Krasse Links No 26

Willkommen bei Krasse Links No 26. Heute verprechen wir den Dipshits Sicherheitsgarantien in unserer Privatsprache und navigieren die Gen-Z an Männlichkeits-Zentralitäten vorbei.


Die französischen Behörden haben Pavel Durov, den Gründer und CEO von Telegram festgenommen und auch wenn noch nicht ganz klar ist, was ihm vorgeworfen wird, begrüße ich das. Telegram ist das Phantom unter den Social Media Plattformen. Es ist ohne frage reichweitenstark und relevant, aber wir wissen so gut wie nichts darüber und es entzieht sich wo es kann jeder Form von Kontrolle und Regulierung. Ich hoffe, wir werden in den nächsten Wochen sehr viel über das Netzwerk erfahren.


Carole Cadwalladr bringt im Guardian die Gefahr, die derzeit von den Social Mediaplattformen für die Demokratie ausgeht, auf den Punkt.

In Britain, the canary has sung. This summer we have witnessed something new and unprecedented. The billionaire owner of a tech platform publicly confronting an elected leader and using his platform to undermine his authority and incite violence. Britain’s 2024 summer riots were Elon Musk’s trial balloon.

He got away with it. And if you’re not terrified by both the extraordinary supranational power of that and the potential consequences, you should be. If Musk chooses to “predict” a civil war in the States, what will that look like? If he chooses to contest an election result? If he decides that democracy is over-rated? This isn’t sci-fi. It’s literally three months away.

Bemerkenswert ist auch ihre Beobachtung, dass die Plattformen für die Destabilisierung der Demokratien gar keine aktiv bösartige Rolle einnehmen müssen. Es reicht im Zweifel ja auch aus, die Hände hochzuwerfen?

All this has provided the perfect cover for the platforms to step back. Twitter, now X, has sacked at least half its trust and safety team. But then so has every tech company we know about. Thousands of workers previously employed to sniff out misinformation have been laid off by Meta, TikTok, Snap and Discord.

Just last week, Facebook killed off one of its last remaining transparency tools, CrowdTangle, a tool that was crucial in understanding what was happening online during the dark days before and after the 2020 inauguration. It did this despite the pleas of researchers and academics, just because it could.

Im Plattformbuch schrieb ich noch:

Sicherheit zu garantieren, war schon immer eine der wichtigsten geopolitischen Mechanismen in den internationalen Beziehungen. Auf Sicherheitsgarantien sind Weltordnungen gebaut. Und die Erkenntnis aus diesem Kapitel ist deswegen: Es kann keine Weltordnung mehr ohne die Macht der Plattformen geben.

Keine Ahnung, ehrlich, ob das so ist, aber Silicon Valley juckt es offensichtlich in den Fingern, das mal auszuprobieren?


Ein aufschlussreicher Bericht bei CNN über die „Inner Workings“ der Harris-Campaign. Das Pollster Team von Biden hatte „weird“ an Fokusgruppen getestet und der Harris-Campaign davon abgeraten:

Some of their suggestions included a focus on the future, and to lay off the “weird” talk.

Harris’ advisers listened. They considered the arguments. They decided to stick with what the crowds were chanting in the arenas.

Richtige Entscheidung. Umfragen geben vor zu messen, was die Öffentlichkeit so findet und verstehen nicht, das „die Öffentlichkeit“ ein gemeinsam belebter, semantischer Raum ist, in dem sich alle aneinander orientieren. Wer diesen Raum erfolgreich bespielen will, darf sich nicht (nur) an den Musikwünschen orientieren, sondern muss selbst den Beat vorgeben. Niemand hat das so (intuitiv) verstanden, wie Donald Trump, der sich 2016 einfach von Schlagzeile zu Schlagzeile ins weiße Haus getrommelt hat. Auch die Harris-Campaign hats gecheckt und schon nickt die vernünftige Hälfte der US-Bevölkerung bereits heftig zu ihrem Beat.


Das Plattformbuch war auch der Versuch, die Mechanik digitaler Geschäftsmodelle als Politische Ökonomie der Abhängigkeiten zu fassen.

Die grundlegende Erkenntnis war schließlich, dass die Plattform zwischen mir und sich selbst eine wechselseitige Abhängigkeitsbeziehung herstellt, die extrem ungleich organisiert ist: Die Plattform ist viel, viel weniger von mir abhängig (wohlgleich nicht unabhängig), als ich von der Plattform, weil meine Abhängigkeit von der Plattform den akkumulierten Abhängigkeiten zu den Menschen entspricht, mit denen ich dort interagiere (klingt kompliziert ist aber eigentlich ganz einfach). Diese Diskrepanz ist die Quelle der Plattformmacht und befähigt die Plattform unter anderem, die auf ihr versammelten Verbindungen ökonomisch auszubeuten.

Seit dem Buch arbeite ich weiter an diesem Framework, weil ich glaube, dass darin eine grundlegend andere Art steckt, über wirtschaftliche Zusammenhänge zu sprechen und nachzudenken. Diese andere Sprache stellt Abhängigkeiten in den Mittelpunkt und kann daraus ableiten, wie Akteure es schaffen, Macht zu organisieren, um Renten abzuschöpfen.

Deswegen war es ein kritisches Manöver, diese Sprache auf andere wirtschaftliche Zusammenhänge anzuwenden und letztes Jahr ist mir das beim Supply-Chain-Kapitalismus gelungen und daraus ist der Text „Materialität und Austauschbarkeit“ entstanden.

Wenn wir dieses einfache Framework auf die Zulieferketten anwenden, ergibt sich ein klares Bild: Um einen Nike-Schuh herzustellen, sind alle Akteure (das Leitunternehmen sowie alle Zulieferfirmen) wechselseitig voneinander abhängig. Jedoch gibt es Unterschiede: Jeder Einzelne der Zulieferer – egal ob er Stoffe, Plastik oder Kordeln herstellt – ist aus Sicht des Leitunternehmens recht einfach austauschbar (Balanceakt 2). Es gibt viele konkurrierende Unternehmen und selbst wenn es sie nicht gäbe: das Wissen um Stoffe, Plastik und Kordeln herzustellen ist schnell ins Werk gesetzt.

Das Leitunternehmen hingegen, Nike, betreut zwar nur die Marke und andere Rechte, aber diese Rechte sind dank internationaler Abkommen wie TRIPS und durch die WTO global geschützt (Balanceakt 4). Die Leitunternehmen kontrollieren daher monopolistisch den Zugang zur Wertschöpfung. Für die Zulieferer ergibt sich dadurch eine enorme Abhängigkeit, denn ohne den Zugang zu­ Nikes Verkaufsnetzwerk und seiner »Brand-Recognition« sind die Produktivitätskapazitäten der Zulieferer völlig nutzlos. Dadurch ist Nike der einzige Akteur in diesen wechselseitigen Beziehungen, der weniger von den anderen abhängig ist, als diese von ihm.

Beide, Plattformen und Supplychains verwenden „den Markt“, um eine Macht-Hierarchie zu etablieren. Plattformen eröffnen einen „propietären Markt“ (Staab 2020), der die Nutzenden einlocked und Leitunternehmen versetzen ihre Zulieferer in kompetitive Wettbewerbssituationen, um ihre Margen zu frühstücken.

KI ist ein Coup“ kann ebenfalls in diese Reihe gestellt werden, denn, das, was ich im Text versuche zu zeigen, ist dass KI in seiner Struktur darauf angelegt ist, Abhängigkeiten in einem Ausmaß zu Konzentrieren, das jede Demokratie sprengen würde.

Ich bin seitdem ein ganzes Stück weitergekommen. Erst letztens fiel mir auf, dass all die Beobachtungen über Strategien der Austauschbarmachung, die ich in den drei Texten untersuche, in Wirklichkeit Netzwerk-Shaping-Operationen sind. All die Plattformen, Leitunternehmen von Supplychains und KI-Start-Ups arbeiten daran, das Netzwerk der Abhängigkeiten so zu strukturieren, dass sie sich selbst unersetzbar, die anderen aber ersetzbar machen. Netzwerktheoretisch ausgedrückt, versucht jeder Akteur seine relative Netzwerkzentralität zu erhöhen (ich tippe auf Betwenness-Zentralität, aber die anderen Arten könnten auch relevant sein).

Denken wir uns Abhängigkeiten als beliebig komplexes Netzwerk, in das man mit unterschiedlichen Zoomstufen reinschauen kann. Auf der Ebene des Haushalts kennen wir uns alle aus. Wir können die Spülmaschine nicht anstellen, weil wir erst noch Essen machen müssen, was aber nicht geht, weil die Teller nicht abgespült sind. Abhängigkeiten sind vernetzt und vertrackt und einen Haushalt (Oikos) zu führen, bedeutet in erster Linie, materielle Abhängigkeiten zu managen.

Man kann sodann raus-zoomen und stellt fest, dass die Haushalte an allerlei Infrastrukturen gekoppelt sind. Straßen, Schulen, klar, aber eben auch Geschirrspülmittelhersteller und Obstplantagen. Das Netzwerk der Abhängigkeiten wird in kapitalistischen Ökonomien entlang allerlei privater aber auch öffentlicher Infrastrukturen organisiert und diese Infrastrukturen nehmen jeweils relativ netzwerkzentrale Stellungen im Abhängigkeitsnetzwerk ein, sind aber selbst wieder in ein Netz von Abhängigkeiten verstrickt, ect. Netzwerkzentralität ist im Netzwerk als Schmerz spürbar, z.B. wenn mal eine zentrale Infrastruktur ausfällt (wie Strom, Wasser, oder wenn die Lieblingseissorte ist im lokalen Supermarkt vergriffen), oder eben beim Bezahlen, denn Netzwerkzentralität ist auch die Macht, Preise zu nehmen.

Im Alltag erleben wir Netzwerkzentralität als Attraktivität und schwierige „Bypassbarkeit“. Wenn ich eine andere Eissorte genauso gerne mag und sie im Supermarkt gegenüber bekomme, ist der Schmerz vertretbar und wenn der Nachbar Strom hat, kann ich ein Kabel rüber legen. Zentralität drückt also einerseits die netzwerkweite Relevanz eines Ressourcenzugangs aus (wie viele andere Knoten sind davon abhängig?), andererseits aber auch seine Subsitutierbarkeit (wie leicht kann der Zugang durch einen anderen ersetzt werden?).

Ich habe einiges davon hier im Newsletter entwickelt und einiges steht noch in meinen Notizen. Ein Buch ist noch zu früh, aber ich denke an ein wissenschaftliches Paper. Ich bin leider in diesen Feldern wenig orientiert und kaum vernetzt, deswegen die Frage an meine klugen Leser*innen:

Kennt ihr ein wissenschaftliches Journal, das international einigermaßen rezipiert und angesehen ist, aber trotzdem crazy enough wäre, diese Theorie bei sich abzudrucken? (englischsprachig, gerne links-heterodox, kapitalismuskritisch, etc., aber bitte auch nicht zuu fringe?)


Beim Hören von „Haken Dran“ nennt Gavin bei der Vorstellung von Jan Skudlarek (den ich vorher nicht kannte) dessen Dissertationstitel: „Relationale Intentionalität“ und weil ich das so spannend fand, hab ich statt den Podcast zu hören, seine Diss ganz begeistert gelesen.

Skudlarek will zunächst rausfinden, wie man gut über Gruppenhandlungen reden kann und stellt dabei fest, dass unser aufs Individuum zugeschnittenes Vokabular daran scheitert und dabei entdeckt er, dass Handlungen eigentlich gar nicht individualistisch denkbar sind.

Ausgehend von Wittgensteins Argument der Unmöglichkeit einer Privatsprache („Alleine kann man keinen Regeln folgen – subjektiv-private Regeln sind keine Regeln“) dekonstruiert er mit Franz Kannetzky die Cartesianische Meditation von Decartes (Ihr wisst schon: „Ich denke, also bin ich“) und kommt zu dem Schluss:

Denn erst, wenn man die Handlungsmuster, die eine Gemeinschaft bereitstellt, berücksichtigt, kann man individuelle Handlungen adäquat verstehen; vor dem Hintergrund, dass sie notwendigerweise Aktualisierungen bestimmter sozialer Schemata sind; nur in diesem Sinne kann die „individuelle“ Intentionalität (die, wie deutlich wird, im Kern dialogische, gemeinschaftliche Intentionalität ist), über die ein einzelner Akteur Auskunft gibt, bedeutsam sein.

Ich kann nur „Ich denke“, sagen (oder denken), weil ich in der Interaktion mit meiner Umwelt und anderen Sprechenden gelernt habe, was „denken“ und was „ich“ ist und wie man Sätze konstruiert. Der Einsatz von Sprache verweist immer schon auf ein „Wir“. Sie bettet uns in ein Geflecht der Bedeutungen ein, das eben nicht in unseren Köpfen, sondern zwischen ihnen residiert.

Willkommen im Poststrukturalismus! Wir haben hier noch genügend Platz für analytische Philosophen, komm rein, nimm dir nen Keks, fühl dich wie zu hause und erzähl mal: Wie fühlt man sich, nachdem man mal eben 400 Jahre Philosophiegeschichte in Frage gestellt hat?

Aus dem Verschwinden der „Trennwand“ zwischen individueller Intentionalität und kollektiver Intentionalität folgt, dass man nicht mehr das eine verwenden kann, um das andere zu beschreiben. Auch der methodologische Individualismus als Bewältigungsstrategie sozialphilosophischer Probleme fällt weg – ihm wird die Grundlage entzogen. In der Konsequenz des Privathandlungsarguments verschwindet zudem der cartesianische Geist- Welt-Dualismus, weil der Geist als ausschließlicher Ort intentionaler Unterscheidungskriterien wegfällt; an seiner Stelle entsteht das Bewusstsein von Intentionalität als Versatzstück gemeinsamer sozialer Praxen.

Aber der eigentlich spannende Teil kommt erst noch, denn was da in Trümmern liegt, muss neu aufgebaut werden und dafür iteriert Skudlarek verschiedene Denker*innen durch und landet schließlich bei Andy Clark und David Chalmers Idee des „aktiven Externalismus“. Die beiden versuchen zu zeigen, dass Denken nicht an den eigenen Schädelwänden endet, sondern dass schon die Verwendung eines einfachen Notizblocks als Denk-Externalisierung gedacht werden muss und sprechen in Folge von „Akteur-Umwelt-Kopplungen“.

Damit im Gepäck macht sich Skudlarek auf die Suche nach „Akteur-Akteur-Kopplungen“, auf die er situativ zwar stößt (etwa zwei Leute, die gemeinsam eine Couch durchs Treppenhaus hiefen), doch für wirklich stabile Akteur-Akteur-Kopplung fehlt es seiner Meinung nach am dauerhaft „verlässlichen Zugang“ der Akteure zueinander und da möchte ich rufen: aber dafür gibts doch die Sprache?

Also, hier mein Vorschlag:

Das was Du suchst, ist Sprache. Sprache ist jener zuverlässige, externe Zugang zum Denken anderer Menschen. Die einzelnen Sprechenden mögen Feierabend machen, die Sprache tut das nicht. Sie steht 24/7 zur Verfügung und ihre inhärenten Regeln sind durch Millionen Menschen in tausenden Generationen entwickelt worden, und diese künstliche Intelligenz zapfst Du an, wann immer Du den Mund aufmachst. Wenn du Sprache hast, bist Du nie allein: „Ich denke, also sind wir!“

Das kann man noch viel breiter denken. Luhmann sprach von Semantik als „Bedeutungsvorrat der Gesellschaft“. Und seit den LLMs wissen wir, dass wir uns Semantik als riesiges tausendimensionales Netzwerk von Bedeutungs-Vektoren vorstellen können. Es finden sich alle Sprachen, Umgangsformen, Kulturelle Praktiken, Malstile, Männlichkeitskonzeptionen, sowie allerlei makrosemantische Strukturen wie Narrative, Theorien, Sichtweisen, aber auch Omas Kuchenrezept, die typische Handbewegung der Jungs auf dem Schulhof und das Verwenden von Notizbüchern darin.

Und diese Struktur ist, ja, etwas externes, aber auch etwas, das wir jeden Tag in etlichen „Sprachakten“ beglaubigen und reaktualisieren. Wir sind Teil davon. Aber hier müssen wir mit Haraway wieder mehr in Richtung Privatsprache gehen und eingestehen, dass wir nur jeweils einen engen Ausschnitt davon bewohnen. Aber auch den kann man sich als zerklüftete Landschaft mit unendlich vielen wahrscheinlichen und weniger wahrscheinlichen Straßen vorstellen, in der es Schleichwege, Irrwege und breit befahrene Highways gibt, die sich aber dennoch als Irrwege herausstellen können.

Und jetzt kann man, wenn man will, die Intention wieder reinlassen, aber nicht mehr als eine aus sich selbst heraus sprechende Stimme, die sagt „ich will“, sondern als Navigator, Surfer, oder Trommler.

Navigator, weil wir zu jedem Zeitpunkt immer an einem konkreten semantischen Ort im Raum stehen, wann immer wir handeln. Das heißt, wenn wir irgendwo hinwollen (etwas sagen oder denken), müssen wir Schritt für Schritt von dort nach da hin-navigieren und unsere Fähigkeit zu Sprechdenken besteht, wie bei der LLM, vor allem aus allerlei gemerkten Weganweisungen.

Man kann das auch Surfen, wenn man etwas firmer mit einer bestimmten Semantik ist. Dann verknüpft man die vorbeifliegenden Sinn-Ereignisse wie Wellen, auf denen man reitet. (yeah!)

Und zuletzt drücken wir auf „Play“ und nehmen die Zeit mit dazu und dann beginnt sich dieses Netzwerk langsam aber stetig auf uns zuzubewegen. Semantiken verschieben sich, verwandeln sich, werden größer oder kleiner, zentraler, peripherer, mutieren, streuen, sterben, etc. Und wir sehen immer neue Ereignisse eintreffen, die immer neue Narrative aufs Gleis setzen. Die Narrative wiederholen sich, referenzieren sich, zitieren sich und in stetiger Wiederholung und Bekräftigung werden sie erwartbar und strukturieren wie ein Beat unsere Zeit und geben uns Orientierung nach vorn.

Jedenfalls glaube ich nicht, dass es eine neue „Theorie der Intention“ braucht. Es braucht eine neue Sprache zur Beschreibung des jeweiligen Eingebettetseins und des Sich-Bewegens im semantischen Raum.


Alle reden über Tim Walz und ich kann nachfühlen wieso. Seine Rede auf dem Demokratenkongress war gut, aber wenn ihr wirklich eine historisch gute Rede sehen wollt, guckt Euch lieber Michelle Obama an. Bei Tim Walz geht es weniger um Talent (das er ohne Frage hat), als um Sichtbarkeit. Er ist gewissermaßen der identitätspolitische DEI-Pick, aber ein sehr effektiver, denn alte, weiße Männer mit gewissem Hinterwäldler-Charme, die dennoch anständig sind, ist genau das, was fehlte?

Nicht, dass es nicht genügend anständige Männer gibt (wobei, wahrscheinlich weniger als man denkt?), aber ihre Sichtbarkeit ist … übersichtlich? Und wenn es sie gibt, dann sind sie meist nicht sehr anschlussfähig. Barack Obama fällt zum Beispiel nicht nur wegen seiner Hautfarbe für viele mittelamerikanische, weiße Männer als Rolemodel aus, sondern auch, weil er verdammt gut aussieht, gebildet ist und extrem eloquent ist. Viele finden Obama toll, ich in vielerlei Hinsicht auch, aber ich verstehe, dass sich viele nicht mit ihm identifizieren können. (Und das ist auch der Denkfehler derjenigen, die ausgerechnet in Robert Habeck den deutschen Tim Walz ausmachen. Nein, Habeck ist eher der deutsche Obama minus Pigmente. Er wird immer nur Bildungsbürger*innen wie Euch (und mich) ansprechen.)

Tim Walz ist dagegen wie viele sind. Er ist ein nicht besonders gut aussehender, betont unintellektuell auftretender, weißer Typ, der Dich null irritieren würde, wenn er bei Hornbach an dir vorbeigeht. Donald Trump füllt Stadien mit Leuten wie Walz und genau deswegen fühlt es sich so an, als füllte Walz ein identitätspolitisches Vakuum, dessen Leerstelle erst mit seiner Präsenz spürbar wurde.

Man muss sich den weißen, mittelamerikanischen Durchschnittstyp wie alle Menschen als Navigatoren ihrer Identität vorstellen. Sie leben wie wir in ihrer angestammten Semantik und blicken daraus auf die Welt und aus dieser Perspektive gibt es nur eine handvoll plausible Pfade vorwärts und erschreckend viele führen zu Trump.

Und daher fungiert Tim Walz als strategische Identitätsressource, die im Herzen der MAGA-Kultur einen Fluchtweg aufmacht. Aber wie alle Ressourcen muss auch ein Rolemodel individuell erschlossen, d.h. in diesem Fall imaginiert werden. Imaginieren bedeutet, eigene plausible Pfade zu finden, von dem Ort an dem man ist, zu einem Ort, der Näher an Tim Walz ist. Doch selbst wenn der Pfad dahin vorstellbar ist, stellt sich die Frage der Kosten, denn Pfade können unterschiedlich lang und mühsam sein: Wie stark muss ich mich ändern, um mehr wie Tim Walz zu sein? Wie viele von meinen Gewohnheiten bin ich bereit zu opfern? Wie viel bin ich bereit, dazuzulernen? Identität ist Arbeit!

Die semantischen Pfade sind vom mittelständischen, weißen männlichen Amerikaner zu jemandem wie Trump und seinen Jüngern sehr viel kürzer, als zu jemandem wie Hillary Clinton oder Barack Obama. Aber Tim Walz ist noch viel näher als Trump und als Vance sowieso. Tim Walz macht nicht nur neue Pfade zur Anständigkeit plausibel, er macht „Wokeness“ für viele überhaupt erst affordable.


Max Read identifiziert einen Schlag öffentlicher (Podcast/Influencer)-Dudes, die in letzter Zeit erfolgreich prominente, rechtsradikale Politiker wie Trump und Vance interviewen als „Dipshits“. Er umschreibt sie so: „who like “edgy,” trollish, hedonistic, attention-seeking personalities“ und da fiel mir ein, dass Joko und Klaas eigentlich auch ganz gute männliche Rolemodels sind.

Liest man Reads Taxonomie, fällt auf, wie kurz und plausibel der Weg vom „Prank“-Commedian zum rechten Dipshit ist. Der Shitstorm, der Joko und Klaas 2012 wegen der als Prank inszenierten sexuellen Belästigung ereilte, hätte sie leicht in diese Richtung kippen können.

Sie haben sich dagegen entschieden, haben einen anderen Pfad gesucht und sind deswegen, wer sie heute sind. Sie sind nicht perfekt und es gibt etliches zu kritisieren (keep it coming!), aber für junge Männer sind sie als sichtbarer, plausibler Pfad vom Proto-Dipshit zu einem reflektierten Männlichkeitsentwurf semantisch wertvoll.


Charlie Warzel erklärt die Affinität der Rechten zu KI-generiertem Slop:

That these tools should end up as the medium of choice for Trump’s political movement makes sense, too. It stands to reason that a politician who, for many years, has spun an unending series of lies into a patchwork alternate reality would gravitate toward a technology that allows one to, with a brief prompt, rewrite history so that it flatters him. Just as it seems obvious that Trump’s devoted followers—an extremely online group that has so fully embraced conspiracy theorizing and election denial that some of its members stormed the Capitol building—would delight in the bespoke memes and crude depictions of AI art. The MAGA movement has spent nine years building a coalition of conspiratorial hyper-partisans dedicated to creating a fictional information universe to cocoon themselves in. Now they can illustrate it.

Ein Grund, warum mich die Pfade zur nicht-toxischen Männlichkeit gerade so interessieren, ist, weil wir einen wichtigen Kampf um die Köpfe der Jungs führen müssen. Alle Siege, die wir heute gegen die Boomer- und GenX-Faschos erringen, könnten durch eine Faschisierung der Generation Z wieder zunichte gemacht werden.

Nun wissen wir, dass diese Generation sehr verwirrt und gespalten ist und gerade männliche Jugendliche immer mehr nach rechts kippen und das ist nicht verwunderlich, denn es liegen für sie so viele öffentliche Dipshit-Pfade aus wie noch nie?

Dipshitterei ist heute ein dezentrales multilevel Marketing-Geschäftsmodell und der Laden brummt. Dabei ist es egal, ob man Steroide, Crypto, Pickup- oder Lebensratgeber, oder Hass verkauft, Hauptsache man ist erfolgreich beim Ausbeuten der Jungs, die einen deswegen anhimmeln. Das ist nicht nur anschlussfähig nach rechts, das ist rechts.

Und deswegen erfüllt es mich mit Hoffnung, dass die rechte Blase voll auf Gen-KI abfährt. Denn wenn sie sich jetzt im Spiegelkabinett ihrer eigenen klischeetriefenden Imagination verliert, wird sie das nur weiter in Richtung „weirdness“ treiben und die Pfade dahin werden immer länger und unattraktiver.

Krasse Links No 25.

Willkommen bei Krasse Links No 25. Sorry, war letzte Woche krank, aber jetzt migriert Eure Publikumsjoker aus Happyland, heute vereinfachen wir die Zusammenhänge bis zur Kenntlichkeit.


Im letzten Newsletter hatte ich darauf hingewiesen, dass man etwas gegen die Macht der Milliardäre machen sollte, bevor es zu spät ist und das einfachste, was man sofort jetzt machen kann (ja, noch vor dem weiterlesen), ist diese Petition zu unterschreiben.

Einführung einer Vermögenssteuer zur Finanzierung des ökologischen und sozialen Wandels


Btw, ein wirklich toller Name für die Tech-Milliardäre ist Broligarchs. Den Begriff benutzt Brooke Harrington in ihrem tollen Stück über die durchgeknallte Silicon Valley Elite im Atlantic.

This mindset comes through in a 1997 book that Thiel has listed among his favorites of all time: The Sovereign Individual, by James Dale Davidson and William Rees-Mogg. The text unironically likens the ultrarich to “the gods in Greek myth,” and assures readers that they deserve no less than world domination: “Commanding vastly greater resources and beyond the reach of many forms of compulsion, the Sovereign Individual will redesign governments and reconfigure economies.” In describing why he included the book, Thiel said that it offered a “prophecy” of “a future that doesn’t include the powerful states that rule over us today.” Thiel has famously argued that freedom and democracy are incompatible.

Harrington führt dieses Mindset auf das Selbstverständnis der „Unverwundbarkeit“ zurück, das Menschen mit derart großem Ressourcenzugriff zwangsläufig ereilt. Sie können ihre rechtslibertären Politexperimente an der Gesellschaft nur deshalb durchführen, weil sie sich auf deren Funktionieren nicht mehr angewiesen fühlen.

And if the nation becomes a crumbling ruin, with cratering health and education levels, or roads and bridges falling to pieces, then what of it? In the short term, broligarchs can adapt to local anarchy as the ultrarich of Brazil and Mexico have done, using helicopters to commute a few blocks to work or to ferry their children to school, high above the crime-ridden streets where their fellow citizens must struggle to survive as best they can. In the long term, when their adaptations cease to protect them, they can retreat to luxury underground bunkers—complete with bowling alleys!—or even to outer space.

Eventuell sollte man „Reichtum“ endlich als psychisches Krankheitsbild anerkennen und allein zum Schutz der Betroffnen Maßnahmen zur Heilung veranlassen?


Ganz ehrlich? Ich weiß nicht mehr, was ich zu X und zu Musk noch sagen soll?

Mein Plattformbuch beginnt mit der Feststellung, dass die Tatsache, dass Plattformen viel Macht haben, ein absoluter Gemeinplatz geworden ist. Damit meinte ich nicht nur die Forschung. Jedes Provinz-Feuilleton und der Tagesschau ihre Mutter nervte jahrelang mit großen Aufmachern vor den Gefahren, die von der Macht der Plattformgiganten ausgingen.

Und irgendwie bin ich deswegen davon ausgegangen, dass, wenn so eine Plattform in die Hände von … sagen wir, einem durchgeknallten Rechtsradikalen … fällt, alle – wirklich alle – die Gefahr der Situation erkennen und gesellschaftsweit dazu mobilisieren, die Plattform in Scharen zu verlassen?

Das hat sich … nur zum Teil bestätigt, einem nach wie vor viel, viel zu geringen Teil. Und ich weiß ehrlich gesagt nicht, auf welches Ereignis die verbleibenden User noch warten? Ist der im Ansatz bereits gelungene Versuch einen Rassenkrieg in Europa anzufachen noch nicht genug?

Wer sich immer noch einredet, dass er/sie durch seine Präsenz auf X irgendwas zum Positiven bewegen kann, betreibt olympische Verdrängungsleistung. Jeder, der dort schreibt und liest, macht sich zum Teil des Problems. X mag als soziales Netzwerk an Bedeutung verlieren, aber es ist nachwievor die größte und mächtigste Nazipropagandawaffe, die es je gab. Unsere einzige Chance ist, sie irrelevant zu machen.

