SR.de: Kulturwissenschaftler: Pandemie-Aufarbeitung nicht Verschwörungstheoretikern überlassen

Ich war habe beim SR über die RKI-Protokolle geredet.

Die Veröffentlichung der RKI-Protokolle hat zu einer heftigen Debatte geführt – vor allem in Sozialen Netzwerken. Die großen Skandale, die politische Einflussnahme, gar Verschwörungen sind in den Protkollen nicht zu finden, in den Sozialen Netzwerken dominieren aber genau diese Narrative. Kulturwissenschaftler Michael Seemann beschäftigt sich mit solchen Mechanismen im Internet und Social Media.

Quelle: SR.de: Kulturwissenschaftler: Pandemie-Aufarbeitung nicht Verschwörungstheoretikern überlassen

Krasse Links No 9.

Frohe Feiertage wünscht Krasse Links No 9. Heute suchen wir eine komplizierte aber aufrichtige Passage durch das Archipelago diskursiver Ostereier.


Die Woche fing schon mal gut damit an, dass plötzlich alle die Pandemie aufarbeiten wollten, was mir ja nur recht ist, aber der eigentliche Grund war leider, dass ein Spinnerblog die internen RKI-Protokolle freigeklagt hatte. Meine Frage, ob man eine seriöse Aufarbeitung der Files nur hinter Paywalls bekommt, wurde vielfach mit diesem tatsächlich lesenswerten Fact-Check der Tagesschau beantwortet, aber das grundsätzliche Problem, dass man die Loonie-Interpretation überall frei Haus ins Gesicht gedrückt bekommt, während man für seriöse Takes entweder suchen oder bezahlen muss, ist dadurch leider nicht gelöst. Jaja, ich weiß, Journalismus hat seinen Wert, Demokratie aber auch!

Jedenfalls fand ich die Schlussfolgerungen von Martin Rücker bei Riffreporter nachvollziehbar, der das RKI und die Journalist*innen für ihren pikierten Umgang mit diesen Files kritisiert. Er fragt, warum erst die Verschwörungsheinis die Akten freiklagen mussten und hofft, dass in Zukunft Transparenz und ein offener Umgang mit eignen Fehlern für mehr Vertrauen sorgen werde.



Ebenfalls diese Woche rammte ein großes Containerschiff die Francis Scott Key Bridge in Baltimore, die daraufhin in sich zusammenstürzte. Wer die Serie The Wire gesehen hat, hat eine Ahnung davon, welchen zentralen wirtschaftlichen Stellenwert der Hafen in der eh schon vergleichsweise armen Stadt hat und dieser Hafen wird jetzt über Jahre nicht nutzbar sein. Die ganze Stadt droht jetzt in Armut zu versinken, es ist eine Tragödie.

Das Baltimore-Desaster hat aber auch ein Scheinwerferlicht auf eine andere Krisenregion geworfen: X. Vox hat einen zusammenfassenden Artikel darüber, wie sofort die beknacktesten und rassistischsten Verschwörungstakes viral gingen und der Dienst für seriöse Informationssuche zu keinem Moment zu gebrauchen war (im Gegensatz zu früher, als die dümmsten Takes immerhin noch ein paar Stunden auf sich warten ließen).


Der Medienwissenschaftler Mike Caulfield hatte bereits vor einiger Zeit eine interessante Theorie aufgeschrieben, die sowohl auf die RKI-Files, als auch auf die abstrusen Baltimoretakes passt. Argumentieren, so Caulfield, sei eine Art genereller Trieb des Menschen und dabei gehe es gar nicht darum, den anderen zu überzeugen, sondern die eigene Position als „reasonable“ zu verteidigen.

Seit dem Internet haben Debatten aber die Eigenschaft nie zu Ende zu gehen und so hätten auch die jeweiligen Diskursteilnehmer*innen nie aufgehört nach Evidenzversatzstücken zu graben. Ob eine Debatte „offen“ sei oder nicht, bestimmt dabei nicht, wie viele und wie starke wissenschaftliche Beweise es für die eine oder andere Seite gebe, sondern nur, ob die Seiten aufhören zu diskutieren. Deswegen sind die RKI-Files so ein gefundenes Fressen für die Verschwörungsloonies, denn darin finden sich wieder endlos viele Sätze über Masken, Gefahreneinschätzungen und Impfungen, die sie triumphierend als Puzzelteile ihrer Weltsicht hochalten können.

Caulfield schließt, dass sich in unserer heutigen, zunehmend polarisierten Internetsituation jede Nachricht und jede Information sofort zum „Beweis“ für die eine oder andere Seite der ein oder anderen Debatte erklärt wird. Alles ist jetzt Evidenz.

Part of what is happening is this — because open arguments must be advanced or maintained at all times, anything that happens must be read in terms of its use in advancing the pertinent open arguments. Everything is grist for the argument mill.

Ich fürchte, das bedeutet, dass keine Debatte jemals „geklärt“ ist und dass am Ende diejenigen gewinnen, deren intrinsische Motivation für die „Beweissuche“ am längsten anhält? Und das bedeutet leider auch, dass Transparenz einfach keine Lösung für dieses Problem ist, denn Transparenz bedeutet in der Realität nur immer mehr „Beweise“ und damit ein Sich-weiter-drehen der Debattenspirale.

Das hat aber in zweiter Ableitung noch den Chilling-Effect, dass jetzt alle vernünftigen Leute öffentlich nur noch auf Eierschalen gehen, weil sie ständig Angst haben, den Trottels Munition zu liefern. Das erklärt auch das awkwarde Handling der Files durch das RKI und die Journalist*innen, aber wie man an der entgleisten Debatte erkennt, ist keine Transparenz halt auch keine Lösung. *Seufz*


Johnathan Haidts neues Buch, The Anxious Generation, das behauptet, die zunehmenden psychischen Störungen unter Jugendlichen seien vor allem Social Media induziert, macht gerade überall die Runde, und ich muss ehrlich sagen, dass ich weiterhin nicht überzeugt bin. Mit Caulfield könnte ich hier selbstkritisch einwenden, dass ich vor langer Zeit (kennt noch wer Manfred Spitzer?) auf der anderen Seite dieser Debatte gelandet bin und seitdem nach Argumenten gegen diese These suche. Allerdings macht es mir Haidt auch einfach und so ich kann ich mich fürs erste an dieser Rezension von Candice L. Odgers in Nature festhalten. Sie ist Psychologin an der Universität von Kalifornien und im Gegensatz zu Haidt tatsächlich Spezialistin auf diesem Gebiet und sagt, dass die Forschung Haidts These nicht stütze. HIER! DA! Beweis! HAHA!


Meredith Whittaker meldet sich lesenswert zu dem drohenden Tiktok-Verbot in den USA zu Wort. Ja, Tiktoks potentielle Propagandapower sei gefährlich, aber als CEO von Signal habe sie einen globaleren Blick auf die Plattformlandschaft und da sehe sie derzeit die größere Gefahr in der Tech-Hegemonie der USA. Es sei ja nicht so, als habe die USA nicht auch Interessen, die sie über die hiesigen Plattformen versuche, in die Weltöffentlichkeit zu drücken. Als Beispiel nennt sie den Druck, den die amerikanische Politik hinsichtlich der Berichterstattung über den Gaza-Krieg ausübe und den sie auch als den wesentlichen Motivationsfaktor für das Tiktokverbot identifiziert.

Am Ende sei allen diesen Plattformen zu mißtrauen, aber ihr sei es lieber, wenn dann wenigstens eine gewisse Pluralität der Propagandaregimes existiere.

Or, to oversimplify for the sake of explanation, one platform may suppress pro-Palestinian speech, and another may suppress documentation of Uyghur genocide, but together they could provide access to both.

Ich finde ihren Punkt fair, insbesondere, wenn man dabei eine mögliche zweite (und damit endgültige?) Trumppräsidentschaft in Betracht zieht.



Die Website „New Extractivism“ versucht den Prozess der Extraktion bei digitalen Plattformen im Detail nachvollziehbar zu machen und ist in vielerlei Hinsicht wirklich gelungen. Der Netztheoretiker Vladen Joler verknüpft dabei seine Theorie der Plattformen mit einer ansprechenden grafischen Aufbereitung, die die einzelnen Mechanismen in metaphorische Bilder einfängt und sie zu einem komplexen Gesamtsystem verbindet.

Ich finde das Gesamtkonzept beeindruckend, auch wenn ich inhaltlich manche Dinge anders sehe. Ich bin zum Beispiel überhaupt kein Fan von Zuboffs Konzept des „Behavioral Surplus“ (Soo viele Probleme, aber allein schon die Frage wo genau Mehrwert entsteht, wenn Nutzer*innen dazu bewegt werden, ihr Geld für x statt für y auszugeben?). Ein bisschen ähnlich geht es mir auch mit vielen anderen Elementen des Systems. Die meisten Narrative sind bereits bekannt und Joler steckt sie gewissermaßen nur zu einem Gesamtgefüge zusammen, aber ich schätze, ähnliches könnte man durchaus auch über die Macht der Plattformen sagen und wahrscheinlich bin ich nur neidisch: ja, fuck, ich will auch so Grafikkram für die Macht der Plattformen!



Eine ebenfalls spannende grafische Aufarbeitung ist Models all the Way Down, aber statt schnöde Theorie aufzubuzzen steckt dahinter eine handfeste Recherche zu KI-Trainigsdaten. Das Team von „Knowing Machines“ hat sich dafür in die Untiefen des Bild-Trainingssets LAION-5B versenkt und sich auch die Methoden und Tools zur Erstellung dieses Sets genauer angeschaut und dabei einige wirklich spannende Erkenntnisse zutage gefördert. Z.B. dass die Trainingsdaten-Bilder, einfach weil es so unfassbar viele sind, selbst durch KI-Modelle kuratiert werden. Von KIs, die wiederum an Daten trainiert wurden, die von Menschen ausgewählt wurden usw. KI wird immer mehr zum Briefkastenfirma-Scheme, wo hinter der KI eine weitere KI und hinter der eine weitere KI steht, die sich alle ihre Biases weitervererben. Am Ende kommt raus, dass ein Subset von LAION-5B, LAION-Aesthetics, durch eine KI zusammengestellt wurde, deren „Geschmack“ anhand der Präferenzen einer Handvoll Nerds aus einem spezifischen KI-Bildgenerierungs-Discord trainiert wurde und genau dieses LAION-Aesthetics-Set ist jetzt die Fine-Tuning-Grundlage von Midjourney.

The concepts of what is and isn’t visually appealing can be influenced in outsized ways by the tastes of a very small group of individuals, and the processes that are chosen by dataset creators to curate the datasets.

In the case of Midjourney, by a handful of esoteric nerds, and by a 65-year old mechanical engineer living in Southeastern Wisconsin.

Die Washington Post hatte letztes Jahr etwas ähnliches (aber nicht so tiefgreifendes) mit den Textdaten eines Googlesets gemacht. Solche Recherchen sind super wertvoll, weil das Verhalten, das „Weltbild“ und der Stil von KI-Modellen eben nicht in der Software, sondern in Trainingssets steckt, was sie zu einem zentralen Ort der Politik macht.


Ich höre den Decoder Podcast von Nilay Patel, dem Chefredakteur von The Verge noch gar nicht so lange, aber er ist wirklich eine gernerelle Empfehlung. Diese Woche war Jay Graber, die CEO von Bluesky zu Gast und ich habe wirklich viel gelernt. Besonders spannend fand ich, als die beiden über die Mastodonkultur sprachen.

„This was, as I mentioned, one of the reasons that we didn’t try to get ActivityPub to change toward the direction of what we wanted to build because not just the technical primitives being different, there’s also this culture of resistance to global feeds and global algorithms.“

Ich bin noch nicht davon überzeugt, dass Bluesky das Rennen macht, aber ich muss sagen: She has a point? Derzeit scheint Mastodons größtes Problem seine Kultur zu sein. Es gibt so viele Leute, die keinen Fuß mehr auf Mastodon setzen, wegen der nerdigen Besserwisser-Replyguy-Kultur und Entwickler*innen sind abgeschreckt von der Feindseligkeit der Community bezüglich jeder Weiterentwicklung, die Mastodon aus der Nische herausführen könnte. Egal, ob globale Suche, BlueSky-Bridge oder seit neustem die Öffnung zu Threads – man will einfach gerne unter sich bleiben und deswegen mieft es dort zunehmend wie in einer runtergekommenen Eckkneipe mit Schultheiss vom Fass. Jungs, macht mal das Fenster auf Kipp!


Dieser Artikel bei Technology Review versucht der Frage nachzugehen, die ich ebenfalls bei Large Language Models am spannendsten finde, nämlich, warum die Dinger überhaupt funktionieren. Leider bietet er keine Antwort auf die Frage, außer, dass die KI-Wissenschaftler*innen auch nur an den vielen zur Verfügung stehenden Reglern drehen, bis die Antworten irgendwie gut aussehen. Famously dargestellt von XKCD.

Ein paar spannende Phänomene werden dennoch besprochen: Overfitting und Double Descent, inklusive der (umstrittenen) These, dass beides zusammenhängt.

Ich glaube aber, dass die Antworten in der Statistik zu Suchen ein ähnlicher Kategorienfehler ist, wie Zellteilung anhand von atomarem Elektromagnetismus erklären zu wollen. Ja natürlich ist das alles auch Physik, aber für Erklärungen ist es schlicht der falsche Layer? Ich persönlich glaube tatsächlich, dass in LLMs emergente Phänomene passieren, die im Kern zwar statistisch, aber mit dem statistischen Begriffsapparat nicht zu fassen sind.

Ich mag zum Beispiel die Erklärungen von Timothy Lee und Sean Trott in diesem LLM-Explainer, die sich an vielen Stellen auf durch Forschung informierte „educated Guesses“ beziehen, dadurch zwar spekulativer aber auch erkenntnisreicher sind.

Ich mein, hey. Niemand weiß wirklich, was da in den hunderten von Milliarden von Parametern geschieht also was soll die Zurückhaltung? In den 1970er Jahren hätte jeder französische Philosoph schon fünf Bücher darüber geschrieben!


Steven Levy, das alte Tech-Reporter Schlachtross, traut sich aus der Deckung und widerspricht den Stimmen, die in generativer KI nur einen Hype sehen. Sein wesentliches Argument ist, dass die Technologie einen anhaltenden Adaptionsschub im Arbeitskontext erlebe – von 12 auf 20% innerhalb der letzten 6 Monate laut PEW Studie. Er vergleicht die Einführung von generativer KI mit der Einführung von Spreadsheets Anfang der 1980er Jahre, was die Weltwirtschaft bekanntlich nachhaltig veränderte, deren Adaption aber viel langsamer verlief.

Ich merke immer mehr, dass ich mich in Sachen KI in einer tricky diskursiven Position befinde. Ich glaube, die Technologie ist des Teufels und wir sollten morgen mit Panzern ins Silicon Valley einfahren und alle festnehmen, aber gleichzeitig glaube ich weder an den AGI-Doomerism, noch daran, dass das alles nur überhyptes Geschnatter von stochastischen Papageien ist. Die Technologie als Technologie ernst zu nehmen und gleichzeitig ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft zu befürchten, scheint irgendwie kein richtiges Camp innerhalb dieser Technologiedebatte zu sein?

Ich mein, wenn Steven Levy recht hat und man alleine die Unfälle, die Excel verursacht hat zur Grundlage nimmt, können wir uns auf Einiges gefasst machen.


Ok, gut. Ein Artikel in der traditionell eher linken „The Nation“ von Sage Cammers-Goodwin und Rosalie Waelen geht in eine ähnliche Stoßrichtung in die ich auch denke, bleibt aber analytisch eher an der Oberfläche. Trotzdem wurde der Artikel sofort wegen seinen „Anthromorphismenzerrissen.

Deswegen hier vier Gründe, warum ich Anthropomorphisierung von generativer KI OK und manchmal sogar gut finde:

  • Ich halte die Gefahren der „Antromorphisierung“ für übertrieben. Natürlich besteht die Gefahr, aber die Leute, die das tun (sich zum Beispiel in Chatbots verlieben und ihnen ein Bewusstsein zuschreiben) sind selten die Leute, die kritische Texte dazu lesen. Daher frage ich mich, für wen die Warnung gut sein soll?
  • Die Leute, die immer laut rufen, dass LLMs nicht „Denken“, „Verstehen“, „Sprechen“ oder „Übersetzen“ können, wirken immer so, als wüssten sie ganz genau, was diese Begriffe bedeuten. Das wissen sie aber genauso wenig, wie der Rest von uns, was mich zu der These veranlasst, dass es hier um identitätspolitisches Abrgrenzungsgehabe geht. Anthropozentrische Identitätspolitik is a thing now, I guess? (PS: Ich habe mich in dem Böckler-Paper zu LLMS auch mit der Frage befasst, ob LLMs verstehen. tl;dr: its complicated)
  • Es wird außerdem immer so getan, als würde man implizit davon ausgehen, dass „Verstehen“ bei LLMs haargenau den Prozesse im menschlichen Gehirn entsprechen müsse, was natürlich quatsch ist. Es gibt offenbar eine gewisse, funktionale Äquivalenz, obwohl ebenfalls offensichtlich ist, dass eine LLM zB kein Bewusstsein hat. Aber deswegen darauf zu bestehen, dass, was immer in den LLMs passiert kein „Verstehen“ sei, würde auch bedeuten, dass Flugzeuge keine Flügel haben, weil die Flugmechanik bei Vögeln ja ganz anders funktioniert.
  • Darüber hinaus finde ich „Antropomorphisierungen“ von KI durchaus hilfreich und empfehle das sogar. Die Dinger reagieren nun mal in vielerlei Hinsicht eher wie Menschen als Computer und es macht durchaus Sinn, ihre Aussagen zum Beispiel eher wie die des super selbtbewussten aber häufig bullshittenden Arbeitskollegen zu behandeln, als die von, sagen wir, einer wissenschaftlichen Datenbank.

