen und Prinzipien verstoßen, bevor du die Abhängigkeit auflöst. Effekt: Der Purge wird als Pfadgelegenheit für die Koalitionäre real. Und was ihnen sonst noch so einfällt.

Es bedeutet auch – das muss man sich vergegenwärtigen – auch für alle anderen Nutzenden. Du schaffst den Absprung vielleicht, weil du nicht so investiert bist, in die beteiligten Plattformen.

Aber wie die Formel nahelegt und wir am Beispiel der Twitterübernahme gesehen haben, ist die Wahrscheinlichkeit für Nutzende zu gehen, umgekehrtproportional zu ihrem Erfolg auf der Plattform. Klar, die Großen Accounts haben am meisten zu verlieren und weil sie da bleiben, halten sie auch den Großteil der anderen Nutzenden auf der Plattform. Und weil große Accounts auch außerhalb eine große Öffentlichkeitsmacht haben, verändert sich der Diskurs, auch über die Plattform hinaus.

Wenn du die Werte für unrealistisch hälst, oder Dinge ausprobieren willst, kannst du auf diese Website gehen und an allen Werten rumspielen.

Die Möglichkeit der Purge-Koalition ist real und katastrophal gleichzeitig. Wie ich im Newsletter schreibe:

Was uns bevorsteht, ist die endgültige Graphnahme und Gleichschaltung der digitalen Öffentlichkeit durch Trump, Netanjahu und ihre Tech-Oligarchenfreunde.

Der Newsletter hat leider die Message nicht rüberbringen können, das Feedback war zwar positiv, aber auch nicht tiefgehend oder kritisch. Daher ein extra Aufruf: Bei Kritik, Fragen und Unklarheiten, schreibt gerne in die Kommentare oder schreibt mir ne Mail.

Um aber einem Einwand vorauszukommen: Nein, die Pfadalternativen werden sich nicht schon von allein bilden, „wenn der Markt dafür da ist“. Das ist neoliberal gebrainwashter Bullshit.

Ich hab früher immer gesagt: Der Markt sind drei Oligarchen im Trenchcoat und ich weiß, dass das eine etwas unterkomplexe Sichtweise ist. Was ich eigentlich meine: Der Markt ist Infrastrukturrelational materielle Infrastruktur: In diesem Fall Datencenter, Glasfaserleitungen, aber eben auch: pfadabhängige Beziehungen, Verbindungen, Bedürfnisse, soziale Kontakte, berufliche Chancen, etc. die außerhalb der Plattform erst mühsam wieder aufgebaut werden müssen – wenn das überhaupt geht.

Mit der politischen Ökonomie der Pfadgelegenheiten können wir deswegen weniger unterkomplex sagen:

„Der Markt“, aus Usersicht, ist die beliebig fein granular aufschlüsselbare Subsitutionsmatrix von oligarchenabhängigen Pfadgelegenheiten im Trenchcoat.

Natürlich werden freie Konkurrenzplattformen – wie bei der Twitterübernahme – im Falle des Purge enormen Zulauf haben und unten am Boden sieht es dann manchmal so aus, als würde man das Spiel gewinnen. Aber schau, was es bei der Twitter-Übernahme geschehen ist: die meisten sind geblieben und Mastodon, Bluesky und Threads haben X nur eine Delle verpasst, aber seine Hegemonie als öffentlichen Diskursraum nicht wirklich angegriffen.

Netzwerkeffekte sind real. Es wird Zeit, sich mit ihnen zu befassen.

Edit 5.10.25: Ein weiterer Einwand zum einfangen: Warum betrifft mich das? Ich bin gar nicht auf diesen Plattformen, nutze Bluesky/Mastodon, zur not les ich ein Buch?

Das ist das, was ich auf meiner langen Reise herausgefunden habe: man kann Netzwerkeffekte nur verstehen, wenn man aus der individualistischen Perspektive aussteigt und versucht, das Dividuum zu denken. Also zunächst sich selbst als Dividuum zu denken und dann von sich auf andere zu schließen und anschließen versuchen, mit dieser anderen Perspektive die Welt zu interpretieren. Bei dieser Übung bekomm ich dann nach und nach ein besseres Gespür dafür, wie die Dinge, wie z.B. Diskurs, Medien, Öffentlichkeit, Technologie, Macht, Kultur, Politik, etc. miteinander zusammenhängen und all das auch mit mir. Es ist tatsächlich mehr ein Einüben, als ein Verstehen. Ich selbst hab es bei Donna Haraway gelernt, aber es gibt auch andere Einstiege. Spinoza, Nikolaus von Kues, Deleuze, Guttari aber das haben mir nur andere berichtet.

Der Grund, warum es eher eine Übung ist, als ein Verstehen, ist natürlich, dass wir allesamt die Subjektperspektive des „Invididuums“ seit unserer Kindheit eingeübt (bekommen) haben, denn zumindest hier im Westen ist sie seit Anfang des 20sten Jahrhunderts die hegemoniale Perspektive auf die Welt und wie alle Standards haben Metaphysiken Switching Costs. Im Fall des Individuums sind es erhebliche Switching Costs, weil es als Pfadsetzung so tief in unserem dividuell kulturellen Koordinatensystem verankert ist und viele ihre Identitäten pfadabhängig darauf aufgebaut haben.

Aber wenn man sich an vielen Beispielen immer wieder plausibel macht, wie wie oft das Individuum als plausible Erzählung nicht funktioniert und stattdessen aufzeigt, auf wie vielfältige Arten wir immer schon miteinander verbunden sind und diese Beziehungen für sich und andere sichtbar macht, dann – das hab ich jedenfalls so erlebt – wird es stellenweise möglich, die Infrastrukturvergessenheit des individualistischen Blicks zu überwinden und naja, zu sehen, was vor einem liegt. Ich sags gleich: Das was man dann sieht, ist nicht schön, aber darum geht es: trotzdem hinsehen. Verstehen. Ein Stückweit ehrliche Verantwortung übernehmen für die Gesamtscheiße, denn ob wir wollen oder nicht: auch wir sind Komplizen, denn auch wir sind pfadabhängige Profiteure. Das ist das Projekt, dass ich in meinem Newsletter eigentlich verfolge: Die eilige Konstruktion einer Off-Ramp aus einem toxisch gewordenen Individualismus. Für mich selbst, aber auch für alle, die mitkommen wollen.

Anderes Beispiel: Klimawandel. Wir können ewig über individuelle „Footprints“ streiten, aber das lenkt nur von der Wahrheit ab, die zwar klar vor uns liegt, die aber nur wenige sehen wollen: wir haben unsere Infrastruktur – den Kapitalismus – so eskalieren lassen, dass sie uns erwürgt.

Das heißt, der Einwand: „Warum betrifft mich das?“ klingt bei mir ungefähr so, wie: Klimawandel muss mich nicht interessieren, ich kauf ja Bio.

Edit 16.11.2025: Hier geht es zu einem Explainer für die theoretischen Grundlagen des Ganzen.

Edit 16.11.2025:

Hier eine dynamische, zeitbasierte Simulation (in Zusammenarbeit mit ChatGPT und Claude).