Wer elaboriertere Argumente braucht, darf sich gerne durch diese Links klicken.

Ich bin fertig mit dem Thema.


Es gibt etliche Regalmeter, die versuchen den überall aufpoppenden Rechtsradikalismus zu erklären und an den elaborierten Theorien wird hier und da etwas dran sein, aber manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass wir die Sache komplizierter machen als sie ist?

Jedenfalls schafft es James Risen im Intercept praktisch die gesamte Politik des MAGA/Trump-Movements auf schlichten Rassismus zurückzuführen. Konkreter meint er die Angst der weißen amerikanischen Mehrheitsgesellschaft vor der sich abzeichnenden demographischen Verschiebung.

Dominated by Trump, the Republican Party adheres to policies designed both to maintain white political power and increase the white percentage of the nation’s population.

Once you understand that it is all about white power — especially white male power — the Trump-Republican agenda begins to make sense.

In der Tat:

  • Pro-Natalism (mehr weiße Babys)
  • Anti-Immigration, pro Deportation (gegen braune Babys)
  • Abtreibungsverbot (für mehr weiße Babys)
  • Anti-LGBTQ (mehr LGBTQ = weniger weiße Babys)
  • Pro Putin (Verteidiger des weißen Christentums)
  • Pro Israel (Vorposten gegen die Islamische Welt)

Und irgendwas sagt mir, dass das in Deutschland auch nicht so viel anders ist?


Wenn es Euch so geht wie mir, fragt ihr Euch nachwievor täglich, warum Kamala Harris‘ „weird“ so viel besser funktioniert als Joe Bidens „Democracy is on the ballot“. Ist letzteres nicht die viel größere Bedrohung?

Es gibt viele kluge Explainer, warum „weird“ funktioniert (zum Beispiel den von Jonas Schaible, dessen Newsletter sowieso in jede Inbox gehört), aber mir scheint, dass die oben gestellte Frage bereits eine Antworten enthält: „Gefahr für die Demokratie“ ist einfach eine Hausnummer zu groß?

Tupoka Ogette hatte vor einigen Jahren den Begriff „Happyland“ im Bezug auf Rassismus geprägt (Danke Susann für die Inspiration).

Fragt man die Bewohner*innen Happylands, wie es denn so um Rassismus steht in dieser Welt, wird er*sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen, dass das kein großes Thema mehr ist. Mehr noch, Happyländer*innen sind überzeugte Nicht-Rassisten. Nichts läge ihnen ferner, als jemanden bewusst auszugrenzen. Jedenfalls ist das nicht Teil ihres Selbstverständnisses. Sie halten sich für offen und tolerant. Das liegt daran, dass nicht nur das Wort, sondern auch die Gedanken daran aus Happyland verbannt wurden.

Die gute Nachricht ist, dass wir gar nicht in Deutschland, Frankreich oder den USA leben, sondern alle gemeinsam in Happyland, wo alles schön und fluffig ist. Und Happyland kann gar nicht durch Rassismus bedroht sein, denn den gibt es in Happyland ja nicht. Entsprechend entlädt sich die Wut der Happylandbewohner*innen nur selten gegen Rassist*innen, sondern meist gegen Menschen, die ihre Rassismuserfahrungen öffentlich machen, diese Miesepeter!

Etwas ganz ähnliches sieht man in der Kriminalisierung des Klimaaktivismus, denn es ist ja längst wissenschaftlich erwiesen, dass Happyland weder vom Klimawandel betroffen ist noch dazu beiträgt.

Meine These wäre also: „Democracy is on the ballot“ passt genauso wenig in den Happyland-Briefkasten, wie Rassismuserfahrungen oder Klimaklebstoff. Waaas? UNSERE superduper Demokratie bedroht? Ihr spinnt doch!

Aber „weirde“ Leute passen da eben auch nicht hin? Mit denen wollen wir jedenfalls nichts zu tun haben!


Google wurde erstmals von einem Gericht als Monopol verurteilt und das wird Silicon Valley im Mark erschüttern. Es gibt dazu viel zu sagen (vielleicht ein andermal mehr), aber ich finde hier vor allem die Preissetzungsmechanismen spannend.

Googles Preisschraube setzt bei den Werbekund*innen an, die ihre Anzeigen über einen intransparentes, automatisiertes Versteigerungsverfahren buchen. Aus dem Urteil:

Google can affect the final price paid for an ad through so-called “pricing knobs” or “pricing mechanisms.” Id. at 779, 783. Google has used three primary pricing knobs to influence prices: (1) squashing, (2) format pricing, and (3) randomized generalized second-price auction.

Die „Knöpfe“ sind nicht direkt Preissetzend, aber erhöhen künstlich den Wettbewerbsdruck um die gebuchten Keywords, was dann wiederum den Endpreis erhöht. Aus Sicht der Werbekund*innen ist das natürlich null nachvollziehbar.


Alistair Barr rantet im Wallstreet Journal lesenswert über die Legacy von Silivon Valley:

Streaming is now just as expensive and confusing as cable. Ubers cost as much as taxis. And the cloud is no longer cheap.

Ich seh das so: Ab etwa 2010 fing das Silicon Valley an, das Plattformgeschäftsmodell wirklich zu verstehen. Welche Dynamiken Netzwerkeffekte entfalten, wie Graphnahmen funktionieren, welche strategische Rolle Skalierung spielt, und wie und welche Leute man zum Bezahlen bekommt und wie man dann langsam per Enshittyfication an den „Pricing Nobs“ dreht, um den Druck auf der Cashflow-Pipline beliebig zu erhöhen.

Am Ende war es ein gesellschaftsweiter Enkeltrick: „Cut out the Middlemen“, hieß es, also ersetze etablierte Infrastrukturen durch diese „shiny new“ Infrastrukturen, die viel, viel zentralisierter sind und uns durch ihren ungleich stärken LockIn immer abhängiger gemacht haben, während wir die Alternativen haben verrotten lassen. Und jetzt werden wir halt ausgequetscht.


Large Language Models sind scheißekomplexe Systeme und es hat mich sehr viel Zeit und Anstrengung gekostet auch nur eine grobe Vorstellung davon zu bekommen, wie sie funktionieren. Auf der anderen Seite gibt es immer wieder super praktische Explainer und dieser hier ist deswegen bemerkenswert, weil man da einfach direkt mit rumspielen kann.


Ein in der KI-Diskussion immer wieder auftauchender Begriff ist der der „Emergent Abilities“ und jetzt hat ein Paper wahrscheinlich die Nuss geknackt, was dahintersteckt.

Kurz zusammengefasst beziehen sich Emergent Abilities auf die Beobachtung, dass LLMs ab einer bestimmten Skalierung neue, vorher nicht gekannte Fähigkeiten zeigen, etwa „In Context Learning“, „Step-by-step reasoning“ und die Fähigkeit, bestimmte Benchmarks zu erreichen. Der Begriff stammt aus einem Google-Paper, wurde aber kurz danach von anderen Forscher*innen als Mirage bezeichnet und seitdem geht die Diskussion.

Zusammen mit den „Scaling Laws“ stehen die „ermergent Abilities“ im Zentrum der Debatte, in wie weit LLMs fähig sind zu „denken“, oder ob sie eben doch nur stochsatische Papageien sind. Ich positionierte mich neulich ja (endlich) auf der Papageien-Seite und fand die Beschreibung der „Reasoningfähigkeiten“ als semantische „Programme“ plausibel, die Francois Chollet aufgebracht hat. Aber wie genau funktioniert das?

Dieses Paper kommt der Auflösung des Rätsels m.E. ein ganzes Stück weit näher (danke Julian). Um ihren Ansatz zu verstehen muss man wissen, dass es neben dem Basistraining der LLMs, bei dem ihnen die riesigen Textkorpora eingeprügelt werden, noch weitere Schritte des Trainings gibt, die man „Fine-Tuning“ nennt. Grob gesprochen erhalten die Modelle im Basistraining ihr Wissen und ihre Sprachfähigkeiten und im Fine-Tuning bekommen sie beigebracht, sich auf eine bestimmte Art zu verhalten, z.B. ein hilfreicher Chatbot zu sein.

Ein wichtiger Teil des Fine-Tuning ist wiederum das Instruction-Tuning, das ist, wo die Modelle beigebracht bekommen, wie man gut auf Prompts reagiert und entsprechend bestehen die Trainingsdaten aus etlichen Prompt-Antwort-Beispielen.

Die (experimentell unterfütterte) These der Forscher*innen ist nun, dass es diese Instruction-Tuning-Beispiele sind, auf die die LLMs als „semantische Programme“ zurückfallen, wenn sie „In Context Learning“ (ICL) praktizieren.

We propose that instruction-tuning enables models to map instructions to the form required for ICL, thus allowing instruction-tuned models to solve tasks using some implicit form of ICL. Importantly, during this process, models could be directly making use of the same underlying mechanism that makes ICL possible, just in a different way than when the model explicitly makes use of ICL from examples provided in the prompt. We call this use of ICL ‘implicit’ in-context learning. Performing such a mapping would be relatively straightforward for a very large model, especially given that this task format aligns closely with the training process carried out during instruction-tuning.

Ich weiß, das ist alles furchtbar kompliziert und verwirrend und der „stochastische Papagei“ erklärt dabei herzlich wenig, deswegen hier die kürzeste LLM-Erklärung, die mir bisher eingefallen ist:

LLMs funktionieren wie der Publikumsjoker bei Wer wird Millionär: Es gibt immer einen Satz, der vervollständigt werden muss, und die Mehrheitsentscheidung des Publikums bestimmt wie.

Und der Grund, warum LLMs funktionieren, ist derselbe, warum der Zuschauerjoker überraschend oft funktioniert. Das Publikum teilt eine gemeinsame Landkarte des Wissens, aber jede einzelne Person hat einen leicht anderen Ausschnitt. Die meisten Teile überschneiden sich, doch der eine kennt sich eher im Gartenbau aus, die andere in der Philosophie, der nächste in Technik und wieder eine andere ist viel gereist. Einzeln haben sie große Wissenslücken, aber gemeinsam decken sie ziemlich viel Territorium ab und wo sich ihr Wissen überschneidet, akkumuliert sich eine hohe Treffsicherheit.

Bei LLMs besteht das Publikum aus den Millionen Trainings-Texten und die Mehrheitsentscheidung passiert als Wahrscheinlichkeitsrechnung, aber das grobe Prinzip ist tatsächlich dasselbe.

Nun kann man das Ergebnis des Publikumsjokers erheblich verbessern, indem man das Publikum von 10 auf 100 vergrößert, wahrscheinlich auch noch, wenn man weiter auf 1000 skaliert, aber ein Publikum von einer Millionen wird nur homöopathisch besser sein als die Tausend. Kurz: Wir stoßen – wie bei den LLMs – auf „deminishing Returns“ und die Idee, dass ein Milliardenpublikumsjoker eine Superintelligenz triggert, wirkt ziemlich abwegig?


Die Leute bei OpenAI haben eine Methode gefunden, wie man Watermarks in LLM-generierte Texte integrieren kann, also die Texte so produzieren kann, dass man sie als LLM-Output automatisiert erkennen kann.

ChatGPT is powered by an AI system that predicts what word or word fragment, known as a token, should come next in a sentence. The anticheating tool under discussion at OpenAI would slightly change how the tokens are selected. Those changes would leave a pattern called a watermark.

The watermarks would be unnoticeable to the human eye but could be found with OpenAI’s detection technology. The detector provides a score of how likely the entire document or a portion of it was written by ChatGPT.

The watermarks are 99.9% effective when enough new text is created by ChatGPT, according to the internal documents.

Natürlich weigert sich OpenAI die Methode auszurollen. Den Grund dafür brachte Ethan Mollick schon vor einem Jahr auf den Punkt:

„Much of the value of AI use comes from people not knowing you are using it.“

Hey EU, ich hätte da eine Idee für eine Regulierung?


Die KI-Blase ist immer noch nicht geplatzt, obwohl praktisch alle nicht gehirngewaschenen Menschen „Bullshit“ gecalled haben und es macht Sinn sich zu fragen, wieso?

Ein offensichtlicher Grund scheint zu sein, dass Silicon Valley einfach die Alternativen fehlen. Das Plattformgeschäftsmodell hat grob von 2008 bis 2018 immer neue lukrative StartUps produziert, ist aber spätestens mit der fraglichen Wirtschaftlichkeit von WeWork, Uber und AirBnB outgefizzelt. Und seitdem rudern sie: Crypto, Metaverse und nun eben generative KI. Platzt KI, steht Silicon Valley ziemlich nackt da. Brian Merchant:

That’s what makes this such a wild moment. Because *despite all that* big tech has absolutely convinced itself that generative AI is the future, and thus far they’re apparently unwilling to listen to anyone else—even, so far, the money!—who pretty clearly thinks otherwise. Maybe they just don’t have any other viable ideas as to what to hype next if generative AI doesn’t pan out. Maybe they consider the sunk costs too high to jump ship. Maybe they’re genuinely worried that if they don’t crack the code and make an AI that can reliably do all the stuff they’ve promised AI can do someday, a competitor will. Maybe they’re seeing something most of us aren’t seeing. Who knows.

Nun ist das Plattformgeschäftsmodell für die Techfirmen nach wie vor unfassbar lukrativ und füllt zuverlässig ihre Geldspeicher.

The largest tech companies in the world are also the richest. Apple increase; Amazon, Microsoft and the parent companies of Google and Facebook now collectively sit on a little more than $570 billion in cash, short-term and long-term investments. That is more than double the collective pile of the next five richest nonfinancial companies on the S&P 500 index, according to data from S&P Global Market Intelligence.

Was sollen sie sonst mit dem Cash tun? Sinnvolle Produkte bauen? In ETFs anlegen? Den Welthunger besiegen?

Dazu kommt noch das viele Geld von Saudi Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Die Washington Post hat einen sehr lesenswerten Artikel dazu:

Microsoft last month announced a $1.5 billion investment in G42, the United Arab Emirates’ flagship tech firm, which also has an agreement to use AI language models from Sam Altman’s OpenAI. Prominent venture capital firm Andreessen Horowitz is in talks to raise $40 billion from Saudi Arabia for a dedicated AI fund.

Mit ihren fast 2 Billionen („Trillions“ im Englischen) verfügbaren Reserven haben sich die beiden Öl-Dikaturen zu den größten nicht-US-basierten Finanziers Silicon Valleys im Allgemeinen und generativer KI im besonderen gemausert und es wird immer schwieriger, sich daran zu erinnern, dass Menschenrechte – zumindest in der Öffentlichkeitsarbeit der Tech-Konzerne – einmal eine Rolle spielten.

Some tech entrepreneurs and venture firms once shunned Middle Eastern funding, driven by concern for human rights abuses, the region’s ties to China and industry disdain for what were once considered lucrative, but unsophisticated, investments, deemed “dumb money,” from oil states. The 2018 killing of Saudi journalist and Washington Post contributor Jamal Khashoggi caused some firms to explicitly step away from the country’s cash.

But Middle Eastern money has become the most powerful geopolitical force in the tech industry virtually overnight. “The Khashoggi era is over,” said a prominent venture capitalist.

Der eigentliche Twist der Story besteht aber darin, dass auch Washington seine Finger im Spiel hat. Generative KI ist derzeit das Hauptargument, mit dem die USA China aus dem neuen Technologie-Mekkah „outcrowden“ will:

Given the state of technology competition with China, “it’s going to be hard to coexist in both systems,” officials told their UAE counterparts, according to a senior administration official. ‘Look, you’re going to have to choose if you want to access that technology.‘

Before Microsoft invested in G42, the Biden administration won assurances the UAE company would divest from Chinese firms, remove Chinese technology from its data centers and would work to prevent advanced capabilities from leaking to China.

Nicht nur Silicon Valley ist davon abhängig, den KI-Hype aufrecht zu halten, sondern auch die Biden-Administration. Künstliche Intelligenz ist derzeit der wichtigste Motor westlich-geopolitischer Korruption.


John Oliver hat einen Beitrag über die Zustände im Westjordanland gemacht und international anerkannte Mainstream-Commedians und ihre gut recherchierten Beiträge sind meine letzte Hoffnung gegen die deutsche Staatsraison.


Das Israelische Magazin +972Mag, das bereits einige der KI-Programme, mit denen der Massenmord in Gaza durchgeführt wird, enttarnt hat, berichtet über die Nutzung kommerzieller Cloud-Infrastrukturen durch das israelische Militär.

But the “most important” advantage that the cloud companies provided, Dembinsky said, was their advanced capabilities in artificial intelligence. “The crazy wealth of services, big data and AI — we’ve already reached a point where our systems really need it,” she said with a smile. Working with these companies, she added, has granted the military “very significant operational effectiveness” in the Gaza Strip.

Gaza wird mit einer Intensität und Lückenlosigkeit überwacht, die wahrscheinlich einzigartig ist auf der Welt und das braucht einfach ne Menge Computerpower?

Military sources emphasized to +972 and Local Call that the scope of intelligence collected from the surveillance of all Palestinian residents of Gaza is so large that it cannot be stored on military servers alone. In particular, according to intelligence sources, much more extensive storage capabilities and processing power were needed to keep billions of audio files (as opposed to just textual information or metadata), which compelled the army to turn to the cloud services offered by tech companies.

Und alle sind mit dabei: Google, Amazon, Microsoft. Die Cloud ist jetzt eine Kriegswaffe und eventuell liegt dein Facebook-Profilbild auf demselben Server wie die Zielkoordinaten eines palästinensischen Krankenhauses.


Das betrifft auch Social Media. Der EFF veröffentlichte einen Appell an die Tech-Unternehmen, Israels staatlicher „Cyber Unit“ keinen präferierten Zugang mehr für Moderationsanfragen mehr zur Verfügung zu stellen, mit dem sie sehr erfolgreich Jagd auf Pro-Palästinensische Meinungsäußerungen macht.

This is not new. The Cyber Unit has long boasted that its takedown requests result in high compliance rates of up to 90 percent across all social media platforms. They have unfairly targeted Palestinian rights activists, news organizations, and civil society; one such incident prompted Meta’s Oversight Board to recommend that the company “Formalize a transparent process on how it receives and responds to all government requests for content removal, and ensure that they are included in transparency reporting.”


Nirgends sieht man die Verschmelzung von Silicon Valley mit dem Industriell-Militärischen Komplex schneller voranschreiten, als im Gravitationsfeld von Palantir.

Palantir Technologies Inc. (NYSE: PLTR) and Microsoft Corporation (NASDAQ: MSFT) announce today a significant advancement in their partnership to bring some of the most sophisticated and secure cloud, AI and analytics capabilities to the U.S. Defense and Intelligence Community. This is a first-of-its-kind, integrated suite of technology that will allow critical national security missions to operationalize Microsoft’s best-in-class large language models (LLMs) via Azure OpenAI Service within Palantir’s AI Platforms (AIP) in Microsoft’s government and classified cloud environments.

I keep telling you: Gaza ist nur der Testfall.

Krasse Links No 24.

Willkommen bei Krasse Links No 24. Stachelt Eure Weirdness durch den Algo, heute zertrommeln wir die Schwerlosigkeit der Macht.


Die Financial Times berichtet, dass die Techbranche alleine dieses Jahr über hundert Milliarden Dollar in KI-Infrastruktur investiert.

Microsoft, Alphabet, Amazon and Meta all revealed massive increases in spending in the first six months of 2024 — totalling $106bn — in their latest quarterly earnings reports, as their leaders brushed off stock market jitters to pledge further investment hikes over the next 18 months.

Und das ist erst der Anfang.

Analysts at Dell’Oro Group now expect as much as $1tn could be channelled into infrastructure such as data centres within five years, even though the companies have so far failed to convince investors that their customers are prepared to spend big on AI products and services.


Edward Zitron, der schlecht gelaunte Silicon Valley Insider, nahm die Nachricht, dass OpenAI auf dem Weg ist, dieses Jahr 5 Milliarden Dollar Miese zu machen, zum Anlass einen seiner ellenlangen Blogposts (mit ehrlich gesagt extrem viel Redundanz) zu schreiben und dem Unternehmen den Untergang vorherzusagen. Er gibt OpenAI höchstens ein bis zwei Jahre, bevor es unter der einen oder anderen unerfüllbaren Erwartung zerbricht. Um dem zu entgehen, muss OpenAI mindestens ein paar dieser Dinge schaffen:

  • OpenAI’s only real options are to reduce costs or the price of its offerings. It has not succeeded in reducing costs so far, and reducing prices would only increase costs..
  • To progress to the next models of GPT, OpenAI’s core product, the company would have to find new functionality
  • OpenAI is inherently limited by GPT’s transformer-based architecture, which does not actually automate things, and as a result may only be able to do „more“ and „faster,“ which does not significantly change the product, at least not in such a way that would make it as valuable as it needs to be.
  • OpenAI’s only other option is to invent an entirely new kind of technology, and be able to productize and monetize said technology, something that the company has not yet been able to do.

Zitron und andere trommeln seit Monaten diesen Beat, ich ja auch seit einiger Zeit, und seit Wallstreet und Massenmedien eingestiegen sind, ist er eigentlich kaum mehr überhörbar und wird durch immer mehr Indizien gedeckt, und ja, die Tech-Werte wackeln schon, aber das oben erwähnte 100 Milliardenloch wird trotzdem weitergeschaufelt?

Meine Vermutung: Man kann dem „Markt“ gerade beim Denken zuschauen. Und weil er Informationen ganz zufällig so langsam verarbeitet, wie ein sich enorm überschätzt habender Tech-Oligarch, der getrieben von der allzumenschlichen „Sunk Cost“-Fallacy immer noch auf ein Wunder hofft, braucht er halt ein bisschen?


Max Read stellt die sehr berechtigte Frage: „Why is Bitcoin even a campaign issue in 2024?“ und seine Betrachtungen sind lesenswert. Denn tatsächlich sollten sich auch die Cryptokritiker eingestehen, dass die These, die erhöhten Leitzinsen würden Crypto den Gar ausmachen, nicht aufgegangen ist. Irgendwie haben es die Crypto-Bros geschafft, Bitcoin in die Welt der Schwerkraft zu transferieren, auch wenn die Stimmung nun eine ganz andere ist, als zu „Web3“-Zeiten:

The residual, streamlined, post-FTX, post-web3 crypto culture is interesting. It’s mostly divested itself of the pretense of non-speculative utility that served as a cover for the web3 bubble; you don’t really hear many start-ups pitching blockchain solutions anymore. What’s left is a core group of ideologically and financially committed young men, a mix of hustlers and marks (almost everyone in this scene is both at once), who buy deeply into crypto’s promise of financial independence, if not always the full anarcho-capitalist program that spawned the tech.

Bitcoin ist jetzt jetzt zwar kein Tool mehr, um irgendein Problem zu lösen, aber ein „anerkanntes“ spekulatives Anlageobjekt und hat damit eine zweite Gruppe von Trommlern akquiriert, die in ihren Beat einstimmen:

This base is joined in the current crypto coalition by a collection of somewhat more pragmatic, often institutional investors–think Larry Fink of the immense investment management firm BlackRock–who have less of an ideological commitment and simply like crypto (and especially Bitcoin) as a speculative “non-correlated” asset.

Es ist vielleicht ein historischer Zufall, dass just in dem Moment, in dem das ganze Crypto-Scheme zusammenbrach, die SEC die Freigabe von Bitcoin-ETFs bekanntgab. Die Riesenpauken von Jericho Wallstreet machen eine Menge her. Für Wallstreet ist Bitcoin zwar nur ein „uncorrelated asset“, dass sie zum „Hedgen“ (also zum Risikoausgleich) von strukturierten Portfolios verwenden können. Sie geben nicht mal mehr vor, dass ein Bezug zur materiellen Realität in ihren Modellen eine Rolle spielt. „Number Go UP“ plus ein bisschen Zahlenwoodoo reicht vollkommen.

Crypto ist angetreten den Finanzmarkt zu ersetzen, und hat ihn stattdessen als zynische Clownveranstaltung enttarnt. Das wäre alles furchtbar lustig, aber leider bestimmen diese Clowns unsere materielle Realität und lenken die Ressourcenströme, die unsere Zukunft bauen.


Threads hat die 200 Millionen Usermarke durchbrochen und das ist ein guter Take:

Zumindest, wenn man das irreführende Wort „Monopol“ mit „hoher Netzerwerkzentralität“ tauscht und dazu versteht, dass das kein Ausrutscher ist, sondern dass Kapitalismus immer so funktioniert.

Mir wurde übrigens auch klar, warum Threads so schlecht darin ist, trotz dieser User-Zahlen öffentliche Relevanz zu erzeugen. Der Threads-Algorithmus arbeitet dezidiert a-rhytmisch und zerlegt jeden Beat in zusammenhangslose Soundfetzen.


Alle reden davon, dass die Kamala Harris-Kamapagne das Wort „weird“ als effektive Waffe gegen Trump/Vance entdeckt hat und alle lieben es. Die Argumentation geht so, dass Trump und Vance sich kaum gegen den Vorwurf wehren können, schließlich ist er so vage, dass man ihn nicht widerlegen kann und die Beteuerung, man wäre gar nicht „weird“ klingt wie eine Bestätigung der These.

Ich will das Manöver auch gar nicht auf taktischer Ebene kritisieren. Es sieht so aus, als würde der Ausdruck tatsächlich gut auf Trump und Vance im aktuellen, kulturell-politischen Moment passen und könnte einen mehrheitsfähigen Beat gegen den Faschismus anstimmen.

Ich will aber auf strategische Untiefen hindeuten, in die man sich mit der Rede von der „weirdness“ begibt. Denn „weird“ bleibt eine Ausgrenzungsgeste des Andersartigen und passt damit grundsätzlich auf alle (noch) nicht-etablierten Semantiken. Mit „weird“ wird kein Problem beschrieben, sondern eine Abweichung konstatiert und diszipliniert und deswegen fällt es mir schwer, dabei einzustimmen.

Let’s face it: ich bin weird. Dieser Newsletter hier ist weird. Ihr alle seid „weird“ weil ihr das hier lest.

Im Gegenzug schreibe ich den Newsletter nur deswegen, weil mir die Welt „weird“ geworden ist. Ich habe die Ungleichzeitigkeit zwischen materieller Realität und etablierten Erzählungen nicht mehr zusammenbekommen und meine weirdness ist nur die Spiegelung dieser Entfremdung.

Und auch wenn ihr der festen Meinung seid, dass ich hier eh nur quatsch erzähle und es kein Verlust wäre, wenn Leute wie ich einfach ausgegrenzt werden: die Gesellschaft braucht weirdness, um aus angestammten Semantiken auszubrechen und sich weiter zu entwickeln.


Das Schöne an dem Bild mit dem Beat ist ja, dass es auch die Öffentlichkeitsstruktur der AGI-Debatte gut erklärt. Da haben wir zum einen die Leute, die vor den existentiellen Gefahren vor AGI warnen (Longtermists) und dann gibt es die Leute, die meinen, man muss AGI mit allem was geht und gegen alle Bedenken durchdrücken (e/acc), aber wenn man ein bisschen in die Debatte reinhört, dann merkt man schnell: es ist derselbe Beat, nur phasenverschoben.

In diese Psydodebatte hat sich nun auch Vatlik Buterin eingeschaltet und ich kann nicht anders, als seinen Text zu empfehlen. Meine persönliche Theorie zu Buterin ist, dass er eigentlich zu intelligent und mitfühlend ist, um mit den Cryptobros rumzuhängen, aber irgendwie ist er in diese Strukturen materiell und semantisch zu sehr verstrickt, als dass er daraus ausbrechen kann und man merkt seinem Text an, wie sehr er sich müht, von diesem toxischen Startpunkt aus einen einen Weg in die Vernunft zu finden und dabei scheitert.

Der Text ist aber vor allem deswegen lesenswert, weil Buterin so intellektuell aufrichtig ist, nicht nur die apokalyptischen AGI-Szenarien auszumalen, sondern auch mal deren „utopische“ Gegenerzählung auszubuchstabieren:

It seems very hard to have a „friendly“ superintelligent-AI-dominated world where humans are anything other than pets.

Ich glaube ja nicht an AGI, aber wenn selbst die Tech-Bros mit nichts besserem kommen können, als einer Zukunft, in der wir all unsere materielle Handlungsmacht verlieren und als endgültig atomisierte und entkörperlichte „Individuen“ den Hitzetod der Gesellschaft im Metaverse feiern, zusammen mit unseren KI-Freund*innen, deren Haustiere wir eigentlich sind, dann liegt die Frage auf der Hand:

Kann ich das Extinction-Szenario noch mal sehen?


Lewis Waller hat in seinem empfehlenswerten Channel „then & now“ eine sehr überzeugende Historie und Kritik der Massenmedien und damit der medialen Öffentlichkeit vorgelegt.

Wie Euch vielleicht aufgefallen ist, ist es fast unmöglich, heute eine Fundamentalkritik der Medien auszusprechen, die weder in die Falle tappt, der rechten Semantik des Elitenbashings auf den Leim zu gehen, noch den weit schlimmeren Fehler begeht und die Elitenverbundenheit der Massenmedien leugnet.