Der Historiker Adam Tooze hat in seinem Newsletter einen längeren Essay über die Hintergründe von Merkels berühmter „Israels Sicherheit ist deutsche Staatsraison“-Rede geschrieben, die bis heute die politischen Beziehungen zu Israel bestimmt. Die wichtigste Erkenntnis: der Satz fiel in einem Kontext, der sich gar nicht auf die Unabhängigkeitsbestrebungen der Palästinener als Sicherheitsrisiko bezog, sondern auf den Iran, dessen angestrebtes Atomprogramm damals im Zentrum globaler Aufmerksamkeit stand. Außerdem war die Rede nicht nur Rhetorik, sondern durch die Lieferung mehrerer atomwaffenbestückbarer U-Boote aus deutschen Werften untermauert.

Die Rede muss, mit ihrer klaren Referenz auf das vordemokratisches Konzept der Staatsraison auch als Ankündigung eines „Eliten-Projekts“ verstanden werden, das sich noch heute im Topdown Umgang der Bundesregierung mit dem Gazakrieg zeige, so Tooze:

„But what Merkel was saying before the Knesset in 2008 was precisely this: the Federal Republic’s commitment to Israel does not depend on fickle democratic mandates or public opinion on the German side. It is a deeper principle, if necessary to be defended, argued for and insisted upon in the face of an unwilling German public. Indeed, in front of the Knesset, Merkel explicitly defined the task of German democratic leadership as cleaving to Israel even in the face of public opinion polls that revealed a groundswell of German attitudes that were far more skeptical about Israel and Germany’s historical obligation.“

Das ist wieder so eine Passage, bei der ich sofort schlucken musste, denn natürlich kann ich mir denken, wie solche Sätze von Verschwörungstheoretiker*innen gefeiert werden. Aber ich bin es leid, mich ständig an der Beweisaufnahme-Motivation von Spinnern zu orientieren. Die Dinge sind, wie sie sind, lasst sie uns diskutieren und die Schwurbler werden dann einfach geblockt.



RealLiveLore hat einmal die wechselhafte Geschichte der afrikanischen Sahelzone aufgearbeitet, unter anderem weil es derzeit einer der Hauptgründe für das gesteigerte Säbelrasseln der Franzosen gegenüber Russland ist.

RealLiveLore ist durchaus sehr russlandkritisch und hat bereits viele sehenswerte Videos zum Urkainkrieg gemacht und dennoch kann man sich in diesem Video des Eindrucks nicht erwehren, dass die Russen gar nicht so viel schlimmer als die Franzosen sein können. Die brutale, verbrecherische Herrschaft Frankreichs über die Region erklärt gut, warum die Menschen dort keine Lust mehr auf Europäer haben. Mir war allerdings auch die anhaltende Ausbeutungsstruktur über die CFA-Franc-Währung gar nicht bewusst, die die Staaten dort immer noch in einem extraktiven Abhängigkeitsverhältnis von Frankreich hält und die die Menschen dort verständlicher Weise abzuschütteln versuchen.

Wenn man zwischen französischer Ausbeutung, eiserner Diktatur und dem Horror von ISIS lebt, wirken die brutalen Wagner-Söldner wahrscheinlich plötzlich gar nicht mehr so schlimm? Jedenfalls ist es wahrscheinlich, dass die Spannungen zwischen Russland und Frankreich noch eskalieren könnten, spätestens, wenn die Uranlieferungen aus dem Niger bedroht sind.


Die Woche Endet mit der Entdeckung einer Hintertür in einem der wichtigsten Sysadmin-Tools überhaupt: OpenSSH. In diesem Text wird ganz gut beschrieben, was wohl vorgefallen ist: Anscheinend wurde eine der kleineren Bibliotheken namens „xz“, die in OpenSSH eingebunden ist, von jemand betreut, der schon länger gesundheitliche Probleme hatte und der übertrug die Verantwortung nur zu gerne an einen anderen Open Source Maintainer namens „Jia Tan“. Über diese Person ist wenig bis gar nichts herauszufinden, aber seine Commits schienen wohl OK genug gewesen zu sein? Jedenfalls war er es, der in einer der letzten Versionen eine gut versteckte Hintertür einbaute, was jetzt ein Security Nightmare für alle Serverbetreiber*innen weltweit ist.

Es wird natürlich wild herumspekuliert, was genau passiert ist. Steckt hinter „Jia Tan“ ein Geheimdienst? Wenn ja, welcher? Die Tatsache, dass Tan sich so fließend in den Gepflogenheiten der Open Source Community auskennt, könnte außerdem darauf hindeuten, dass er wohl schon länger und zu noch mehr Projekten beiträgt? Welchen?? Und die Tatsache, dass die Hintertür nur wegen eines kleineren Bugs im Code (der zu einem kleinen Laufzeitdelay führte) gefunden wurde, führt zu der bangen Frage, was uns noch alles so entgeht …

Nur weil alles voller Verschwörungstheoretiker*innen ist, heißt das nicht, dass nicht überall die Verschwörung lauert!!


Es wird immer schwieriger durch den undurchdringlicheren Wust von Meinungen und Debattenformationen zu navigieren und natürlich kann man dabei nur scheitern. Aber ich komme immer mehr zu der Ansicht, dass es nichts bringt, sich ständig daran zu orientieren, was tribalistische Debattenkrieger oder einfältige und/oder böswillige Spinner mit dieser oder jener Information oder Meinung tun werden. Die werden sowieso nicht aufhören, ihre Seite mit Bullshit-Evidenz aufzupumpen, also scheint mir die Strategie, mit eigenen halbgaren, aber aufrichtigen Takes dagegen zu halten zumindest nicht allzu … schädlich?

Krasse Links No 8.

Willkommen bei Krasse Links No. 8. Macht es euch bequem und holt die Butterstulle raus. In der heutigen Ausgabe machen wir zusammen mit KI eine Vergnügungsfahrt entlang der Abgründe der Silicon Valley Ideologien.



Anfang der Woche wurde endlich das Interview von Don Lemon mit Elon Musk ausgestrahlt und um es ultrakurz zusammenzufassen: Musk is extremely unwell. Es gäbe tausend Dinge zu sagen (bei Hakendran gibt es eine gute Besprechung), aber ich will nur einen Aspekt herausgreifen: Musk glaubt, dass die Sicherheit von Flugzeugen und von ärztlichen Behandlungen (und allem anderen) durch Anstrengungen in Sachen Diversity (DEI) unterminiert wird und er lässt sich von noch so vielen Studien nicht vom Gegenteil überzeugen, unter anderem weil seine Replyguys auf X das Gegenteil behaupten, aber eigentlich, weil die Idee biologisch bedingter Kompetenzunterschiede tief in sein Denken eingelassen ist.

Das Valley hat nicht erst seit dem KI-Hype eine Obsession mit Intelligenz. James Damore berühmt berüchtigtes Memo bei Google, das behauptete, die Hürden für Frauen in der Techbranche seien biologisch bedingte Kompetenzunterschiede, war nur der erste öffentlich wahrnehmbare Rülpser dieses Denkens. Bereits lange davor hatte sich in der sogenannten „Rationalist-Community“ ein Denkkonzept namens „Race-Realism“ entwickelt, was im Kern der alte, normale Rassismus ist, aber mit Fußnoten. Schon die klassische Intelligenzforschung ist aus der Eugenetik entsprungen, hatte als Scientific Racism eine Renaissance 1980ern mit dem Buch The Bell Curve und spukt bis heute in den Gehirnen von Thilo Sarrazin bis Elon Musk bis herum.

Motherjones hat eine gute Zusammenfassung von Musks Historie zur Verbreitung von neo-eugenetischen Rassentheorien auf X – hier zugehörige das Video von Garrison Hayes.

“Musk is amplifying users who will incorporate cherry-picked data and misleading graphs into their argument as to why people of European descent are biologically superior, showing how fringe accounts, like user @eyeslasho, experience a drastic jump in followers after Musk shares their tweets. The @eyeslasho account has even thanked Musk for raising “awareness” in a thread last year. (Neither @eyeslasho nor Musk, via X, responded to Garrison’s request for an interview.)“

Musk hat seit der Übernahme von Twitter hart daran gearbeitet, diese Ideen in die Welt zu tragen und kann jetzt mit einigem Recht als der reichweitenstärkste „White Nationalist“ der Welt gelten. Musk hat immer wieder klar gemacht, dass er bereit ist, viele Milliarden Dollar in X zu versenken, um die Plattform zu einem zentralen Verbreitungsmedium genau dieser Ideologie umzufunktionieren.

Leute auf X sagen oft immer noch „Twitter“ zu dem Dienst und glauben Musk damit irgendwie zu ärgern, dabei ist das eher ein Teil ihrer eigenen Verdrängungsstrategie. Sie können nicht akzeptieren, dass Twitter aufgehört hat zu existieren und sie ihre Witzchen jetzt auf einer Nazipropagandawaffe veröffentlichen.


Die Politikwissenschaftlerin Jennifer D. Sciubba war bei Ezra Klein, um über den globalen Demographischen Wandel zu sprechen. Klein leitet damit ein, dass der „Population Collaps“ eines der Hauptsorgen in Silicon Valley Kreisen ist und in dem Interview mit Sciubba wird deutlich warum: Die demographische Entwicklung verläuft nämlich nicht im Gleichschritt, sondern die Geburtenrate in den Regionen unterscheidet sich enorm. Während europäische und asiatische Länder teils schon lange unterhalb der Reproduktionsgrenze von 2,2 Kindern liegen, gibt es Regionen in Afrika immer noch durchschnittliche Geburtenraten jenseits von 5 Kinder haben. Das bedeutet, dass sich die Weltbevölkerung nicht nur auf ihren Peak zubewegt, sondern sich gleichzeitig in ihrer ethnische Zusammensetzung ändert.

Niemand promotet den „Population Collaps“ lauter als Elon Musk. Schon 2019 hatte er auf eine KI-Konferenz gesagt:

„Assuming there is a benevolent future with AI, I think the biggest problem the world will face in 20 years is population collapse,”

2022 bezeichnete er den Population Collaps als ein größeres Problem als den Klimawandel. Musk steckt außerdem Millionensummen in Forschung zu dem Thema, die ihm aber trotzdem nicht recht geben will. Musk ist außerdem ein Pro-Natalist und hat 11 Kinder mit drei Frauen.

Doch Musks vorgebliche Sorge vor dem „Population Collaps“ ist nur eine ziemlich durchsichtige Front für seine eigentliche Angst, nämlich vor der Veränderung der Zusammensetzung der Weltbevölkerung, denn das bedeutet in der Denkart von Musk gleichzeitig eine Minderung der Weltdurchschnittsintelligenz, was für ihn und vielen anderen im Silicon Valley einer Menschheitskatastrophe gleichkommt.

Um das zu verstehen, muss man den Kern der Ideologie des Effektive Altruism und des daran verkoppelten „Longtermism“ verstehen, dem nicht nur Elon Musk sich zugehörig fühlt, sondern ein Großteil der Silicon Valley Elite. Longtermists glauben, dass der Menschheit eine wunderbare Zukunft bevorsteht, wenn in einigen Hundert Jahren Dröfzigtrilliarden Seelen (simuliert oder biologisch ist egal) das Universum bevölkern, weil das ja klar ist. Ihre Ethik besagt nun, dass jede Handlung, die dieser Zukunft zuträglich ist, milliarden mal viel ethischer ist, als – idk – Menschen im hier und jetzt zu helfen. Mit anderen Worten, das viele Geld das die Techbros verdienen, ist bei ihnen selbst und ihresgleichen viel ethischer angelegt, solange sie zum Beispiel super hart über Dinge wie „AI Safety“ nachdenken.

Longtermism ist durch seine Bevölkerungsprojektion im Kern eugenetisch, denn in dem Weltbild ist Intelligenz gleichzeitig das Ziel, wie auch der Weg zum Ziel. Daher sind tatsächliche Katastrophen wie der Klimawandel, die Millionen, vielleicht sogar Milliarden Menschen das Leben kosten, durchaus hinehmbar (manche würden sie hinter vorgehaltener Hand sogar begrüßen, da „natürliche Auslese“). Aber eine Reduzierung des Welt-IQs durch Verschiebung der ethnischen Zusammensetzung der Weltbevölkerung vermindert die Chance auf das Trilliardenreich in der Zukunft und ist somit eine SÜNDE!!!11

Seit Musk die Maske fallen gelassen hat und auf X offen die „Great Replacement“ Verschwörungstheorie promotet, muss man gar nicht mehr so tief im ideologischen Keller graben, um zu verstehen, dass er ein Nazi ist, aber es hilft, um zu verstehen, welche Art von Nazi er ist.

Um den Schwachsinn aber nicht so ungechallenged stehen zu lassen, sei an dieser Stelle Theresa Bückers neuer Newsletter empfohlen, in dem sie unter anderem aufbereitet, wie der Rückgang der Geburtenraten und das veraltete Rollenbild von Männern zusammenhängen.



Ein spannendes Paper hat sich den Content auf 120 Facebook-Pages angeschaut, die mindestens 50 KI generierte Inhalte verbreitet hatten und von denen nicht wenige viral gingen. Unter anderem der oben gezeigte Shrimp-Jesus. Das, was da passiert wirkt für normale Menschen ziemlich Random aber die Forscher*innen geben auch ein Rational für den Erfolg dieser Bilder:

„You perhaps feel motivated to share it with your friends, so that they can share in your WTF moment.“

Ryan Broderick hatte zudem darauf aufmerksam gemacht, dass christlicher Content auf Facebook auch deswegen häufig viral geht, weil Christen gerne reflexartig „Amen“ unter jede Jesusdarstellungen kommentieren.

„You get people to say “Amen,” underneath a post, the post gets recommended to others, who say “Amen,” as well, etc. This is especially powerful on the platform right now because as news has been deprioritized on the platform, a lot more religious content has bubbled to the surface. This is why one the largest publishers on the site for the last six months has been a website literally just called catholicfundamentalism.com. it’s getting more engagement on Facebook, according to Newswhip, than, literally, every other publisher on Earth.“

Roland Meyer sieht darin sogar die mögliche Geburtsstunde eines neuen Kultes.

Ich für meinen Teil glaube allerdings, dass es sinnvoller ist, ganz anders über dieses und ähnliche Phänomene nachzudenken:

Zunächst stell Dir einen Raum mit allen denkbaren Bildern vor, also praktisch einen unendlichen Space, bei dem 99,99999,etc % aller Bilder aus undifferenziertem Rauschen bestehen (für Kulturmenschen: Think Borges’ Bibliothek von Babel).

Als nächstes stelle Dir alle tatsächlich existierenden Bilder als Subset dieses unendlichen Möglichkeitsraumes vor. Auch dieser Space ist ziemlich groß, immerhin enthält er von der Mona Lisa bis zur Buntstiftzeichnung deines dreijährigen Neffen alle tatsächlich realisierten Bilder der Welt. Und doch ist dieser Space innerhalb des Möglichkeitsraums verschwindend klein, vergleichbar etwa mit der Erde innerhalb der Universums. Als nächstes fällt dir auf, dass die existierenden Bilder sich nicht random über den Möglichkeitsraum verteilen, sondern dass sie alle miteinander auf vielfältige Arten zu einem vieldimensionalen Netzwerk verbunden sind. Alle Bilder haben Dinge mit anderen Bildern gemeinsam (dargestellte Objekte, Stile, Perspektiven, Farbspektren, etc.) und verweisen so aufeinander, sind miteinander verbunden. Gemeinsam bilden sie also eine Art struppiges aber zusammenhängendes „Gewächs“ innerhalb des Möglichkeitsraums.

In der Informatik nennt man dieses Gewächs einen „Search Tree“, denn, wenn alle Bilder über unterschiedliche Features aufeinander verweisen, kann man von einem Bild aus andere Bilder finden, indem man entlang der Vektoren des Netzwerkes Elemente, Stile, Farben, Objekte, etc. variiert. Wann immer dein Neffe den Buntstift in die Hand nimmt, wann immer Du ein Foto schießt, wann immer ein Maler malt oder Midjourney generiert, kann das als Suchbewegungsschritt am Rande des Search-Trees im Möglichkeitsraum aller Bildern verstanden werden.

Die Bilder, die bei diesen Suchoperationen herausfallen sind mal mehr oder mal weniger fähig, auf Social Media viral zu gehen – und das ist die Suchfunktion der Algo-Hustler auf Facebook, die den Shrimp Jesus entdeckt haben.