Waller aber schafft das, indem er sich die Zeit nimmt, die Geschichte der Massenmedien von der Druckerpresse bis Jordan Peterson zu erzählen ohne dabei den Blick auf die politische Ökonomie der Branche zu verlieren.

Dabei kommt er zu dem sehr nachvollziehbaren Schluss, dass, ja, die Mainstreammedien Elitenmedien und Biased as Shit sind (aber eben anders als die rechten erzählen), aber die rechten „alternativen“ Medien eben auch Elitenmedien und noch viel biaseter as Shit sind. Ihr Trommeln dient nur einem Eliten-internen Machtkampf.


Andreas Knie, der Leiter der Forschungsgruppe Digitale Mobilität hat einen Gastbeitrag in der Frankfurther Rundschau über den Zustand der Bahn geschrieben und greift darin vor allem die Idee der Trennung von „Netz und Betrieb“ an. Im Gegensatz zu Straße und Auto, so Knie, müsse man Schiene und Bahn als operationale Einheit verstehen.

Die Eisenbahn dagegen funktioniert nur als integriertes System unter einer Leitung. Züge und Schienen sind ein geschlossenes, aufeinander abgestimmtes Gebäude: Trasse und Traktion ist eine Produktionseinheit.

Das Chaos bei der Bahn ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie die eisenharte Durchsetzung der Ideologie des Marktes funktionierende Systeme an den Rand des Zusammenbruchs bringen kann.

Betrachten wir das ganze einmal mit der Brille der Ökonomie der Abhängigkeiten: Auf die Bahn sind viele Menschen angewiesen aber auf unterschiedliche Weise. Der eine pendelt beruflich zwischen München und Berlin, die andere besucht jeden Sonntag ihren Bruder in der Nachbarstadt und alle sind irgendwie ein bisschen davon abhängig, mehr oder weniger spontan an jeden Ort in Deutschland kommen zu können. Die Bahn hat damit eine enorm hohe Netzwerkzentralität im gesellschaftlichen Gesamtgefüge.

Der „Markt“ ist in dieser Theorie nur der Umstand, dass es mehre unabhängige Infrastrukturen zur Befriedigung einer bestimmten Abhängigkeit gibt, was die relative Netzwerkzentralität der Anbieter reduziert. Das ist nicht nichts und kann zu einer gewissen Preis- und Produktdisziplin führen, aber die Frage ist: trifft das auf den Bahn-Wettbewerb überhaupt zu?

Mehrere Bahnunternehmen, die auf einem „neutralen“ Netz operieren schaffen in den wenigsten Fällen alternative Verbindungen mit alternativen Preisen. Meist ist es so, dass Strecken aufgeteilt werden: Strecken in die ein kleinerer Anbieter reingeht, wird für die Bahn unwirtschaftlich und wird geschlossen, bzw. Ressorceninputs dahin werden reduziert.

Doch Abhängigkeiten sind immer relational zwischen zwei Akteuren und die Strecke München – Berlin subsituiert nun mal nicht die Regionalbahn in die Nachbarstadt und umgekehrt und so kommt es, dass durch den angeblichen „Wettbewerb“ gar keine Netzwerkzentralität reduziert, sondern nur umgeschichtet wird. Die Preise geben dann höchstens kurzfristig nach, aber sobald jedes Bahnunternehmen seine jeweiligen Strecken monopolisiert hat, muss Rendite erwirtschaftet werden. Gleichzeitig muss aber für den Betrieb der Bahn immer mehr organisatorische Apparate einbezogen werden, die das Gesamtsystem instabiler werden lassen.

Der Wettbewerb hat gigantische Zentrifugalkräfte entstehen lassen, die keiner mehr überblickt, die vermeintlichen Wettbewerbsvorteile sind nur zulasten der unteren Beschäftigtengruppen erreicht worden, während Overhead und beteiligte Anwaltskanzleien gut verdient haben. Es gibt komischerweise auch nur einen Fachkräftemangel bei Busfahrerinnen und Busfahrern, nicht bei Zweckverbänden. Innovationen kommen in diesem Wettbewerbsverfahren auch nicht vor, da nur die Kosten betrachtet werden und die Angebote für Jahrzehnte nicht verändert werden können, sonst drohen Klagen der Unterlegenen.

Knie schlägt Radikalmaßnahmen vor:

Es muss sofort notoperiert werden. Alles, was nicht zum Eisenbahngeschäft gehört, wird verkauft, die Länder geben den SPNV wieder zurück an eine neu gegründete „Deutsche Eisenbahn Gesellschaft“, die vom Eisenbahnbundesamt kontrolliert und überwacht wird. Hier können dann die Länder ihre Interessen einbringen, diese werden aber alleine einer bundesweiten Systemlogik unterstellt.


Der Chefkomentator der Financial Times, Martin Wolf, appelliert an die Milliardäre, Trump nicht zu unterstützen und sein Hauptargument besteht darin, sie darauf hinzuweisen, dass ihr Reichtum von eben jenem System abhängt, das sie durch ihre Trumpunterstützung angreifen.

The plutocrats who support Trump may remain safer than Berezovsky. But can they really be as free as they want? Yes, a further erosion of democracy might protect them from interference by the elected politicians they detest. But the men they put in power, in their stead, have a tendency to turn themselves into absolute rulers. Nobody can then be truly safe.

Der Verweis auf „Berezovsky“ bezieht sich auf eine Anekdote, die Wolf am Anfang erzählt.

In 1999, the late Boris Berezovsky had lunch with the editor and senior journalists of the FT. I had already met him in Moscow on several occasions. Berezovsky had just played a role in persuading those close to Boris Yeltsin to appoint Vladimir Putin, then head of the FSB, Russia’s security service (whom Berezovsky had known when Putin was deputy mayor of St Petersburg), to be prime minister and his successor as president. “Why”, I asked, “did you trust a former KGB agent with power?” I have long remembered his reply: “Russia”, he said, was “now a capitalist country. In capitalist countries, capitalists hold power.”

My jaw metaphorically dropped. Berezovsky was an intelligent, ruthless and cynical man, who had lived much of his life in the Soviet Union. He was also a Russian, who knew Russia’s brutal history. Yet he appeared to believe Marxist claptrap about where power would lie in supposedly “capitalist” Russia. Of course, he was wrong. Power lay in the hands of the man in the Kremlin, where it always had. Perhaps I am too harsh on him. Western leaders seem to think that sanctions on Russian oligarchs might influence Putin. I have no idea why.

Was Berezovsky damals noch nicht verstand und was Wolf bis heute nicht zu verstehen scheint, ist, dass es in Putins Russland keinen Unterschied zwischen Politik und Wirtschaft gibt. Das Oligarchensystem funktioniert kurzgesagt so, dass Du wirtschaftlich nicht gegen den Willen Putin existieren kannst, aber in der Politik mitreden darfst, wenn Du dem Chef „Gefallen“ tust.

Damit wird aber nur ungeniert vorgetragen, was auch im Westen hinter dem Vorhang passiert. Der ganze Witz an Donald Trump ist doch, dass er sich seinen Oligarchenstyle in den Jahrzehnten des unbehelligtem Betrügen und Belügen als „Geschäftsmann“ angewöhnt hat. Ab einer bestimmten wirtschaftlichen Macht sind Gesetze nur noch teuer verstellbare Hindernisse und Politik ein lästiges Ritual.

Der größte Trick, den der Teufel je gepulled hat, war uns weis zu machen, dass Ökonomie etwas von der Politik abgrenzbares ist. Das war die entscheidende, ideologische Pfadentscheidung, die im Neoliberalismus und von dort in der heutigen Oligarchie gipfelt. Die „Ökonomie“ dient als Wissensobjekt nicht der Erkenntnis, sondern der Verschleierung. Sie ist der ideologische Vorhang, der uns die Sicht auf essentielle Eigenschaften der Wirtschaft verwehrt:

  • Dass alles, was in der Privatwirtschaft passiert, von der materiellen, rechtlichen und semantischen Infrastruktur des Staates abhängig ist. Ohne Staat kein Eigentum, keine Sicherheit von Vermögen, keine Transportinfrastruktur, etc.
  • Dass all diese materiellen, semantischen und rechtlichen Infrastrukturen grundsätzlich änderbar sind.
  • Es fällt aus dem Blick, dass der Staat auch der stärkste wirtschaftlicher Akteur ist, der, sobald er Abhängigkeiten durch öffentliche Infrastrukturen bedient, das ganze Marktgeschehen komplett umstrukturieren kann.
  • Am deutlichsten grenzt dieser Blickwinkel den riesigen Anteil an Wertschöpfung aus, der in Form von Carearbeit in den Haushalten die Gesellschaft reproduziert.
  • Umgekehrt macht diese Trennung unsichtbar, dass Infrastrukturen politisch sind. Es ist nicht egal, wie ein Unternehmen geführt wird, wie die Infrastrukturen beschaffen sind und wie sie unsere Gesellschaft reproduzieren.
  • Und die Trennung macht unsichtbar, dass unsere Zukunft als Gesellschaft und als Menschheit von Projekten der Oligarchen gestaltet wird. Und habt ihr diesen Leuten in letzter Zeit mal zugehört?

Im Guardian hat George Monbiot einen Kommentar über den Vorschlag Brasiliens geschrieben, eine weltweite 2% Milliardärs-Vermögenssteuer einzuführen.

Radical? Not at all. According to calculations by Oxfam, the wealth of billionaires has been growing so fast in recent years that maintaining it at a constant level would have required an annual tax of 12.8%. Trillions, in other words: enough to address global problems long written off as intractable.

Monbiot hat viele Zahlen zusammengetragen, die, wenn man sie auf sich wirken lässt, ein Gefühl der einsetzenden Ohnmacht aufkommen lassen.

In the two years following the start of the pandemic, the world’s richest 1% captured 63% of economic growth. The collective fortune of billionaires rose by $2.7bn a day, while some of the world’s poorest became poorer still. Between 2020 and 2023, the five richest men on Earth doubled their wealth.

Und er macht klar, dass das alles direkt auf unsere Kosten geht:

Billionaire wealth impoverishes us all: astonishingly, each of them produces, on average, a million times more carbon dioxide than the average global citizen in the bottom 90%. Billionaires are a blight on the planet.

Ich sag jetzt mal etwas „weirdes“:

Wir müssen der Macht der Milliardäre eine Grenze setzen, bevor es zu spät ist!

Was meine ich mit zu spät? Auf dem Weg vom demokratischen Kapitalismus zum Neofeudalismus gibt es einen „Point of no Return“. Es ist der Punkt, an dem die Netzwerkzentralität der Milliardäre so unangreifbar geworden ist, dass wir ihre Macht mit demokratischen Institutionen nicht mehr eingrenzen könnten, selbst wenn wir wollten. Und dieser Punkt ist viel, viel früher, als der, an dem wir alle merken, dass wir nicht mehr frei sind.

„I think we are all either vaguely or painfully aware that, regardless of changes of government, our needs will be met only if they coincide with the demands of capital. If they run directly counter to those demands, however great and consistent our wishes might be, they scarcely stand a chance.“

Meine Vermutung: Der Zeitpunkt ist jetzt. Die Machtakkumulation beschleunigt sich immer weiter und führt bei einigen (Musk, Thiel, Ackman, Sachs, Mercer, ect) bereits zu einem erwachenden „Klassenbewusstsein“.

Wer die Serie „The Boys“ verfolgt, sieht diesen Prozess präzise im Charakter des Homelander verkörpert, den der eingeübte Blick von Oben in jene Schwerelosigkeit befördert, in der Menschen nur noch lästige zu managende Hindernisse sind. Es geht schon lange nicht mehr um Geld, sondern um die Aussicht auf unantastbare Macht.

Attac und Occupy Wallstreet sind ne Weile her und die Linke scheint unfähig, sich noch auf irgendwas zu einigen. Doch hier wäre doch die Gelegenheit, einmal mit einem breiten Bündnis, möglichst auch international vernetzt, die große Trommel zu rühren.

So here’s the test the G20 governments face: 3,000 versus 8 billion. Do their loyalties lie with 0.00004% of the world’s population, or with the rest? If your government seeks to block the Brazilian proposal, you will have your answer.

Wenn wir es schaffen würden, Hunderttausende auf die auf die Straße zu bringen, nur für diese Forderung und dadurch die bereits vorhandene, deutliche Mehrheit für eine Vermögenssteuer in einen unleugbaren Wunsch des Wahlvolkes verwandelten, dann könnte man den G20 Gipfel im November als Test verstehen: Leben wir noch in einer Demokratie, oder ist der Zug schon abgefahren?

Krasse Links No 23.

Willkommen bei Krasse Links No. 23. Setzt eure Preise fest, heute versenken wir die Öffentlichkeit im Trommelfeuer des Marktes.


Vivian Jenna Wilson ist Elon Musks Trans-Tochter und nachdem er sie in einem Interview mit dem rechtsradikalen Pseudointellektuellen Jordan Peterson als den Hauptgrund für seine faschistische Wende benannt hatte und dabei offenbar allerlei Quatsch über sie verbreitete, fühlte sie sich gezwungen, in einem Thread zu antworten und das Ergebnis ist eine Verbrennung dritten Grades für Musk.

This entire thing is completely made up and there’s a reason for this. He doesn’t know what I was like as a child because he quite simply wasn’t there, and in the little time that he was I was relentlessly harassed for my femininity and queerness. Obviously he can’t say that, so I’ve been reduced to a happy little stereotype f*g-ing along to use at his discretion. I think that says alot about how he views queer people and children in general.

Es ist wahrscheinlich das erste Ereignis überhaupt, das aus Threads heraus in die weltweite Medienwelt diffundierte. Wenn ihr nach Anhaltspunkten sucht, dass Threads gegenüber X an Relevanz gewinnt, dann ignoriert die Nutzenden-Zahlen. Das hier der erste Hinweis.


Mich hatte das Trumpattentat und die daraus hervorgegangene Ikonographie kalt erwischt und ich war nicht der einzige. Axios zitierte einen ranghohen Demokraten, wie die Wahlkampfbemühungen unter einem enormen Motivationsverlust litten, seit Trump nach dem Attentat so gut wie unstoppbar erschien.

Jacob Birken nahm die Ingefangennahme der Öffentlichkeit durch das Bild zum Anlass, einen lesenswerten Essay in 54Books über die „wilde Ikonologie“ (Roland Meyer) zu veröffentlichen, in die wir uns alle haben treiben lassen.

Pragmatisch betrachtet wird der ‚ikonische‘ Status dieses Fotos nur dadurch belegt, dass es in der diesen Status behauptenden Presse immer wieder abgedruckt wird. Zynisch betrachtet handelt es sich um eine Machtdemonstration der Medien, gewissermaßen autopoietisch ein Ereignis zu schaffen, hinter das selbst das reale Attentat zurücktreten muss.

Bilder erhalten erst in der Auslegung ihre Bedeutung, weswegen die bildverliebte Journalistenschaft das Ereignis selbst schafft, über das sie berichtet. Birken macht sich aber auch die Mühe, die instrumentalisierbare Wirkung von Ikonographie zu erklären:

Der englische Schriftsteller Geoff Dyer fragt im New Statesman zurecht danach, wann die Bilder vom Attentat auf Trump zu entstehen begannen, wenn ihre Bedeutung durch den Nachhall Jahrzehnte oder Jahrhunderte ältere Bilder erzeugt wird. Diese Verdichtung von Vergangenheit und Zukunft ist strategisch. Indem Reichelt Vuccis Foto als ‚ikonisch‘ in die Reihe anderer US-amerikanischer, heroischer Flaggenbilder stellt, spekuliert er in mehrerlei Hinsicht auf die Wirkung dieser Bilder – zum einen darauf, dass die früheren Bilder US-amerikanischer Unbeugsamkeit auch im neuen wiedererkannt werden, zum anderen darauf, dass letzteres selbst auf gleiche Weise relevant bleibt. Vor dem Hintergrund des Wahlkampfs zieht es seine Bedeutung nicht aus dem überlebten Attentat, sondern aus dem vorausgesagten Wahlsieg – den dieses Foto in diesem Sinne zugleich symbolisch bezeugen wie performativ einleiten soll.

Jedes Bild versucht in seiner Komposition bekannte und bereits mit Bedeutung aufgeladene Bildelemente aufzugreifen (die Geste der gereckten Faust vor dem Hintergrund der Flagge, etc.) und sich so in Traditionen einzuschreiben, deren Geschichten wir alle kennen.

Der Mechanismus geht so, dass, wenn wir den Pfad einer alten Geschichte mit dem neuen Ereignis verbinden, wir sie bis zum unumgänglichen Wahlsieg Donald Trumps zu Ende erzählen können. Das Bild im Kontext des Attentats machte das Heldennarrativ von Trump plötzlich für viele plausibel und selbst wenn man – wie ich – es nicht plausibel fand, wurde doch plausibel, warum es für andere plausibel wurde.

Narrative versprechen, die Entropie der Zukunft zu entstören, indem sie die Gegenwart entlang von populären Pfaden weitererzählen. Narrative sind wie Beats, sie ordnen die Zeit und sind dabei sozial ansteckend. Man lernt den Rhythmus, übt ihn ein und führt ihn fort.

Und deswegen halte ich das, was Birken über die Ikonographie schreibt, auf die Mechanismen des Wahlkampfs im Allgemeinen anwendbar. Jede der beiden Seiten versucht eine überzeugende Geschichte zu erzählen, die sich in bekannte Narrative und etablierte Semantiken einschreibt, alles, um uns Pfade zum Sieg plausibel zu machen.

Das Attentat und das Bild dazu war ein Paukenschlag, der perfekt in den Beat der Republikaner hineinpasste und zudem in eine awkwarde Stille auf demokratischer Seite reinplatzte.

Und wir haben das alles fast schon wieder vergessen, weil die Demokraten mit einem noch größeren Paukenschlag – dem Bidenverzicht und der Harris-Kandidatur – einen neuen Beat gesetzt haben.

In einem anderen Zusammenhang hatte ich bereit über die mediale und die „vernetzte Öffentlichkeit“ reflektiert, doch mir wird immer klarer, dass Öffentlichkeit immer vernetzt ist.

Stellen wir uns 1000 Trommelnde vor, jeder trommelt seinen eigenen Beat: Ein großes Krachkonzert. Jeder hört den Beat seiner jeweiligen Nachbar*innen und wird unwillkürlich versuchen, sich zu synchronisieren. Es bilden sich kleinere und größere Beat-Cluster, die einen gemeinsamen Rhythmus gefunden haben. Und nach noch etwas mehr Zeit wird sich ein hegemonialer Beat herauskristallisieren, also das, was Bruce Sterling das „Major Consensus Narrative“ nennt. Nebenher gibt es viele ähnliche, aber abweichende Rhythmen und einige echt schräge Töne; doch der Hauptbeat übertönt alles.

Das hat natürlich auch damit zu tun, dass die 1000 Trommeln unterschiedlich groß sind. Nur die wenigsten verfügen über die Möglichkeit eines Paukenschlags. Die meisten trommeln auf ihren Bongos den Rhythmus der Pauken nach oder versuchen, durch einen besonders originellen oder geschmeidigen Beat viral zu gehen. Doch unter dem Strich wird der „Major Consensus Beat“ in 8 von 10 Fällen durch diejenigen mit den großen Trommeln vorgegeben.


JD Vance bekommt Feuer von allen Seiten und der Höhepunkt war die heißdiskutierte Frage, ob er nun mit seiner Couch geschlafen hat oder nicht? Die Geschichte wird in dem Newsletter von Brooke Binkowski unterhaltsam erzählt:

Irgendein X-User setzte das Gerücht in die Welt, dass Vance in „Hillbilly Elegy“ davon erzählt, wie er Sex mit einer Couch hatte, indem er zwei Couchkissen zusammenschob … was sich – „Confirmation Bias“-sei dank – sofort viral verbreitete.

Soweit so lustig, aber der eigentliche Turningpoint begann, als Associated Press dieses Gerücht in einem Fact-Check Artikel aufgriff und als falsch deklarierte, was viele Internetnutzende dazu animierte, nach Beweisen zu fragen, dass JD Vance NICHT mit einer Couch geschlafen hat. Wer es nicht wiedererkennt: es ist Donald Trumps gegen Obama gerichtete „Birther Kampagne“ all over again, nur diesmal humorvoll von links.

Aber so wohltuend es sich anfühlt, wenn Rechte mit ihren eigenen medialen Strategien geschlagen werden, so bleibt doch der Eindruck hängen, dass die mediale Öffentlichkeit eine Vulnerability in der Größe eines Scheunentors hat.

Der Hack ist einfach: Man muss einfach immer weiter trommeln!


Im Zuge des Trump-Attentats und dem Biden-Verzicht wurden Stimmen laut, die die Unvermeidbarkeit von X beschrien und The Atlantics‘ Charlie Warzel trommelte den Beat:

It’s still a rat’s nest of reckless speculation, angry partisans, and toxicity, but it’s also alive in a way that’s hard to quantify. Joe Biden’s shocking performance at the presidential debate in late June set my timeline ablaze in a way it hadn’t been since 2021. When a gunman shot at Donald Trump eight days ago, the platform did what it does best, offering a mix of conspiracy theorizing, up-to-the-second hard-news reporting, and, perhaps most crucial, a notion of communal spectating (which, despite the awfulness, is genuinely addictive). The past three weeks have been extraordinarily chaotic, full of the kind of infighting, violence, and spectacle that X was built to help document and even fuel. All of that culminated this afternoon when Biden announced that he was withdrawing from the presidential race with a series of posts on the platform. X has always been in the doomscrolling business, and business is booming.

Casey Newton will nicht ganz einstimmen und widerspricht im Platformer Newsletter:

The only force that explains why X felt vibrant on Monday is inertia: most people (and political reporters more than most) have no interest in mastering a new platform and rebuilding their audience there, no matter how many indignities X and its owner subject them to. It’s the sunk-cost social network.

Die Ironie steckt nun darin, dass selbst wenn Newton recht hat, auch Warzel recht hat. Jeder Plattform-LockIn ist eine tautologische Geschichte: Man kann nicht weg, weil andere nicht wegkönnen, die (unter anderem) wegen einem selbst nicht wegkönnen. Politische Journalist*innen und Politiker*innen halten sich auf X gegenseitig als Geisel.


Dieuwertje Luitse legt eine, wie sie es nennt, „evolutionary platform technographydes KI marktes vor. Dafür hat sie etliche Firmen-Blogposts, Marketing-Material und sonstige öffentliche Unternehmenskommunikation der großen Cloudanbieter ausgewertet und kann so die über die Zeit gewachsenen Pfade nachzeichnen, über die die Tech-Riesen ihren Griff um das KI-Thema umschlossen haben.

The evolutionary technographic analysis of AWS, Microsoft Azure, and Google Cloud’s AI infrastructures and services demonstrates that these major cloud providers operationalise infrastructural power in three substantial and complementary ways. First, the consistent vertical integration of AI infrastructures and services that are operated across the multi-layered stack of cloud architectures (Iaas, PaaS, and AIaas) shows that cloud providers attempt to exercise infrastructural power over entire AI systems and application development pipelines. This includes data storage and processing to model production, training, evaluation, deployment, and the integration of systems for the production of specific applications.


The American Prospect hat eine ganze Ausgabe über den Preismeachnismus online. Die Frage, wie Preise wirklich entstehen ist vor allem seit der Inflation ein wieder breiter diskutiertes Thema. Der neoklassischen Schule nach, wo Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen, werden Preise nicht „gesetzt“, sondern „entdeckt“ und wenn sie doch „gesetzt“ werden, dann hat ein böses Monopol seine Finger im Spiel.

Die Prospect-Artikel machen klar, dass Preissetzung zumindest heute etwas alltägliches ist und beschäftigen sich im Detail mit konkreten Strategien mächtiger Unternehmen, von Shrinkflation, Drip Pricing, Surge Pricing, Personalized Pricing bis Algorithmic Price-Fixing.

Today, everywhere consumers turn, whether they are shopping for groceries at the local Kroger or for plane tickets online, they are being gouged. Landlords are quietly utilizing new software to band together and raise rents. Uber has been accused of raising the price of rides when a customer’s phone battery is drained. Ticketmaster layers on additional fees as you move through the process of securing seats to your favorite artist’s upcoming show. Amazon’s secret pricing algorithm, code-named “Project Nessie,” was designed to identify products where it could raise prices, on the expectation that competitors would follow suit. Companies are forcing you into monthly subscriptions for a tube of toothpaste. Banks have crept up the price of credit, so customers who cannot afford price-gouging in their everyday transactions get a second round of price-gouging when they put purchases on credit. Expedia is using demographic and purchase history data to set hotel pricing for an audience of one: you.

Ich finde das alles sehr lesenswert und relevant, bleibe aber bei der „administered Price Theory“ von Frederick E. Lee, die sagt, dass alle Preise immer schon „gesetzt“ sind.

Hier die Grundlinien einer vernünftigen Preistheorie:

  1. Untergrenze des Preises für ein Gut sind immer die Reproduktionskosten, denn Unternehmen wollen als oberstes Ziel auch morgen noch existieren.
  2. Die Obergrenze des Preises ist durch die Betweenness-Zentralität des Anbieters innerhalb des Abhängigkeits-Netzwerkes bestimmt, also seine relative Macht seinen Kund*innen gegenüber, denn übersteigt der Preis die Möglichkeiten des Unternehmens, Schmerzen zu verursachen, finden die Kund*innen alternative Abhängigkeitspfade.
  3. Dazwischen spricht Lee von „Price Leadern“, also Unternehmen an dem sich Wettbewerber in ihrer Preisgestaltung orientieren. Und hier sind wir wieder bei den Drums.

„Märkte“ (wenn man sie überhaupt noch so nennen will) sind spezifische, netzwerklokale Anbieter-Öffentlichkeiten, die sich durch lokal dominante Price-Leader-Pauken koordinieren. Das eine Unternehmen bietet sein Produkt zu 30% günstiger an, weil es Marktanteile (Betweenness-Zentralität) wachsen lassen will. Ein anderes Unternehmen positioniert sich 30% über dem Marktführer, weil es das Premium-Segment bedient, etc.

Den Einfluss, den wir glauben als „Nachfrager“ zu haben, ist größtenteils eingebildet. Natürlich werden auch Wünsche in diesem Koordinations-Spiel berücksichtigt – solange sie in die eigene Strategie passen, denn, wie gesagt, Abhängigkeiten haben Breaking-Points – aber die grundsätzliche Marschrichtung wird wo anders festgelegt.

„Der Markt“, das sind ein paar hundert Oligarchenpauken, die der Gesellschaft den Beat vorgeben.


Matt Levine bespricht den Fall eines promminenten Short-Sellers (das ist, wenn man auf sinkende Kurse von Unternehmen wettet), Andrew Left, der jetzt von der SEC (die Börsenaufsicht) wegen „Marktmanipulation“ belangt wird. Left ist dadurch bekannt, medial aufsehenerregende Dossiers zu erstellen, die ein düsteres Bild von Unternehmen zeichnen und dann mit Short-Selling einen Reibach zu machen.

Ich will gar nicht groß auf die Details des Falles eingehen (obwohl lesenswert), denn das grundsätzliche Muster ist uns ja längt bekannt: Egal ob der Wert von Tesla, die Irren Meme-Stock Heinis, die ganze Crypto Blase und natürlich die endlose Kette an Pyramidensystemen, Multi Level Marketing Schemes, Kettenbriefe und die unzähligen Aktienhypes und Crashs verweisen immer auf einen einzigen Tatbestand:

Der „Wert“ von gehandelten „Assets“ wird durch Öffentlichkeitsmechanismen bestimmt.

Zentrale Handelsmärkte für Anlagegüter sind in Infrastruktur gegossene Ideologie. Anders als der Markt für bsw. Waschmaschinen sind Handelsplätze keine gewachsenen infrastrukturellen Gegebenheiten, sondern dem künstlich dem Idealbild des neoklassischen Marktes nachempfunden, alle Anbieter und alle Nachfrager kommen zusammen finden einen Preis. In der Theorie werden „Signale“ dadurch „verarbeitet“, dass sich alle Akteure gegenseitig versuchen „outzusmarten“, doch in der Praxis geht es meist darum, wer die größere Trommel hat.

Hier, wie ich glaube, dass der Aktienmarkt wirklich funktioniert: Unternehmen präsentieren sich der Öffentlichkeit als Projekte, die davon erzählen, wie sie ihre bereits vorweisbaren Infrastrukturen dazu leveragen werden, um noch mehr Abhängigkeiten zu schaffen oder zu konzentrieren. Mit anderen Worten: Am Aktienmarkt werden Geschichten gehandelt, also getrommelt.

Und natürlich gibt auch es hier die übermäßig großen Pauken, die den Beat vorgeben und eine wilde Schaar von kleinen bis mittelkleinen dazu improvisierenden Percussions. Wenn Goldman Sachs mit einem von den Erwartungen abweichenden Preis in ein Projekt reingeht, sortiert das die Karten neu und die Percussions passen ihren Beat an. Die Finanz-Oligarchie gibt mehr oder weniger die Shots vor, und alle anderen Wetten nur darauf, welche Geschichten sich ein paar ultrareiche Männer auf dem Golfplatz erzählen.

Insofern kann man das ganze Memestock-Gerede getrost beiseite legen, denn, turns out: Jede „Stock“ ist ein Memestock. It’s storys all the way down. Insofern ist an der Robinhood/Memestock-Selbsterzählung etwas dran: Die organisierten Kleinanleger-Trommler, die sich auf Reddit zusammengetan haben, mischten die Rich Mens Memes auf und schafften es, zumindest temporär, einen eigenen Beat zu setzen und durchzuhalten.

Doch im Gegensatz zu ihrer Selbsterzählung bilden sie damit keinen echten Wert ab, sondern legen offen, wie das System wirklich funktioniert.

Man muss nur immer weiter trommeln: Hodl, Hodl, Hodl, buy the dip! Und achtet auf den Beat, den Beat! Diamond Hands! FOMO! Und der Beat, der Beat, der Beat! Do your Own research! Einfach immer weiter trommeln, FUD! FUD! FUD! Don’t trust, verify! Im Trommeln liegt die Wahrheit, we all gonna make it!, etc.


Donald Trump sprach bei einer großen Bitcoinkonferenz in Nashville und die Crypto-Bros sind jetzt endgültig mit MAGA alignt.

Adam Tooze hatte im Vorfeld dieses Alignment unter die Lupe genommen:

At a deep level, crypto ideology shares some elements with the current Republican mood. It is a cocktail mixed of arcane tech, strange futurism, libertarianism, phobic attitudes towards the state and a dark view of human nature. It does not make for a good mix with American liberalism. You might say that it belongs in the broad church of “weird” that clusters around the Republican party today.

Trump versprach, dass im Falle seines Sieges nicht nur die Regulierung cryptofreundlicher werde, sondern auch, dass der Staat eine eigene „Cryptoreserve“ halten würde. Die US-Bundesbehörden sitzen derzeit auf ca. 210.000 Bitcoins und der Preis würde sofort crashen, wenn diese Bitcoins auf den Markt träfen. Gleichzeitig erhofft man sich, dass das Beispiel Schule macht und alle Staaten anfangen, Cryptoreserven zu bilden.

Es ist wirklich erstaunlich, wie die unterschiedlichen Strukturelemte unserer Gesellschaft hier ineinandergreifen, so dass man nicht mehr weiß, was noch mediale Öffentlichkeit, „Markt“ oder politische Macht ist. Hier verschmilzt alles in eins. Die Cryptobros trommeln sich den Preise hoch und die Politik gefügig, welche sie nun unter Einsatz von Steuergeldern von Milliardären zu Multimilliardären befördern soll.

Bei der Aussicht auf den Staat als Beute synchronisieren Faschisten und Tech-Oligarchen ihren Beat. Aber anders als Tooze meint, steckt ganz Silicon Valley mit drin. Man darf sich durch das angebliche „Rebellentum“ der Cryptoszene nicht täuschen lassen: das ist ein materiell-semantischer Komplex; tief über die Pauken der Venture Capital-Szene verbunden.


Die deutsch-albanische Philosophin Lea Ypi hat der taz ein lesenswertes Interview gegeben.

In Albanien und den postkommunistischen Ländern ging die Unterdrückung vom Staat und der Partei aus. Das war eine vertikale Art von Unfreiheit. Die wurde in den 1990er Jahren durch eine horizontale Unfreiheit ersetzt, denn im Neoliberalismus ist das Leben der Menschen strukturell stark eingeschränkt. Wenn man seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann, weil man keine Arbeit hat oder prekär beschäftigt ist, dann lebt man in keiner freien Welt.

Ich mag die Bild von vertikaler und horizontaler Freiheit lieber als die Rede von positiver und negativer Freiheit. Was der Kapitalismus tut, ist einem Freiheit (als Abwesenheit von direktem Zwang) zu geben, den man nur im engen Korridor seiner finanziellen und zeitlichen Möglichkeiten ausnutzen kann.

Ypi plädiert für für einen „moralischen Sozialismus“, der aus den realsozialistischen Experimenten des 20. Jahrhunderts gelernt hat, doch ihre Mutter hat sie damit nicht überzeugt:

Und sie denkt, dass die Fähigkeit zur moralischen Freiheit, von der ich spreche, nicht existiert, dass wir nicht dazu in der Lage sind, moralisch frei zu handeln, sondern immer einen Herrscher brauchen. Im Kapitalismus ist das der Markt. Das ist für sie in Ordnung.

Der Markt hat im Kapitalismus die semantische Funktion, die im Feudalismus Gott inne hatte. Er legitimiert die gesellschaftliche Ordnung. Du bist reich oder arm, weil der Markt das bestimmt hat. Der Markt ist die Theologie einer sich für meritokratisch haltenden Gesellschaft, die nicht merkt, wie sie zum Beat der Oligarchen tanzt.


Der Philosoph Rainer Forst hat in der Zeit einen lesenwerten Essay über die Krise der progressiven Politik geschrieben. Zunächst wirft er der gesellschaftlichen Linken vor, auf die Agenda der rechten reinzufallen, wenn sie versucht dem Unsicherheitsgefühl der Menschen mit eigenen Sicherheits-Agenden begegnen zu wollen. Am Ende kommt man dann im kleinsten gemeinsamen Nenner gegen Rechts zusammen: die Verteidigung der Demokratie. Aber das ist eine Sackgasse.

Der Fehler liegt aber in der Auffassung, dass die Ordnung, die nun gefährdet ist, genau die Demokratie ist, die angestrebt werden sollte. Wer so in vermeintlich progressiver Absicht denkt, reproduziert unversehens einen Status-quo-Bias, der sich die Frage verbaut, woran denn die Demokratie krankte, die diese autoritären Aggressionen erst hervorgebracht hat.

Wer die Demokratie verteidigen will, darf nicht ihren Status-Quo verteidigen. Stattdessen muss man die grundlegenden Gerechtigkeitsfragen stellen und neue, demokratische Antworten darauf finden. Erst dann überzeugt die Demokratie wieder.

Im gesellschaftlichen Leben hieße wirkliche, an der Gerechtigkeit sich orientierende Sicherheit, unter Gleichen „ohne Angst verschieden“ (Adorno) sein zu können, und es hieße auch, in einer Gesellschaft zu leben, die gerade dort zu einer wirklichen Verbesserung der Lebensverhältnisse führt, wo die Ressourcen knapp sind und knapper zu werden drohen. Dann ist nicht „soziale Sicherheit“ der erste Imperativ, sondern eine transformative Politik der Gerechtigkeit, der bewusst ist, dass es keinen guten Grund dafür gibt, dass sich das Vermögen der einen beständig anreichert, während das Auskommen der anderen immer schwieriger wird. Eine Gesellschaft, in der dies nicht strukturell verändert wird, begibt sich auf einen Pfad jenseits der Gerechtigkeit. Dann verfallen die Rechtfertigungsverfahren einer Demokratie und münden in den egoistischen Kampf. Diese Rechtfertigungsleere ist das Grundübel von Gesellschaften, die seit Dekaden Ungleichheitsverhältnisse zugelassen haben, die nicht hinzunehmen sind.

OK, hier eine Idee für demokratisches Projizieren:

Der Staat soll einen Investitionsfond aufsetzen – riesig! So eine Billion Euro pro Jahr – und alle Wahlberechtigten dürfen einen Anteil davon verwalten. Das Geld landet in gemeinnützigen Projekten, die sich um das Geld bewerben. Es ist wie ein Finanzmarkt, nur dass das eingesetzte Geld keine Rendite jagt, sondern Lebensqualität und eine bessere Welt für alle.

Krasse Links No. 22

Willkommen bei Krasse Links No. 22. Ich bin quasi noch in der Sommerpause, deswegen entschuldigt die Unregelmäßigkeit. Doch jetzt entsichert Euer Interregnum, wir projizieren das Ende des Westens auf die Blockchain.


Biden ist raus und hat Kamala Harris endorsed. Das bedeutet, dass die Demokraten wieder eine Chance haben zu gewinnen und eine mindestens ebenso große, sich auf Jahrzehnte komplett zu zerlegen. Es wird spannend.


Die Wired hat einen beunruhigenden Artikel über den durch generative KI erhöhten Energiebedarf der Techbranche. Fast alle Tech-Riesen müssen ihre Klimaziele revidieren.

The technology’s energy needs for training and deployment are no longer generative AI’s dirty little secret, as expert after expert last year predicted surges in energy demand at data centers where companies work on AI applications. Almost as if on cue, Google recently stopped considering itself to be carbon neutral, and Microsoft may trample its sustainability goals underfoot in the ongoing race to build the biggest, bestest AI tools.


Bei der bekannten Venture Capitalistbude Sequoia bekommt man Zweifel an der Wirtschaftlichkeit des AI-Hypes.

In September 2023, I published AI’s $200B Question. The goal of the piece was to ask the question: “Where is all the revenue?”
At that time, I noticed a big gap between the revenue expectations implied by the AI infrastructure build-out, and actual revenue growth in the AI ecosystem, which is also a proxy for end-user value. I described this as a “$125B hole that needs to be filled for each year of CapEx at today’s levels.”
This week, Nvidia completed its ascent to become the most valuable company in the world. In the weeks leading up to this, I’ve received numerous requests for the updated math behind my analysis. Has AI’s $200B question been solved, or exacerbated?
If you run this analysis again today, here are the results you get: AI’s $200B question is now AI’s $600B question.


Es ist passiert. Der Griff nach der Macht durch die Silicon Valley Tech-Faschisten materialisierte sich letzte Woche im Viezepräsidentschafts-Ticket von J.D. Vance. Die New York Times hat zusammengetragen, wie es dazu kam:

Mr. Vance “was very much a friend of the Thiel network going back years,” said Crystal McKellar, a venture capitalist who worked with Mr. Vance at Mithril Capital. “It seemed like Peter saw something really special in him and wanted to encourage it.”

Mr. Musk also encouraged Mr. Trump to choose Mr. Vance in private communications recently. On Monday, Mr. Musk called Mr. Vance’s selection an “excellent decision.”

Mr. Vance has relied on Mr. Sacks, whom he called “one of my closest confidants” in politics at a gala this spring. After that event, Mr. Vance introduced Mr. Sacks to Mr. Trump’s oldest son, Donald Trump Jr.

J.D. Vance trat während des Wahlkampfes in 2016 in Erscheinung, weil sein Buch „Hillbilly Elegy“ eine Antwort auf die überraschende Stärke von Donald Trump zu haben schien. Vance erzählt dort von den zerfallenen Kleinstädten im mittleren Westen, weißer Armut und den Frust, der sich in der „white working class“ aufgestaut hatte. Das Buch wurde rauf und runterbesprochen und war wochenlang Bestseller und machte Vance zunächst zu einem Star der demokratischen Seite, auch wenn seine Analyse von Kulturchauvinismus nur so tropft.

Aber die Wahrheit ist: Vance war und ist Peter Thiels Junge. Peter Thiel und er lernten sich bereits zu Vances Unizeiten in 2011 kennen und gleich nach dem Studium half Thiel Vance in Silicon Valley Fuß zu fassen und investierte 2019 zusammen mit Marc Andrreesen und Eric Schmidt in sein Venture. Auch seinen Einstieg in die Politik 2021 als Senator finanzierte Thiel, unter anderem zusammen mit Robert Mercer. Vance verdankt Thiel … alles.

In einem lesenswerten, aber etwas mit Vorsicht zu genießenden Stück in der Vanity Fair wurde Vance, zusammen mit dem anderen politischen Projekt Thiels, Blake Masters, portraitiert.

Die Reportage versucht auch das intellektuelle Millieu einzufangen, in dem sich Vance bewegt. In den USA hat sich seit Trump I eine verstreute Szene von sich intellektuell gebenden Rechtsradikalen mit Schwerpunkt in New York Downtown gebildet, die – ähnlich wie die Identitären in Europa – versuchen, rechte Edgyness als das neue Schwarz zu verkaufen. Etwas Mode, Literatur und konservative Werte, inklusive Kulturkampf gegen Wokeistan und dazu das selbstzufriedene Grinsen, wenn man Menschen mit der eigenen Grausamkeit schockiert. Selbstredend wird die gesamte Szene von Peter Thiel finanziert, Lesungen, Festivals, Podcasts, alle streben dort nach den „Thielbucks“, wie es im Stück mehrfach heißt.

Die eigentliche, intellektuelle Ikone der Szene ist Curtis Yarvin, ein ehemaliger Silicon Valley Entrepreneur, in dessen Startup – ihr werdet es raten – Peter Thiel investiert hat und ein so guter Freund von ihm geworden ist, dass sie sogar die 2016 Election Night zusammen verbracht haben.

Ich habe Yarvin etwa seit 2015/16 auf dem Radar, damals galt er als einer der relevanten Stichwortgeber der umtriebigen „Alt-Right“-Internet-Szene. Von ihm stammt der Ausdruck „red pilled“, sowie die Idee der „Cathedral“, wie er die liberalen Semantik-Produktionsstätten von Harvard bis New York Times abfällig nennt. Seine persönliche Ideologie nennt er selbst „neo-reaktionär“ („Konservativismus ist für Loser“) und zieht eine ordentliche Machtakkumulation bei einem einzigen Herrscher der Demokratie vor. Damit ist er sich bekanntlich mit Peter Thiel einig und liefert die rechtfertigenden Semantiken für Oligarchen mit Thron-Ambitionen.

Dass der Monarchismus einfach ein zu Ende gedachter Libertarismus ist, war ja vielen bereits klar und ebenfalls klar, ist, warum Milliardäre darauf abfahren, aber irgendwie steht das alles ziemlich in Spannung zu Vance‘ Image als Arbeiter-Class-Hero. Als Senator setzt er sich durchaus für eine Stärkung der Gewerkschaften ein, will den freien Markt – insbesondere den Außenhandel – beschränken und sogar sozialstaatliches Engagement ausbauen. Vance zitiert neben Yarvin und Thiel auch noch ein paar sozialreformerische Einflüsse. Ich hege leise Zweifel daran, dass eine von den brutalsten aller Tech-Oligarchen gesponserte Vizepräsidentschaft zu einer arbeiterfreundlichen Politik führen wird, aber natürlich darf man nicht dem Fehler verfallen, Rechtsradikale auf ihre Konsistenz hin abzuklopfen. Ihnen geht es in erster Linie um Macht und erst an zweiter Stelle um noch mehr Macht.

So wirklich düster wird es zum Ende des Vanity-Fair-Stücks, als der Reporter von einem Gespräch unter Zweien erzählt, dessen Inhalt erstaunlich nahe dran an dem ist, was Vance auch in einem Podcast gesagt hat, den der Artikel ausgiebig zitiert:

Vance described two possibilities that many on the New Right imagine—that our system will either fall apart naturally, or that a great leader will assume semi-dictatorial powers.

“So there’s this guy Curtis Yarvin, who has written about some of these things,” Vance said. Murphy chortled knowingly. “So one [option] is to basically accept that this entire thing is going to fall in on itself,” Vance went on. “And so the task of conservatives right now is to preserve as much as can be preserved,” waiting for the “inevitable collapse” of the current order.

He said he thought this was pessimistic. “I tend to think that we should seize the institutions of the left,” he said. “And turn them against the left. We need like a de-Baathification program, a de-woke-ification program.”

“I think Trump is going to run again in 2024,” he said. “I think that what Trump should do, if I was giving him one piece of advice: Fire every single midlevel bureaucrat, every civil servant in the administrative state, replace them with our people.”

“And when the courts stop you,” he went on, “stand before the country, and say—” he quoted Andrew Jackson, giving a challenge to the entire constitutional order—“the chief justice has made his ruling. Now let him enforce it.”

This is a description, essentially, of a coup.

“We are in a late republican period,” Vance said later, evoking the common New Right view of America as Rome awaiting its Caesar. “If we’re going to push back against it, we’re going to have to get pretty wild, and pretty far out there, and go in directions that a lot of conservatives right now are uncomfortable with.”

Trump hat sich – da sind sich alle einig – Vance nicht ausgesucht, weil der zusätzliche Wählerstimmen einbringt. Vance ist ein Convenience Vize, mit dem sich Trump zum einen die Unterstützung der Silicon Valley Milliardärsklasse sichert und zum anderen ist es dabei sicher hilfreich, dass Vance „in for the Coup“ ist.

Der Artikel ist, wie gesagt, schon zwei Jahre alt und inzwischen gehört Vance zu den schärfsten rechtsradikalen Hardcore-Trumpern im Parlament: Für den nationalen Abtreibungsbann, gegen Emigration, gegen Ukrainehilfe und natürlich trägt auch er die Lüge der angeblich „gestohlenen Wahl“ vor sich her und will die Terror-Douchebags vom 6. Januar begnadigen.

Ein paar Fragezeichen gibt es noch: Thiel hatte sich nach seinem Endorsement bei der letzten Wahl nun gegen Trump ausgesprochen und sich aus der politischen Arena zurückgezogen und bisher gibt es meines Wissens kein Statement von im zu Vances Vizeticket und auch von Yarvin habe ich noch nichts gehört. Yarvin hatte erst kürzlich überraschend Joe Biden endorsed, aber wer weiß, aus dem wievielten Ironie-Layer das entsprungen ist und so warte ich wie alle gespannt auf seinen nächsten Newsletter.

Zuletzt kann man sich das alles noch mal von Rachel Maddow zusammenfassen lassen:


Max Read fragt sich, ob die Siegesgewisseheit im Trump-Lager nicht etwas verfrüht ist und ob das mediale Momentum seit dem Attentat Realität ist, oder nur auf X existiert:

But it’s also a dangerous place to assess sentiment (or “vibes”) not just because it’s a very skewed sample of the population but because Twitter is only vibe shifts. It is the most volatile social network more or less by design and function; on Twitter, it is always already so over, and we are always already so back. It was only six days ago that the former president of the U.S. was nearly assassinated and the conventional wisdom on the website was that he’d cruise to re-election; that entire episode is about 36 hours away from near-total deletion from the platform’s collective memory as a new set of vibes arrives. To borrow a cliché, vibes on Twitter are like weather in [wherever you grew up and heard this joke first]: If you don’t like them, just wait a few minutes.

Insbesondere, da noch fast drei Monate Wahlkampf bevorstehen. In Deutschland machen wir auch kaum länger Wahlkampf und in so einer langen Zeit kann noch so viel passieren. Ich kann mir außerdem nicht vorstellen, dass es die Republikaner schaffen, ihr Momentum über drei Monate zu halten?

Andererseits will ich auch in diesem Newsletter noch einmal die Gefahr herausstellen, die von X ausgeht: Ja, seit dem Tod von Twitter hat X viel an Einfluss verloren, aber der Dienst ist immer noch überproportional mächtig. Keine der alternativen Plattformen hat es geschafft, eine Öffentlichkeit herzustellen, die den Namen verdient. Ein Großteil derjenigen, die an den Semantiken arbeiten (Journalist*innen, Forscher*innen, Influencer*innen, Expert*innen, Politiker*innen, Aktivist*innen, etc.) sind nachwievor auf X und lassen sich dort von Elon Musk das Hirn auf rechts frittieren. Und ja, vielleicht hat Max Read recht und dort ändert sich der Vibe um Donald Trump nochmal, aber Musk wird dann alle Hebel in Bewegung setzen, das zu verhindern.


Andreesson & Horowitz stecken ihr Geld nicht nur in Trump und Vance, sondern vor allem in direktes Crypto-Lobbying. Molly White hat eine extra Website aufgesetzt, FollowtheCrypto, die den Crypto-Lobbying-Einfluss trackt. Hier ihr Blogpost dazu.

In fact, the cryptocurrency industry has spent more on 2024 elections than the entire energy sector put together. These industries, all worth hundreds of billions or trillions of dollars, are being outspent by an industry that, even by generous estimates, is worth less than $20 billion.


Andreessen & Horowitz haben im Zuge ihrer zunehemenden politischen Einflussnahme eine „Little Tech Agenda“ als Blogpost veröffentlicht, die von David Karpf gekonnt auseinander genommen wird.

The “Little Tech Agenda” has nothing to do with innovation or technology. It’s just a VC wish list. The investor class isn’t clever enough to invest in companies that turn a profit by bringing useful products to market anymore. They need special treatment from the government for their bad investments to pay off. And they’re more than willing to spend in order to get it.


Im letzten Newsletter schrieb ich noch davon, dass ich mich mit Adam Tooze gedanklich verbunden fühle und da beginnt er prompt eine an meine Gedanken hoch anschlussfähige dreiteilige Reflexion zu „Hegemonie“. Im ersten Teil stellt er seine Theorie der Project-Power vor.

Hierarchy and inequality have structural preconditions, but they are produced and reproduced through clashing, rivalrous and unequal projects. Structures of power and inequality are the result not simply of inherited, given structures, but of repeated success and failures in a churning melee of projects and counter-projects.

Tooze fasst „Projekte“ allerdings weit:

  • Large-scale construction projects – building cities, mega-towers, damns, tunnels etc.
  • Launching a war and/or conducting military operations.
  • The calculations of revolutionary or counterrevolutionary politics.
  • Programs of large-scale economic development, whether public or private.
  • Constructing a network of international alliances.

Und so denkt Tooze auch die US-Hegemonie als ein Projekt, das an seinen Kulminationspunkt gelangt ist:

Far from entering an “end of history” in which the history-making force of project-power is displaced by the humming efficiency of an established and unquestionable machine endlessly reproducing its own unalterable truth, we face the reverse scenario: The culmination and interaction of projects of growth, political power and self-empowerment, on a scale never before seen, is generating a massive and escalating disequilibrium.

Ich denke ja Wirtschaft als Netzwerk von Abhängigkeiten und Infrastrukturen (NAI), die sich wechselseitig erschaffen und in dieser Symbiogenese ist Project-Power der Modus, in dem dieses „sich-Erschaffen“ passiert.

Was Tooze hier leider etwas unterbelichtet lässt, ist die Tatsache, dass Projekte nie aus dem Nichts heraus entstehen, sondern immer schon in Kontinuitäten eingebunden sind, die sie reproduzieren sollen. Projekte können zwar durchaus disruptiv sein, doch man muss sie auch als das jeweilige Sich-Weitererzählen Materiell-Semantischer Komplexe (MSK) verstehen.

Es ist nicht überraschend, dass Infrastrukturen eigene Semantiken ausbilden, alleine schon wegen all dem technischen und wissenschaftlichen Knowhow, das es braucht, um die Infrastruktur herzustellen, zu warten und zu erweitern. Aber wie sowohl die Ressource Dependence Theory, als auch die post-Keynsianische politische Ökonomie von Frederick E. Lee (aus dem letzten Newsletter) überzeugend darlegt, ist das erste Ziel jeder Organisation, sich selbst zu erhalten, was eben bedeutet, sich selbst weiterzuerzählen.

Und das wäre sogar für mich die definitorische Linie, die ich für Materiell-Semantische Komplexe ziehen würde: ein MSK ist 1) eine materielle Infrastruktur, die 2.) eine Selbsterzählung hat, die sie 3) in Form von Projekten fortschreibt. MSKs reichen folglich von der Katholischen Kirche über Familienhaushalte zu Staaten, Fußballvereinen, der Nato, Plattformen, Unternehmen, oder „den Westen“.


Im zweiten Teil der Hegemonie-Serie kritisiert Tooze den unreflektierten Gebrauch von Gramscis „Interregnum„-Begriffs. Besser bekannt ist das betreffende Gramsci-Zitat in der phantasievollen Interpretation von Slavoj Žižek:

“The old world is dying and the new world struggles to be born. Now is the time of monsters.”

In Wirklichkeit lautet es aber:

„The crisis consists precisely in the fact that the old is dying and the new cannot be born, in this interregnum a great variety of morbid symptoms appear.“

Wobei Interregnum ein alter Name für den Zustand zwischen zwei Herrschaftsphasen ist. Jedenfalls bekenne ich mich Schuldig, sowohl für einen älteren Artikel, als auch für das Plattformbuch, aber mir selbst war gar nicht klar, welch Schindluder mit dem Konzept getrieben wird. Tooze kritisiert vor allem das schlichte Aufblasen dieses Zitates zu einem historistischen Framework, bei der nach jeder stabilen Herrschaftsphase das Chaos einer Interregnums-Phase wartet, wie in folgender Grafik suggeriert wird.

Tooze verweist zurecht auf den spezifischen Blick, mit dem Gramsci auf die Geschichte schaut, der eben ein marxistisch-teleologischer Blick ist, also auf die konkrete Zukunft eines imaginierten Endes des Kapitalismus hin ausgerichtet ist. Lässt man diesen Blick weg, wird Herrschaft durch die Rede vom Interregnum zum Selbstzweck.

Praktischer Weise taucht Tooze tief in die Analyse des Wechsels von britischer Kolonialordnung zur US-Hegemonie ein, insistiert aber, dass die US-Hegemonie eben keine Antwort auf ein Interregnum war und dass diese Hegemonie in ihrer wirtschaftlichen Power und in der Neuartigkeit ihrer Herrschaftsinstrumente den Anspruch erheben, kann als eigenständige Entwicklung betrachtet zu werden.

When the US finally did manage to marshall its power for the consolidation of the Cold War bloc after 1945, it was a kind of power that no state had ever exercised before. It would be a unique high point and it would depend on a continuing, on-going scrambling effort at innovation. The most commonly cited example of successful American hegemony, the Marshall Plan was not Plan A for the postwar world, it was not even Plan C, it was Plan D. And it would have been unthinkable without the no less unprecedented form of state power represented by Stalin’s Soviet Union.

Tooze hat recht, die Idee des Interregnum zu hinterfragen, doch ich sehe den Übergang vom britischen Empire zur US-Hegemonie eher als einen Staffeltausch, denn als die Ablösung eines Weltreiches durch ein anderes. Beide sind „Projekte“ des Westens, dessen Erzählung im europäischen Kolonialismus beginnt und die globale Ordnung seit dem 2. Weltkrieg ist eben der Stand des aktuellen Projekts.

Auch Tooze sieht ja, dass sich dieses Projekt dem Ende zuneigt und wir alle haben ein nachvollziehbares Bedürfnis dem Scheißevulkan, zu dem unser Newsstream geworden ist, einen Namen und ein Konzept zu geben, das Hoffnung darauf macht, dass das irgendwann mal aufhört?

Mein Vorschlag: Ungleichzeitigkeit. Der Begriff der Ungleichzeitigkeit stammt von Ernst Bloch und er versuchte – ähnlich wie Gramsci – die „morbiden Symptome“ seiner Zeit, nämlich den Faschismus zu erklären. Bloch sah die Ungleichzeitigkeit darin, dass Deutschland als hochentwickelte Industrienation noch um ’33 den Semantiken einer traditionellen Agrargesellschaft verhaftet war. Der Faschismus wusste diese Dissonanz auszunutzen.

Blochs Beispiel legt leider die Idee einer linearen Fortschrittsentwicklung nah, von der wir bereits gelernt haben, dass sie ein schwer belastetes kolonioniales Erbe ist. Doch im Kontext der MSKs kann kann man das Konzept der Ungleichzeitigkeit ganz leicht aus dieser Struktur befreien.

Ähnlich wie das gegenseitige sich Hervorbringen von Abhängigkeiten und Infrastrukturen, bringen auch Infrastrukturen und Semantiken einander hervor. Die materiellen Praktiken zur Erschaffung und Betrieb von Infrastrukturen machen Erzählungen notwendig, die dann zukünftige Projekte beeinflussen, etc.

Doch weil der Prozess der materiell-semantischen Symbiogenese eben nicht linear verläuft, entstehen immer wieder Ungleichzeitigkeiten, kleine, große, riesige. Man kann Ungleichzeitigkeiten für unsere Betrachtung als materiell-semantische Dissonanz verstehen, also als ein Auseinanderklaffen von materieller Realität und der sie beschreibenden Semantiken.

Ein Beispiel ist das Internet: Neue Infrastrukturen veränderten unsere Modi der Kommunikation, aber gedanklich leben wir nachwievor in der Gutenberggalaxis. Auch Semantiken haben Netzwerkeffekte und LockIn. Wandel findet zwar statt, aber langsam und der äußert sich z.B. in Reibungsereignissen zwischen den materiellen Infrastrukturen, die unsere Leben umgestalten und den inadäquaten Versuchen, sie zu beschreiben, geschweige denn, zu regulieren.

Auf den Westen bezogen bedeutet das, dass sein relativer, materieller Rückzug auf der Weltbühne auf eine Bevölkerung trifft, die ihr Privileg, sich über andere stellen zu dürfen, als den Pokal eines meritokratischen Wettbewerbs der Völker im „Zivilisiersein“ betrachtet. Eine Welt- und Zivilordnung, in der die weißen europäischstämmigen diesen Pokal nicht im Abo haben, wird für sie als nicht weiter unterstützenswert betrachtet, weswegen Menschen wie Vance und Trump oder auch die AfD mit ihrer alles aufkündigenden Rhetorik so erfolgreich sind.