Algo-Hustler gibt es, seit es algorithmische Timelines gibt, aber mit generativer KI haben sie ein ganz neues Werkzeug, um den Raum der möglichen Bilder automatisiert abzutasten und die Ergebnisse per Trial&Error auf ihr virales Potential zu testen.

Sorry, für die längliche Erklärung, aber ich denke, diese Art über das Phänomen nachzudenken hilft zu verstehen, wo die Reise hingeht. Zunehmend viele, zunehmend mächtige generative KIs werden in immer größerer Geschwindigkeit und Präzision den Möglichkeitsraum der Bildern ausmappen und uns die Resultate an den Kopf werfen, bis irgendwas viral geht und die Hustler Geld mit Werbeeinblendungen machen können. Und wenn das nur bei jedem Millionsten Bild klappt – so what? Ist halt ein Geschäftsmodell.



Kontrastreicher zum Muskinterview könnte das Interview mit Sam Altman bei Lex Fridman gar nicht sein. Da sitzt ein sehr aufgräumter, fast bescheiden wirkender CEO, der seine Vision von AGI teilt und nebenbei über den Streit mit Musk spricht. Lex Fridman und er reden über Musk, wie von einem Toten („Ich vermisse den alten Elon“).

Aber man sollte sich keinen Illusionen hingeben. Altmans Visionen von der Zukunft sind keinen Deut weniger faschistisch als die von Musk.

Ein Thema der Unterhaltung ist natürlich AGI (Artificial General Intelligence), ein ziemlich fuzzy Konzept, das den Meilenstein markieren soll, wenn KI kompetenzmäßig in etwa auf Augenhöhe mit Menschen agiert, was das erklärte Ziel nicht nur von OpenAI, sondern so ziemlich allen relevanten KI-Startups und -Konzernabteilungen ist.

Versucht man sich AGI vorzustellen, dann denkt man an ein Computer der super kluge Antworten auf super schwierige Probleme findet und auch Altman schürt diese Erwartung, wenn er sagt:

„I think when a system can significantly increase the rate of scientific discovery in the world, that’s a huge deal. I believe that most real economic growth comes from scientific and technological progress.“

Das klingt toll. Ein Computer, der uns Lichtjahre an wissenschaftlichem Fortschritt beschert! Aber ich denke, diese Vorstellung sollten wir zunächst beiseite schieben und uns lieber die offzielle Definition von AGI in der OpenAI Charta anschauen, die da lautet:

„highly autonomous systems that outperform humans at most economically valuable work“

Diese Definition erlaubt einen Einblick in das Silicon Valley-Denken, das Einkommen als objektiv messbaren Proxy für Intelligenz hernimmt, was natürlich ein willkommenes Narrativ für die Tech-Milliardäre ist. Aber diese Definition vereist noch auf tiefere ideologische Schichten (neben der Eugenetik) der KI-Forschung.

Seit einiger Zeit hat sich vom Longtermism ein neuer Flavor in der TESCREAL-Melange abgespalten: E/acc, oder Effective Accelerationalism. Einfach erklärt: Während Longtermists größtenteils eine AGI-Zukunft begrüßen, aber zu enormer Vorsicht mahnen, sehen die Accelrationists es als eine Art unterlassene Hilfeleistung an, AGI nicht so schnell wie möglich aufzuwecken, um damit die Weltprobleme zu lösen. Sam Altman wird immer mal wieder der e/acc zugeordnet was einigen Interpretationen zufolge auch der eigentliche Konflikt um seinen CEO-Posten Ende letzten Jahres war.

E/acc erbt einige Anleihen beim ziemlich durchgeknallten britischen Cyberkapsper Nick Land, der schon in den 1990er Jahren eine gewisse Bekanntheit erlangte und dann immer mehr in die rechtsextreme Szene abgedriftet ist (Hier eine gute Einführung). In seiner aktuellen Variante basiert der Accelerationism allerdings mehr auf der physikalischen Beobachtung, dass jede Form von Leben darauf ausgerichtet ist, Energie für eigene Zwecke umzuwandeln und damit einhergehend die Entropie zu erhöhen. Daraus ergibt sich ein Weltbild, in dem die Erhöhung von Entropie durch ein System als Maßstab für dessen Erfolg gilt – ja, auch für den Erfolg von Gesellschaften. Wenn man einem e/acc KI-Heini also an den Kopf wirft, dass sein System unfassbar viel Energie verschleudert um – basically – nutzlose kulturelle Exkremente zu produzieren, wird er sich wahrscheinlich für das Kompliment bedanken.

In diesem Substack-Artikel werden die Glaubenssätze der Ideologie sehr konzise zusammengefasst (man beachte, wie Sam-Altman-Tweets den ganzen Artikel sprenkeln). Nebenei wird auch klar gemacht, dass der Kapitalismus selbst als eine Form von Intelligenz verstanden wird, der Bedingungslos zu gehorchen ist:

Capitalism is hence a form of intelligence; dynamically morphs the meta-meta-organism such that any sort of utility/energy in the environment is captured and utilized towards the maintenance and growth of civilization.

Weiter heißt es:

Effective accelerationism aims to follow the “will of the universe”: leaning into the thermodynamic bias towards futures with greater and smarter civilizations that are more effective at finding/extracting free energy from the universe and converting it to utility at grander and grander scales.

Und ganz im Ernst: wer würde es schon wagen, dem Universum zu widersprechen??

E/acc ist eine totalitäre Ideologie, die in ihrem Fortschrittsverständnis eine radikalisierte, quasireligiöse Form des Kapitalismus anbetet und alle seine negativen Effekte als unvermeidbare „Cost of Doing Business“ betrachtet. Der Planet und seine Bewohner sind im Zweifel die notwendigen Opfergaben an den Weltgeist.


Dass KI eine Bubble ist, geben sogar diejenigen zu, die grundsätzlich an die Nützlichkeit der Technologie glauben. Schon Ende letzten Jahres sinnierte Cory Doctorow darüber, welche Art von Bubble generative KI ist. Ist es eine, die nützliche Infrastruktur hinterlässt (wie die Techworker*innen nach der Dotcom-Bubble oder das Glasfasernetz von Worldcom), oder ist es eine Bubble, die nichts hinterlässt (wie Enron oder der Cryptohype)?

Doctorows wesentliches Argument ist dasselbe, das wir im Newsletter zur politischen Ökonomie von KI ebenfalls in das Zentrum rückten:

„AI decision support is potentially valuable to practitioners. Accountants might value an AI tool’s ability to draft a tax return. Radiologists might value the AI’s guess about whether an X-ray suggests a cancerous mass. But with AIs’ tendency to “hallucinate” and confabulate, there’s an increasing recognition that these AI judgments require a “human in the loop” to carefully review their judgments.“

Mit anderen Worten: Die „Value Proposition“ von KI, nämlich, den Menschen Arbeit abnehmen/wegnehmen, geht wegen Unzuverlässigkeit auf absehbare Zeit nicht auf, weswegen die Blase irgendwann platzen wird. Wie ich aber ebenfalls im Newsletter ausgeführt habe, gilt das aber nicht für alle Usecases und wie man oben an Shrimp Jesus sehen kann, sind die Automatisierungspotentiale für manche Anwendungsbereiche durchaus gegeben.

Kurz nach Veröffentlichung des Altman-Interviews wurde bekannt, dass OpenAI mit der kommenden Modellversion auch „Agents“ veröffentlichen wird. Agents sind Chatbots, die nicht einfach nur Texte kreieren, sondern autonom Ziele verfolgen können (ausführliche Erklärung). Wenn man ihnen zum Beispiel sagt: Buche eine Reise für zwei Personen irgendwo in der Sonne für wenig Geld, würden sie die Aufgabe in zu lösende Schritte einteilen und dann einen Task nach dem anderen abarbeiten, bis am Ende zwei Flugtickets plus Hotelbuchung herausfallen.

Auch das klingt ziemlich toll und einige sehen in solchen Systemen die Zukunft, aber mein Eindruck ist, dass auch hier noch sehr viel Zeit vergehen wird, bis man den immer noch notorisch unzuverlässigen KIs so relevante Entscheidungen anvertraut.

Was dagegen schnell passieren wird, ist, dass man Agents Geld in die Hand gibt, um Geld zu verdienen, denn hier sind die Risiken durchaus kalkulierbar. Die Experimente dazu laufen bereits auf Basis der aktuellen Modelle, aber um wirklich erfolgreich und autonom zu sein, sind sie offenbar noch nicht gut genug, was sich aber mit GPT-5 ändern könnte.

Im Gegensatz zu dem, was viele Menschen (auch außerhalb des Valleys) denken, braucht es zum Geldverdienen nicht sonderlich viel Intelligenz. Ich kenne die Spammer, die die Facebookpages mit Shrimp Jesus und Co betreiben nicht, aber ich habe keinen Grund davon auszugehen, dass es sich dabei um Genies handelt. Trotzdem denke ich, dass sie wahrscheinlich ganz gut an dem Quatsch verdienen? Sie spielen halt so rum, probieren Dinge aus und das klappt dann manchmal und das reicht doch schon. Der Reiz daran, KI-Agents zu haben, ist also nicht, dass man damit super schlauere Dinge machen kann, sondern dass man schneller und mehr dumme Dinge ausprobieren kann.

Stellt man sich den Möglichkeitsraum aller Tätigkeiten und darin den Search-Tree aller existierenden ökonomisch viablen Tätigkeiten vor, dann sind an dessen Rändern noch schier unendlich viele Arbitrage-Gelegenheiten zu finden, die man nun mit solchen Agents automatisiert ausmappen kann. Eine Möglichkeit solche Gelegenheiten zu finden, wäre zum Beispiel Agents ständig monitoren zu lassen, welche Produkte gerade irgendwie Hip oder viral sind (Pokemonkarten, Stanley Cup, Shrimp Jesus-Stauen, whatever) und dann sofort mit einem mediokren Ripoff oder Metoo-Produkt am Start zu sein. Solche Gelegenheiten zu finden, bekommen KIs sicher bald hin und Mockups zu generieren geht wahrscheinlich heute schon automatisiert. Die Produktion ist eine Herausforderung, aber in China gibt es bereits gute Infrastruktur dafür. Ein Dropshipping-Onlineshop aufzusetzen ist ebenfalls einfach und standardisiert und sogar die Werbeclips können demnächst KI-generiert werden.

Und wer jetzt sagt, dass das vielleicht an der einen oder anderen Stelle hakt, ok: dann schaut halt an diesen Stellen kurz ein Mensch drüber. Und wer jetzt sagt, dass solche Agents ja nicht alle ökonomisch erfolgreich sein werden. Ok: dann schicke ich 1000, 10.000 oder 100.000 von denen an die Arbeit und wenn 20 % der Agents erfolgreich sind, habe ich bereits ne Menge Geld verdient. Ist halt ein Numbersgame.

Schau. Ich weiß nicht ob und wann AGI wirklich kommt und was dann passiert. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass in weniger als fünf Jahren für jeden von uns etwa 1000 solche Agents existieren, die alle daran arbeiten uns irgendeinen sinnlosen Schrott anzudrehen. Und sie werden erfolgreicher sein, als wir denken.

Und ja, ich kann mir dann durchaus vorstellen, dass AGI in der Definition von OpenAI dann irgendwann greift: Wenn spammige Dropshipping-Schemes einen Großteil aller ökomomischen Aktivitäten ausmachen, ist sie ja quasi erfüllt. OpenAI wird dabei ein Plattformgeschäftsmodell betreiben und bei der Erhöhung des allgemeinen Rauschens kräftig mitverdienen.


David Karpf hat die interressante Theorie verbloggt, dass einige der hier geschilderten Phänomene durch das Aufpumpen der Vermögen der Superreichen durch das Quantitative Easing der Zentralbanken während der Coronazeit ausgelöst worden sei. Vor Covid war Elon Musk 27 Milliarden Dollar schwer, nach Corona war er auf einmal dreistelliger Milliardär. Wie Musk ging es vielen Milliardären, vor allem Techmilliardären.

Nun kann man sich einen solchen Vermögensanhub nicht wie die eigene Gehahltserhöhung vorstellen, wo man sich plötzlich einen längeren Urlaub und die größere Karre leisten kann, sondern in diesen Dimensionen verändert das zusätzliche Geld quasi die Schwerkraftverhältnisse im Gesamtsystem der Ökonomie. Karpf vergleicht das mit dem Einfluss, den die Gravitation des Mondes auf die Erde hat. Vor dem Anhub der Vermögen war ein Abendteuer wie der Kauf für Twitter schlicht nicht plausibel, danach … naja, ihr kennt die Geschichte.

The primary story of the post-techlash years hasn’t been driven by new technologies or old companies. The primary story has just been the accumulation of astronomical capital in too few hands, and the comical, catastrophic ineptitude that has followed.

Schon vor der Pandemie hatten die Tech-Milliardäre einen Sprung in der Schüssel, aber jetzt haben die Geld- und Ideologieinduzierten Allmachtsphantasien jegliche Vorsicht, jeden Anstand, jegliche Rücksicht und jede Menschlichkeit aus ihrem Streben nach „Fortschritt“ eliminiert und sie sind immer offener bereit, das Internet, den Planeten und uns alle auf einem riesigen Scheiterhaufen der Entropie zu opfern.


Ab und zu höre ich den Geschichtspodcast der Rosaluxenburg-Stiftung „Rosalux History“ mit Anika Taschke und Albert Scharenberg. Die letzte Folge handelte vom Bauernkrieg, der eines der Ereignisse war, die das Ende des Mittelalters und den Beginn der Neuzeit markieren.

Der Bauernkrieg wurde unter anderem von den immer gieriger werdenden Adel und Klerus ausgelöst, die ihre Machtposition in der Gesellschaft immer unverhohlener ausnutzten, um das durch die Pest dezimierte Volk auszubeuten. Die Bauernkriege waren der erste große Aufstand gegenüber einem überflüssigen, wie ungerechtem System und gegen eine moralisch vollkommen verottete Elite. Es dauerte dann noch einige hundert Jahre, bis die Spinner endlich unter die Guillotine kamen und das System tatsächlich abgeschafft wurde und meine Hoffnung wäre, das wir nicht ganz so lange brauchen?

Krasse Links No 7.

Willkommen bei Krasse Links No 7. Sag mal besser alle Deine Termine ab, denn diese Woche geht es um Schmerz, Identität und moralische Klarheit. Es wird sehr unangenehm und wenn Du Dich gerade nicht danach fühlst, leg den Newsletter besser weg und komm vielleicht später wieder.


Anfang der Woche sorgte das photogeshopte Foto von Kate Middelton für einen selten gewordenen Moment, bei dem die über viele Netzwerke verstreute digitale Öffentlichkeit wieder einen Main Character bekam.

Charly Warzel hat im Atlantic den besten Take dazu:

„The royal-photo debacle is merely a microcosm of our current moment, where trust in both governing institutions and gatekeeping organizations such as the mainstream press is low.“

Im Anschluss an den letzten Newsletter setze ich einen drauf und sage: die Realität ist broken. Es sind nicht nur die Institutionen, denen wir misstrauen, sondern alle unsere Streams sind suspekt geworden. Unsere digitale Umwelt wirkt zunehmend feindlich. Fake, KI, Propaganda, Photoshop, Bots, Sockenpuppe, Spam, Scam, Phishing, Desinformation, FUD, Einflussoperation, Verschwörungstheorie … – das 21. Jahrhundert kennt 141 Worte für Schnee, Tendenz steigend. Das Zeitalter des Rauschens beginnt nicht deswegen, weil wir plötzlich besser Bilder fälschen können, sondern, weil kein Unterschied mehr einen Unterschied macht, so dass wir kollektiv den Glauben an das Signal verlieren.


In einem Kommentar zu dem letzten Newsletter callte Sascha Lobo meinen „Kulturpessismus“ out und ich denke, das ist fair?

Seit ich in das Internet reinschreibe, habe ich mich immer als Technikoptimist verstanden und die Art, wie sich das geändert hat, ist es wert, einmal aufgeschrieben zu werden.

Die Macht der Plattformen hat einiges von dem, was gerade passiert, als Möglichkeit vorgedacht. Das Buch basiert auf der Erkenntnis, dass Plattformen in erster Linie Infrastrukturen der Macht sind. Ihr Agieren ist grundlegend kolonialistisch und sie streben daher sowohl nach konsolidierter Souveränität wie nach technischer, zunehmend auch nach kultureller und stellenweise sogar nach politischer Hegemonie. Im Buch theoretisiere ich sogar recht überzeugend, wie das alles für uns nur schief gehen kann, lange bevor „Enshittification“ ein geflügeltes Wort wurde.

Und dennoch war das Buch noch awkwardly grenz-optimistisch geschrieben?

Solange die Ereignisse innerhalb der Parameter des Gewohnten bleiben, sieht man keinen Grund den eingespielten Erwartungen zu misstrauen – manchmal wider besseren Wissens. Bis dann doch etwas passiert und man merkt, dass echte Erkenntnis nur über Schmerz zu haben ist. Erst wenn auf den intellektuellen auch der emotionale Erkenntnisschritt folgt, ist tiefgreifende Veränderung möglich.