Faschismus ist aus dieser Sicht ein „Doubling Down“ auf die Widersprüche eines überkommenen Systems. Ja, die Welt ist ungerecht, let’s keep it that way.

Wenn die Semantiken also nicht mehr zu den Materiellen Realitäten passen, dann müssen wir nur die Semantiken in die den Zustand des 20. Jahrhunderts zurückdrehen, dann wird materiell wieder alles in Ordnung kommen.

Was es stattdessen braucht – und das sollte aus dieser Analyse klar geworden sein – sind neue Semantiken. Es braucht neue Weisen der Weltbeschreibung, ein neues Worlding, vielleicht auch neue Institutionen des Worldings, die uns wieder in die Lage versetzten, politisch über Projekte zu streiten.

Krasse Links No 21

Willkommen zurück bei Krasse Links No 21. Meine Erschöpfung ist zwar nicht völlig überwunden, aber ich kann doch den ganzen Quatsch unmöglich so stehen lassen? Also programmiert Euch das Netzwerk auf den Duden, heute beerdigen wir den KI-Hype.


Trotz Spanien! Deutschland atmet auf!

Konkret soll die Schuldenbremse für den Haushalt 2025 nicht ausgesetzt werden. Der Bund will im kommenden Jahr 44 Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen – und mit dieser Kreditaufnahme bei einem Haushalts-Gesamtvolumen von 481 Milliarden Euro die Vorgaben der Schuldenbremse einhalten, sagte Lindner.

Wenn man sich einmal von den Quatscherzählungen von „Haushaltsdisziplin“ und der „schwäbischen Hausfrau“ gelöst hat und verstanden hat, dass die Schuldenbremse wirtschaftspolitisch das Gegenteil von Sinn macht und selbst den Unternehmen schadet, dann stellt sich natürlich die Frage, warum sie immer noch so erbittert verteidigt wird.

Meine in Deutschland offenbar unpopuläre These dazu ist, dass die Schuldenbremse ein strukturelles Unterdrückungsinstrument gegen die Bevölkerung ist. Durch die pauschale Verhinderung von öffentlichen Investitionen hat die herrschende Klasse ein Default-Veto gegen die Demokratie eingelegt und es mit Verfassungsrang ausgestattet, das sie aber bei Bedarf (Polizei, Rüstung, Subventionen, Steuersenkung, Krisenstablilisation, etc.) durch ihre Statthalter bypassen lassen kann. Was sind schon ein paar Milliarden Euro Verlust gegen so einen Hebel?


Nachdem Murati neulich ja bereits zugegeben hatte, dass OpenAI keine fortschrittlichere Variante ihrer LLMs in ihren Labs testet, hat sie vorletzte Woche nochmal nachgelegt und die Medien haben davon natürlich den Bullshitclaim vom „PhD-Level-GPT“ in ihre Headlines gehoben und die eigentliche Sensationsmeldung übersehen:

„Murati nods her head, and then clarifies that it’d be in a year and a half. If that’s true, GPT-5 may not come out until late 2025 or early 2026.“

Laut OpenAI endete das Training von GPT-4 im August 2022, es ist also jetzt schon zwei Jahre alt. Seitdem hat jeder Tech-Konzern von Rang zig Milliarden von Dollar an Ressourcen mobilisiert, um OpenAI vom Thron zu stoßen, doch weder Gemini 1.5, Claude 3, oder LLamA 3 konnten GPT-4 überholen, sondern strandeten auf demselben Plateau. Und jetzt sagt die CTO im Grunde, dass sie nicht nur nichts haben, sondern nicht mal einen Plan wie es weitergeht?

Inzwischen haben sogar Fanboys den Braten gerochen, die sonst eng am Hype-Train gekettet waren und jetzt called auch noch Goldman Sachs Bullshit. Noch letztes Jahr zitierte ich ihren Bericht, in dem von einem Drittel Ki-betroffener Jobs und 7% globales GDP-Wachstum die Rede war. Ein Jahr später hört sich das anders an:

The promise of generative AI technology to transform companies, industries, and societies continues to be touted, leading tech giants, other companies, and utilities to spend an estimated ~$1tn on capex in coming years, including significant investments in data centers, chips, other AI infrastructure, and the power grid. But this spending has little to show for it so far beyond reports of efficiency gains among developers.

Einer der interviewten Experten vom MIT geht jetzt höchstens noch von 1 % GDP-Wachstum aus:

If only 23% of exposed tasks are cost effective to automate within the next ten years, this suggests that only 4.6% of all tasks will be impacted by AI. Combining this figure with the 27% average labor cost savings estimates from Noy and Zhang’s and Brynjolfsson et al.’s studies implies that total factor productivity effects within the next decade should be no more than 0.66%—and an even lower 0.53% when adjusting for the complexity of hard-to-learn tasks. And that figure roughly translates into a 0.9% GDP impact over the decade.

Ich bin so weit zu sagen: KI ist ein Scam. Nicht so ein offensichtlicher Scam wie die Crypto-Pyramidensysteme, sondern ein Scam auf Ebene des Erwartungsmanagements und ich bin mir sicher, dass der Scam seit ca. 2 – 4 Jahren läuft.

Hier, was ich glaube, das passiert ist: 2018 oder so stolperte OpenAI über Googles Paper „Attention is all you need“ (das machte am Anfang keinen großen Splash, da ging es ja eigentlich um maschinelle Übersetzung) und sie stellten fest, dass das Ding mit immer mehr Daten in seinen Fähigkeiten skaliert. 2019 veröffentlichten sie GPT-2 und 2020 dann GPT-3 und provten ihren Case, aber ab da müssen sie bereits auf „deminishing Returns“ gestoßen sein und meine These ist, dass sie die nächste Skalierungsstufe deswegen nur GPT-3.5, statt GPT-4 tauften und seitdem nach anderen Wegen der Optimierung suchen.

Die GPT-4-Specs sind bekanntlich geheim, aber laut hartnäckigen Gerüchten basiert GPT-4 bereits auf einem Trick, nämlich dem Mixture of Experts-Ansatz, wo bei Eingabe des Prompts entschieden wird, an welche speziell dafür optimierte „Experten-GPT“ die Anfrage weitergeleitet wird.

Mit der Veröffentlichung von ChatGPT im November 2022 startete dann unerwartet der Goldrausch und im Überschwang ihres Selbstbewusstseins schoben sie GPT-4 im April 2023 gleich hinterher und vertrauten auf ihre nicht vorhandene Genialität, um das Plateau-Problem schon irgendwie zu beheben.

Und seitdem rudern sie. Ich glaube einer der versuchten Ansätze war tatsächlich die Multimodalität, die sie mit der Hoffnung verbanden, dass sich durch die Verknüpfung der sprachlichen mit den bildlichen Referenzen die Lücken im „World Model“ der LLMs vervollständigen, aber ich bin mir mittlerweile sicher, dass die Idee des World Models – gleich neben ihrer Quatsch-Idee von der linearen Intelligenz-Hierarchie – eine der zentralen Denkfallen ist, in die sie getappt sind und nicht mehr rausfinden.

Zumindest kann man festhalten, dass Multimodalität zwar neue Features, aber keine Verbesserung der Kognition unlocked hat und ich nehme an, dass auch die Q* Idee kläglich gescheitert ist und jetzt stehen sie mit leeren Händen mitten im selbst ausgelösten Hype und wissen nicht, wie sie ihren Investoren beibringen sollen, dass sie ihre Billion Dollar vielleicht nie mehr wiedersehen werden.



Der Google KI-Forscher Francois Chollet war im Tech-Bro Podcast von Dwarkesh Patel und es war trotzdem interessant. Chollet scheint einer der wenigen seriösen KI-Menschen im Silicon Valley zu sein und im Gespräch dekonstruiert er gekonnt die „Intelligenz“-Unterstellungen gegenüber LLMs, insbesondere den Mythos eines „Weltmodells“.

Zusammen mit einem Kollegen hat Chollet die ARC-Benchmark geschaffen, an der sich LLMs die Zähne ausbeißen und das liegt daran, dass die Fragen zwar simpel sind aber sich nicht mithilfe der memorisierten Trainingsdaten lösen lassen. Chollet zufolge ist das der Beweis, dass LLMs eben nicht „denken“, sondern immer nur gelernte Strukturen zu reproduzieren im Stande sind und also ja, doch schon irgendwie stochastische Papageien sind … aber auf ziemlich viel Speed?

Doch was passiert dann genau, wenn LLMs erfolgreich hoch abstrakte Konzepte wie Deduktion, Syllogismus, Multistakeholderanalyse oder Gedichtinterpretation anwenden? Chollet spricht davon, dass LLMs diese Konzepte als „Programme“ vorhalten und flexibel „anwenden“ können. Das darf man sich natürlich nicht „literally“ vorstellen, nicht wie geschriebener und maschinenlesbarer Code, aber schon als im Lernprozess hängengebliebene und zur Anwendwendbarkeit hinreichend abstrahierte und so für das LLM dann regelhaft abarbeitbare semantische Operationen. Und so wird vorstellbar, dass die LLM die genannten Konzepte mit den entsprechenden Kontext-Parametern bestückt und ihre Semantikpfade regelhaft abarbeitet und so einen erwartungsgemäßen Output generiert. Statt einem „Worldmodel“ scheint die LLM also eine riesige Bibliothek von Semantik-Programmen vorzuhalten?

Aber, again, machen wir Menschen das so viel anders? Laufen nicht auch wir regelgeleitete Semantikpfade ab, wenn wir Theorien oder Methoden anwenden? Und ist nicht auch der „westlichen Blick“, den ich hier immer so gern dekonstruiere, so ein Programm? Sind nicht auch die Narrative der „Scaling Laws“ und des „World Models“ solche Programme, die zu regelgeleiteten, aber trotzdem falschen Schlüssen führen?

Ich sage das nicht, um die menschlichen kognitiven Fähigkeiten abzuwerten oder dem Menschen die Agency zu nehmen, ganz im Gegenteil. Eröffnet es nicht vielmehr neue Pfade der Freiheit, die eigene Programmiertheit zu interrupten und neue Programme zu entwerfen?


Auch der lesenswerte Newsletter SnakeOil-AI hatte neulich die Scaling Laws beerdigt, aber hier wollte ich auf die aktuelle Ausgabe aufmerksam machen, denn neben dem großen Versprechen um AGI und der „Intelligenzexplosion“ basiert der Hype auch auf einem zweiten, nicht ganz so großen, aber dennoch zentralen Versprechen: Agents.

Ich hatte schon mal über Agents geschrieben und war zumindest vorsichtig optimistisch, dass spätestens mit GPT-5 (LOL!) sowas denkbar wird, aber das hat sich ja fürs erste erledigt. Sayash Kapoor und Arvind Narayanan fassen die Herausforderungen wie folgt zusammen:

One major research challenge is reliability — LLMs are already capable enough to do many tasks that people want an assistant to handle, but not reliable enough that they can be successful products. To appreciate why, think of a flight-booking agent that needs to make dozens of calls to LLMs. If each of those went wrong independently with a probability of, say, just 2%, the overall system would be so unreliable as to be completely useless (this partly explains some of the product failures we’ve seen).

Die beiden advertisen ihr Paper, das bessere Kriterien zur Evaluation von Agententwicklung anbietet, aber meiner Meinung nach reicht der Ausschnitt, um das Thema erstmal auf die lange Bank zu schieben.

Womit wir bei Apple wären, die den derzeit ernstzunehmendsten Versuch unternehmen, agent-artige Features aus den bereits verfügbaren LLMfähigkeiten rauszupressen und ich denke, es ist kein Zufall, dass selbst das vergleichsweise bescheiden angekündigte „Apple Intelligence“ bis heute Vaporware geblieben ist. Meine Wette: will never ship?

Generative KI ist immer dann erstaunlich gut, wenn man an den Output keine konkreten Erwartungen stellt, aber je genauer man sie etwas „so und genau so“ machen lassen will, desto unmöglicher stellt sich das Unterfangen heraus. LLMs verhalten sich dann weniger wie „smart Highschooler“ im Sekretärs-Ferienjob, sondern mehr wie Heisenbergs Photonen, die ihren Aufenthaltsort verweigern, je genauer man ihre Geschwindigkeit misst.

Aber wenn AGI abgesagt ist und automatisierte Agents ebenfalls nicht in Sicht sind … was bleibt dann noch?


Ach ja, „Stuff“ produzieren.

„GenAI-powered political image cultivation and advocacy without appropriate disclosure, for example, undermines public trust by making it difficult to distinguish between genuine and manufactured portrayals. Likewise, the mass production of low quality, spam-like and nefarious synthetic content risks increasing people’s skepticism towards digital information altogether and overloading users with verification tasks. If unaddressed, this contamination of publicly accessible data with AI-generated content could potentially impede information retrieval and distort collective understanding of socio-political reality or scientific consensus. For example, we are already seeing cases of liar’s dividend, where high profile individuals are able to explain away unfavorable evidence as AI-generated, shifting the burden of proof in costly and inefficient ways.“

Das „Zeitalter des Rauschens“ schön beschrieben, ausgerechnet in einem Paper von Google?


Auf Strage Matters hat John Michael Colón einen ellenlangen Longread über die Politische Ökonomie von Frederic S. Lee veröffentlicht. Lee ist bereits seit 2014 tot, aber sein Werk scheint wirklich eine enorme Fundgrube zu sein. Lee stellte der neoklassischen Schule nicht nur ein besseres Modell entgegen, sondern unterfütterte es mit einem großen Korpus an empirischer Forschung.

Die Arbeit von Lee wird im Text episch ausgebreitet und nebenbei auch die vielen Kleinkriege behandelt, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an den Universitäten geführt wurden. Turns out: so wie auch der Kapitalismus gewaltsam eingeführt wurde, wurde auch die Hegemonie der neoklassische Ökonomie mit koordinierten Kampagnen und schmutzigen Tricks gegen die heterodoxen Schulen durchgepeitscht. Ihr wisst schon, market place of Ideas und so.

Eine der zentralen Streitfragen in der Ökonomie kreist um die Frage, wie Preise entstehen. Marx sah im Preis den Tauschwert abgebildet, der wiederum die in der Ware enthalte Arbeitsleistung repräsentiere. Die klassischen Ökonom*innen sehen dagegen den Preis als Ergebnis des dynamischen Sich-Verhaltens von Nachfrage und Angebot. Angebot ist klar, aber die Nachfragekurve definiert sich dabei als der aufaddierte „Marginalnutzen“ den Konsument*innen aus der Ware ziehen, wobei „Marginalnutzen“ die Tatsache abbilden soll, dass das dritte Eis in Folge weniger Spaß macht, als das erste, usw.

Diese unnötig komplizierten (und nebenbei empirisch unüberprüfbaren) Theorien entkräftete Lee, indem er einfach mal nachgefragt hat. Im direkten Widerspruch zum neoklassischen Modell, bei dem der Preis jederzeit in der Aushandlung ist und den Anbietern als definitives Signal gilt, an dem sie ihre Preisgestaltung orientieren, werden Preise in der Realwelt von Menschen gesetzt und haben eine enorme Stabilität gegenüber Änderungen von Angebot und Nachfrage. Unternehmen interessieren sich bei der Preisgestaltung recht wenig für Marginalnutzen und Nachfragekurve und nichtmal primär für Gewinn, sondern richten ihr Handeln im wesentlichen darauf aus, auch morgen noch zu existieren, weswegen die Kostendeckung natürlich Front and Center jeder Preisgestaltung ist. Und selbst bei Überlegungen, welche Marge man noch draufschlägt, sind selten Gewinnmaximierungsfragen, sondern meist strategische Überlegungen relevant. Will ich den Marktanteil vergrößern, was will ich meinen Kund*innen oder meinen Investoren signalisieren? Wann macht es Sinn sich auf einen Preiskampf einzulassen? (Überraschung: so gut wie nie).

Das Ergebnis ist Lees „Administered Prices Theory“ und die zusätzliche Beobachtung, dass Preise zwar schon auch der Kommunikation dienen, aber der Kommunikation zwischen Konkurrierenden Unternehmen. In der Realität schält sich nämlich immer ein oder zwei „Price-Leader“ heraus, an dem sich alle anderen Unternehmen orientieren.

„there is absolutely no regular relationship between variations in demand, supply, and price. Prices simply aren’t functioning as they are supposed to according to marginalist theory—changing when demand shifts, signaling what and how much agents must now buy or produce—because they have completely different purposes instead. The price mechanism that’s supposed to allocate resources in the economy isn’t distorted by imperfections, it isn’t the ideal from which reality diverges—it simply does not exist.“


Hier kann man dem Markt beim Regeln zuschauen.

Hunderttausende Menschen suchen bundesweit händeringend eine Wohnung – und finden keine. Dabei stehen fast zwei Millionen Wohnungen leer, wie eine aktuelle Statistik zeigt.


Die politische Ökonomin Cecilia Rikap hat ein furioses Paper über die politische Ökonomie von KI verfasst, das mir von seinem ganzen Ansatz her voll aus dem Herzen spricht. Sie analysiert dabei, wie sich die großen Tech-Giganten Kontrolle, Einfluss und Marktmacht über den KI-Markt sichern und zwar indem sie die KI-„Startups“ (mir widerstrebt das Wort in dem Kontext) von ihrem Kapital und ihren Cloudinfrastrukturen abhängig machen.

„In short, acquisitions are not the only way for large tech companies to access start-ups’ intangibles and talent while keeping potential rivals at bay. A more hidden yet prevalent form of domination involves the use of corporate venture capital to get preferential access to capabilities, knowledge and information and a chance to steer start-ups’ research and development.“

Macht ist ja normalerweise latent, aber der Coup bei OpenAI machte sie plötzlich ziemlich handfest: nachdem das Board Sam Altman gefeuert hatte, ließ er sich von Microsoft anstellen, die bereits die Cloudinfrastruktur von OpenAI kontrollierte, und drohte, auch die restlichen Mitarbeiter*innen abzuwerben. Das Board merkte schnell, dass alle relevanten Abhängigkeiten auf Seiten Altmans lagen und ihre rechtlich verbriefte Entscheidungsgewalt das Papier nicht wert war, auf dem sie stand.

Dass sich die Macht im KI-Markt im Infrastrukur-Layer konzentriert, hatte ja bereits Nick Srnicek beobachtet, aber Rikap arbeitet diese Vorherrschaft bis in die verfolgten Abhängigkeitsstrategien heraus.

No single existing institution or organisation can afford to produce LLMs or other advanced AI models without relying on technologies controlled by Amazon, Microsoft or Google which could be extended to include AI GPUs from Nvidia, though the three cloud giants are also designing their own AI semiconductors.

Ok, hier ein einfaches politische Ökonomie-Modell:

Ökonomie besteht aus einem multidimensionalen Netzwerk von unterschiedlichen Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Akteuren, wobei die unterschiedlichen Arten der Abhängigkeiten (repräsentiert durch Dimensionen) nicht auf materielle Abhängigkeiten beschränkt sind. In der Ökonomie sind alle Abhängigkeiten relevant, familiäre, soziale, semantische und emotionale Abhängigkeiten und eben auch nicht nur diejenigen, die entlang von kommerziellen Transaktionen bedient werden, sondern auch die, die durch öffentliche Daseinsvorsorge oder freiwilliger, privater Fürsorge (Care) adressiert sind (umgerechnet geschätzte 11 Billionen Dollar).

Die Kehrseite der Abhängigkeit ist Macht. Macht ist in diesem Framework schlicht Betweenness-Zentralität im Abhängigkeitsnetzwerk. Mächtig sind die, von denen viele abhängig und die selbst von möglichst wenigen abhängig sind. Alle Geldflüsse repräsentieren diese Macht, ohne sie aber 1:1 abzubilden (Macht muss immer auch latent bleiben). Alle Einkommen in diesem Modell sind „Renten“, denn sie basieren auf dieser Machtposition.

Doch wie kommt man an Macht?

Entlang des Netzwerks der Abhängigkeiten existiert ein zweites Netzwerk: das Netzwerk der Infrastrukturen, das sich in einem cooevolutionären Prozess mit dem Abhängigkeitsnetzwerk entwickelt hat: Abhängigkeiten erfordern Infrastrukturen, Infrastrukturen kreieren neue Abhängigkeiten, etc.

Infrastrukturen sind, weil sie Abhängigkeiten bedienen, erzeugen, konzentrieren oder managen, gleichzeitig die wichtigsten Instrumente zur Erlangung und Absicherung von Macht in der Gesellschaft. Auch wenn ich Marx Werttheorie nicht teile, sehe ich seinen wichtigsten Beitrag in der Erkenntnis, dass die Gesellschaft grob dadurch stratifiziert ist, dass ein paar wenige die Infrastrukturen kontrollieren und alle anderen Teil der Infrastruktur sind.

Für die Besitzer der Infrastruktur ist der Kapitalismus tatsächlich eine Art mehrdimensionales Netzwerk-Monopoly, bei dem sie durch geschicktes Platzieren von Infrastruktur alte Abhängigkeiten konzentrieren oder neue Abhängigkeiten generieren können, was dann ihrer relativen Betweenness-Zentralität zu Gute kommt.

Konstruktionen wie Fabriken, globale Supply-Chains, Plattformen und nun eben KI sind dabei sich immer wieder neu ergebende Infrastruktur-Strategien, bzw. Infrastrukturen sind „materielle Programme“ if you will. Auch sie bearbeiten regelgeleitet die vorgefundenen Netzwerkstrukturen, nur eben die des Abhängigkeitsnetzwerkes.

Und dass diejenigen, die die privaten Infrastrukturen kontrollieren, sich durch die Schuldenbremse jetzt auch noch Kontrolle über die öffentlichen Infrastrukturen gesichert haben, wird jetzt nochmal deutlicher zum Problem?


Adam Tooze war bei Jung und Naiv und ich habe dabei mal wieder gemerkt, wie wichtig er für mich als Orientierungspunkt geworden ist. So genau kannte ich seine Haltung zu Israel/Palestina z.B. gar nicht, aber ich finde mich bei ihm zu 99% wieder.

Im letzten Teil, der Zuschauer-Fragerunde, etwa bei 2:38, geht es um seine „Methode“ und Tooze erzählt sehr persönlich und nahbar davon, wie er vor ca. 10 Jahren eine andere Arbeitspraxis etablierte, die er mit dem „Management eines Flusses“ vergleicht und wie ihm auch der Newsletter eine Form dafür gab.

Sie kommen dann im Gespräch darauf, dass sich eine Akkumulation von Wissensbeständen wie die kritische Masse in der Atomphysik verselbstständigen kann und dann wie von selbst neue Erkenntnisse produziert. Man schreibt nicht, man „wird geschrieben“ und ein Teil der Arbeit besteht darin, zu entscheiden, welchen Einflüssen man sich aussetzt und der andere, sie wie ein DJ zu „remixen“.

Ich habe mich da vollkommen wiedergefunden und ich glaube, die gleichzeitige arbeitsstrukturelle und inhaltliche Nähe sind kein Zufall. Klar, es wäre leicht zu sagen, dass ich mir Stil und Haltungen von Tooze abgekupfert habe und sicher ist da etwas dran, aber aus meiner Perspektive ist es eher so, dass sowohl Tooze als auch ich (und sicher tausende andere) einem noch tiefer liegendem Rhythmus folgen, einem geteilten epistemischen „Programm“. Donna Haraway hat dieses Programm am besten auf den Punkt gebracht:

„Niemand lebt überall; jeder lebt irgendwo. Nichts ist mit allem verbunden; alles ist mit etwas verbunden.“

Daraus ergibt sich eine in das Netzwerk eingebettete und verletzliche Beobachterperspektive, die stetig versucht, einen plausiblen Semantik-Pfad entlang der hereinbrechenden Welt zu navigieren. Und vielleicht könnte das ja die Grundlage der Metaphysik des nächsten Worldings werden?

Krasse Links No 20.

Willkommen bei Krasse Links No 20. Hübscht Eure Weltmodelle auf, heute sagen wir dem Westen adieu.


Programmingnote: Beim Schreiben der letzten beiden Newsletter habe ich eine gewisse Erschöpfung gespürt, daher wird die nächste Ausgabe ausfallen.


Reuters hat eine verdeckte Informationsoperation der US-Geheimdienste aufgedeckt, die in der Hochphase der Pandemie aktiv daran arbeitete, Desinformationen über Covid-Impfungen zu verbreiten. Es wurden dabei in erster Linie Bevölkerungen außerhalb des Westens, besonders in Zentralasien und Nahost, anvisiert und das Ziel war, den in China entwickelten Impfstoff Sinovac zu diskreditieren.

The U.S. military’s anti-vax effort began in the spring of 2020 and expanded beyond Southeast Asia before it was terminated in mid-2021, Reuters determined. Tailoring the propaganda campaign to local audiences across Central Asia and the Middle East, the Pentagon used a combination of fake social media accounts on multiple platforms to spread fear of China’s vaccines among Muslims at a time when the virus was killing tens of thousands of people each day. A key part of the strategy: amplify the disputed contention that, because vaccines sometimes contain pork gelatin, China’s shots could be considered forbidden under Islamic law.

The military program started under former President Donald Trump and continued months into Joe Biden’s presidency, Reuters found – even after alarmed social media executives warned the new administration that the Pentagon had been trafficking in COVID misinformation. The Biden White House issued an edict in spring 2021 banning the anti-vax effort, which also disparaged vaccines produced by other rivals, and the Pentagon initiated an internal review, Reuters found.

Ich bin ehrlich überrascht, wie überrascht ich bin, dass hybride Kriegsführung nicht nur von Russen und Chinesen betrieben wird?


Die Chief Technical Officer von OpenAi, Mira Murati gab ein On-Stage-Interview und lies Folgendes in einem Nebensatz fallen:

„inside the labs we have these capable models and you know they’re not that far ahead from what the public has access to for free“

Man vergleiche das mit den Aussagen, die ihr Boss Sam Altman immer so fallen lässt. Schon Ende letzten Jahres ließ er die Phantasie bei seinen Zuhörern sprudeln, als er sagte:

„On a personal note, like four times now in the history of OpenAI, the most recent time was just in the last couple of weeks, I’ve gotten to be in the room when we pushed the veil of ignorance back.“

Und noch vor ein paar Wochen sprach er davon, dass GPT-4 längst überholt sei:

„GPT four is the dumbest model any of you will ever, ever have to use again, by a lot.“

Man muss diese Divergenz in den Aussagen zwischen CTO und CEO im Kontext der Mechaniken des KI-Hypes verstehen. Zentral in diesem Narrativ ist das, was man in der KI-Forschung als „Scaling Laws“ bezeichnet, was im Grunde erstmal nur die Suche nach dem optimalen Verhältnis der Menge von Trainingsdaten und Parametern (also Größe des neuronalen Netzes) und die zu investierende Menge an Computerpower bezeichnet. Aber eine populäre Annahme hinter den Scaling Laws ist, dass man die Modelle mit der richtigen Mischung aus Daten, Parametern und Compute bis zur AGI hochskalieren kann.

Neulich hatte Leopold Aschenbrenner, deutschstämmiger Silicon-Valley-Karrierist und kurzzeitiger OpenAI-Mitarbeiter diese plumpe Logik in einem 160 Seiten langen Essay zur Karikatur zugespitzt. Aschenbrenner erklärt das Wettrennen für AGI als eröffnet und rechnet mit seinem Eintreffen bis spätestens Ende des Jahrzehnts. Grundlage sind auch hier die Scaling Laws, referenziert als „Orders of Magnitude“ (OOPs), und nur mit echt ausgedachten LLM-Benchmarks wie „Pre-Schooler“, „Elementary Schooler“ und „smart High-Schooler“.

Aschenbrenner verbindet die Scaling-Laws mit der Vorstellung von Intelligenz als lineare Hierarchie, die irgendwo bei der Amöbe anfängt und sich über die Tierwelt nach oben zum Menschen und von dort durch die Bildungsgrade arbeitet, um schließlich beim KI-forschenden Mathe-PHD aus Harvard zu enden, jedenfalls vorläufig bis 2027.

Aschenbrenners Paper ist die Innenansicht der Ideologie, die Microsoft gerade dazu bringt, hunderte von Milliarden Dollar in dedizierte Rechenzentren zu investieren; die Google dazu anhält, das Web und damit ihre eigene Lebensgrundlage zu abtöten, in der vagen Hoffnung mit AGI den besseren Deal zu haben; sie bringt Elon Musk dazu, seinen eigenen Bankautomaten (Tesla) zugunsten eines imaginierten xAGI zu plündern und macht Nvidia zur wertvollsten Firma der Welt.

Silicon Valley geht All-In und setzt den Staatshaushalt eines mittelgroßen Industrielandes auf eine vermeintlich bevorstehende „Intelligenz-Explosion“, deren Horizont kein Science-Fiction-Roman bisher fähig war, zu imaginieren. In diesem Narrativ schreitet der Westen (= die Menschheit!) demnächst durch den Endpunkt seiner eigenen Zukunftsvorstellungen.