Elon Musks Umwandlung von Twitter zur Kulturkriegswaffe zwang mich, meine intellektuellen Gespinste als bittere Realität zu durchleben und ich muss sagen, die emotionale Dimension verschiebt die Perspektive noch mal enorm. Würde ich die Macht der Plattformen heute schreiben, würde ich inhaltlich wahrscheinlich gar nicht so viel verändern, aber es bekäme definitiv einen anderen Sound.

Technikoptimismus ist jedoch nicht nur eine Haltung, sondern zumindest bei mir auch eine diskursive Identität (und ein Businessmodell?) und wenn man so lange mit einer Identität unterwegs war, ist es schwer sie aufzugeben; insbesondere, wenn man für sich noch keine Alternativhaltung gefunden hat.

Ich bin noch nicht fertig mit der Suche, aber ein wertvoller Anstoß war dieser Videoessay von Lewis Waller über die deutsche Romantik und ihren Impact auf das westliche Denken. Die Romantik entwickelte sich zwar in Opposition zum Fortschrittsdenken, war aber bei genauerer Betrachtung nicht fortschrittsfeindlich oder gar antiaufklärerisch. Sie ließ den Fortschrittsdiskurs allerdings durch einige dialektische Loops hüpfen, um ihn wieder an menschliche Erfahrungsdimensionen zurückzubinden.

Ich weiß ja auch noch nicht, wo mich das alles noch hinführt, aber auf eine ähnliche Weise versuche ich in diesem Newsletter eine emotionale Aufrichtigkeit in mein Denken über Technologie zu bringen und ich schätze, eines der Ziele dabei ist, die abstrakten und gesichtslosen Wirkzusammenhänge der digitalen Transformation wieder dem moralischen Empfinden zugänglich zu machen. Und wenn dabei Kulturpessimismus rausfällt, dann hoffentlich immerhin ein politischer?


Als ich neulich über diesen Skeet stolperte, machte er mich sofort nachdenklich und ich musste mir eingestehen: ja, auch mich hat die Covidzeit emotional beschädigt.

Ich glaube, es war um den Jahreswechsel 20/21, als die Deltawelle fast 80.000 Menschen in Deutschland das Leben kostete, weil Politiker*innen von der Wirtschaftslobby gedrängt wurden, Eindämmungsmaßnahmen monatelang zu verzögern. Da ging viel in mir kaputt, was bis heute nicht wieder heile ist, aber die Wut hat auch etwas in Gang gesetzt.

Ich schätze, wenn man einmal an dem Punkt gekommen ist, strukturelle Gewalt mit einer ähnlichen Empörung zu koppeln, wie direkte Gewalt, findet man aus der Wut nicht mehr raus. Jedenfalls kann ich mich seitdem nicht mehr nicht aufregen, wenn Systeme horrende Gewalt produzieren und alle so tun, als wäre das das Normalste der Welt.


Jonathon Porritts Warnung, dass der Mainstream-Klimakonsens zum neuen „Denialism“ zu werden droht, hat mich auf dem falschen Fuß erwischt.

Wahrscheinlich habt ihr es auch schon mitbekommen, dass die Klimwakatastrophe viel schneller und intensiver von statten geht, als die Prognosen es vorhergesehen haben. El Niño spielt eine Rolle, klar, aber eine wachsende Menge an Klimawissenschaftler*innen ist gerade extrem besorgt und fühlt sich zunehmend entfremdet vom Mainstream-Klimadiskurs.

So grob hatte ich die Grundprinzipien des Klimawandels in den 1990ern begriffen, aber erst als sie ab Mitte der 2010er Jahre für mich tatsächlich spürbar wurden, traf mich die emotionale Wucht der Erkenntnis, vor allem in Form der Trauer über den Verlust des Ökosystems meiner Jugend. Klimadepression is a thing.

Ich denke in diesem Zusammenhang aber über Depression nicht als Pathologie nach, sondern als einen notwendigen aber schmerzhaften Umbauprozess am persönlichen World Model. Die jungen Menschen, die sich auf die Straße kleben, wollen sich damit nicht wichtig machen, sondern haben die existentielle Bedrohung auf einer emotionalen Ebene durchdrungen, vor der sich die meisten noch verschließen.

Wer mir jetzt vorwirft, Depression zu verharmlosen, dem entgegne ich, dass die Alternative dazu der eigentliche dunkle Pfad ist: Verdrängung. Immer neue Erklärungen, Beschwichtigungen, selektive Wahrnehmung, alternative Narrative zu mentalen Burgen aufrüsten und innerlich die Eisentore runter lassen. Intellektuell wie emotional. Ein Großteil des Verschwörungsglaubens ist hier zu hause, aber eben nicht nur.

Dieselbe Weggabelung von Depression und Verdrängung spaltet laut Jonathon Porritt nun den Mainstream-Klima-Diskurs und auch er merkt, dass er sich identitär distanzieren muss, um sich seine moralische Klarheit zu bewahren:

„And there goes my reputation as a “glass half-full sort of a guy”! I will, from herein on, be badged as a full-on “doomist”, a “prophet of apocalyptic despair”, an anarchist/communist/subversive seeking “to bring down capitalism” by “existentializing” (I kid you not!) the “perfectly manageable threat of climate change”. Guilty as charged.“

Ich fühle das sehr, aber bin noch nicht bereit für eine neue Klimadepression.


Tadzio Müller fordert uns auf, uns intellektuell und moralisch auf eine Zeit der Gewalt einzustellen. Als ich im ersten Newsletter andere Newsletter empfahl, vergas ich auf seine Friedliche Sabotage hinzuweisen. Tadzio ist Klimaaktivist und schreibt viel über Strategie, Klimadepression und vor allem Klimaverdrängung, bettet das ganze aber auch immer schlau in größere gesellschaftliche Kontexte ein. Ich teile z.B. seine These der Verdrängungsgesellschaft und dass sie ein wichtiger Motor im aktuellen Rechtsruck ist.

In diesem Post erweitert er den Horizont nochmal und stellt die Verdrängungsgesellschaft in den Kontext der Polykrise und die Polykrise in den Kontext des sich ankündigenden Endes der US-Hegemomnie und kommt zu dem nachvollziehbaren Schluss, dass die Zeiten nicht ruhiger werden. Tadzio will das aber nicht nur negativ sehen.

Wenn also Veränderung nicht ohne Konflikt und Polarisierung möglich ist, vielleicht könnt Ihr Euch, wissend, dass es Veränderung braucht, zu diesen Dynamiken weniger ablehnend, etwas positiver verhalten. Denn ich sage Euch: Konflikt, Polarisierung, ja, auch Gewalt, wird in Euren Leben schon sehr bald eine viel größere Rolle spielen, als Ihr gewohnt seid. Darauf solltet Ihr vorbereitet sein. Wenn schon nicht physisch – dann doch wenigsten intellektuell und moralisch.

Intellektuell habe ich mich schon vor vielen Jahren von den naiven Varianten des Pazifismus verabschiedet. Gewalt ist nicht etwas, aus dem man einfach ausopten kann, bzw. ja, doch kann man schon irgendwie und dann landet man halt in der Welt, in der wir jetzt leben. Die Gewalt kriecht dann durch die Hintertür wieder ein und malträtiert uns via Rechtsruck, Mietenwahnsinn, Proxykriege, Klimakatastrophe, SUVs, Privatverschuldung, Enshittyfication, Medienoligarchien und generatives Internetrauschen.

Da mich strukturelle Gewalt mittlerweile fast ebenso ankotzt wie direkte Gewalt fühle ich mich kind of moralisch gewappnet, aber ich denke, es ist safe davon auszugehen, dass hier der emotionale Erkenntnisschritt weitaus drastischer sein wird, als ich mir gerade vorstellen kann.



Natalie Wynn hat endlich mal wieder ein neues Video veröffentlicht und es täuscht vor, eine Apologie der Twilight-Saga zu sein, ist aber in Wirklichkeit eine Tiefenbohrung in das komplizierte Verhältnis von Sex und Gewalt. Damit ist nicht sexuelle Gewalt gemeint, auch wenn sie natürlich angesprochen wird, sondern es geht um eine psychoanalytische und kulturanthropolische Bestandsaufnahme der Struktur des Begehrens. Der Zweistunden-Essay zeigt unter anderem überraschende Verbindungen von „Schundliteratur“ und kulturellen Urerzählungen von Bibel bis Gilgamesch und versteigt sich in philosophische Betrachtungen über Leben und Tod, Gut und Böse. Wynn besteht darauf, dass erotische Erzählungen nicht als Vorbild für gelungene Beziehungen fungieren, sondern als narrative Erlaubnisstrukturen, anhand derer wir uns in Situationen imaginieren können, die uns gleichzeitig moralisch abstoßen, aber auch anturnen.

Ich hatte beim Schauen die ganze Zeit Angst, dass mir das Video unangenehm würde, aber das stellte sich nicht ein und hinterher fühlt ich mich sogar leichter als vorher. Vielleicht liegt das daran, dass in diesem Fall die intellektuelle Erkenntnis der emotionalen folgt? Bin gespannt, was das mit mir noch macht.


Am schwersten tat ich mich mit diesem Text des indischen Denkers Pankaj Mishra, „The Shoah after Gaza“, der seinen Finger ohne große Rechtfertigsgeste direkt in den Schmerzpunkt europäischer und vor allem deutscher Erinnerungskultur steckt und darin ungeniert herumpopelt. Im Grunde entfaltet er eine gut informierte Variante der Global South-Perspektive auf den Gaza-Krieg und eben auch auf die Shoah, die in Indien oder Südamerika einfach nicht dieselbe Semantik besitzt, wie bei uns. Mir ist nicht aufgefallen, dass er dabei in antisemitische Fallen tappt, und dennoch war ich geschockt, wie leichthändig er die politische Rezeptionsgeschichte der Shoah in den USA, Europa und Israel entfaltet und dabei die Idiosynkrasien, den Opportunismus und die kaltherzige Instrumentalisierung nicht auslässt. Natürlich wäre es absolut naiv zu glauben, dass ausgerechnet die Shoah, anders als alle anderen historischen Ereignisse, über den politischen Dingen steht, doch schon der Hinweis darauf lässt mich erschaudern. Aber ich verstehe auch, das das eine europäische, genauer: eine deutsche Perspektive ist.

Nichts von dem, was Mishra schreibt, relativiert den Holocaust, aber es verschiebt seine moralische Bedeutung für die Ereignisse von heute.

„Many of the protesters who fill the streets of their cities week after week have no immediate relation to the European past of the Shoah. They judge Israel by its actions in Gaza rather than its Shoah-sanctified demand for total and permanent security. Whether or not they know about the Shoah, they reject the crude social-Darwinist lesson Israel draws from it – the survival of one group of people at the expense of another. They are motivated by the simple wish to uphold the ideals that seemed so universally desirable after 1945: respect for freedom, tolerance for the otherness of beliefs and ways of life; solidarity with human suffering; and a sense of moral responsibility for the weak and persecuted. These men and women know that if there is any bumper sticker lesson to be drawn from the Shoah, it is ‘Never Again for Anyone’: the slogan of the brave young activists of Jewish Voice for Peace.“

Ich habe beim lesen aber auch gemerkt, dass ich immer noch nicht das postkoloniale Argument kaufe, dass die Shoah nur eine Weiterschreibung kolonialistischer Gewalt sei. Natürlich gibt es mit der „White Supremacy“ gemeinsame Vorfahren, doch ohne die Idee des Volkskörpers und der Notwendigkeit der Erhaltung oder Wiederherstellung seiner „Reinheit“, sowie die Besonderheit des Antisemitismus, der anders als andere Rassismen neben der Abwertung auch eine Angstkomponente kennt (Stichwort jüdische Weltverschwörung), scheint mir eine Analyse der Shoah nicht sinnvoll.

Davon abgesehen hat mir der Text sehr geholfen, von meiner europäischen Perspektive etwas weiter zu abstrahieren und zu verstehen, wie man von der Restwelt auf Gaza blickt. Der Text arbeitet noch in mir.


Der Youtuber Shaun hat in diesem Video seinen Erkenntnisprozess aufgearbeitet, der zu zu seiner Haltung im Nahostkonflikt geführt hat. Seine Haltung ist alleine schon dadurch deutlich gekennzeichnet, dass er sein Video nicht „Israel“, oder „Israel and Palistine“, sondern schlicht „Palistine“ genannt hat. Und, ja, sorry, ich bin diese Woche in ein Video-Essay-Rabbit-Hole gefallen.

Shaun macht viele gute Punkte, aber ich will zwei herausgreifen:

Erstens stellt er gleich zu Anfang fest, dass es zur Bewertung der aktuellen Lage in Gaza völlig unerheblich ist, wie viel Du zu dem Konflikt gelesen hast, auf welcher Seite Du stehst, was Deine Haltung zu Israel ist, welche Ereignisse vorher stattgefunden haben und wie Du sie bewertest. Wenn zigtausende unschuldige Zivilist*innen getötet werden – die meisten davon Frauen und Kinder – ist das falsch. Punkt. Nichts, absolut gar nichts, rechtfertigt diese Verbrechen. (Weil man das in Deutschland anscheinend dazusagen muss: wer die Kinder in Gaza mit ihren im Bombenfeuer umgekommenen Nazigroßeltern gleichsetzt, wird sofort geblockt.)

Ich stelle mir den schmerzhaftesten Teil der Depression wie ein Abnutzungskrieg gegen das eigene Ego vor, das sich in einem Gestrüpp aus Identitäten verschanzt hat. Erst wenn das Ego so weit zurückgebombt ist, dass ihm interne und externe Zuschreibungen egal geworden sind, entsteht wieder Raum für unverstelltes moralischen Empfinden. Dann wird plötzlich vieles ganz einfach, was sich vorher als kompliziert tarnte.

Als Zweites nehme ich die philosophische Erzählung „The Ones Who Walk Away from Omelas“ mit. Die Geschichte von Ursula K. Le Guin spielt im fiktiven Ort Omelas, der in jeder Hinsicht als Paradies gelten kann. Allen geht es gut, alle sind gut drauf und das Leben ist eine einzige Party. Erst spät finden wir heraus, dass dieses Wunder darauf basiert, dass alles Leid auf einen einzelnen, kleinen Jungen abgeleitet wird, der allein und vernachlässigt im Kerker unter der Stadt gehalten wird. Alle wissen von dem Jungen, aber sein Leid wird verdrängt, weil das eigene Glück davon abhängt.

Doch einige beginnen, Omelas zu verlassen. Es sind nicht viele. Aber es werden mehr.

Ich mag diese Metapher sehr, weil sie die soziale Dimension des Moments einer moralischen Klarheit so auf den Punkt bringt: Es ist eine Art emotionale Immigration, ein Abschied von eigentlich liebgewordenen Menschen und von einem vertrauten, schönen Ort, der aufgehört hat, schön zu sein, seit man auch emotional durchdrungen hat, wie er funktioniert.

Wir leben alle in Omelas, genauer: in vielen Omelas‘ und sie zu verlassen ist fucking schwer. Ich zum Beispiel esse immer noch Fleisch (lass mich!). Gerade deswegen sollten wir es feiern, wenn es einigen von uns gelingt, das eine oder andere Omelas zu verlassen und wir sollten nachsichtig mit denen sein, die diesen Schritt noch vor sich haben.


Doch wohin soll man gehen? Das ist die Frage, die sich Elliot Sang in seinem – sorry again – Videoessay „Nowhere to Go: The Loss of Third Places“ stellt. Dritte Orte sind Räume, die neben dem Zuhause (erster Ort) und dem Arbeitsplatz (zweiter Ort) eine Form von kollektiver Heimat schaffen. Cafeehäuser, Stammkneipen, Vereinsheime und Jugendzentren sind solche Orte … bzw. waren solche Orte, bis die Gentrifizierung sie im großen Maßstab ausradiert hat.

Der Verlust der dritten Orte hat enorme Effekte auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und auf die Fähigkeit der Menschen, sich politisch zu organisieren. Aber am schlimmsten trifft es die Jugend. Die ausufernden Depressionen bei Jugendlichen werden oft mit Social Media in Beziehung gebracht, aber Sang zeigt, dass beides, sowohl excessive Social Media Nutzung, als auch Depression downstream vom Verlust der dritten Orte ist. Der Zynismus, den jungen Menschen erst ihre Räume zu nehmen und sie dann selbst für ihre Einsamkeit verantwortlich zu machen und im zweiten Schritt das Smartphone zu verbieten oder Tiktok zu sperren, macht mich einfach nur noch sprachlos.


Als ich mich in den letzten Monaten manchmal verloren fühlte, habe ich Zuflucht in den Serien meiner Jugend gesucht. Jerry Seinfelds Wohnung, das Central Perk Cafe bei Friends und die „Cheers“-Kneipe wurden zu meinen parasozialen dritten Orten, die mich mit der Vertrautheit der immer gleichen Gesichter, aber auch mit der Heimeligkeit ihrer 20. Jahrhundert-Semantik lockten.