Doch wenn Murati eineinviertel Jahre nach dem Release von GPT-4 andeutet, dass alles, was OpenAI in ihren Laboren so testet nur wenig besser ist, dann werden auf einen Schlag alle exponentiellen Graphen zur Makulatur.


In der taz schimpft Mattias Kalle über Volt und ich weiß, was er meint, aber er trifft nur so halb.

Und vielleicht ist es genau das, was mich so stört und wütend macht: dass es eine durch und durch populistische Partei ist, die mithilfe von Werbung aus der Mottenkiste aber so tut, als sei sie progressiv oder neu oder anders oder links.

„Volt“ ist ein Politik-Start-up von reichen Schnösel-Kids, die versuchen, die Leere in ihren Herzen mit Sinn und Inhalt zu füllen. Ist aber auch nur so ein Gefühl.

Das Problem an Volt ist nicht ihr Populismus, sondern im Gegenteil ihre Sternenflottenoffizierhaftigkeit. Sie positioniert sich als linksliberal-pragmatische „Good policy“-Alternative zu den als zu „ideologisch“ empfundenen Linken und Grünen. Mehr noch als die herkömmlichen Parteien sehen sie die Gesellschaft als Ansammlung von Problemen und Politik als den Wettbewerb um die besten Lösungen für diese Probleme.

Wir brauchen aber keine „Lösungen“. Egal ob für die Klimakrise oder die soziale Ungleichheit: Lösungen haben wir genug. Stattdessen verhindert … irgendwas seit Jahrzehnten erfolgreich, dass wir diese Lösungen auch anwenden?

Was fehlt ist der richtige Konflikt. Wir brauchen das Gegenteil von Volt, nämlich eine wirklich radikal bis plump linkspopulistische Massenbewegung, die mit nackten Fingern auf zu gut angezogene Milliardäre zeigt und ihnen irrational kreischend den Krieg erklärt.


Die Journalisten Evan McMorris-Santoro und Alex Roarty stellen in einem Artikel für Notus fest, dass die Abkehr von X gescheitert ist.

But he stands by his point: Political elite circles are on Twitter once again, only in a weirder fashion than before Elon Musk took over at the end of 2022. The argument is over; the hellsite is back. It’s a win for Musk, but one that people absolutely do not want to hand to him. In interviews, users said Twitter is not what it was, but also it’s not as bad as it was in the most chaotic days after it became Musk’s to do with as he pleases. People do not like to be on it, but they also once again have to be. Two years after words like Mastodon, BlueSky, Post and Threads became rallying cries and users declared war on the blue check, those who made Twitter what it was in the days before Musk have returned to using X.

Ryan Broderick hält diese Beobachtung allerdings für den typischen Fehlschluss einer orientierungslosen Journalistenkaste.

„Look, I get why reporters are reticent to get off X. Even with its new algorithmic For You tab, it’s still the only site that you can semi-reliably share real-time information on. But I would also argue that the fact that a massive chunk of yet-to-be-laid-off political journalists using a platform no one else is on is exactly why this election does not feel like it’s even happening.“

Aber es sind eben nicht nur die Journalist*innen. In diesem Paper haben Wissenschaftler*innen der Universität von Pennsylvania die versuchte Migration von 7542 wissenschaftlichen Accounts auf Mastodon verfolgt und kommen zu einem bedrückenden Fazit: nach einer initialen Phase der Migrationseuphorie verstummten die meisten innerhalb kürzester Zeit.

Among the users we tracked, the majority failed to maintain the same level of activity. This could be attributed to steep learning curve compared to twitter as well as competition from more user-friendly platforms like Bluesky and Threads. These alternatives might have drawn away potential users exacerbating Mastodonś difficulties in becoming a central hub for professionals communities.

Seit Jahren weise ich immer wieder auf die grundlegende Kraft der Netzwerkeffekte (oder wie ich es im Buch nenne: Netzwerkmacht) hin. Wer’s nicht kennt: Menschen gehen dort hin, wo sie andere Menschen finden, mit denen sie reden können, Überraschung! Alle technischen Features und Sperenzchen, KI, Algorithmus, dezentral, zentral, Protokoll, Dienst – alles völlig Wumpe gegen die Netzwerkeffekte. Netzwerkmacht ist eine Art soziale Gravitation, die Netzwerke erfolgreich macht und sie als Entitäten zusammenhält.

Und das bedeutet eben auch, dass die vielen konkurrierenden Angebote, die den Umstieg von X beschleunigen wollten, ihn in Wirklichkeit verunmöglicht haben. Hätte es EINE Alternative zu X gegeben, hätte der Umstieg zumindest eine Chance gehabt? Jetzt verteilen sich die X-ilant*innen eben auf nicht-öffentlichkeitsfähige Kleinst-Netzwerke und verlieren entsprechend sofort das Interesse.

Und das bedeutet, dass X zwar enormen Schwund zu verbuchen hat und ja, nur noch ein Schatten von Twitter ist. Aber in dieser Gemengelage muss es seine alte Stärke nicht behalten, um am Ende zu triumpfieren. Es reicht, wenn X am Ende dieses Zersplitterungprozesses das relativ gesehen relevanteste der Kurznachrichten-Diente bleibt, denn dann ist es der logische der Ort, an dem sich wieder alle sammeln werden – Nazipropandawaffe hin oder her.

(Nein, ich werde nicht wieder zurückgehen.)


Der Ingenieur Walter Zeug war im Future Histories Podcast und erzählt von den Möglichkeiten der „Life Cycle Analysis“ für die demokratische Planwirtschaft.

Wer in dem Diskurs nicht drin ist: seit etwa Hundert Jahren wird diskutiert, wie man Planwirtschaft als Ressourcen-Allokations-Ansatz als Alternative zum Markt sinnvoll auf die Beine stellen kann. Die originale Diskussion wird heute als „Socialist Calculation Debate“ bezeichnet, aber seit dem Aufkommen der digitalen Technologie und ihrer enormen Effektivität bei komplexen Koordinierungsaufgaben wurde das Interesse an dieser Frage wieder neu entfacht und Jan Goos‘ Future Histories hat sich dem Thema wie kein anderer Podcast angenommen.

Das spannende an Walter Zeug ist, dass er als Ingenieur echte und materiell erprobte Erfahrung in der Evaluation von Produktions- und Nutzungsprozessen mitbringt und daher, statt in Theorien herumzufabulieren, wie die meisten von uns, konkrete Anhaltspunkte liefern kann, wie eine postkapitalistische Wirtschaftsordnung aussehen könnte.

Zeug spricht über einen Ansatz, den er „Holistic and integrated Life Cycle Sustainability Assessment“ (HILCSA) nennt, und das scheint tatsächlich ein guter Startpunkt zu sein, um über die Möglichkeiten einer demokratisch geplanten Wirtschaft nachzudenken, weil sie fähig zu sein scheint, Material- und Energie-Flüsse über die gesamte Lebenszeit der Produkte – von der Herstellung über die Benutzung bis zur Entsorgung – einzufangen und diese Flüsse mittels Software sogar abbilden kann. Einer kybernetischen Planwirtschaft steht also nichts mehr im Weg?

In diesem Newsletter sehen wir Wirtschaft bekanntlich als ein Netzwerk von Abhängigkeiten und Infrastrukturen, weswegen ich die Fokussierung auf Materie- und Energie-Flüsse grundsätzlich begrüße. Dennoch spüre ich immer auch einen leichten Volt-Vibe bei diesen Diskussionen?

Zum Einen ist Planwirtschaft am Ende ja auch nur wieder eine „Lösung“ und zum Anderen sogar eine in gewisser Weise unpolitische Lösung, jedenfalls solange sie nicht „Goodhart’s Law“ adressiert:

“When a measure becomes a target, it ceases to be a good measure.”

Wenn man Interessen und Messungen in einen Raum sperrt, werden Wege gefunden, beides miteinander zu alignen und an eine interessenlose Gesellschaft glaube ich auch jenseits des Kapitalismus nicht?

Das führt mich zu einem grundsätzlichen Kritikpunkt bei fast allen linken Utopie-Projekten: Machtfragen werden aus diesen Zukunftsvisionen meistens einfach ausgeklammert, ganz so, als ob mit der Überwindung des Kapitalismus auch alle Machtungleichgewichte aus dem Fenster fliegen?

Schimpft mich liberal, aber ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass das Rumlaborieren an neuen Formen der Ressourcenallokation nur halb so wichtig ist, wie die Entwicklung von dynamischen Systemen der Macht-Einhegung. Und nein, der Hinweis auf „Demokratie“ reicht mir nicht.


Abigail Thorn hat sich auf ihrem eh empfehlenswerten Channel „Philosophy Tube“ mal durch das ganze Werk von Judith Buttler gearbeitet und in ihrem Video dazu zeigt sie außerdem, wie der aktuelle Rechtsruck nicht ohne den „War on Gender“ zu denken ist, der sich vorgeblich gegen die Aushöhlung traditioneller Sex- und Gender-Konstruktionen wendet, aber in Wirklichkeit eigene Sex- und Gender-Konstruktionen, die in dieser Starrheit nie existierten, verbindlich machen will. Der Kulturkrieg um Sex und Gender ist für viele der Einstieg in die rechte Radikalisierung und daher muss der antifaschistische Kampf diese Linie genau im Blick behalten.

Ein anderer Aspekt, den ich von Buttler noch nicht kannte ist der Begriff der „Abjectification“, womit einer Form des “Otherings“ gemeint ist, mit der die Gesellschaft Menschen wegsortiert, deren Ausdrucks- und Lebensweise ihr so fremd sind, dass sie ihnen jede Subjektivität abspricht. Dazu gehören eben oft transgeschlechtliche Menschen, arme Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund, etc. aber Buttler bezieht diesen Begriff unter anderem explizit auf den westlichen Umgang mit den Palästinensern.


Immer wenn in den letzten Jahren mein Blick auf die Lage der Palästinenser fiel, war mir schon irgendwie klar, dass das nicht richtig sein kann. Während Israel die eine Hälfte in einer Art halbautomatisierten Hühnerkäfig hält (den es gerade in Schutt und Asche legt), wird die andere unter dem Schutz der IDF von Siedlern terrorisiert und vertrieben. Ich schätze mal, dass auch von Euch niemand so leben will?

Doch sobald man versucht, die Unterdrückung der Palästinenser in Worte zu fassen, rennt man sofort in Probleme.

Besatzung“ ist ein Wort, das naheliegt, doch Israel hat sich ja 2005 aus dem Gazastreifen zurückgezogen? Andere haben die Verhältnisse als „Apartheit“, bezeichnet, aber im Gegensatz zum Süd-Afrikanischen System gibt es nicht direkt zwei ausdefinierte Rechtssysteme für unterschiedliche Ethnien, sondern ein Rechtssystem für Israelis und einen Zoo an unterschiedlichen und willkürlich durchgesetzten Rechtssystemen für Palästinenser. Und obwohl sich jetzt ein Prozess des Internationalen Strafgerichtshofs mit der Frage beschäftigt, ob derzeit in Gaza ein „Genozid“ passiert, kann man auch hier gute Gründe finden, warum dieser Begriff (noch) nicht zutrifft. (Die Unsitte, dass man sofort Antisemitismusvorwürfe an den Kopf geknallt bekommt, wenn man einen dieser Begriffe gebraucht, gehört aber hoffentlich der Vergangenheit an, ja?)

Jedenfalls klafft irgendwo in der Überlappung von Besatzung, Apartheit und Genozid eine begriffliche Lücke, die das Leid der Palästinenser beschreibt, aber weil wir uns im Westen mit unterschiedlichen Begründungen jede Benennung dieser Leerstelle verbieten, gibt es schließlich auch kein Problem, oder?

Rabea Eghbariah ist palästinensischstämminger Jurist, der sich mit dieser epistemischen Ungerechtigkeit nicht abfinden will und schlägt in seinem Aufsatz einen eigenen juristischen Begriff für die Gewalt an den Palästinensern vor: „Nakba

„Nakba“ heißt Katastrophe auf arabisch und damit wird gemeinhin die Vertreibung von 750.000 Palästinenser im Zuge der Staatsgründung Israels bezeichnet, doch Eghbariah argumentiert, dass die Nakba nie aufgehört hat. Die Nakba bezeichnet für ihn die andauernde Katastrophe aus anhaltender Vertreibung, verschleierter Rechtlosigkeit und Genozid auf Raten, in der die Palästinenser seit der Staatsgründung Israels leben.

Palestine is best understood through the prism of Nakba, which may fulfill the legal definitions of occupation, apartheid, and genocide at various points while still transcending their confines. In other words, the terms we possess have failed to capture the reality of Palestine not because they are incorrect but because each term highlights only part of the story.

Die „Nakba“, nicht als Ereignis, sondern als Materiell-Semantischer Komplex verstanden, hat ihre materiellen und semantischen Eigenlogiken und eine eigene Geschichte, die Eghbariah ausführlich beschreibt:

The Nakba has thus undergone a metamorphosis. The mid-twentieth century mass expulsion of Palestinians from their homes by Zionist paramilitary forces, and then by the army of the newly founded Israeli state, transformed the Nakba into a tenacious system of Israeli domination; a “Nakba regime” grounded in the destruction of Palestinian society and the continuous denial of its right to self-determination. The spectacular violence of conquest, dispossession, and displacement evolved into a brutally sophisticated regime of oppression. Across Israel, the West Bank, the Gaza Strip, Jerusalem, and refugee camps, Palestinians now occupy distinctive and discounted coordinates in a convoluted matrix of law, whereas Jewish Israelis maintain a singular and superior status, regardless of territorial divisions.

Ich hatte beim Lesen das Gefühl, es mit einem großen Wurf zu tun zu haben.


Der Guardian hat die Geschichte des Nakba-Aufsatzes, der schließlich in der Columbia Law Review erschienen ist, aber über Wochen versucht wurde, zu verhindern. Das Board des Journals ging so weit, die Website der Publikation komplett offline zu nehmen, ganz ohne inhaltliche Einwände zu haben.

His draft went through “at least” five edits, he says, with extensive feedback from about a dozen editors at the student-run journal, as he added 427 footnotes to the piece. But in early June, on the eve of the article’s publication, the publication’s alumni and faculty board urged the student editors to postpone Eghbariah’s piece or pull it from the journal entirely.

Student editors told the Intercept that the article had been extensively vetted according to procedure. Some, however, “expressed concerns about threats to their careers and safety if it were to be published”, the Associated Press reported. The students went ahead with publication against the board’s wishes. The board said in a statement published when it restored the website that it had “received multiple credible reports that a secretive process was used to edit” the article, and that was its reasoning for taking the journal offline.

Alle Zensurbemühungen haben nicht gefruchtet und so können wir uns von Barbara Streisand extra eingeladen fühlen, das Paper gründlich zu lesen, schließlich ist es nach fünf Revisionen ein ziemlich kugelsicherer Einstieg, um sich mit der Perspektive der Palästinenser auf den Konflikt zu befassen.


Ich kannte Federico Campagna bisher nicht, aber ich bin mir sicher, dass wir noch einiges von ihm hören werden. Er ist ein italienischer Philosoph, der in London lebt und sein Vortrag „The End of the Worlds“ befasst sich eigentlich mit dem Ende des Westens.

Im Zentrum seiner Theorie, oder wie er sagt: „Metaphysik“, steht das „Worlding“: Welt, aber als Verb. Worlding ist etwas, was wir konstant tun: wir bauen und aktualisieren unser Weltmodell. Aber dieses Weltmodell ist natürlich kein individuelles, sondern eine geteilte Semantik, ein Vibe, ein „Rhythmus“, wie er es auch nennt. Es gibt also Weisen des Worldings und sie bilden die unbewussten und unhinterfragten Axiome unseres Weltverständnisses oder wie ich immer sage: die Art, wie wir auf die Welt blicken.

Doch während ich dieses Weltverständnis mit dem Semantikbegriff in räumlichen Metaphern denke, interessiert sich Campagna für seine zeitliche Ausdehnung. Jedes Worlding hat seiner Ansicht nach einen Beginn, einen Mittelteil und ein Ende und seiner These nach befinden wir uns gerade am Ende des Worldings, das man als „der Westen“ bezeichnet.

Was mich besonders fasziniert, ist, mit welch unsentimentaler und ruhiger Geste er solch eine Feststellung trifft. Das sei alles gar kein Drama, sagt er, durch solche Weltenden seien schließlich auch schon andere gegangen und klar, es könnte jetzt etwas ruppig werden, aber die eigentliche Frage, die wir uns stellen sollten ist, wie wir mit den Menschen aus dem nächsten Worlding in Kontakt treten wollen. Was wollen wir ihnen als unsere „Legacy“ mitgeben und vor allem: wie wollen wir ihnen unsere Legacy mitgeben, wo sie doch bereits in ganz anderen Begriffe denken?

Campagna spricht von der kommenden Post-Future Generation, diejenige, die bereits eine ganz andere Vorstellung von Zukunft hat als wir und die mit einem gewissen Unverständnis auf unser Worlding zurückschauen wird. Wir, als das Endgeneration unseres Worldings, sollten daher ihren Blick auf uns als Chance begreifen, ihnen eine Art Fazit unseres Paradigmas mit auf den Weg zu geben. Dabei komme es gar nicht auf Faktentreue oder Aufrichtigkeit der Darstellung an, sondern auf eine plausible Inszenierung unserer Selbst.

Ich mag die Unbefangenheit bei gleichzeiger begriffliche Präzision, mit der Campagna spricht. Seine Thesen sind steil und seine Argumente – ich sag mal: extrem angreifbar? – aber das scheint ihn null zu beeindrucken. Und – das ist natürlich mein subjektiver Eindruck – ich finde ihn gerade deswegen total überzeugend?

Und dabei fällt mir auf, dass meine Konditionierung durch die Regime der „Wissenschaftlichkeit“ und der schlaubischlumpfigen Internetdiskussionen mein Schreiben und Denken mit der Zeit immer mehr auf „Unangreifbarkeit“ optimiert haben und dass mich diese Optimierung gedanklich sehr lange extrem eingeengt hat. Ich hatte das gar nicht so geplant, aber das Format des Newsletters hat bei mir einen Knoten platzen lassen, der meinen Gedanken zum ersten Mal seit langem Raum zum Atmen gab und Zack, da sind wir.

Alleine deswegen werde ich das hier fortsetzen.

Krasse Links No 19.

Willkommen bei Krasse Links No 19.. Wenn Ihr noch nicht wählen wart, dann macht hier kurz Pause und holt das nach. Ansonsten lasst das Wasser ab, wir stecken den Materiell-Semantischen-Komplex in Brand.


Nvidia hat die 3 Billionen Dollarmarke im Unternehmenswert geknackt und alle drehen durch.

Ich denke der offensichtliche Take, dass sich Nvidia im KI-Goldrausch als der zentrale „Schaufelhersteller“ positioniert hat, weitgehend richtig ist. Nvidia hat sich in der Tat geschickt als Flaschenhals in der Infrastruktur vieler KI Projekte eingenistet, das gilt nicht nur für generative KI, sondern auch für Selbstfahrende Autos und Robotik.

Doch der immer noch alles dominierende KI-Hype führt auch dazu, dass praktisch jeder Techkonzern dabei ist, eigene Chips entweder schon zu produzieren oder zu entwickeln. Nvdias Flaschenhals-Position wird bald überwunden sein und wenn in Sachen generativer KI bald ein Ernüchterungsprozess einsetzt (spätestens wenn nächstes Jahr immer noch keine AGI in Sicht ist), wird eine Menge Hardware herumstehen und nach neuen, sinnvolleren Aufgaben suchen.

Und dann wird es wieder interessant, denn eines schlecht gehütetesten Geheimnisse des Kapitalismus ist, dass die Vorhandenheit materieller Infrastrukturen die Entwicklungsrichtung unserer technisch-sozialen Umwelt viel stärker prägt, als Bedürfnisse oder Imaginationen. Auch Silicon Valleys „lauwarmes Wasser“ bestand schon immer darin, die Strukturen, die eh rumstehen, für das „next big thing“ zu leveragen. So war es nach dem ersten Dotcom-Blase, so war es nach der Finanzkrise und so wird es im nächsten Cycle sein.


In der Sternenflotte ist man sich uneinig über die Relevanz und Gefährlichkeit von Desinformationen. Casey Newton bespricht den Fall der Desinformationsresearcherin Joan Donovan, die von Harvard gekickt wurde und seitdem der festen Überzeugung ist, Meta hätte dafür gesorgt und zitiert dafür einen Artikel, der für diese Vorwürfe keine Belege findet. Auf der anderen Seite zitiert er zwei Studien, die zeigen sollen, weswegen das Desinformationsproblem eigentlich kleiner und lösbarer ist, als man gemeinhin annimmt.

Nochmal auf der anderen Seite ist in Nature quasi ein Manifest für das dringende Ernstnehmen von Desinformationen erschienen und macht ein paar gute Argumente.

The Holocaust did happen. COVID-19 vaccines have saved millions of lives. There was no widespread fraud in the 2020 US presidential election. The evidence for each of these facts has been established beyond reasonable doubt, but false beliefs on each of these topics remain widespread.

Ich habe selbst in informellen Runden gesessen, wo allerlei NGOs zusammen mit Wissenschaftler*innen und den Vertretern von Plattformen mit ernster Minie zusammen saßen und über die besten „Lösungen“ für das „Desinformationsproblem“ diskutierten. Ja, auch ich war Sternenflottenoffizier.

Bitte versteht mich nicht falsch. Diese Menschen wollen meist das Gute und die Maßnahmen die sie Diskutieren haben oft ihre Berechtigung, aber sie tappen dabei halt in die Falle, Desinformation als isolierte Phänomene zu betrachten, statt sie als Ausdruck von von persistenten Strukturen zu betrachten, die längst dabei sind, die politische Landschaft umzugestalten.

Ich habe diese Strukturen mal „Digitale Tribes“ genannt, aber diese Tribes haben sich weiterentwickelt und sind zu Materiell-Semantischen-Komplexen herangewachsen. „Materiell“, weil ihnen fast immer ein ganzes Ökosystem von Geschäftsmodellen zugeordnet ist und „semantisch“, weil ihre Begriffe, Erzählungen und diskursiven Praktiken sich absichtlich von denen der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden (ich habe diesen Prozess neulich Semantische Sezession genannt.)

Die sternenflottenhaftigkeit der „Desinformations“-Diskurses liegt aber nicht in erster Linie an der Blindheit gegenüber diesen Strukturen und ihrer politischen Relevanz, sondern in der mangelnden Awareness für die Tatsache, dass man selbst in ganz ähnlichen, ebenfalls problematischen, wenn auch viel, viel mächtigeren Strukturen operiert und dass all die Erlaubnisse zur Anwendung von Macht, die man sich in solchen Diskursen gibt, am Ende der Durchsetzung der Interessen dieser Strukturen dienen wird.



Oberst Markus Reisner ist österreichischer Militärangehöriger und der einzige deutschsprachige Analyst des Ukrainekrieges, dem ich noch zuhöre. Seine jüngste Darstellung des Status Quo macht mich betroffen, denn alles deutet darauf in, dass es Russland gelungen zu sein scheint, auf Kriegswirtschaft umzustellen und die Infrastrukturen für einen langen Abnutzungskrieg zu errichten. Hier übernehmen die Eigenlogiken der Infrastruktur, denn die Errichtung von Infrastruktur ist eben immer eine Weichenstellung, die eine Maschine in Gang setzt. Eine Maschine, die jetzt so lange Richtung Westen grindet, wie Putin es ihr erlaubt.


Schon vor fast zwei Wochen hatte Max Read (absolute Newsletterempfehung) eine spannende Beobachtung hinsichtlich Googles LLMisierung gemacht, dass nämlich Google mißversteht, wie googlen funktioniert? Bisher war es ja so: Man wirft ein paar Begriffe in den Suchschlitz und Google bietet einem mittels der 10 blauen Links eine möglichst breite Vielfalt an möglichen Perspektiven und Kontexten auf diese Suchbegriffe, die man dann im Detail selbst erkundet.

It is possible I am in a minority here, but speaking for myself I want to see a selection of different possible results and use the brain my ancestors spent hundreds of millions of years evolving to determine the context, tone, and intent.

Das ist aber nur der Ausgangspunkt der weiteren Beobachtung, dass Google mit seinen KI-Antworten eine vergleichsweise bequeme Position verlässt, denn im Gegensatz zu den 10 blauen Links machen die Menschen Google für seine Bullshitantworten sehr viel stärker verantwortlich. Klar: Wenn ich ein, zwei Bullshitlinks im Suchergebnis habe, ist das nicht schön, aber Google arbeitet halt mit dem, was da ist? Wenn mir aber Gemini Müll erzählt, dann ist es mir egal, wo es den Bullshit aufgesogen hat, dann bin ich sauer auf Google.

Und daran zeigt Read, dass Plattformen und KI keine komplementären Ansätze sind, sondern dass diese Paradigmen im direktem Konflikt miteinander stehen: Der (vorgeblich neutrale) Marktplatz der Ideen vs. ein allwissendes Orakel – jedenfalls kann man nicht glaubwürdig beides sein. Mag ja sein, dass Letzteres in Form von GenAI-Assistenten und „For-You“-Feeds die Zukunft ist, aber damit verlässt man halt auch das Plattformprinzip:

After two decades of having their lives mediated by volatile and disappointing platforms, people may be clamoring for a new kind of mediation–knowledge obtained not via neoliberal software marketplace but from the mouth of the occult computer prophet-god.

It’s that Google and other platforms play a particular role in the web ecosystem, and shifting away from an even nominally transparent model to an increasingly obfuscated one is movement in the wrong direction.

Ich finde diese Beobachtung wertvoll, aber mich beunruhigt, dass Read so wenig beunruhigt ist? Er spricht nur von seiner persönlichen Nutzersicht und nicht von … Macht? Die Möglichkeiten der Kontrolle, die mit der Ersetzung der sozialen durch die algorithmische Struktur der Informationsdistribution einhergeht, stellt alles in den Schatten, was wir bisher an Machtkonzentration gesehen haben. Die Graphnahme der digitalen Öffentlichkeit ist eine Form struktureller Gewalt, deren Tragweite wir derzeit noch außerstande sind, zu begreifen.


In einem lesenswerten Essay schreibt Indrajit Samarajiva über seine Fassungslosigkeit über dem Zusammenbruch der Empathie, den er im Westen gegenüber dem Leid in Gaza wahrnimmt und kommt darauf, dass es womöglich an den Geschichten liegt, die wir uns erzählen.

My kids listen to stories at night and the heroes are always the poor, the down-trodden, who remain kind and try to help their people through it all. The bad guys are the landlords, the rulers, who hoard and steal and hurt despite having more than enough. But then what are my stories, as an adult? Everything in the grown-up press lionizes landlords, rulers, and glorifies hoarding, stealing, and hurting as the basis of our very economy and social system. The poor are failures, the down-trodden deserve it, and kindness is folly. These are very serious opinions from very serious people. We complicate what is simple and call ourselves sophisticated. It’s just sophistry. We are the villains in our own children’s stories. What have we become?


Wie ich es ab und an mal mache, habe ich mir mal wieder David Foster Wallace berühmte Commencement Speech: This is Water angeschaut. Die Rede ist sicher eine der meistverehrten Reden unserer Zeit und ich finde diesen Status gerechtfertigt. This is Water macht im Grunde das, was ich auch hier immer wieder versuche zu tun: die Gewöhnlichkeit der eigenen Perspektive zu überwinden und sie zur Diskussion zu stellen.

Wallaces Punkt ist, kurz gesagt, dass wir in unserer selbstzentrierten Sichtweise auf die Welt schauen, wie der Fisch durchs Wasser schaut, also ohne sie wahrzunehmen. Wir erleben uns als das Zentrum unseres Universums, weswegen wir auch ständig dazu tendieren, strukturelle Nervigkeiten persönlich zu nehmen. Aber eine gute „liberal Arts“-Ausbildung, so Wallace, biete uns die Möglichkeit aus dieser egozentrischen Perspektive auszubrechen und der Multiperspektivität der Welt statt zu geben. Und das wiederum ermöglicht einem dann andere Sichtweisen auf die Welt in Betracht zu ziehen. Er spricht von zusätzlichen „Options“ auf die Welt zu blicken, also Möglichkeiten der Weltwahrnehmung.

Wie gesagt, ich finde die Rede immer noch großartig, aber ich will hier ganz pedantisch zwei klare Fehler herausstellen, die mich dieses mal mehr als sonst gestört haben:

Zum einen tut Wallace so, als sei der Blick auf die Welt als das Zentrum des Universums eine angeborene Eigenschaft unseres Wahrnehmungsapparats und da frage ich mich, ob Wallace das Wasser immer noch nicht hinreichend erkennt, in dem er schwimmt? Studien belegen, dass sich viele Menschen außerhalb der westlichen Hemisphäre, weniger als Individuen, denn als Teil von Gruppenstrukturen und anderen Relationen verstehen. Außerhalb des Westens wird meist viel relationaler gedacht, gesprochen und gefühlt. Das, was Wallace hier als „Hard Wired“ naturalisiert, ist in Wirklichkeit eine spezifische, gelernte Semantik.

An einer anderen Stelle, geht Wallace durch den Tag eines Durchschnittsangestellten, der seine Routinen abspult und dabei konstanz genervt von allem und jedem ist und steigert sich in einen hübschen Rant über den Horror des Berufsalltags und der Unmenschlichkeit der Rush Hour und die seelenstörende Erlebnis des Einkaufens hinein. Im Zuge dieses Rants streift er am Ende auch den enormen Ressourcenverbrauch, den die vielen SUVs da draußen bedeuten und spricht sogar den Klimawandel als mögliche Folge davon an.

Ich habe das beim Schauen sehr gefeiert, aber leider dient ihm diese Episode explizit als ein Beispiel, wie man nicht auf die Dinge schauen soll. Sein Punkt ist, dass Du ebenfalls jemand bist, der im Weg steht, der genervt ne Fresse zieht und dass auch Du die Erde ruinierst. Das alte: Du bist der Stau. Und diese Erkenntnis, so wird es jedenfalls evoziert, mache einen mitfühlender und generöser für seine Mitmenschen und das mag auch alles richtig sein, aber sorry, wenn ich darauf darauf zurückkomme, das mit Klimawandel solltet Ihr dann vielleicht doch im Auge behalten, liebe Klasse von 2005? Ach zu spät. Naja, aber wo wir gerade dabei sind: ja, der Berufsalltag, der Konsumwahn und das autozentrierte Verkehrssystem sind unmenschliche und abschaffenswerte Scheißsysteme und Euer Frust und Eure Wut sind absolut berechtigt!

Wallace schafft es eben doch nicht ganz, die Arroganz des „Blick von Nirgendwo“ abzustreifen, sondern folgert aus seiner Fähigkeit der Perspektivverschiebung eine Beliebigkeit der Anschauung. Aber Perspektiven sind nicht beliebig, sie sind immer Ausdruck von ganz spezifischen materiellen und semantischen Realitäten, in denen sie ausgeübt werden und die Vorstellung, dass man seine Perspektive frei wählen kann, öffnet der Verdrängung Tür und Tor.

Ich will das jetzt alles nicht an Wallace ablassen, denn er ist damit ja nicht allein und ich glaube mittlerweile, dass das einfach ein Kurzschluss von westlicher Egozentrik mit der Erlaubnisstruktur der Multiperspektivität ist? Ein Kurzschluss, der eine ganze Industrie von Coaches, die Coaches coachen hervorgebracht hat. Du hasst Deinen Alltag, Deinen Job, Deine Wohnung, dein Leben? Dann musst Du nur deine Einstellung ändern!

Verdrängung wird im Kapitalismus wie jede andere Ressource zu einem Gut, das gemanaged und bewirtschaftet werden will.


Der Historiker Adam Tooze hat zum 80. Jahrestag des D-Day einen Essay über das Erbe dieser Schlacht geschrieben, der es in sich hat. Er arbeitet im D-Day eine bestimmte, zu jener Zeit neue Art der Kriegsführung heraus, die sich als paradigmatisch für die Kriegsführung des Westens herausstellen würde, nämlich mit einem taktischen Vorteil durch die überwältigende Mobilisierung von Ressourcen zu operieren. Diese Form der Kriegsführung nennt sein Kollege David Edgerton “liberal militarism” und arbeitet einige wesentliche Merkmale davon heraus, allen voran eben die Ressourcenintensität, den affirmativen Einsatz von Technologie, aber auch die vergleichsweise geringe Akzeptanz eigener Verluste.

Diese Art der Kriegsführung wird zum westlichen Standard und ist in den folgenden amerikanischen Kriegen zu sehen, am pursten vielleicht in den zwei Irakkriegen, aber auch gerade in Gaza. Doch Tooze sieht in dieser Art der Kriegsführung auch den Startpunkt dessen, was Historiker*innen die „Great Acceleration“ nennen, also den enormen Anstieg von Produktivität und Lebensstandards im Westen seit dem zweiten Weltkrieg.

The first is that talking about the material conditions that enabled D-Day exposes a profound ambiguity about modern civilization and politics in the era of the great acceleration. On the one hand fossil-fuel, material-intensive way of life clearly empowers us in a literal sense and thus enhances our freedom to make choices. It is a common place to say that modern democracy would be unthinkable without energy. The idea is deeply embedded in the American way of life as a privileged and exceptional form of existence with universal appeal.

It’s the infrastructure, stupid.“ Die Kriegsanstrengungen auf allen Seiten des Konfliktes hinterließ Motorenwerke (der zweite Weltkrieg wurde durch Motoren gewonnen), Erdölraffinerien, Piplines, Lieferketten und eine ganze Menge Know How. Die Luftwaffe wurde zur zivilen Luftfahrt, aus den Panzerfabriken rollten die PKWs und aus den Munitionsherstellern wurden Chemiekonzerne und fertig war das Wirtschaftswunder. Aus einem Kriegsparadigma der Ressource Abundance wurde eine kapitalistische Konsum-Maschinerie der Ressource Abundance, die wiederum einen Lebensstil der Resource Abundance ermöglichte, was wiederum unseren Blick auf die Welt prägt.

What modern war illustrates is the basic point, one that is increasingly dominating our understanding of the “great acceleration” more generally, which is that technological and energy epochs do not succeed each other in a neat sequence, but are folded together, layered on top of each and combined in hugely complex and relational way. This process is not directionless. It increases in scale over time as does economic output and the scale of the means of destruction. But that process of accumulation, as the Normandy battlefield demonstrated, is not a matter of neat transitions, but agglomeration, addition and combination.

Preise werden eben nicht durch Angebot und Nachfrage gemacht, wie es uns die Mikroökonomen glauben machen wollen, sondern von den materiellen Abhängigkeiten, die die Herstellung erfordern, ökonomisch ausgedrückt: von der Kostenstruktur.

Das würde erstmal auch kein Ökonom bestreiten, aber er hört hier auf zu fragen und ignoriert die Tatsache, dass die vorgefundenen materiellen Abhängigkeiten durch die bestehende Infrastruktur determiniert sind. Es war nicht so, dass die Leute nach billigen Autos und Plastikware riefen und dann bildeten sich die entsprechenden Industrien, sondern die Industrien hatten Maschinen, Ölförderanlagen, Lieferketten und Knowhow herumliegen, die sie in einen Strom erschwinglicher Autos, Eigenheime und Elektrische Geräte verwandelten. Die grundlegenden Pfadentscheidungen werden an der materiellen Basis der Infrastrukturen gelegt, der Markt justiert nur mit ein bisschen Verteilungsintelligenz an den Rändern nach. Die restliche Funktion von klassischer Ökonomie beschränkt sich darauf, die zentrale Erlaubnisstruktur des Kapitalismus bereitzustellen, indem sie die zugrundeliegende Infrastrukturpolitik einfach ausblendet und so erlaubt, keine Verantwortung dafür zu übernehmen. Erst seit neustem entwickelte diese Denkweise mit dem Wort „Externalität“ eine Semantik, um einem Teil dieses blinden Flecks wenigstens ein bisschen Rechnung zu tragen, doch das reicht halt nicht aus, wenn man so grundlegend falsch liegt.

Mit der materiellen Verstrickung verbindet sich eben auch eine semantische. Aus Infrastrukturen werden Produkte, aus Produkten Lebensstile und aus Lebensstilen Erzählungen über Kapitalismus und Demokratie und das Selbstbild des Westens als freie Wahlen und Nutella.

Deswegen spreche ich von Materiell-Semantischen Komplexen. Das sind im Grunde zwei verschränkte, vielfältig ineinander verwobene Netzwerke aus einerseits materiellen Abhängigkeitsnetzwerken und ihren Infrastrukturen und anderseits den Semantiken, mit denen sie verknüpft ist. Die Semantiken umfassen natürlich Praktiken und Wissen, mit dem die Abhängigkeitsstrukturen bearbeitet werden, sie umfassen aber auch allerlei Lebensstile, Denkweisen, Theorien, Modelle, Perspektiven und Erzählungen. Think Marx‘ Basis und Überbau, aber als ineinander verschränkte Netzwerkcluster.

Ein Materiell-Semantischer Komplex über den ich hier immer wieder schreibe ist das Silicon Valley, womit ich, nebenbei, eben nicht (nur) den geographische Ort meine, sondern vor allem die Infrastrukturen, die aus ihm herauswachsen, sowie die spezielle Art zu denken, die Erzählungen von Innovation und Entrepreneurship, etc. Auch die KI-Industrie halte ich für einen abgrenzbaren Materiell-Semantischen-Komplex mit eigenen Infrastrukturen und Semantiken, über die ich immer wieder schreibe. Aufgrund der Netzwerkstrukturen durchdringen und überlappen sich diese Räume und auf unterschiedlichen Zoomestufen kommen unterschiedliche Cluster zum Vorschein. So ist der KI-Komplex selbst ein Teil des Silicon Valley-Komplexes und der Silicon Valley-Komplex ist wiederum Teil eines noch größeren Komplexes, nämlich: „Der Westen“.

Auch der Westen ist so ein Amalgam aus materiellen Abhängigkeiten, Infrastrukturen, Erwartungen, soziale und materielle Praktiken, Know How, sowie eines ganzen Ökosystems von Diskursen, Erzählungen und eingeübten Perspektiven. Ein paar der mächtigsten davon haben wir bereits besprochen: Der Blick von nirgendwo, der in Wirklichkeit der Koloniale Blick ist, der an einen linearen Prozess glaubt, den er „Zivilisation“ nennt und als dessen vorläufigen Endpunkt er sich versteht, und es kommt eben noch eine ganze Menge hinzu, wie das Entitlement zu einem Leben im Überfluss und die damit einhergehende institutionalisierte Blindheit gegenüber der Infrastruktur und der strukturellen Gewalt, die dieses Leben ermöglicht.


Kleiner Sanity-Check zwischendurch:

Schauen wir auf das größere Bild. In Deutschland werden 2024 Pro-Palästina-Proteste in Unis von der Polizei geräumt. Ein Pro-Palästina Kongress wurde auf rechtlich mehr als fragwürdiger Grundlage verboten. Es hat seit dem Deutschen Herbst keine so rabiaten Einschnitte in die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit mehr gegeben. Anders als 1977 gibt es allerdings kaum Liberale, die die stickige Diskursverengung und die neoautoritäre staatliche Praxis kritisieren. Dabei ist gerade wegen der Polarisierung in Sachen Gaza und Israel freier Diskurs nötiger denn je.


Bill Ackman ist ein Investmentbanker, der es zu einer Elon Musk-artigen Nervberühmtheit brachte, seit er es schaffte, eine Unipräsidentin von ihrem Posten zu entheben (wir kennen das Playbook) und dessen Hedgefont gerade mit einer erschreckend hohen Unternehmensbewertung überraschte.

Matt Levine erklärt was an der Unternehmensbewertung überraschend ist:

„This is all crude and oversimplified in a lot of ways. But in this dumb model, the key inputs are (1) your assets under management and (2) the fees you can charge. Some kinds of asset managers run enormous piles of money and charge minimal fees: BlackRock Inc., which runs lots of low-fee index exchange-traded funds, manages about $10.5 trillion for investors and is worth about $116 billion, or a bit more than 1% of assets. Other kinds of asset managers run smaller piles of money and charge higher fees: KKR & Co., which runs lots of expensive private equity funds, manages about $578 billion for investors — about 5.5% the size of BlackRock — but is worth about $89 billion, or more than 15% of assets, almost as much as BlackRock. Intuitively — crudely, inaccurately, but intuitively — you could think “well, BlackRock probably charges about 10 basis points, so at a 10x multiple that’s worth 1%; KKR probably charges about 1.5%, so at a 10x multiple that’s worth 15%.”

Ackmans Hedgefond managed $18 billion, nimmt 2% Gebühren und ist 10 Milliarden wert, was weit außerhalb der von Levine geschilderten Rationalität liegt und alle kratzen sich nun am Kopf. Natürlich hat das mit keiner Marktrationalität zu tun, sondern – wie bei Musk, Trump und Ramaswamy – mit Ackmans öffentlichen Profil. Levine folgert:

There is a meme-stock element to all of this. If you’re investing in Ackman’s management company, you are not really betting on Ackman’s ability to pick stocks and make smart derivatives trades, because you don’t directly benefit from those skills. You are betting on Ackman’s ability to raise money by tweeting and going on television, to build his public profile by doing controversial stuff on social media and to convert that profile into investor interest.

Dieser „Controversial Stuff“ bedeutet halt den rechten Kulturkampf mit einem (weiteren) mächtigen Geschäftsmodell auszustatten. Manchmal wächst die materielle Abhängigkeitsstruktur eben auch aus den Semantiken, statt umgekehrt?

Jedenfalls bringt es Max Read besser auf den Punkt.

One way of thinking about this “trend” of conservative stars leveraging their media profiles and anti-woke reputations to raise money from (and/or cash out off the largesse of) politically aligned retail investors is as a symptom of a general collapse of whatever nominal barriers once might have existed between finance, politics, and entertainment. “Investor,” “influencer,” “politician” become interchangeable words; “NYSE,” “Twitter,” “elections” interchangeable arenas.

Read macht klar, dass die Verstrickung von rechten Schaumschlägern mit Betrugsmaschen und Pyramidensystemen eine lange Tradition hat, aber dieses zunehmende Zusammenwachsen von Wall Street, Silicon Valley und KI mit dem rechten bis rechts-radikalen Semantikraum macht mir persönlich enorme sorgen. Welcher Materiell-Semantische-Komplex entsteht dort?

Krasse Links No 18.

Willkommen bei Krasse Links No 18. Zieht Eure Taschentücher aus der Mangel, heute trauern wir um die digitale Öffentlichkeit.


Diese Woche war re:publica und wer mich ein bisschen kennt, weiß, dass es meine Leib und Magen-Konferenz ist. Keine Veranstaltung hat mich mehr geprägt, auf keiner Veranstaltung kenne ich mehr Leute oder Leute mich. Ich war auf jeder re:publica seit ihrer Gründung und habe auch selbst einige Talks gehalten.

Umso froher war ich, dass die Konferenz beinahe mit dem Wichtigsten Begann: einem Panel, dass man auch gut als Trauerarbeit über den Verlust von Twitter betiteln hätte können. Ich kenne und schätze alle Menschen auf diesem Panel sehr und kann mich bei fast allem, was sie sagen, anschließen.

Natürlich ist es ein Stück weit meiner spezifischen Sicht auf die re:publica geschuldet, doch ich glaube, man kann schon sagen, dass die re:publica und Twitter eine Art Co-Evolution durchliefen? Ich lernte den Dienst 2007 auf der noch als „Bloggerkonferenz“ gestarteten re:publica kennen und schon im nächsten Jahr sprachen wir uns alle über unsere Twitter-Handles an. Die re:publica merkte schnell, dass der Fokus auf Blogs zu klein gedacht war und der Scope erweiterte auf etwas, was man gelegentlich als „die digitale“ oder „vernetzte Öffentlichkeit“ referenziert und wofür sich der Name „re:publica“ ja auch wunderbar eignet? Die re:publica verstand sich immer als beides: enthusiastische Befürworterin der vernetzten Öffentlichkeit und als Ort für den kritischen Blick auf diese Öffentlichkeit und ich finde, das ist auch dieses Jahr programmatisch gelungen.

Ich habe grad keine Lust, Öffentlichkeitstheorien zu wälzen, aber ich glaube ganz stark, dass Öffentlichkeit im Allgemeinen und die digitale Öffentlichkeit im Besonderen nur als Netzwerk verstehbar ist. Nicht als Netzwerk der Kommunikationen (das wäre der unpolitische Luhmann-Take), sondern als Netzwerk der Beziehungen, bestehend aus den Erwartungen, Kenntnissen, unterschiedlichen materiellen und semantischen Verstrickungen und letztlich bestehend aus dem Vertrauen, das Menschen gegenüber anderen Menschen und Institutionen aufzubauen pflegen.

Es wird oft behauptet, dass Twitter ja nur ein kleines, nominell bedeutungsloses Netzwerk war, aber das ist halt nur die statistische Draufsicht? Aus netzwerktheoretischer Sicht bestand es aus den wesentlichen Hubs, relevanten Clustern und inbetweenness-zentralen Akteuren der öffentlichen Sphäre. Auf Twitter tummelten sich (fast) alle, die an den Semantiken arbeiten: Wissenschaftler*innen, Autor*innen, Künstler*innen, Aktivist*innen, Politiker*innen aller Ränge, Jurist*innen, Medienleute, allerlei Prominente und Public Figures und Exper*innen für praktisch alles? Das, was wir digitale Öffentlichkeit nennen, fand nicht ausschließlich, aber zu einem beutenden Teil auf Twitter statt.

Und die re:publica ist nun mal der Ort, an dem sich ein kleiner und stetig wechselnder Ausschnitt daraus einmal im Jahr zum Biertrinken materialisiert. Twitter, die re:publica und die „digitale Öffentlichkeit“ sind nicht einunddasselbe, aber sich weitreichend überlappende und gegenseitig nährende Netzwerke.

Mit dem Tod von Twitter ist nun das zentralste dieser Netzwerke in für sich nicht öffentlichkeitsfähige Einzelteile (Mastodon, Bluesky, Threads, LinkedIn und, naja, X) zersprungen. Unzählige Verbindungen sind dabei zu Bruch gegangen und etliche Diskurse sind verstummt. Und während ein nicht geringer Teil der öffentlichen Personen, Journalist*innen und Politiker*innen weiter auf X mit den Nazis rumhängt, downranked Meta politische Inhalte auf all seinen Plattformen und rüstet sie zu algorithmischen Versionen von RTL2 um. Und all das, während Google gerade literally das freie Web killed?

Jedenfalls war die Frage, die ich ganz am Ende stellen wollte, (Johnny will mich am Ende gerade drannehmen, aber ich war leider schon aus dem Raum):

Ist der Ansatz, die digitale Öffentlichkeit von Techunternehmen bereitstellen zu lassen, nicht sichtbar genug gescheitert und ist es nicht an der Zeit, ein allgemeines Misstrauensvotum nach Silicon Valley zu senden?

Doch dann fiel mir ein: es ist zu spät.

Die digitale Öffentlichkeit hat aufgehört eine vernetzte Öffentlichkeit zu sein und geht zunehmend in den „For you“-Algorithmen der kommerziellen Plattformen auf. Das bedeutet, dass die neue digitale Öffentlichkeit nicht mehr durch menschliche Beziehungen und vernetztes Vertrauen getragen wird, sondern vollends den opaken Steuerungsinstrumenten einer Hand voll Konzernen ausgeliefert ist.


Bei Anthropic haben sie sich mal angeschaut, wie Semantiken wirklich aussehen und funktionieren und ich stelle mal wieder fest, dass ich KI noch so ablehnen kann; die Forschung dazu finde ich nach wie vor faszinierend.

Bisher haben wir hier immer so getan, als sei der Latent-Space der LLMs (Details im Boecklerpaper) mit dem semantischen Raum, den auch wir Menschen bewohnen, zumindest in weiter Überschneidung.

Das ist nicht völlig falsch, denn die Semantiken sind dort tatsächlich kodiert, aber weil im Latent-Space nur Tokens, also Wortbestandteile zueinander in Beziehung gesetzt sind, existieren die Semantiken nur als latente Bahnungen in diesem Space und sind deswegen nicht wirklich isolier- und adressierbar. Um den tatsächlichen Semantiken habhaft zu werden, muss man sie während der Aktivierung ihrer Bahnungen erwischen.

Den Forscher*innen von Athropic ist es nun gelungen, einige hochabstrakte Semantiken (die Forscher*innen nennen sie hier „Features„) in ihrem mittlschwerem Flagship-Modell Claude 3 Sonnet zu identifizieren und isolieren. Dafür trainierten sie ein gesondertes Neuronales Netzwerk (ein Sprarse Autoencoder) an den neuronalen Aktivierungen beim Benutzen von Claude 3. Weil der Sparse Autoencoder so konfiguriert ist, dass er die hochkomplexen Aktivierungen im neuronalen Netzwerk der LLM auf die Relevantesten reduziert, gelang es den Forscher*innen momosemantische Features wie die „Golden Gate Bridge“, „Kognitionswissenschaft“ oder „Programmierfehler“ zu isolieren und adressierbar zu machen.

We find a diversity of highly abstract features. They both respond to and behaviorally cause abstract behaviors. Examples of features we find include features for famous people, features for countries and cities, and features tracking type signatures in code. Many features are multilingual (responding to the same concept across languages) and multimodal (responding to the same concept in both text and images), as well as encompassing both abstract and concrete instantiations of the same idea (such as code with security vulnerabilities, and abstract discussion of security vulnerabilities).

Hier sieht man die Aktivierungsstärke pro Token einiger ausgesuchter Semantiken.

Semantik ist klebrig, aber eben auch klumpig und die Klumpen bilden Meta-Klumpen und Meta-Meta-Klumpen: von Tokens zu Worten, von Worten zu Konzepten oder Features, und ich schätze, das geht bei den großen Modellen bis zu Methoden, Theorien, Ideologien und Perspektiven? Würde man „Neoliberales Denken“ als Feature isolieren, färbte es das FDP-Programm rot.

Ich stell mir das so vor, dass der Latent-Space der LLMs eine Art riesiger Fußabdruck unserer menschlichen Semantiken ist. So wie der Fußabdruck den dreidimensionalen Fuß nicht abbilden kann, so fehlt auch dem Latent-Space der LLM ein Großteil der Dimensionen menschlicher Erfahrung: Die Signale unseres Körpers, die begleitenden Reflexionsschleifen unseres Bewusstseins und unser vielfältiges Eingewobensein in die Welt steht den Maschinen nicht zur Verfügung. Die Welt der Maschinen ist flach und weit und die der Menschen tief und dafür enger?

Und das Beste an dieser Erkenntnis ist, dass das bedeutet, dass ein Großteil dessen, was wir Intelligenz nennen, nicht in unseren grauen Zellen, oder in den H-100-Clustern der Cloudanbieter steckt, sondern außerhalb von uns – in der Sprache, in unseren geteilten Semantiken – existiert.

Und deswegen bin ich mir auch so sicher, dass AGI kein Problem ist. Denn jede künstliche Intelligenz – egal, wie groß die Datenmenge, egal ausgefeilt die Algorithmen und egal wie viele GPUs dafür durchgenudelt werden – bleibt immer in einem nie perfekten Abdruck unseres menschlichen Semantik-Spaces gefangen. LLMs sind mit uns gefangen in der Sprache; auch sie können genauso wenig wie wir Dinge denken, für die ihnen die Semantiken fehlen. Wittgenstein hatte also schon vor über 100 Jahren die Alignmentforschung verabschiedet, als er feststellte:

„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“


Diese Woche ging das Share-Pic „All Eyes on Rafah“ viral und überall diskutiert man warum.

Ich habe es nicht geteilt. Nicht, dass ich die dahinterliegende Botschaft nicht absolut dringend hätte teilen wollen, aber das offensichtlich als KI-generiert zu erkennende Bild schien mir dafür irgendwie … unangemessen?

Dennoch verfolgte es mich tagelang durch Instagram und daher bin ich dankbar, dass Ryan Broderick sich daran gemacht hat, der Sache auf den Grund zu gehen und anscheinend kommt das Bild von einem eher unbekannten und unauffälligen malayischen Account namens shahv4012.

Die Herkunft des Bildes ist aber weniger wichtig, als die Frage, warum es so viral ging? Und dafür umreist Broderick einmal kurz den Zustand unserer digitalen Öffentlichkeit:

Right now, X is the only social platform that isn’t actively suppressing uncensored content from Gaza. And, unfortunately, no one really uses X anymore. Everywhere else, there are either graphic content warnings or algorithmic limiters placed on any posts about the conflict. Instagram does have AI-generated content warnings, but the platform does not seem to be enforcing them as aggressively on Story content, which is primarily how this thing is spreading.

[…]
So if you’re desperate for a super concise explanation as to how this random Malaysian user ended up creating the Post Of The Moment, it’s because they basically managed to do the impossible. They generated a pro-Palestine solidarity image vague and abstract enough to bypass both censors and filters on one of the biggest remaining social networks that real people still use.

Schon letztes Jahr kam heraus, dass Meta systematisch pro-palästinensische Bezugnahmen zensiert, dazu kommen Moderationsregeln zu Gewaltdarstellungen und das vieldiskutierte allgemeine Downranking politischer Inhalte.

Was Broderick aber übergeht, ist ein zweiter, ich würde behaupten, noch strengerer Filter. Ich nenne ihn mal Semantische Verbotsstrukturen, wobei „Verbot“ eigentlich schon zu viel ist, denn sie funktionieren eher wie als „gefährlich“ markierte Gewässer, die die meisten Leute freiwillig versuchen, weiträumig zu umschiffen. Und diese „gefährlichen Gewässer“ sind gerade beim Nahostkonflikt weitläufig und vielfältig.

„All Eyes on Rafah“ wurde vor allem deswegen so viral geteilt, weil es sich den Leuten, die ein Mindestmaß an Solidarität mit den Palästinensern auszudrücken wollten, als einer der wenigen sicheren Pfade durch diese gefährlichen Gewässer anbot. Das belanglose KI-generierte Bild und der nichtssagende aber doch dringlich wirkende Spruch ist (wahrscheinlich?) nichtmal durch Felix Klein angreifbar?

Und so gab das Sharepic all jenen ein Ventil, ihre Erschütterung über die Ereignisse in Rafah auszudrücken, die sich nicht kompetent oder mutig genug fühlten, echte Fotos zu posten, oder konkrete Forderungen zu formulieren.

„All Eyes on Rafah“ erzählt uns nichts über Gaza, aber alles über unsere in Trümmern liegende Öffentlichkeit.


Auf der re:publica hat Johnny Haeusler Anna-Lena Baerbock interviewt, was ich leider verpasst hatte, weil ich mir unbedingt tantes großartigen Talk ansehen wollte, habe ihn aber auf Youtube nachgeholt.

Im Letzten Jahr durfte Olaf Scholz sogar seine eigene Interviewerin mitbringen, dieses Jahr gab es eben Softballs für die Baerbock. Ja, Johnny ist kein Journalist aber ich finde die Außenministerin in so einer Situation zum sanften Plausch zu bitten trotzdem unangemessen? Ich finde, das steht einer Konferenz, die sich immer auch als Ort der kritischen Öffentlichkeit verstanden hat, nicht gut.

Ich verlinke das Interview hier aber dennoch, denn während Baerbock ihre Semantiken voll im Griff hatte, traten die oben erwähnten diskursiven Verbotsstrukturen full on Display, als Johnny die Ereignisse in Israel/Gaza wie folgt zusammenfasste:

„Wir haben am 7. Oktober im letzten Jahr einen bestialischen Terrorangriff auf die israelische Zivilbevölkerung erlebt und danach … eine weitere Eskalation in dieser Gegend.“

Um es gleich zu sagen: Nein, ich glaube nicht, dass sich hier Johnnys unterschiedlicher Maßstab für Terror und Leid bei Israelis vs. Palästinenser Bahn bricht. Johnny ist kein Rassist.

Wenn man genau hinschaut, sieht man stattdessen, wie ein wahnsinnig nervöser Steuermann beim Navigieren „gefährlicher Gewässer“ scheitert. Dröseln wir das mal auf:

Zunächst sichert sich Johnny ab, indem er den Terrorangriff vom 7. Oktober in den schärfsten Worten verurteilt. Das ist schon zu einer Art Ritual geworden und meine Vermutung ist, dass Johnny das beim Formulieren selbst auffällt, weswegen er versucht eine rhetorische Schippe draufzulegen. Doch dann kommt der Moment, in dem er merkt, dass er, gerade weil die Einleitung so scharf formuliert war – „bestialisch!“, „Zivilbevölkerung!“ – den weiteren Hergang und Israels Rolle darin nicht weniger drastisch schildern kann?

Menschen formulieren wie LLMs Wort für Wort (allerhöchstens Halbsatz für Halbsatz) und wie bei LLMs determiniert auch in menschlichen Formulierungen das Gesagte das noch zu Sagende. Semantik ist eine komplexe Landschaft mit Höhen und Tiefen, in der eben nicht alle Pfade gleichwahrscheinlich sind, jedenfalls, wenn wir verstanden werden wollen. Und diese Eigenlogik der semantischen Landschaft beschränkt und leitet unser Denken und Sprechen – natürlich nicht komplett und das merkt man an Johnnys Zögern, denn das ist der Punkt, an der er seine anfängliche Pfadentscheidung bereut und verzweifelt nach einem Ausweg sucht.

Sein Problem ist folgendes: Eine dieser semantischen Eigenlogiken gebietet, dass man den 7. Oktober nicht in solch scharfen Tönen beschreiben und dann einfach in eine neutrale und sachliche Sprache übergehen kann, wenn man über die 40.000 palästinensischen ja ebenfalls größtenteils zivilen Opfer sprechen will. Das wäre schlicht kein konsistenter Satz?