Die letzte Serie in meiner Nostalgigkreihe war „The Indiana Jones Chronicles“, in der ein junger Indy durch die Anfänge des 20. Jahrunderts tapst und dabei in ein Weltereignis nach dem anderen stolpert, natürlich nicht ohne alle wichtigen Persönlichkeiten der Epoche kennenzulernen. Von Teddy Roosevelt zu Kafka, von Lawrence of Arabia zu Piccasso bis hin zu Charles de Gaulle und den Suffragetten kreuzen alle seinen Weg und in mir bildete sich eine Art Metafaszination, dass sich hier das 20. Jahrundert aus der Perspektive seines Endes selbst erzählt.

In der vorletzten Folge – Indy hat bereits im ersten Weltkrieg gekämpft (witziges Detail, dass die Spanische Grippe komplett ausgelassen wurde?) – lebt er in den wilden 20er Jahren in New York und hat drei Freundinnen gleichzeitig. Eine von ihnen, die Poetin Kate Rivers (ein ausgedachter Charakter), versucht ihn in einem Partygespräch davon zu überzeugen, dass jedes Jahrhundert einen eigenen Rhythmus hat und dass Poesie die Aufgabe habe, diesen einzufangen. So wie man die elisabethanische Kultur in der Poesie Shakespeares heraushören könne, kommen sie gemeinsam zu dem Schluss, dass sich das 20. Jahrhundert als „Automobile Age“ definiere und sein Rhythmus daher „throbbing, driving“ sein müsse.

Eine These die ich mag, aber von der ich nicht sicher bin, ob ich sie irgendwo abgekupfert habe, besagt dass ein Jahrhundert als kohärent empfundene, kulturelle Einheit erst ein transformatives, kollektives Erlebnis braucht, in dem die technischen und sozialen Veränderungen auch emotional eingepreist werden. Für das 20. Jahrhundert war das der erste Weltkrieg und Kate kann das neue Jahrhundert deswegen auf den Punkt bringen, weil sie ihn durchlebt hat.

Analog dazu fühle ich mich gerade, als ob mir zum ersten mal emotional bewusst wird, dass das 20. Jahrhundert tatsächlich vorbei ist. Und daran merke ich, dass ich tief im Inneren immer noch ein 20th Century Guy bin. Das 21. Jahrhundert lockte mich mit den blumigen Versprechen von endloser Kommunikation und der Demokratisierung der Öffentlichkeit aus meiner angestammten Semantik und transferierte mich ins Internet. Als „digital Immigrant“ bedeutet mein neuer Sinneswandel hinsichtlich des Technikoptimismus auch eine nachträgliche Entwurzelung. Das 20ste Jahrhundert fühlt sich seit kurzem wie ein fernes, jedoch vertrautes Land an, das ich vor langer Zeit zurückgelassen habe und zu dem es keine Rückkehr gibt.

Ich habe den Verdacht, dass ein ähnlich strukturierter Schmerz in allen AfD-Anhänger*innen steckt und ihre Sehnsucht nach dem „Normalen“ in Wirklichkeit eine diffuse Sehnsucht nach dem 20. Jahrhundert ist, dieses Omelas, das wir schon seit einiger Zeit dabei sind, zu verlassen. Diesen Verrat haben sie uns nie verziehen.

Meine persönliche Prognose ist, dass rückblickend der 30. November 2022 das 21. Jahrhundert eingeläutet haben wird. An dem Tag wurde ChatGPT vorgestellt und das markiert den Zeitpunkt, an dem die Digitalisierung begann, für alle in ihrer ganzen emotionalen Tiefe erlebbar zu werden. Es ist nicht so, als wäre die Welt nicht schon längst durchdigitalisiert, genauso wie ein Großteil der Maschinen, die im ersten Weltkrieg zum Einsatz kamen, bereits als Auto, Fabrik und Linienflug für die Leute im Alltag erlebbar waren. Doch so wie die Menschen ab 1914 mit ansehen mussten, wie sich ihr Maschinenpark in eine gigantische Mordmaschine verwandelte, erleben wir gerade die Umwidmung unserer kommunikativen Infrastruktur in digitale Waffen. Seien es die Hasskampagnen im Netz, DDoS- und Ransomware-Attacken, die immer mächtiger werdenden Überwachungssysteme, Einflussoperationen, die Umwandlung der Plattformen zu politischen Informationsgeschützen, der generative SEO-Krieg im Netz, KI-gesteuerter Bombenabwurf auf Gaza, die Entwicklung autonomer Drohnen in der Ukraine – alles wird gerade mit Künstlicher Intelligenz gesupercharged und das lässt das weiße Rauschen zu einem ohrenbetäubenden Krach anschwellen. Wir werden in den kommenden Jahren Formen, Arten und Ausmaße von digitaler Gewalt erleben, die uns heute nicht vorstellbar sind.

Was immer bei dem Schlamassel herauskommen wird: spätestens danach werden wir wissen, wie sich das 21. Jahrhundert anfühlt. Diesen Vibe dann in eine Poesie, besser noch in eine lebenswerte Zukunft zu übersetzen, wird Aufgabe der heute dauerdepressiven Tiktokjugend sein. Hoffentlich mit mehr Third Places und weniger Omelas?

Krasse Links No. 6

Willkommen bei Krasse Links No. 6. Anschnallen, wir müssen heute über politische Ökonomie und KI sprechen.


Für diejenigen unter euch, die nicht sofort wissen, was politische Ökonomie ist, hier die Ultrakurzfassung: Während die klassische Ökonomie das wirtschaftliche Geschehen vom Markt her analysiert, interessiert sich die politische Ökonomie für die Machtverhältnisse hinter den Markttransaktionen (Langfassung).

Phänomene wie Enshittification lassen sich mit neoklassischer Wirtschaftstheorie kaum, mit politischer Ökonomie jedoch prima erklären. Kevin Carson hat genau das in einem lesenswerten, aber ultralangen Aufsatz gemacht. Er will aber auf einen breiteren Punkt hinaus: die allgemeine Ausweitung dessen, was Ökonom*innen „Rente“ nennen, bis zu dem Punkt, dass einige bereits von einem neuen Feudalismus sprechen. Renten sind Einkommen, denen keine notwendige Arbeit oder sonstige Kosten gegenüberstehen, weil sie sich aus dem Besitz von rechtlichen Titeln oder sonstigen Machtpositionen heraus ergeben. Vielen Techunternehmen wird vorgeworfen, dass ihren Geschäftsmodellen das Abgreifen von Renten zugrunde liegt. Man denke nur an Apples 30% Abgabe im App Store. (In meinem Plattformbuch gehe ich einen Schritt weiter und nenne die durch Enshittification erzwungenen Renten „kommerziellen Vandalismus“, vgl. S. 328.)

Carson dröselt die Rentenfrage weiter auf und zeigt, dass sie nicht auf den Techsektor beschränkt ist, sondern dass Renten in vielen Branchen einen großen Teil des verdienten Geldes ausmachen. Geld, das sich in den Taschen von immer weniger Unternehmen und Individuen konzentriert.

Aus Sicht der politischen Ökonomie wirkt der aktuelle Moment im Kapitalismus wie ein riesiger Heist von einigen wenigen am Rest der Gesellschaft und die neoklassische Ökonomie mit ihrer verharmlosenden Markterzählung dient ihnen als Coverstory.


Letzte Woche fand die Elevate Konferenz statt und Nick Srniceks Keynote über die politische Ökonomie von KI ist sehenswert.

Srniceks zieht in den KI-Markt vier Ebenen ein:

  • Apps (ChatGPT, Autopilot, etc.)
  • Modelle (also GPT4, Gemini 1.5 und Claude 3)
  • Infrastruktur (Cloudinfrastruktur zum Training und Betrieb der Modelle)
  • Hardware (Grafikkarten und KI-Chips)

Seine These ist nun, dass der Infrastrukturlayer – also Google, Amazon und Microsoft – derart dominant wird, dass er sich mittelfristig alle anderen Ebenen einverleiben wird.


Eine Ebene lässt Srnicek aber aus. Unterhalb des Hardwarelayers (wenn man darin die konkreten Chipdesigns fassen möchte) liegt noch der Chipproduktionslayer und wir wissen ja, dass da ebenfalls ein krasser Flaschenhals steckt. Noch letztes Jahr produzierte das Taiwanesischen Unternehmen TSMC 90% aller Highend-Chips und so könnten die Bemühungen der großen Techunternehmen, ihre Abhängigkeit von Nvidia zu reduzieren, indem sie eigene KI-spezifische Microchips entwickeln, nur in andere Abhängigkeiten führen.

Die Financial Times hat ein erklärbärig illustriertes Feature veröffentlicht, das detailliert durch die Prozesse zur Herstellung von modernen Microchips führt.


Bei dem vielen Geld, Talent und Ressourcen, die gerade in KI gesteckt werden, ist zu erwarten, dass wir tatsächlich dabei sind in eine neue digitale Ära schliddern. Ben Wertmüller hat sich dort schon mal umgesehen, indem er den KI-basierten Arc Search Browser getestet hat.

Statt einer Linkliste mit etlichen Quellen bekommt man bei Arc nur noch eine Antwort. Arc zieht im Hintergrund die Informationen aus den Inhalten anderer Websites zusammen und präsentiert sie als wikipedia-artig strukturiertes Dossier – ja, auch mit Quellenangaben. In Wertmüllers Test lag Arc LLM-typisch zwar immer wieder auch komplett daneben, dennoch lässt es als ein slickes Produkt der nahen Zukunft imaginieren – wenn man vergisst, was es ersetzen soll.

I guess what I’m saying is: thanks, I hate it. Give me context; give me nuance; give me the ability to think for myself. We built the world’s most incredible communication and knowledge-sharing medium, rich with diverse perspectives and alternative ideas; let’s not sanitize it through a banal filter that is designed to strip it of its humanity.

Das Web plus Google bildeten gemeinsam ein atmendes, sich stetig tiefer verzweigendes und dennoch einigermaßen navigierbares soziotechnisches Archiv des Weltwissens, bestehend aus menschlichen Perspektiven, die man in Form von Dokumenten durchstöbern, kritisch begutachten und einordnen muss und deren Informationsreichtum sich niemals auf die gestellte Frage reduziert. Ich glaube, dass uns manchmal gar nicht genug bewusst ist, wie kostbar das ist … war?


Das führt uns zu der zugegeben naheliegenden These, dass generative KI vor allem hier ist, um das Internet zu ersetzen. Oder wie es Henry Farrel in seinem Blogpost elegant auf die Formel bringt: The map is eating the Territory.

Ich mag auch seine Kategorie der „kulturellen Technologien“, zu denen er so abstrakte Wirkzusammenhänge wie Märkte, Regierungen und Unternehmen zählt. Generative KI sei eben eine weitere „kulturelle Technologie“ und stehe somit im Spannungsfeld zu den etablierten Platzhirschen. Die weitere Analyse dreht sich somit um die Frage, ob und wie es KI gelingt, sich Wirkungsbereiche und Kompetenzfelder der anderen kulturellen Technologien einzuverleiben.

Angewandt auf den Streit um das Urheberrecht kommt Farrel schließlich auf die These, dass es bei den aktuellen Gerichtsverfahren (etwa New York Times vs. OpenAI) eben nicht um moralische oder gar gesellschaftliche Fragen geht, sondern dass hier das alte und das neue Regime um Macht ringen.

Das geht schon in die richtige Richtung, aber ich würde noch weiter gehen. Bereits beim Plattformparadigma (das ich übrigens auch als „kulturelle Technologie“ im obigen Sinne einordnen würde) diente das Urheberrecht vor allem der Erlangung und Konsolidierung von Machtpositionen über nicht subsitutierbare kulturelle Graphen (genauso wie Patente für technische Graphen). Am plakativsten lies sich das in den Streaming-Wars beobachten: Die Hinwendung der Streamingdienste zu endlos erweiterbaren Francieses wie Star Wars, Lord of the Rings, Games of Thrones und Marvel Universe ermöglicht das marken- und urheberrechtliche Umzäunen von kulturellen Königreichen, deren Zugang sich dann exklusiv vermarkten lässt.

Ein ähnliches Szenario ist auch für das KI-Feld absehbar: Zunehmende Exklusivdeals mit datenreichen Unternehmen garantieren einerseits eine gewisse Datenqualität aber ermöglichen auch die Ausdifferenzierung eines vermarktbaren „Flavor“ des jeweiligen KI-Outputs. Adobes Firefly brüstet sich bereits mit seinen weitestgehend legalen Trainingsdatensets, Musks xAI positioniert sich (noch erfolglos) als an X-Posts gehärtete un-woke KI, und Deals wie der von Reddit mit Google weisen ebenfalls in diese Richtung.

Völlig unabhängig davon, was bei diesen Urheberrechtsstreits herauskommt: eine Einigung ist nur eine Frage des Geldes und am Ende wird es die Vormachtstellung der KI-Unternehmen konsolidieren. Das ist einfach das, was das Urheberrecht tut: mit genügend Kapital lassen sich alle nötigen Verwertungsrechte zusammenkaufen, um damit neue, legale Königreiche zu errichten, die dann dann unangreifbare Renten abwerfen. Das alte Regime will nur noch schnell einen guten Preis rausholen. Und wer davon mal wieder gar nichts sehen wird: die Urheber.


In meinem KI-Paper für die Böckler Stiftung hatte ich letztes Jahr noch eine grundsätzliche Überlegung hinsichtlich der politischen Ökonomie der Anwendung von KI gemacht:

Bedenkt man, dass laut experimentellen Studien ein Teil der Produktivitätsgewinne der LLMs bei der Text-Produktion durch zusätzliche Korrekturarbeit wieder aufgefressen wird (Noy/Zhang 2023), ergibt sich daraus ein struktureller, ökonomischer Vorteil für Produzent*innen aller Arten von Spam und Desinformation. Akteure, die es in Kauf nehmen oder gar darauf abgesehen haben, möglichst viel Schaden anzurichten, sind schlicht viel weniger darauf angewiesen, fehlerfreie Texte zu verwenden.

Da KIs notorisch unzuverlässig sind, werden sie vor allem dort genutzt, wo es auf Verlässlichkeit nicht ankommt. Und genau das sehen wir jetzt. Die Googlesuche ist bereits immer weniger zu gebrauchen (obwohl Google jetzt Gegenmaßnahmen angekündigt hat), weil das Web im Rekordtempo mit Unsinn vollgepumpt wird. Ausgerechnet die bekannte KI-Kritikerin Emily Bender hatte dazu ein interessantes Erlebnis, nämlich dass eine Spam-News-Seite ihr KI-generierte Zitate unterjubelte – nicht als Angriff gegen sie, sondern … why not? Oder die per KI wiederbelebten Zombie-Newsseiten, wie etwa der Washington Independent, dessen ehemaliger Autor Sam Thielman darüber berichtet, wie seine alten Texte mit neuer By-Line wiederveröffentlicht wurden. Dieser Content wird nicht für Menschen veröffentlicht, sondern dient nur dazu, andere KIs (etwa den Googleaglo) zu verwirren.

Das ist aber nichts gegen das, was im chinesischen und russischen Internet geschieht. Dort werden jetzt Gesichter und Stimmen von bekannten Influencer*innen gestohlen, die dann unter tausenden Fakeidentitäten KI-generierte Propaganda ins Netz pumpen. Dazu empfehle ich dieses wirklich gut recherchierte und durcherklärte Video von Olga Loiek, die als ukraischstämmige Influencerin mit ansehen muss, wie ihre optische Identität für russische Propagandazwecke instrumentalisiert wird.


All das passt wahnsinnig gut zu der steilen These, die ich bei Eryk Salvaggio gelesen habe: KI beendet die Ära des Informationszeitalters und entfaltet das Zeitalter des Rauschens. Rauschen, also „Noise“ bezeichnet aber nicht nur undifferenzierte Audiobelästigung, sondern ist auch ein Begriff in der mathematischen Kommunikationstheorie. Erfolgreiche Kommunikation erfordert nämlich immer die Unterscheidung von Signal und Rauschen, wobei das Rauschen gleichzeitig die Abwesenheit und überbordende Anwesenheit von Information anzeigt, etwa wie weißes Licht die gleichzeitige Abwesenheit und Überanwesenheit von Farbe bedeutet. Die Tatsache, dass Bildgenerierungs-KIs als Diffusionmodelle eben genau über die Zugabe und das Herausrechnen von Noise funktionieren, gibt Salvaggio die perfekte Metapher für seine These.

„These images are diffused, dissolved into static and the machine learns how that static moves as the image is degraded. It can walk that diffusion backward to the source image — and this is how it learns to abstract features from text into generated images. Our training data constrains what is possible to the central tendencies in that training set, the constellations of pixels most likely to match the text in the description.

In other words, it navigates averages, trading meaning for the mean. But the original context is irretrievable.“

„Trading meaning for the mean“ bringt die Funktionsweise von generativer KI perfekt auf den Punkt. Schritt für Schritt verdaut sie den gesamten Kanon der menschlichen Kultur zu einem Brei von immer kleineren, immer ähnlicheren Brocken und dieses kulturelle Exkrement blubbert nun unsere gesamte Infosphäre zu.