Doch der verbleibende Pfad würde notwendigerweise den Begriff „Israel“ mit irgendeinem scharfen Adjektiv und „toten Zivilist*innen“ in einen Satz pressen müssen und deswegen blinkt über ihm ein riesiges Warnschild: Achtung! Achtung! Antisemitismusgefahr!!!

Ich schätze, da ist Johnny halt auf die Bremse getreten und hat diese supergefährlichen Gewässer einfach dadurch umschifft, dass er den israelischen Massenmord in Gaza als „weitere Eskalation in dieser Gegend“ entakteurisiert und passiviert.

Ich schreibe das nicht, um Johnny vorzuführen und das wäre auch Quatsch, denn diese Verbots-Strukturen betreffen uns alle mehr oder weniger und sie sind insbesondere im linksliberalen und ansonsten meist kritischen Milieu besonders mächtig. Ich finde das ist ein riesiges Problem, und niemand traut sich, darüber zu sprechen.


Neven Mrgan findet viele plastische Vergleiche dafür, wie es sich anfühlt, eine ki-generierte E-Mail von einem Freund zu bekommen. Einer davon lautet:

It felt like getting a birthday card with only the prewritten message inside, and no added well-wishes from the wisher’s own pen. An item off the shelf, paid for and handed over, transaction complete.

Im Boecklerpaper hatte ich gefragt:

Es ist vielleicht nicht offensichtlich, aber der Aufwand einer Kommunikation ist immer auch Teil der Kommunikation. Dass sich jemand die Mühe macht, einen Brief zu tippen oder auch nur eine E-Mail, verleiht der Kommunikation eine gewisse Bedeutungsschwere und führt dazu, dass wir sie überhaupt ernst nehmen. Doch was passiert, wenn dieser Aufwand verschwindet oder er zumindest nicht mehr als solcher empfunden wird?

Ich glaube, wir verstehen jetzt besser, welche Art des Aufwandes wir vermissen.

Eine wichtige Dimension, die den LLMs derzeit noch fehlt, ist der Einbezug des Gegenübers der Kommunikation beim Navigieren der Semantiken. Wenn wir Menschen jemandem schreiben, wägen bei jedem Wort unser Verhältnis zum Adressaten ab. Wir beziehen unsere Gefühle und Gedanken dem Anderen gegenüber beim Schreiben mit ein. Jedes Wort einer E-Mail verhandelt auch immer die Beziehung zwischen Menschen.

Klar, das sieht man den meisten E-Mails oder Textnachrichten nicht an, denn auch ohne ChatGPT haben wir uns in vielen Kontexten eine zu persönliche Note abgewöhnt? Aber dass diese Bezugnahme beim Schreiben stattfindet – auch oder gerade wenn man sie gar nicht herausliest – ist uns dennoch wichtig.

Denn wenn ich erfahre, dass diese Bezugnahme beim Schreiben nicht stattgefunden hat, dann hat sie auch nichts mit mir zu tun. Und wenn diese Nichtbezugnahme auch noch von einem Freund/einer Freundin kommt, dann kann das besonders kränkend sein.

Und das ist es auch, warum es sich so anders anfühlt, einen Newsletter zu schreiben, statt in die Welt hinaus zu bloggen. Die Dimension des Adressaten eröffnet eine kleine, aber nicht unbedeutende Verantwortungsübernahme und die fließt als unterschwellig mitlaufende Bezugnahme in jeden meiner Semantikpfade ein.


Die taz fasst die Ereignisse rund um die Vorwürfe gegen die berliner TU-Präsidentin Geraldine Rauch einigermaßen unfallfrei zusammen. Wer es nicht mitbekommen hat: Eine Reihe von Medien, Politiker*innen und Journalist*innen fordert seit Tagen ihren Rücktritt für das Liken. Eines. Tweets.

Eines Tweets, der neben dem völlig unproblematischen Text auch ein Bild einer Demo zeigt, auf dem ein Plakat zu sehen ist, in das man, wenn man sehr, sehr genau hinschaut, Symbole erkennen kann, die man, wenn man es ganz doll will, antisemitisch auslegen kann, zumindest, wenn man der IRHA-Definition von Antisemitismus anhängt.

Rauch musste sich jedenfalls tatsächlich entschuldigen und ich bin einfach so gespannt, wie man auf diese Zeit in 10 Jahren blicken wird?

Ich geb es zu, ich bin enttäuscht von Johnny, ich hätte mir mehr Mut gewünscht, aber auf der anderen Seite sehe ich auch, wovor er Angst hat? Diese Angst ist derzeit berechtigt, denn offensichtlich kann jede propalästinensische oder israelkritische Bezugnahme einen den Job kosten, wenn man nicht super der Experte ist und alles doppelt, dreifach und vierfach prüft?

Ich bin nicht wirklich sauer auf Johnny, sondern auf uns, die sich mal als „kritisch“ verstanden habende Öffentlichkeit, dass wir dieses Klima zugelassen haben.


Ich weiß nicht, welches Maß an Courage es bedeutet hätte, Baerbock auf die Waffen anzusprechen, die Deutschland in enormen Ausmaß an Israel liefert, vor allem seit dem 7. Oktober. Aber irgendwie hätte ich mir das trotzdem gewünscht? Der NDR vom April:

2023 sind diese Exportgenehmigungen auf den Gesamtwert von 326 Millionen Euro gestiegen. Das ist zehnmal so viel wie im Vorjahr. Die Zahlen gab die Bundesregierung auf Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen (BSW) bekannt.

Gewehrmunition, Schulterwaffen, Radfahrzeuge, Elektronik und Kriegsschiffe – das genehmigte Arsenal geht quer durch das Spektrum des modernen Kriegshandwerks. Deutschland ist nach den Vereinigten Staaten der zweitwichtigste Waffenlieferant für Israel. Die Bundesregierung unterscheidet dabei zwischen „Kriegswaffen“ und „sonstigen Rüstungsgütern“, eine Differenzierung, die von Kritikern als künstlich bewertet wird. Denn ein Dieselmotor für einen Panzer oder Steuerungselektronik für Drohnen (sonstige Rüstungsgüter) dienen ebenso der Kriegsführung wie Panzerfäuste (eine Kriegswaffe).

Mir geht es gar nicht darum, das zu skandalisieren, denn ich nehme den Politiker*innen ab, dass sie die Brutalität des israelischen Gegenschlags nicht haben kommen sehen (auch wenn das natürlich reichlich naiv war). Mir geht es darum, zu betonen, welch riesigen Hebel die Bundesregierung als zweitgrößter Waffenexporteur Israels hätte, um ihrer Kritik am israelischen Vorgehen Nachdruck zu verleihen.

Dieser große Hebel macht uns direkt mitschuldig an allem, was gerade in Gaza geschieht und mit „uns“ meine ich nicht nur die Bundesregierung, oder irgendwie „Deutschland“, sondern ganz konkret uns, die Öffentlichkeit und noch genauer: uns deutsche, weiß gelesene Öffentlichkeit.

Denn solange wir die öffentliche Solidarisierung mit den Palästinensern Menschen mit dunklerer Hautfarbe überlassen, wird sich die Bundesregierung auch weiterhin die Erlaubnis geben, Israel wüten zu lassen. Und so lange wir es zulassen, dass die wenigen, die sich trauen zu widersprechen, wie Yanis Varoufakis, Nancy Fraser, die Hochschullehrer mit ihrem Brief, Masha Gessen und jetzt Geraldine Rauch medial zur Strecke gebracht werden, werden wir aus diesem Alptraum so schnell nicht wieder erwachen.


Einen Alptraum, den Moshe Zuckermann in seinem Deutschlandfunkkultur Kommentar gekonnt auf den Punkt bringt:

Versucht man all dies aber im heutigen Deutschland zur Sprache zu bringen und öffentlich zu erörtern, wird man sofort bezichtigt, antisemitisch beziehungsweise von “jüdischem Selbsthass” angefressen zu sein. Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung entblödete sich nicht, den Antisemitismus selbst einem kritischen jüdischen israelischen Bürger anzuhängen. Man kann sich zunehmend des Gefühls nicht erwehren, dass etwas mit der anfangs vielversprechenden Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit schiefgegangen ist.


Ich war nicht singen dieses Jahr. Ich hab drüber nachgedacht hinzugehen, weil ich dabei sowieso meistens weinen muss und vielleicht war das ja ein Ort meiner Trauer nachzugeben? Ich verwarf den Gedanken schnell, denn meine Tränen hätten sich dort einfach falsch angefühlt.

Es gab ein paar wenige Leute, die meine Sorgen teilten und machmal saßen wir zusammen, um uns über unsere Sprachlosigkeit gegenüber dieser Verdrängungsleistung auszutauschen, die uns umgab. Mit jedem Tag bekam ich mehr das Gefühl auf einer Verdrängungskonferenz zu sein und es fiel mir schwerer, überhaupt hinzufahren.

Ich weiß nicht, wie es weitergeht und ob ich nochmal auf eine re:publica gehe oder wie sie aussehen müsste, damit ich das tue. Aber eines weiß ich ganz sicher: jemand müsste mal caren.

Krasse Links No 17.

Willkommen zu Krasse Links No 17. Kramt Eure Titel hervor, heute antworten wir der Infrastruktur!


Die schon letzte Woche besprochene Veröffentlichung von GPT-4o hatte diese Woche ein interessantes ein Nachspiel, als sich Scarlett Johansson zu Wort meldete und berichtete, dass Sam Altman sie persönlich seit Monaten bequatscht, doch bitte ihre Stimme für die Demo zur Verfügung zu stellen, was sie aber immer wieder ablehnte. Entsprechend schockiert sei sie gewesen, als die Stimme in den GPT-4o-Demos ihrer so zum Verwechseln ähnlich klang.

Es gibt eine Stellungnahme von OpenAI, die behauptet, dass es ein unglückliches Versehen war – angeblich wurde parallel zu Altmans Avancen jemand mit ähnlicher Stimme gecastet? Purer Zufall, würde ich sagen.

Wie die Chancen eines Gerichtsprozess für Johannson stehen, hat derweil die Wired recherchiert (Überraschung: es ist kompliziert) und Brian Merchant fragt sich mal wieder, was das alles über die Industrie als solches aussagt:

As such, OpenAI itself is an engine that runs on entitlement — entitlement to nonconsensually harvest and reappropriate the works of millions of writers, coders, artists, designers, illustrators, bloggers, and authors, entitlement to use them to build a for-profit product, entitlement to run roughshod over anyone at the company who worried it has betrayed its mission of responsibly developing its products. Entitlement to copy the voice of one of the world’s highest grossing movie stars after she said no.

I think this explains a lot, really: so much of the promise of generative AI as it is currently constituted, is driven by rote entitlement. I want something and I want it produced, for me, personally, with the least amount of friction possible; I want to see words arranged on the screen without my having to take the time to write them, I want to see images assembled before me without learning how to draw them. I want to solve the world’s biggest problems, without bothering with politics — I have the data, I have trained the model, I should be able to! We have advanced technology to new heights, we are entitled to its fruits, regardless of the blowback or the laws or the people whose jobs we might threaten.

Ich finde das Wort „Entitlement“ hier sehr spannend. Wie so vieles im Englischen wurde der Begriff aus dem Französischen importiert aber er hat auch eine juristische Fallhöhe:

Entitlement is a guarantee of access to benefits because of rights or by agreement through law. It also refers, in a more casual sense, to someone’s belief that one is deserving of some particular reward or benefit. It is often used pejoratively in common parlance (e.g. a „sense of entitlement“).

Auch im Deutschen spricht man von „Eigentumstiteln“ und kommt es nur mir so vor, dass in der juristischen Bedeutung auch ein feudales Echo aus einer Zeit anklingt, als man seine Eigentumstitel noch im Namen trug?

Im Englischen Sprachraum gibt es jedenfalls Diskussionen darum, warum „Entitlement“ im politischen Sprachgebrauch auf einmal in einer abwertenden Weise verwendet wird, wo doch die originale Bedeutung zu sagen scheint: Legitimes und/oder legales Recht haben, etwas zu tun?

Ich denke, es liegt gerade daran, dass „Entitlement“ auf eine angeblich unhinterfragbare Erlaubnisstruktur referenziert, die vorgibt, alle offenen Fragen für immer geklärt zu haben. Das Problem mit Entitlement ist, dass der Entitlete glaubt, niemandem mehr antworten zu müssen.

Deswegen macht die Johansson-Episode unabhängig von der legalen Situation deutlich, wozu OpenAI sich im Umgang mit Kreativen die Erlaubnis gibt. Und angesichts des öffentlichen Aufschreis scheint die Botschaft auch angekommen zu sein?


Quasi zeitgleich mit OpenAI hatte Google seine KI-Entwicker*innen-Konferenz abgehalten und das World Wide Web, wie wir es kennen, verabschiedet. Google will die Suche anscheinend komplett durch ihre LLMs ersetzen und wie Casey Newton schreibt, damit das Web mit sich selbst:

„And now that LLMs promise to let users understand all that the web contains in real time, Google at last has what it needs to finish the job: replacing the web, in so many of the ways that matter, with itself.“

Kurz zusammengefasst erfolgt diese Ersetzung in drei Schritten:

  1. Erstelle eine lossy komprimierte Kopie des Internets.
  2. Ersetze die Suche im Internet mit fehlerbehafteten Semantikpfaden innerhalb der lossy Kopie.
  3. Lass die lossy Kopien das Internet in einem Tsunami an generativen Bullshit versinken, so dass es kein Zurück mehr gibt.

An dieser Stelle fühle ich mich entitled genug, mir hier etwas Eigenwerbung zu erlauben, denn das neue Akzente-Heft beschäftigt sich mit generativer KI und ich habe einen Beitrag über KI und Demokratie drin, den man auch hier nachlesen kann. Meine These ist, dass KI ein Coup ist und der Coup besteht darin, gesellschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse im Silicon Valley zu konzentrieren:

„Die Transformation durch generative KI setzt sich bis in die Tiefe der gesellschaftlichen Abhängigkeitsstrukturen fort. Schon jetzt sinken die Abhängigkeiten beispielsweise gegenüber den Leistungen von Übersetzern, Grafikern, Programmierern und Textern, und mit zunehmender Mächtigkeit der Modelle werden immer mehr Kompetenzen und Berufsfelder ihre Verhandlungsmacht einbüßen. Nimmt man die Ziele und Prognosen der KI-Unternehmen ernst, dann muss man davon ausgehen, dass sich die arbeitsteilige, funktional differenzierte Gesellschaft in den nächsten Jahren komplett entflechten wird. In der Öffentlichkeit wird in dieser Hinsicht immer nur von den möglichen oder tatsächlichen Arbeitsplatzverlusten geredet – es wird aber nicht thematisiert, dass diese reduzierten Abhängigkeiten durch eine entsprechend erhöhte Abhängigkeit von den Tech-Unternehmen erkauft wird. Alle Macht, so scheint es, konzentriert sich gerade im Silicon Valley.“

Der Text ist bereits vor einigen Monaten entstanden und mein Denken hat sich insofern weiterentwickelt, dass ich diese Machtkonzentration heute nicht mehr ohne den Kontext der ideologischen Verrenkungen im Silicon Valley denken kann, die zwar in dem Text anklingen, aber nicht tiefer wurden ausgeführt wurden.

Aber wenn mächtige Menschen Ideologien adaptieren, muss man immer als erstes fragen: Wozu geben sie sich damit die Erlaubnis? Und allein im Fall von Longertermism, der imaginierte Trilliarden simulierte oder biologische Seelen der Zukunft höher wertet, als alles heutige Leben auf der Erde, ist die Antwort: eine Carte Blanche für alles? Insbesondere für jede Form von Bevölkerungszurichtung?


Wo wir bei Eigenwerbung waren. Die Macht der Plattformen war ja ebenfalls meine Dissertation, aber die original abgegebene Fassung weicht noch mal in einigen Details vom letztlich gedruckten Buch ab, weswegen ich mich entschlossen habe, auch die originale Dissertation zur Verfügung zu stellen. Hier kann man sie runterladen.

Sie weicht eigentlich nur in wenigen Details ab, aber diese Details sind vielleicht doch noch nützlich? Ich persönlich finde die Ausführungen in Kapitel 6 zur formalen Beschreibung der Plattformmacht ab Seite 193 besonders empfehlenswert. Aber auch in Kapitel 4 gibt es eine interessante Stelle, an der ich über die enge Verflechtung von Googles Kontroll-Regimes mit dem Web schreibe, die es nicht in die Printausgabe geschafft hat:

„Offiziell wacht heute das World Wide Web Consortium (WWDC) über das Infrastrukturregime, aber der Einfluss von großen Playern wie Microsoft (früher) und Google (heute) ist enorm und schlägt zuweilen die Macht der offiziellen Organisation. Entscheidender aber ist der implizite Einfluss, den Google durch seine Suche auf das Infrastrukturregime hat. Da alle Websites gefunden werden wollen, halten sie sich bei der Konstruktion ihrer Websites sklavisch genau an die von Google publizierten „Empfehlungen“.

[…]
Mit Chrome, Blogger.com, AMP und vielen anderen Diensten und Projekten stellt Google heute zumindest auch einen Teil des Zugangsregimes zu bestimmten Tätigkeiten im Web, aber es ist weit davon entfernt, es unter Kontrolle zu haben.

Wichtiger ist deshalb, dass Google es geschafft hat, sich als das primäre Query-Regime des Webs zu etablieren. Wie die meisten Protokollplattformen hat das WWW kein eigenes Query-Regime, und genau in diese Lücke ist Google erfolgreich gesprungen. Hier liegt Googles eigentliche Machtbasis, und es ist der strategische Ausgangspunkt, von dem aus der Konzern seine Macht über das Web sukzessive ausweitet.

Man könnte argumentieren, dass Google mit seiner Suche darüber hinaus zum Interface- Regime des Webs wird, da sie oft der Startpunkt für viele Verbindungen ins Web ist. Zudem kontrolliert Google mit dem populärsten Browser (Chrome) auch einen anderen wesentlichen Teil des Interface-Regimes. Um ihre Suche als Standardsuche in anderen Browsern zu platzieren, zahlen sie zudem jedes Jahr viele Millionen Dollar an Apple und Mozilla. Doch es spricht auch einiges gegen ein umfassendes Interface-Regime durch Google. Denn sobald man sich tiefer ins Web reinklickt, werden die Interfaces so vielfältig wie die Websites (jede Website ist ebenfalls ein Interface), auch wenn sich über die Zeit bestimmte Designmuster etabliert haben. Das Web ist eine der wenigen Plattformen, bei denen das Interface-Regime in weiten Teilen aus Konventionen besteht.

[…]

Es wäre sicher übertrieben zu sagen, dass Google das Web kontrolliert, wie Facebook seine Plattformen kontrolliert. Aber das Unternehmen ist erstaunlich erfolgreich in alle Kontrollebenen des Webs hineingewachsen und macht einen Großteil von dessen Kontrollregimes aus.

Eva von Redecker beginnt ihr großartiges Buch „Revolution fürs Leben“ mit dem „Stutenberg“ und dessen Legende geht so: Der König wies im 15. Jahrhundert einem Ritter Land zu, wobei sich der Umfang des Guts danach richtete, was der Ritter an einem Tag umreiten konnte und er umreitet so viel Land, dass die Stute am Ende des Ritts tot umfällt. Eva schließt:

„Modernes Eigentum berechtigt den Besitzer nicht nur zur Kontrolle und Gebrauch, sondern auch zu Missbrauch und Zerstörung derselben.“

Offensichtlich fühlte sich Google entitled dazu, das Web todzureiten?


Matt Alt ist Übersetzer und „Localizer“. Ich kannte den letzten Beruf nicht, aber es geht dabei vor allem um das Übertragen von Manga-Comics in andere Sprachen. Man spricht von „Localization“, weil nicht nur die Sprache übersetzt werden muss, sondern größtenteils auch die Bilder. Sein Text erklärt sehr gut wie diese Arbeit von Statten geht und warum sie kaum von generativen KIs geleistet werden kann. Ich fand aber vor allem eine Metapher bemerkenswert:

Perhaps a better way of looking at things is that localization is the linguistic equivalent of the last-mile problem. When it comes to logistics, the most expensive part of the shipping process isn’t getting widgets from China to America, or from port to warehouse. It’s that last little bit from distribution center to the customer’s home. A similar effect is at work with localization of manga and other forms of content.

The expense of translating all those words represents a juicy target for tech solutions. But manga are made by people, for people, and people are always going to play the key role in bringing them to life for customers.

Die letzte Meile ist immer die teuerste, weil dort, wo gesprochen wird, die Semantiken am dichtesten sind. Gesprochen wird nämlich immer an einem konkreten Ort, unter konkreten materiellen Bedingungen und in einem sehr bestimmten zeitlichen und inhaltlichen Kontext. Das „Local“ in „Localization“ bezieht sich auf so viel mehr, als nur Geographie.


Katharina Hoppe hat einen lesenswerten Aufsatz veröffentlicht: „Das „Prinzip Antworten“: Eine postapokalyptische Theorie der Verantwortung für das Anthropozän.“ Sie arbeitet sich am Anthropozän-Diskurs ab und orientiert sich dabei an der Verantwortungsethik von Hans Jonas. Jonas‘ etwas unterentwickeltem Verantwortungbegriff wird dann Haraways Begriff gegenübergestellt, der Verantwortung als ständige Rücksprachebereitsschaft definiert. Dazu nimmt Hoppe den Faden des neuen Materialismus auf und begreift unsere materiellen Abhängigkeiten als Akteure, die nach unserer Antwort rufen:

„Viele der zur Antwort rufenden Objekte im Anthropozän lassen sich vor diesem Hintergrund charakterisieren als weitgehend unsichtbare und in ihrer Notwendigkeit für die Reproduktion von Gesellschaften verleugnete konstitutive Beziehungsgeflechte, die manche Lebensstile und Daseinsformen ermöglichen und andere ausschließen. Abhängigkeitsbeziehungen sind dabei jene Relationen, die dem Weiterbestehen von Gesellschaften dienen und deren Wegfall (existenziell) spürbar ist, weil ihr Schwinden Selbstverständlichkeiten infrage stellt oder sogar Zusammenbrüche evoziert.

Abhängigkeitsverhältnisse – verstanden als unsere konstitutiven Verwobenheiten mit heterogenen (gerade auch nicht-menschlichen) Anderen – sollten nicht erst in die Krise geraten müssen, um als ethisch und politisch relevant zur Kenntnis genommen zu werden.“

Hoppe beschreibt hier sehr schön, was „Infrastruktur“ in Wirklichkeit ist. Infrastruktur ist eine Logik, die eben nicht nur auf Autobahnen und Glasfaserleitungen Anwendung findet, sondern auf alle materiellen Abhängigkeiten, deren Rufe nach Antwort wir vor lauter Entitlement nicht mehr hören. Bis es eben RUMS macht.

Hoppe plädiert deswegen für einen „Ethischen Realismus“, der die Vielfalt der Abhängigkeitsverhältnisse im Reden über die Freiheit mitdenkt:

„Die Konfrontation mit Notwendigkeit und Abhängigkeit ist im Kern realistisch. Ein ethischer Realismus, der Freiheit von der Notwendigkeit her begreift, ist im Anthropozän von besonderer Bedeutung,
[…]
Die Fülle der Freiheit zu leben und zu ertragen, hieße, sich auf die Abhängigkeitsverhältnisse einzulassen, die „uns“ ausmachen, und sie als solche zu gestalten. Ohne eine solche Konfrontation bleiben Freiheitsversprechen im Anthropozän ebenso leer wie Verantwortungsübernahmen, die einer Logik der Berechenbarkeit verhaftet bleiben.


Die Sofwareentwicklerin Jennifer Moore hat einen sehr lesenswerten Essay über die Nutzung von LLMs in der Programmierung veröffentlicht. Was viele außerhalb der Software-Branche vielleicht nicht wissen: im Gegensatz zu fast allen anderen Einsatzbereichen ist der Nutzen von LLMs in der täglichen Programmierarbeit nicht wegzudiskutieren. Gerade wenn es um Standardssituationen geht, nimmt einem die LLM viel Tipparbeit ab und reduziert die Notwendigkeit, Dinge ständig nachschlagen zu müssen. Natürlich grätschen Halluzinationen und Bullshit immer wieder rein, aber mit einiger Erfahrung bekommt man das schon halbwegs gemanaged.

In der zweiten Hälfte des Textes arbeitet Moore einige systemische Probleme ab, die sich aus der Nutzung von LLMs ergeben. Insbesondere weist sie auf die Tatsache hin, dass Code schreiben eben nur ein kleiner Teil von Software-Entwicklung ist.

„Non-trivial software changes over time. The requirements evolve, flaws need to be corrected, the world itself changes and violates assumptions we made in the past, or it just takes longer than one working session to finish. And all the while, that software is running in the real world. All of the design choices taken and not taken throughout development; all of the tradeoffs; all of the assumptions; all of the expected and unexpected situations the software encounters form a hugely complex system that includes both the software itself and the people building it. And that system is continuously changing.

The fundamental task of software development is not writing out the syntax that will execute a program. The task is to build a mental model of that complex system, make sense of it, and manage it over time.“

Das „Managing over time“, die Maintanence, hält das System der Welt gegenüber verantwortlich, indem es sich verändernden System- und Bedürfnis-Umwelten antwortend macht. Und das ist der am Ende wirklich kompliziert zu organisierende Part und den kann keine KI bisher leisten. Im Gegenteil: Dieser Verantwortung wird immer schwerer nachzukommen sein, je mehr Code ki-generiert ist? Zudem wird es langfristig dazu führen, dass die Code-Ökosysteme auseinander fallen, weil Bibliotheken und Frameworks plötzlich immer weniger Sinn machen, wenn eh alle ihren Code generieren lassen?

Der Entwickler Paul Cantrell, über dessen Empfehlung ich auf den Artikel stieß, ergänzt:

Code is cost. It costs merely by •existing• in any context where it might run. Code is a burden we bear because (we hope) the cost is worth it.

What happens if we write code with a tool that (1) decreases the cost per line of •generating• code while (2) vastly increasing the cost per line of •maintaining• that code? How do we use such a tool wisely? Can we?

In der Softwareentwicklung spricht man auch von „Technical Dept“, also technologischen Schulden, wenn ungewarteter, vielleicht sogar unwartbarer Code irgendwo im Unternehmen immer noch in Verwendung ist. Und diese Schulden könnten durch KI nun ins Astronomische schießen, wenn ambitionierte Manager*innen ihre Programmierer*innen unter Druck setzen, immer mehr unwartbaren Bullshit-Code zu generieren.


Die Tagesschau gibt einen interessanten Einblick in die Arbeit des S-Bahn-Reinigens.

Die Reinigung erfolgt bis heute per Hand. Von Putzrobotern oder moderner Reinigungstechnik kann Peter Svetits nur träumen. „Ich wüsste gar nicht, was die menschliche Hand, das menschliche Auge so ersetzt, wie es derzeit benutzt wird“, sagt er. Akkugeräte hätten oft nur eine Laufzeit von drei Stunden – müssten aber acht Stunden durchhalten. Außerdem müsse die Technik leicht sein, da sie von Zug zu Zug getragen wird. So etwas gehe nur mit Besen und Wischmopp. Und Mehmet Yetis legt sogar noch nach: „Ich bin mir sicher, dass die nächsten hundert Jahre noch per Hand gereinigt wird.“

Überall ruft die letzte Meile zur Antwort und die KI bleibt stumm.



Im Chartbook Newsletter diskutiert Adam Tooze die „Vision“, die Netanyahu für ein zukünftiges Gaza vorgestellt hat: Gaza 2035.

„Vision“ ist tatsächlich übertrieben, denn was er vorgestellt hat, ging über ein paar KI-genrierte Bilder und ein neoliberalen Bullshitvokalbeln nicht hinaus. Kurz zusammengefasst: Er will aus Gaza eine Art Freihandelzone machen und alles mit hypermoderner „Infrastruktur“ vollstellen.

Netanyahu’s Gaza 2035 is a plan, to complete the erasure of Gaza. In it place the Israeli government envisions a mega-rich, clone of a globalized commercial and industrial city, somewhere between Chicago – what historian William Cronon described as Nature’s Metropolis – and Dubai.

Das ganze soll dann eingebunden werden in allerlei Schienennetze, unter anderem mit Dubai und dem Quatschprojekt Neom. Tooze schreibt:

Given its physical properties, infrastructure, is a preferred tool of the rich and the powerful. They selectively lock in political and geopolitical conflicts, giving them monumental form, whilst suppressing and concreting over the most intractable issues, e.g. the Palestinian question.

Infrastruktur um Verantwortung zu planieren? Doch natürlich ist es am Ende viel einfacher:

„Or visions like Gaza 2035 may act as an diversion, conjuring up harmonious regional infrastructure visions, whilst settlers and their bulldozers move in on the ground.“