Im Kern besteht die politische Ökonomie der generativen KI also aus der Geiselnahme unseres kulturellen Graphen durch die Infrastukturlayer-Unternehmen. Eine Geiselnahme, die sie nun durch Urheberrechtsdeals versuchen zu legalisieren und damit zu konsolidieren. Der Plan ist, uns ein verschwommenes JPEG des Internets in Form von komprimierten Promtantworten zurück zu verkaufen, denn Lösegelder sind schließlich auch prima Renten. Wie es der Zufall so will, produzieren dieselben KIs in der Zwischenzeit so viel Unsinn, Zombiewebsites und KI-Propaganda, dass die Brücken zurück zu dem alten soziotechnischen Archiv von einem Tsunami aus Scheiße weggerissen werden und wir gar keine andere Wahl haben, als zusammen mit den Techbros auf die Erlösung durch AGI zu hoffen. Willkommen im Zeitalter des Rauschens.

193 mit Michael Seemann über Bitcoin, libertäre Ideologie und Hoss & Hopf | Listen Notes

Ich war in dem Podcast Natürliche Ausrede. Das Gespräch fängt etwas laberig über Podcasting an, aber in der zweiten Hälfte bringen wir ganz gute Einordnungen zu Hoss & Hopf, Crypto und der libertären Ideologoie.

Ein Gespräch über Podcasts und Finanz Influencer, die Growthhacks und Ideologie des Podcasts “Hoss & Hopf”, über heilige Märkte und die Katzenhaftigkeit libertärer Akteure und warum Bitcoin nicht gleichzeitig Währung und Anlageobjekt sein kann und sicherlich nicht so nützlich wie Argentinien ist.

Quelle: 193 mit Michael Seemann über Bitcoin, libertäre Ideologie und Hoss & Hopf | Listen Notes

Krasse Links No 5

Willkommen bei Krasse Links No 5. Diesmal hatte ich nicht viel Zeit, weil ich die ganze Woche in der Schweiz unterwegs bin. Themen heute: Journalismus, Schock und Oligarchie.


Da ich eh in Zürich bin, sitze ich gerade beim Winterkongress, eine Mischung aus re:publica und CCCongress für schweizer Nerds. Der erste große Vortrag war über die „Predator Files“. Natürlich habe ich die Berichterstattung der letzten Jahre zu NSO-Group, Pegasus und Predator, etc. größtenteils verfolgt. Die Aufbereitung als Vortrag habe ich aber auch deswegen dankbar aufgenommen, weil ich mich immer schwer tue, mich durch die langen Dossiers zu kämpfen. Es ist wirklich rätselhaft: Die Skandale sind eklatant, die gesellschaftliche und politische Relevanz ist auf ELEVEN und der Themenkomplex trifft so ziemlich alle meine Interessen – und dennoch: ich fühl’s nicht. Natürlich versuche ich einen groben Überblick zum Thema zu behalten, aber wie bei den meisten großen Coups von Snowden, Panamapapers bis zu den diversen Dossiers zu Pegasus, muss ich mich immer anstrengen, mich angemessen dafür zu interessieren.

Gerade weil ich diese Arbeit so wichtig finde, macht mir diese Diskrepanz große Sorgen. Kritischen Journalismus nahm man seit seiner Erfindung immer im Paket mit Gossip, Sport und Kreuzworträtseln zu sich, was nicht nur die Finanzierung sicherte, sondern auch eine breite, politische Öffentlichkeit ermöglichte. Seit das Internet das alles unbundled hat, wurde aus politischer Berichterstattung yet another special interest content stream, neben Prank Videos, Hentai und ASMR.

Wie dem auch sei, hier ein Link zu dem sehenswerten Talk und zu den wirklich lesenswerten und wichtigen Predator Files bei der WOZ.


Daniela Klette wurde von der Polizei verhaftet und der Guardian hat ein schönes Stück darüber, wie es dazu kam. Aber bei allem, was es politisches dazu zu sagen gibt, fasziniert mich das Detail, dass eine Reverse Bildersuche ein altes Foto von ihr zu tage förderte, auf dem sie beim Karneval der Kulturen in Berlin in die Kamera lächelt.

Als ich vor vierzehn Jahren den Kontrollverlust ausrief, waren die Zeiten noch andere. Das Ancien Regime der Massenmedien war noch nicht gebrochen, die Politik funktionierte noch als technokratischer Langeweilerwettbewerb und das Internet diente vor allem Nerds dazu, über den besten Texteditor zu streiten. Der Kontrollverlust löste widersprüchliche Gefühle aus: Auf der einen Seite war da eine Euphorie, dass es den verknöcherten Institutionen an den Kragen geht, wenn die digitale Transparenz erst die Hinterzimmerdeals und Boysclubs disruptiert (Wikileaks, Open Data, Open Government, Open Everything) und auf der anderen Seite war da natürlich die Angst vor Überwachung, Hacks, Leaks, und dem Ende der Privatsphäre.

Der Kontrollverlust hat seitdem zwar nicht aufgehört zuzuschlagen (im Gegenteil), aber schon bald war die positive Zukunftserwartung weg und die Angst mittlerweile weitestgehend auch. Der Kontrollverlust ist wie Corona. Eigentlich müsste man vorsichtiger sein aber ohne Karneval ist ja auch Mist.

Jedenfalls erzählt dieser lesenswerte Longread bei der Wired, wie die US Intelligence Community begann Trackingdaten von Werbevermarktern aufzukaufen, um Rückschlüsse zu Persons of Interest zu erlangen. Falls ihr euch das auch gefragt habt: ja, das hat durchaus die Qualität einiger Snowdenenthüllungen, die noch 2013 eine vielmonatige Dauerberichterstattung auf allen Kanälen auslöste. Ich schätze, Kontrolle kann man nur verlieren, wenn man vorher glaubte, sie besessen zu haben.


Die Vice hat seine Website dicht gemacht. Cory Doctorow sieht das Management und letztlich die Besitzer in der Verantwortung für das Versagen:

„All of which leads to an inescapable conclusion: whatever problems Vice had, they didn’t include „writers don’t do productive work“ and also didn’t include „that work isn’t economically viable*. Whatever problems Vice had, they weren’t problems with Vice’s workers – it was a problem with Vice’s bosses.“

Der Höhepunkt sei aber, dass die Vice nach dem Abschalten ihrer Website nur noch als Social Media Entität fortbestehen will. Nach all den bitteren Erfahrungen, die der Journalismus mit Plattformen gemacht hat, ist das eine haarsträubende Idee:

„Now, this wasn’t always quite so obvious. Back when Vice was falling for Facebook’s „pivot to video,“ it wasn’t completely obvious that the long con was to take your audience hostage and ransom them back to you. But deliberately organizing your business to be reliant on social media barons today? It’s like trusting your money to Sam Bankman-Fried…in 2024.“

Ja.


Im Nachklapp des letzten Newsletters kam mir der Gedanke, dass die klassische Unterteilung von privaten Medien und öffentlich rechtlichen Medien nicht mehr hin haut. Es braucht mindestens eine Kategorie, die ich im Anschluss an den Newsletter „Oligarchenmedien“ nennen könnte, aber in der Öffentlichkeit wohl bis auf weiteres als „Milliardärsmedien“ tituieren werde. Oligarchenmedien sind zwar rechtlich private Medien, aber ihre Finanzierung ist zum größten Teil von Milliardären (oder manchmal auch nur Multimillionären) abhängig und ihre Gewinnerwartung ist zumindest optional. Wenn man die Frage der Abhängigkeiten – und darum geht es ja in der Unterteilung – ins Zentrum rückt, dann sind Oligarchenmedien anders strukturiert als private Medien und verhalten sich auch anders. Egal ob Döpfner bei Springer, Musk bei X, Frank Gotthardt bei Nius und Murdoch bei … seinem Medienimperium, es geht zu forderst um Einflussnahme auf Politik und Gesellschaft. Wenn sich das Projekt finanziell trägt, prima, aber rechte News erfordern eh nicht viel Recherche und wenns kein Geld abwirft: dann doch zumindest Macht und Einfluss.


Im Dezember letzten Jahres wurden nach einem internen Streik einige junge Journalist*innen der Frankfurter Rundschau freigesetzt, was zu einem veritablen Shitstorm gegen die FR auf X führte. Die drei Journalist*innen, Jana Ballweber, Maximilian Arnhold und Yağmur Ekim Çay, wurden nun von dem Magazin Journalist interviewt und sie geben dort einen ziemlich ungeschönten Einblick in die Branche.

Die FR galt zu meiner Zeit als vergleichsweise linke, überregionale Zeitung. Zu diesen Ruf angeprochen, antwortet Jana Ballweber:

„Der ist zerstört. Natürlich gab es schon vorher Schwierigkeiten, die Insolvenz und so weiter. Der Haupteigentümer ist Multimillionär, er hätte doch wohl das Geld, um seinen Medienschaffenden gerechte Gehälter zu zahlen. Stattdessen sägt er eine Zeitung ab, die stark recherchiert, die weltoffen und tolerant ist. Das passiert in einer Zeit, in der hunderttausende Menschen nach einer Correctiv-Recherche gegen Rassismus auf die Straßen gehen. Wenn du das tust, hast du doch etwas fundamental nicht verstanden.“

Es gibt keine linken Oligarchen-Medien. Egal, wie progressiv sich einzelne Millionäre oder Milliardäre geben; schon das Tolerieren der Existenz von Oligarchenmedien ist hart rechts.

Klar, derzeit kann man Oligarchenmedien noch in zwei Kategorien einteilen: rechte Oligarchenmedien verschlanken Redaktionen, kürzen Budgets und setzen Journalist*innen auf die Straße, weil sie hoffen, so mehr Profit zu erwirtschaften. Und dann gibt es noch rechtsextreme Oligarchenmedien, denen Profite so lange egal sind, wie sie ihren Besitzern mehr Einfluss und politische Macht verleihen und ihnen die Möglichkeit bieten, ihre Pläne für die Gesellschaft umzusetzen.

Aber spätestens, sobald wir uns als Gesellschaft entschließen, etwas gegen die Oligarchie zu unternehmen, wird das eine Front.


Thomas Knüwer, Langzeitbeobachter der deutschen Medienszene und deren stolperhaften Gehversuche im Digitalen hat einen emphatischen Appell an Journalist*innen adressiert, die Öffentlichkeit zu umarmen, statt sich weiter hinter Paywalls zu verschanzen.

Wenn man aber der Überzeugung ist, dass unsere Gesellschaft mehr Informationen braucht, statt weniger. Und wenn wir deshalb Journalismus für existenziell in einer Demokratie halten (beidem stimme ich zu), dann muss man eben alles tun, um Informationen öffentlich zu machen für jedermann – und nicht nur für diejenigen, die sich diese Informationen leisten können.

Thomas hat natürlich recht, aber ich bin mir gar nicht sicher, ob es an dieser Stelle überhaupt noch was bringen würde, alle Stories wieder öffentlich zu stellen?


Lars Weisbrod war bei Haken Dran und sie haben auch über den hier diskutierte These des „Endes von Social Media“ diskutiert.

Was ich aber spannender fand, war ihre Diskussion über „News Avoidens„. Darüber denke ich auch häufig nach, gerade weil ich merke, wie mich der Newskonsum (ja, ich bin Newsjunkie) mir einfach nicht gut tut.

Gavin Karlmeier und Lars Weisbrod machen den Punkt, dass News Avoidens gefährlich für die Demokratie ist und ich stimme ihnen zu und ehrlich gesagt, kenne ich niemanden, der das bestreiten würde, was ein ziemlich sicherer Hinweis darauf ist, dass es die falsche Frage ist.

Die eigentliche Frage wäre eher: Wo sind wir falsch abgebogen, dass wir ein System gebaut haben, das unsere konstante Aufmerksamkeit verlangt und uns in emotional kostspielige Debatten verstrickt, bis wir ständig unglücklich sind? Aber das wäre, wenn man es durchdenkt, ein recht schwer zu entgegnender Einwand gegenüber der Demokratie. Zumindest der Demokratie in ihrer aktuellen Struktur in Zeiten des Internets.


Ganz grob zusammengefasst kann man sagen, dass der Kontrollverlust im Zuge der dritten Phase der Digitalisierung der Gesellschaft den heimlichen Wunsch erfüllt hat, sich selbst gegenüber transparent zu werden.

Seitdem haben wir nicht aufgehört, uns von dem Schock zu erholen. Der Schock gilt nicht nicht nur den aufgedeckten üblen Machenschaften, sondern genauso der Tatsache, wie fucking kompliziert und messy alles ist.

Die Flight-, Fight-, Freeze-Relfexe spalteten daraufhin die Mediengesellschaft. Der mediale Kampfreflex äußerte sich in erhöhtem Druck auf die Politik die Missstände zu beseitigen (Metoo, BLM, Fridays for Future, etc), während sich der mediale Fluchtreflex in eine Parallelwelt alternativer Fakten zurückzog. Die mediale Schockstarre hingegen rief „When they go low, we go high!“ und baute Paywalls um alles, was irgendeinen journalistischen Wert hat.

Alle drei Lager erschlaffen gerade und während der Kampfreflex sich in News Avoidens und Selfcare zurückzieht, konsolidiert sich der Fluchtreflex in den Oligarchenmedien. Die Schockstarren reden sich immer noch ein, mit ihrem traditionellen Journalismus die demokratische Öffentlichkeit zu repräsentieren und verweigern sich der Erkenntnis, dass sie hinter ihren Paywalls nur noch eine alternde und größtenteils professionelle Newsjunkie-Klasse erreichen.

An dieser Stelle kann ich endlich den Gewinner des Neuen Spiels verkünden: Es sind Oligarchen.

Streamingabos: Disney+ musste die AGB ändern | ZEIT ONLINE

Nathanael Hoffmann hat mich für die Zeit zum Thema Streamingdienste interviewt und warum ständig ihre Preise steigen.

Nach diesem Wachstum hätte sich der Markt etwas konsolidiert. In seinem Buch Die Macht der Plattformen nennt Seemann die nun kommende Zeit für die Unternehmen „Extraktionsphase“: „Die Anbieter schöpfen den Wert, den die Plattform schafft, immer umfangreicher ab, etwa indem sie den bestehenden Nutzern immer mehr Geld abnehmen.“

Zum Beispiel, indem sie auf Inhalte setzen, die es sonst nirgends gibt. „Lock-in-Effekte werden immer wichtiger. Nur bei Disney gibt es Marvel-Filme, nur bei Sky neue True-Detective-Folgen“, sagt Seemann. Je mehr ich an den Marvel-Filmen hänge, umso schwieriger könnte es mir fallen, die Plattform zu wechseln. Ebenso wichtig: „Jeder zusätzliche Nutzer kostet sie fast nichts, man sagt: Der Dienst skaliert gut“, sagt Seemann. Das gelte nicht nur bei Unterhaltungsplattformen, sondern besonders bei Software, die Nutzer einst einmalig kauften und dann besaßen.

Für Programme von Microsoft oder Adobe zahlen Nutzer heute Abogebühren. „Im Internet haben wir uns immer mehr vom Besitz entfernt“, sagt der Digitalexperte Michael Seemann. Zwar brauchen Verbraucherinnen keine Schallplatten oder DVDs mehr zu Hause. Das spart Platz und Aufwand. Geht Spotify aber bankrott, ist die Musik auch weg. Und dass Word jährlich kostet, kommt Verbrauchern teuer zu stehen: „Mehrmalige Zahlungen sind für Unternehmen lukrativer als Einmalkauf. Sie können dank der Abos besser langfristig planen“, sagt Seemann. „Etwas gehässig lässt sich über den Abo-Kapitalismus sagen: Wir zahlen einen unendlichen Kredit ab, ohne, dass das Abbezahlte jemals uns gehört.“ Er rechnet damit, dass Verbraucher verstärkt illegale Alternativen suchen. Umgekehrt könnten die Abopreise weiter steigen: „Es lässt sich aus Anbietersicht noch etwas aus den Kunden herauspressen.“

Quelle: Streamingabos: Disney+ musste die AGB ändern | ZEIT ONLINE

Newsletter No. 4

Unsere alten Götter haben uns belogen und die neuen können nicht geboren werden, weil Internet. Willkommen bei Krasse Links No 4. Diesmal mit Schwerpunkt Wirtschaft, KI und Zaubertricks.


Quasi als Follow Up zu der These des Social Media Tods aus dem letzten Newsletter hier ein Text von Jason Parahm, der eine kompatible, aber doch leicht andere These vertritt. Er bindet das Social Media-Paradigma zurück an die Millennials, der ersten wirklich digitalen Generation. Diese Generation, so die These, sei nach dem Twitteraus quasi von Social Media weitestgehend geheilt, denn zwischen Mastodon, Bluesky und Threads findet sich eh kein neues digitales Zuhause, eine Tatsache mit der man sich aber eigentlich ganz gut arrangiert hat. Haha!

Meine persönliche Perspektive darauf ist ja die eines späten GenXlers, der sein Onlineleben lang immer hinter den Millennials her trotten musste. Und während diese jetzt in ihrer Doppelhaushälfte dem Analogbiedermeier frönen, sitze ich in ihren digitalen Ruinen fest. Naja gut, ganz so schlimm ist es nicht. Bin ja jetzt wieder Blogger 😉


Jan Assmann ist tot. Das macht mich traurig, denn er und seine Frau (die ich sogar mal das Vergnügen hatte, kennenzulernen und der ich an dieser Stelle nur das Beste wünsche) hatten mit ihren Büchern auch auf mein Denken einen großen Einfluss.

René Walter geht es ähnlich und als Quasinachruf unternimmt er den Stunt, die Theorie des kulturellen Gedächtnisses auf das Internet zu applizieren. Resultat: es funktioniert nicht und das ist ein Problem.

„The digital is inherently incompatible with this way of collective memorization, the very foundation of what glues societies together and makes them work in the long run. There is “no canon for old memes”, and cultural practice in the digital is in an ever changing, never remembered flux.“

Memes don’t Canon. Ohne Kanon kein kulturelles Gedächtnis, was für René vor allem deshalb zum Problem wird, weil das kulturelle Gedächtnis gleichzeitig die Grundlage der Verständigung innerhalb einer Gesellschaft ist. Das führt nun seiner Ansicht nach unter anderem zu den aktuellen Kulturkriegen, aber es steht noch viel mehr auf dem Spiel.

„With the loss of reliable mechanisms for the formation of cultural memory in digital informed societies, we are in great danger of losing our very collective selves.“

Ich seh das so: Im Zuge der Polykrise neigt sich nicht nur eine Weltordnung und eine Art des Wirtschaftens dem Ende, sondern ein ganzes Paradigma, wie man auf die Welt schaut. Man kann nicht die materiellen Grundlagen des Zusammenlebens verändern, ohne auch gesellschaftliche Normen und Erwartungsstrukturen zu verändern.

Das Gefühl der Verlorenheit setzt schon hier ein. Ich stelle mir Kanons wie tiefsitzende gesellschaftliche Pfadentscheidungen vor, aus deren Wurzel sich der ganze Strauß an kultureller Imgagination verzweigt, an deren Enden wir alle leben, fühlen und denken. An dem Kanon zu rütteln meint nicht nur einen Baustein durch einen anderen zu ersetzen, sondern es bedroht den ganzen sich daraus verzweigenden Überbau. Und das erklärt die Intensität der aktuellen Kulturkriege.

Doch wenn René recht hat, dass wir im Internet nicht fähig sind, einen Kanon zu etablieren, bedeutet das, keine Pfadentscheidung mehr zu treffen und somit kulturell auf der Stelle zu treten. Das hieße, als Gesellschaft nicht mehr lernen zu können. Und wenn unten alles wegbricht und oben nichts mehr nachwächst dann wäre der 5000 jährige Bann der Historizität seit Erfindung der Schrift endlich gebrochen.

Doch ist es nicht vielmehr so, dass wir gerade erst unser kulturelles Gedächtnis outgesourced haben, indem wir dem Archiv das Sprechen beibringen? Der Kanon lebt jetzt aufgelöst im tausenddimensionalen Latent Space der generativen KIs und hört nicht mehr auf, uns vollzuquasselen.

Mich erinnert das eher an den Turmbau zu Babel. Der ganze Witz dieser Bibelstelle liegt ja in der Vorstellung, dass zu jener Zeit noch alle dieselbe universelle Sprache sprechen. Mit dem Zusammenbruch des Turms brechen auch die Semantiken auseinander und die Vielfalt der Sprachen entsteht und damit die Notwendigkeit der Übersetzung. Ist es ein Zufall, dass unser kulturelles Gedächtnis exakt in dem Moment auseinander bricht, als wir die perfekte Übersetzungsmaschine gebaut haben?


Ich frage auch deswegen, weil Deutschlands kulturelles Gedächtnis nicht nur die Varusschlacht, Holocaust und Goethe kanonisiert, sondern auch das Selbstbild als Exportweltmeister. Von dieser Deep Story aus blicken wir mit einer Arroganz auf die Restwelt, als sei es überhaupt möglich, dass alle Länder der Welt Exportnationen wären.

Nie drückte sich diese chauvinistische Identität hässlicher aus, als im Zuge der Eurokrise und der deutschen Berichterstattung über Griechenland: hier das fleißige, kluge, sparsame Deutschland, dort die faulen, dummen und alles verprassenden Griechen.

Doch wie Patrick Boyle in diesem sehr sehenswerten Video erklärt ist „Exportnation“ keine Auszeichnung für eine spezielle Mentalität und Schaffenskraft, sondern eine handelsstrategische Entscheidung, die durch ein dezidiertes Set von wirtschaftspolitischen Maßnahmen ins Werk gesetzt wird – als da wären:

  • Ein möglichst niedriger Wechselkurs zu anderen wichtigen Währungen, so dass die eigenen Produkte vergleichsweise günstig angeboten werden können.
  • Das Lohnwachstum zügeln, um die Kosten im Griff zu halten.
  • Niedrige Zinsen, damit Firmen flexibel Investieren können.

Es ist ein fucking Trick. Und dieser Trick geht nicht nur auf Kosten der anderen Länder, insbesondere unserer EU-Nachbarn, sondern auch noch auf Kosten von uns allen.

„These interventions are simply a transfer of resources from one group within a economy to another. Maintaining an artificially low exchange rate is no different from putting a tariff on imports while subsidizing exports. It transfers wealth from those who might want to by foreign goods to those in business of selling goods to foreigners.
Keeping wage growth below growth of productivity is another tax that transfers from workers to employers. Financial repression where interest rates are set artificially low – transfers wealth from savers to borrowers. Considering the household sector is generally made up of savers and the business and government sectors are usually borrowers , low interest rates are a transfer from households to business and government.“

Kurz: Die exportindustriellen Kapitalisten haben sich Jahrzehntelang auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung bereichert. Und die deutschen Medien haben das auch noch so lange abgefeiert, bis wir diesen Abuse zu unserer kollektiven Identität gemacht haben.


Diese Woche reden alle über Sora und natürlich haben auch mich die Bilder fasziniert. Aber wie bei allem KI-Kram hinterlassen auch die Sora-Szenen ein merkwürdiges Gefühl der Leere in mir.

Passend dazu sieht Brian Mercant in der Technologie vor allem das Videoäquivalent des berühmten „stochastischen Papageien“, der nur bekanntes re-arrangiert, statt Neues zu schaffen.

„It’s not that Sora is generating new and amazing scenes based on the words you’re typing — it’s automating the act of stitching together renderings of extant video and images. Which is not uncool, in a vacuum! It’s indeed impressive that technology can do this.“

Ich finde eigentlich, diese Reduktion wird der dahinter steckenden unfassbaren Komplexität nicht gerecht, aber, naja, unter dem Strich stimmt das ja schon. Egal ob Midjourney, Gimini oder Sora: alles basiert auf operationalisierter Statistik und wie bei einem Zaubertrick, den man durchschaut hat, nagt diese Tatsache an ihrem Wert.

Ja, ich denke, wir müssen an dieser Stelle über Wert sprechen. Die Faszination an KI generierten Inhalten hat eine noch kürzere Halbwertzeit als die von Memes, und während alte Memes noch wenigsten Nostalgie auslösen können, wirkt jedes KI-Bild zwei Monate später wie digitaler Abfall.

Dass sich kultureller Wert an der Möglichkeit seiner Reproduzierbarkeit orientiert, hatte schon Benjamin begriffen. Benjamin bezog das auf das „Werk“, das in seiner Zeit grenzkostenlos reproduzierbar wurde. Wir erleben dasselbe nun für den Prozess der Schaffung von digitalen kulturellen Artefakten selbst, welche wir bereits so wenig Wert schätzen, dass wir uns das Wort „Content“ dafür ausgedacht haben.


Dass Reiche einen überdurchschnittlichen Einfluss auf Politik und Medien haben, ist mittlerweile ja hinreichend belegt. Doch in einer Zeit, in der Milliardäre sich ihre Medienimperien nicht mehr in erster Linie zusammenkaufen, um ihren Reichtum zu vermehren, sondern um ihre politischen Ansichten in die Welt zu tröten, stellt sich die Frage, inwieweit der öffentliche Diskurs nun endgültig den Interessen der herrschenden Klasse ausgeliefert ist.

In einem lesenswerten Meinungsstück nimmt sich William D. Cohan neben Musk auch noch einen anderen Milliardär vor, nämlich den Finanzguru Bill Ackmann, der durch eine laute und erfolgreiche Kampagne auf X gegen die Gleichstellungspolitik an US-Unis aufgefallen ist. Ackman gibt selbst zu Protokoll, dass er sich solche Kampagnen wegen seiner „finanziellen Unabhängigkeit“ erlauben kann. Cohan erinnert an das Konzept des symbolischen Kapitals bei Bourdieu und schließt, dass sich noch nie in der Geschichte monetäres Kapital so leicht in diskursiven Einfluss umwandeln ließ.

„When only the ultrawealthy, as a practical matter, can afford to speak freely without consequences, what does freedom of speech really mean? There is a vogue among the superrich like Mr. Ackman, Mr. Musk and Mr. Trump for misconstruing the First Amendment as permission to support their particular vision of how public speech should work.“

Meinungsfreiheit war einmal ein Werkzeug, um Macht Grenzen zu aufzuzeigen, jetzt ist die Waffe in die Hände der Mächtigen selbst gefallen.


Unabhängigkeit ist ein hohes Gut. Doch wenn das US-Justitzministerium einen Trump-Fan beauftragt, eventuelle Verfehlungen von Biden zu untersuchen und wenn die NYTimes nur noch über Bidens Alter spricht, dann hat das weniger mit Unabhängigkeit zu tun, als mit dem Wunsch, von ganz rechts aus gesehen unabhängig zu wirken. Doch das, so Chris Hayes in diesem spot on Thread, ist einfach nicht dasselbe.

Das sollte sich insbesondere mal der öffentlich rechtliche Rundfunk zu Gemüte führen. Er glaubt, er könne der AfD durch Talkshoweinladungen beweisen, wie unabhängig er ist, was vollkommen absurd ist, weil die AfD niemals die Existenz einer nicht-milliardärskontrollierten Quelle von Information dulden wird. Der ÖRR arbeitet an seiner eigenen Abschaffung mit.


Der Kulturkrieg ist jetzt auch im Zentrum der KI-Debatte angekommen. Während das rechtsradikale Gab.io-Netzwerk eigene KI-Bots baut, die explizit darauf konfiguriert sind, den Holocaust zu leugnen, beschweren sich Musk und seine Jünger auf X, dass Googles Gimini zu „woke“ sei. Leider haben sie diesmal einen Punkt, denn die eingebauten Guardrails bei Gimini führen zB. dazu, dass historische Nazis mit diversen Hautfarben, aber eben nicht mehr weiß dargestellt werden können. Casey Newton hat in seinem Plattformer-Newsletter zu beidem eine gute Einordnung.

Manche haben schon Mitleid mit Google geäußert, aber ich sehe darin den gescheiterten Versuch des Unternehmens durch Eingriffe in die Userprompts die mangelnde Diversität in ihren Trainingsdaten auszugleichen, was halt nur schief gehen kann. Google hat Giminis Bildgenerierung vorerst ausgesetzt.


Ich finde aber auch ingesamt wird dem Thema generative KI die falsche politische Aufmerksamkeit gewidmet. Alle bangen wie das Kaninchen vor der Schlage auf den Moment, in dem ein gedeep-faktes Biden-Video China den Krieg erklärt oder eine KI-induzierte Fake-Reality (Lobo) unsere Wahrnehmung mit unserem Begehren kurzschließt. Dabei ist die politische Wirkung von generativer KI schon jetzt eine ganz andere. Der Kreml zum Beispiel hat es sich bereits zur Angewohnheit gemacht, Bildmaterial, das ihnen nicht in den Kram passt, als ki-generierte oder sonstige Fälschung zu „entlarven“, wie Sylvia Sasse in ihrem lesenswerten Beitrag „Der pseudoforensische Blick. Krieg, Fotografie und keine Emotionen“ aus dem Sammelband „Bilder unter Verdacht“ zeigt. Der, wie Sasse es nennt, „pseudoforensische Blick“, hat nicht nur die Aufgabe, das Wasser zu trüben, sondern zielt auch auf eine Veränderung der Sehgewohnheiten des Publikums:

Meine These ist, dass der forensische Blick gezielt imitiert wird, um die Rezeption des Krieges zu entemotionalisieren. Der kalte Blick, der damit angestrebt wird, soll ein technischer Blick sein, der nicht danach fragt, wer da liegt, wer da gerade gestorben ist, wessen Wohnung auf dem Foto zerbombt wurde und warum.


Nach dem Tod von Navalny hat sich Donald Trump zu Wort gemeldet und sich mit ihm verglichen. Wer diesen Satz liest und danach immer noch glaubt, dass generative KI irgendwas zum Wahnsinn der aktuellen politischen Situation beizusteuern hat, der … sollte den Satz noch mal lesen.

Vlad Vexler (ich habe ihn hier schon mal empfohlen) hat dazu wieder ein sehenswertes Video gemacht, doch woran ich hängen geblieben bin, ist seine Unterscheidung vom lügenden Politiker und dem Post-Truth-Populisten, die mir erklärmächtiger erscheint, als die mittlerweile kanonische Lügner/Bullshitter-Differenz.

Während der lügende Politiker den Leuten eine Wahrheit verkaufen will, die nicht existiert, geht der Post-Truth-Populist eine Art Pakt mit einem Teil des Publikums ein. Dieser Pakt besteht in der unausgesprochenen Übereinkunft, dass die Wahrheit einfach nicht relevant ist. Die Lüge hat in diesem Kontext eine ganz andere Aufgabe. Sie fungiert als eine Art Uniform, ein Shibboleth, an dem sich die Kulturkrieger gegenseitig erkennen und nach außen abgrenzen. Dafür muss die Lüge nicht sonderlich ausgefeilt oder überzeugend sein. Im Gegenteil. Je abstruser und grotesker sie ist, desto strammer sitzt die Uniform.

Was soll ein Post-Truth-Populist also mit Deepfakes anfangen? Er will doch niemanden von irgendeiner Wahrheit überzeugen. Viel eher arbeitet ihm die Tatsache entgegen, dass heute eben alle Beweise gefälscht sein könnten. Im Security-Bereich nennt man das auch „Plausible Deniability“ und es ist jetzt die Standardeinstellung unserer digitalen Medienwelt.


Wenn generative KI dem rechten Mob nicht zur Fabrizierung von falschen Wahrheiten taugt, dann doch wenigstens für Schaulust und Herabwürdigung von bekannten (und manchmal weniger bekannten) Frauen. Machen wir uns nichts vor: bei ki-generiertem Porn geht es um Machtspiele, gekränkte Männeregos und eine Traktorladung sexueller Verzweifelung, die bei genauerem Hinsehen alle kausal aufeinander verweisen.

Musk trimmt X immer mehr Richtung eines modernen 4chan und so ist es heute die natürliche Hauptanlaufstelle für solche Art Fakeporn. Nach Taylor Switft hat es jetzt die Komikerin Bobbi Althoff getroffen. Und wenn mächtige Medienstars wie Swift und Althoff dem quasi schutzlos ausgeliefert sind, wie muss das dann für Teenager sein, wenn deren Deepfakes über den Klassen-Whatsapp-Chat gehen?


In einer Welt, in der nichts wahr, aber alles möglich ist, sind die Ruchlosen die Könige und alle anderen sind gefickt. Ironischer Weise ist das gleichzeitig der Titel eines lesenswerten Buches über Putins Russland von 2014.

Peter Pomerantsev beschreibt darin das Russland, wie es bis 2012 existierte, in dem es eine Art von inszenierter Opposition, inklusive bezahltem, aktivistischen Widerstand gab. Man fand für dieses Modell den treffenden Namen „gemanagte Demokratie“. Russland war damals zwar schon voll durch-oligarchisiert aber noch nicht so totalitär wie heute und manchmal sogar auf eine theaterhafte Art ganz unterhaltsam. Aber schon damals war alles darauf ausgerichtet, die Leute zum Rückzug ins Private zu ermuntern.

Eingequetscht zwischen Milliardären mit Megaphonen sitzen wir nun in den schrumpfenden Ruinen einer nur noch von Propaganda, Kulturkampf-Bullshit und seelenlosem KI-Content dominierten Digitalsphäre und so langsam dämmert es uns, dass wir längst in Putins Welt leben.

Aber hier kann man gegen Milliardäre unterschreiben.

Newsletter No 3.

Krasse Links No 3. Diesmal mit Schwerpunkt Internet und Kultur. Have fun! 🙂


Social Media ist tot. So jedenfalls hatte es am Anfang des Monats bereits der Economist berichtet und Lars Weisbrod nimmt die These für die Zeit dankbar auf (befreit) und reichert sie mit einigen interessanten Anekdoten, Fakten und Beobachtungen an. Die These ansich ist tatsächlich nachdenkenswert: Was Social Media seit seinem Aufstieg ab 2005 ausgemacht hat, war die konzeptionelle Zusammenführung von sozialer Kommunikation einerseits und massenmedialen Effekten andererseits. Die Verbindungen wurden zwar auf persönlicher Ebene hergestellt (Follower/Friend), aber die Reichweiten skalierten dabei schnell in massenmediale Gefilde. Das ging so lange gut, bis es nicht mehr gut ging.

Die massenmedialen Effekte waren für die meisten Leute nicht mehr beherrschbar und gleichzeitig wurden die Räume für das Private immer enger. Das Ende von Social Media ist das wieder Auseinanderdriften dieser beiden Funktionslogiken: Zum Einen der Rückzug der Menschen in halbprivate Messenger-Chats oder in öffentlichkeitslimitierte Dienste wie BeReal. Zum Anderen die allgemeine Hinwendung zu „post-sozialen“ Medienberieselungsanalgen wie TikTok und Instagram Reels für Unterhaltung und ein bisschen auch für Information. Das Fernsehen ist zurück, auf ne Art.

X, könnte man daraus schließen, hat sich seit dem Tod von Twitter in Richtung postsoziale Medienberieselungsanalge verabschiedet, während Mastodon und Bluesky trotzig das Social Media Paradigma aufrecht erhalten wollen und dabei – naja, zunehmend wie eine digitale Senionrenanalage für Social Media Hängengebliebene wirken (Ja, ich meine dabei auch ausdrücklich mich selbst!).


Wo sich Threads hinbewegt ist noch nicht ganz auszumachen, aber die kontroverse Policyentscheidung, politische Inhalte nicht mehr algoritmisch zu verstärken, kann als Schritt in Richtung Postsozial verstanden werden, was einleuchtet, denn dort liegen die größeren Reichweite und die leichtere Vermarktbarkeit.

Ich habe tatsächlich einige Argumente gehört, warum das actually gut ist („politischer Content auf Plattformen hat uns doch erst in diese Situation gebracht!!“), aber selbst wenn man die Plattformen für die Polarisierung verantwortlich macht und glaubt, dass damit ändern zu können, stellen sich zumindest drei dringende Fragen:

  1. Was ist politisch? Dass diese Grenze schwer bis gar nicht zu ziehen ist, ist zu genüge erläutert worden. Daher finde ich die Folgefrage viel relevanter, die da lautet:
  2. Was halten Menschen für politisch? Und diese Frage ist sogar recht leicht zu beantworten: alles, was von der Norm abweicht. Der männliche Körper ist nicht politisch, der weibliche schon. Heterosexuelle Beziehungen sind nicht politisch, homosexuelle schon. Deutsche in Deutschland sind nicht politisch, Ausländer schon, etc. Es gilt die Hegemonie des Normalen.
  3. Diese Schwierigkeiten im Kopf stellt sich die dritte Frage: Habe ich genügend Zutrauen in den Konzern Meta, diese Frage zu beantworten? Und damit meine ich nicht nur, sie für mich zu beantworten, sondern für die Gesellschaft als ganzes, denn alles, was Meta tut, passiert auf Gesellschaftsebene.

Die Menschen haben allen Grund den Plattformen zu mißtrauen. Üble Erfahrungen haben sich über die Jahre gestapelt und die brutale Hinrichtung von Twitter unter der Ägide des Chefkapitalisten Musk war für viele der Breakingpoint (zumindest für mich). Kommerzielle Netzwerke fühlen sich einfach nicht mehr wie fester Boden an. Die Frage, was kann ich noch erwarten, wenn ich etwas poste, können nur noch Menschen beantworten, die es zu ihrem Beruf gemacht haben, die neusten Tweeks des Algos hinterherzuhecheln. Und dann sollen die Plattformen auch noch darüber Entscheiden, was in der Gesellschaft als Politik gelten soll?

Zu diesen und anderen Fragen lamentieren hörenswert auch Nora Hespers und Gavin Karlmeier im Podcast Haken dran.


Anfang dieser Woche ging ein Text von Stern viral (selten genug), in dem eine anonyme Mutter davon berichtet, wie ein unter männlichen Jugendlichen populärer Podcast ihren 14-Jährigen Sohn zum AFD-Anhänger gemacht hat. Die Aufregung ist vielleicht auch deswegen so groß, weil gerade erst ein Artikel der Financial Times (befreit) Furore machte, der bei jungen Menschen einen sich spreizenden Gender-Gap hinsichtlich der politischen Haltungen feststellte. Junge Männer, so scheint es, werden immer rechter, während die Mädchen eher links und stabil bleiben.

Der Podcast, um den es geht, heißt Hoss und Hopf (kein Link) und interessanter Weise hatte ich 2022 das Vergnügen mit Hoss beim Handelsblatt über Crypto zu diskutieren. Hoss war zu jener Zeit einer der sichtbarsten Crypto-Influencer in Deutschland. Ich muss sagen, dass ich Hoss – trotz unserer inhaltlichen Differenzen – nicht unsympathisch fand und sofort etwas Mitleid mit ihm hatte, als er sich aus seiner noch leeren Wohnung in Dubai zuschaltete. Wo muss man im Leben falsch abgebogen sein, um freiwillig in einer mit reichen Langweilern befüllten Retortenstadt in der Wüste leben zu wollen?

Hoss ist ein anschaulicher Prototyp für die Rechtsverschiebung unter männlichen Jugendlichen. Er ist teil einer Generation, die gelernt hat, dass man nicht mit Arbeit zu Geld kommt, sondern dass es im Kapitalismus eben nur Gewinner und Sucker gibt und es somit darauf ankommt, immer auf der Seite der ersteren zu stehen. Nichts bildet diese Ideologie so gut ab, wie der Finanzmarkt und dabei ist es fast egal, ob man Pennystock- Memestock-, Devisenheini oder eben Crypto-Bro ist (sein Kollege Hopf ist z.b. eher im traditionellen Finanzmarkt unterwegs).

Seit der ungefilterten Öffnung des Finanzmarktes für die allgemeine Öffentlichkeit durch Crypto, aber auch Trading-Apps wie RobinHood oder Trade-Republic hat sich darum eine eigene Industrie von Life-Coaches, Selfhelp-Gurus und eben Finanz-Influencern entwickelt, die über ihre Kanäle die nächste Generation verunsicherter Jungs rekrutiert, so dass die Pyramide immer ihren Sockel austauschen kann. Einen guten Podcast mit Innenasichten dieser mentalen Tretmühle haben die guten Menschen von Wild Wild Web produziert.

Hoss ist kein böser Mensch, er verwechselt nur sein Glück genau zur richtigen Zeit in Bitcoin investiert zu haben, mit seiner eigener Kompetenz und versucht seither mit Kursanalysen-Voodoo seinen Erfolg zu reproduzieren. Er ist damit einer unter Millionen. Er ist eine tragische Figur aber hat halt tausende von Fans.

Spätestens mit der Hinwendung von Elon Musk (neben Jordan Peterson, Joe Rogan und Andrew Tate eines der großen Vorbilder in dieser Blase) zum harten Rechtsradikalismus sind faschistische Positionen in diesen Kreisen zumindest so weit normalisiert, dass ihnen alle Versuche, Nazis zu verhindern, suspekt sind. Sie empfinden das als autoritäre Einschränkung der Meinungsfreiheit und glauben, Demokratie hieße, mit allen (also vor allem mit Rechten) reden zu müssen.

Das bekommt man jedenfalls zu hören, wenn man bei Hoss & Hopf reinhört. Zwar ist vor allem Hopf ständig dabei, auch rechte Parolen und Verschwörungstheorien rauszuhauen (der Youtuber MARWIN hat sich die Mühe gemacht, einige seiner Claims zu debunken), aber im Großen und Ganzen geht es vor allem um Medienkritik an den Mainstream-Medien (oder was sie dafür halten), die teils sogar berechtigt ist, aber eben auch sehr einseitig und schlecht informiert.

Den Jubel darüber, dass Tiktok jetzt einen Account, der Hoss und Hopf promotet und 166.000 Follower hat, gesperrt hat, kann ich nicht teilen.

  1. Tiktok ist halt sehr opportunistisch bei seiner Moderation und sperrt einfach alles, worüber sich die Öffentlichkeit gerade aufgeregt. Dahinter stecken keine Prinzipien, oder eine Policy, sondern reine PR. Hoss und Hopf machen schlechte Inhalte, aber es gibt mit großem Abstand schlimmeres auf Tiktok.
  2. Zudem sind Hoss und Hopf gar nicht auf ihre eigene TikTok-Präsemenz angewiesen, denn ihre Strategie ist es, Geldbepreiste Ausschreibungen für Tiktok-Reichweiten zu machen, bei denen dann ihre jungen Fans mit hunderten von Accounts konkurrieren.
  3. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass ihnen diese ganze Kampagne wenig schaden wird. Im Gegenteil. Für die jungen Männer bedeutet die Aufregung und die Zensurbemühungen nur, dass Hoss und Hopf erst recht attraktiv werden. Ich weiß, das ist eine Zwickmühle, aber ich denke, in diesem Fall müsste man sich tatsächlich inhaltlich engagieren, statt mit dem Nudelholz.

Was mich bei Hoss und Hopf – eigentlich bei allen diesen Männlichkeitsinfluencern – so kirre macht, ist ihre demonstrative Eindimensionalität. Mit ihren Lambos und ihrer geldfixierten Statusidee wirken sie wie zugespitzte Karikaturen von Männlichkeit und die Tatsache, dass ihnen dabei jede ironische Ebene fehlt, macht das ganze so gespenstisch wie Sora-Szenen.


Es gibt seit einiger Zeit vermehrt Bemühungen, den kulturellen Moment in dem das Internet gerade steckt, auf einer Metaebene einzufangen. Meiner Wahrnehmung nach fing das alles mit dem Text von Kyle Chayka im Guardian an. Chayka ist eigentlich New Yorker Autor und seine Thesen hat er auch im Buch „Filterworld“ weiter ausgeführt, das ich aber nicht gelesen habe. In dem Stück für den Guardian arbeitet er sich vor allem an dem Phänomen ab, dass überall auf der Welt – zumindest in Großstädten wie New York, Bangkok, Tokio, Berlin – ein ganz bestimmter Stil von Hipster-Coffeeshops zu finden ist. Seine These dazu ist, dass durch die indirekte algorithmische Vernetzung über Instagram, Tiktok und Co. eine ortsunabhängige Stil-Angleichung stattfindet, meistens gar nicht bewusst.

„My theory was that all the physical places interconnected by apps had a way of resembling one another. In the case of the cafes, the growth of Instagram gave international cafe owners and baristas a way to follow one another in real time and gradually, via algorithmic recommendations, begin consuming the same kinds of content. One cafe owner’s personal taste would drift toward what the rest of them liked, too, eventually coalescing. On the customer side, Yelp, Foursquare and Google Maps drove people like me – who could also follow the popular coffee aesthetics on Instagram – toward cafes that conformed with what they wanted to see by putting them at the top of searches or highlighting them on a map.“

Kultur, gefiltert durch Algorithmen, führt unweigerlich zu einem gewissen Streamlining von Formen und Stilen und es ist nicht immer leicht, sich zu dieser Dynamik zu verhalten. Es ist, als wären die Plattformen das neue Flussbett der Kultur, in dem die alltagskulturellen Artefakte wie Steine liegen, die durch den Fluss der vom Algorithmus koordinierten Interaktionen, immer runder geschliffen werden.


Auch Rebecca Jennings beobachtet auf Vox den Einfluss von algorithmischer Kuratierung auf die Kultur, doch nimmt sie die kulturellen Protagonist*innen selbst in den Blick, also Künstler*innen, Musiker*innen und Autor*innen. Heute, so scheint es, reicht es nicht mehr eine bestimmte Form der Ausdrucksweise zu beherrschen, denn alle müssen jetzt auch gleichzeitig Influencer*innen sein und ihr Leben vermarkten. Der Aufmerksamkeitsmarkt auf Tiktok und Instagram ist brutal und egal, welche Form von Kultur man auch herstellt, gilt es der inzwischen ebenfalls algorithmisch rundgeschliffenen Idee eines AutorsAutorin/Künstler*in oder Musiker*in zu entsprechen.

„Is the labor of self-promotion making art worse? It’s sort of impossible to argue this; the internet has abetted the creation and exposure of infinitely more art than ever before in human history. But with less separation between art and commerce, Montgomery says, “there’s some self-censorship that happens. If you’re a little too knowledgeable about PR, you start to become way too aware of things like posting schedules, and it’s impossible to be punk anymore.”

Das ist in der Tat eine empfindliche Einschränkung des Möglichkeitsfelds der Kultur. Ein Algo-Hustler kann alles mögliche sein, aber ganz sicher kein Punk.


Eine noch umfassendere Betrachtung des algoritmisch-kulturellen Moments hat David Marx vorgelegt. Er unterteilt die bisherige Kulturlandschaft grob in eine Makro-Mainstreamkultur und verschiedene Mikro-Kulturen:.

  • Macro: Mainstream-ready content created for large audiences by major TV and film studios, record labels, major newspapers, and monthly magazines
  • Countercultural Micro: Content made under avant-garde, experimental, or otherwise non-mainstream aspirations that tinkers with the underlying conventions of form and content in an attempt to push the medium forward; this culture tends to be championed in élitist media enjoyed by small but influential educated audiences
  • Minority Micro: Culture created within identity-based minority communities that had long been excluded from mainstream participation: e.g. early hip-hop, latin music, gay club culture
  • Laggard Micro: Cultural tastes among white lower middle-classes that hybridize stable folk traditions with popular trends at the end of their cycles, which tend to be loathed by macro gatekeepers: e.g. country music, Nü Metal, Larry the Cable Guy

Mit der Durchdringung der Kultur durch das Internet kommt nun eine neue Mikrokultur hinzu, die Marx „Macro-Taste Micro“-Kultur nennt. Also eine nicht-Mainstreamige, aber vom Geschmacksmuster her doch ziemlich herkömmliche Form populärer Microkultur. Sein Goto-Beispiel dafür ist Mr Beast, der als unabhängiger Medienmacher/Influencer mehr Leute erreicht, als große Fernsehsender mit ihren populärsten Sendungen. Mr Beast ist in keiner Weise irgendwie gegenkulturell, sondern macht keinen Hehl daraus, dass er erstens der Über-Algo-Hustler ist und damit zweitens in die Mitte der Mitte des Mainstreams greift, um die Massen des Massengeschmacks bei ihren faulsten Präferenzen zu greifen.


Eine Auffälligkeit bei Mr. Beast ist, mit welcher Vorsicht er politische Themen umschifft. Er weiß, dass jeder noch so kleine Pups ihn in Zeiten der Hyperpolitik über Nacht die Hälfte seiner Fanbase kosten könnte und mein Eindruck ist, dass ihm Politik egal genug ist, da nicht reingezogen werden zu wollen. Er ist mit dieser Strategie nicht nur der erfolgreichste Creator ever existed, sondern auch sowas wie der Idealuser für Plattformen wie Threads. Eigentlich hätte Threads gerne nur ein paar Hundert Mr. Beasts und wir anderen sollen uns bitte nicht zu laut über Politik streiten, wir stören nur die Vorführung. Willkommen im Post-Social Internet!


Aber wenn der aktuelle algoritmische Moment in der Kultur darin besteht, Hustlers, Hipstercafees, Autor*innen-Persönlichkeiten, Männlichkeitsbilder und zuletzt auch noch den „Mainstream“ zur Karikatur seiner selbst rundzuschleifen, bzw. zuzuspitzen, dann erklärt sich damit auch – zumindest zum Teil – der Rechtsrutsch bei jungen Männern. Auf eine Art hat sich der Hang zum Normarliären (Jonas Schaible) von den Boomern in die algorithmusgeschliffene kulturelle Semantik der Gen-Z geschlichen – zum Erstaunen von uns Gen-X und Millennials.

Die Abziehbildhaftigkeit dieser Männlichkeits-Semantik gleicht dabei wiederum den ephemeren Werten, die der Crytptomarkt „produziert“ und im nächsten Moment wieder vernichtet. So wie Crypto ein zur Karikatur zugespitzter Cargo Cult des Finanzkapitalismus ist, so ist diese algorithmisch-normalitäre Männlichkeit eine Verdichtung popkultureller Versatzstücke aus einer internalisierten Mainstream-Medienkultur. Es kondensiert dabei all die platten Sterotype, aber befreit sie gleichzeitig von jeglicher soziokultureller Einbettung und Begrenzung, in denen sie vorgefunden wurde. Es sind Signifikanten ohne Signifikat – also just another Bubble?

Die Fragilität dieser Semantik ist aber auch eine Chance. Die New York Times hatte schon 2021 ein lesenswertes Stück über Influncer Burnout. Viele wollen wieder ausbrechen (ist ja auch wahnsinnig anstrengend und wenig rewarding, jeden Tag ein „echter Mann“, ein „echter Autor“, eine „echte Künstlerin“ zu sein) und für diese Kids braucht es Angebote, in die sie ihre monströsen Identitäten sanft umkippen lassen können, um sie neu und selbstbestimmt wieder aufzubauen. Und wenn sie das schaffen, könnten sie zur immunisierten Speerspitze eines neuen Widerstands gegen die Hegemonie algorithmischer Verflachung und Rechtsverschiebung werden …

Okay, okay, I got carried away …

Aber ganz ohne Scheiß: bitte, bitte gebt die Jugend nicht auf!