Es fühlt sich gerade an, wie der Showdown der Informationsethik. Die Frage nach der Transparenz und ihrer Grenzen hämmert auf mich ein. Ich bin noch nicht fertig damit. Weder mit meiner persönlichen Ethik in der Sache, noch beim durch denken der grundsätzlichen Fragen. Ich fühle mich derzeit wie eine Nußschale im eigenen Theorieozean, die oft hilfloser in den Ereignissen herumrudert, als jeder andere. Kontrollverlustverlust…verlustverlust… – Ach.
Da wäre Martin Weigert, der die Frage stellt, die in meinem letzten Posting implizit versteckt ist, die ich mir aber nicht traute, explizit zu machen.
Braucht es vielleicht das Geheimnis? Für unser Zusammenleben? Für den gesellschaftlichen und technologischen Fortschritt? Gar für die Freiheit? (Ich muss zum Beispiel an Hoffmann von Fallersleben’s „Die Gedanken sind frei“ denken. Der zweite Teil des Satzes, der die Begründung der Gedenkenfreiheit liefert, bezieht sich auf das Geheimnis: „… keiner kann sie erraten.„)
Das Paradox ist auch in Wikileaks selber angelegt: die Verbindung von dem Zwang zur absoluten Anonymität und das beständige Beharren der Macher auf die Vorteile der Transparenz machen Wikileaks zum neuralgischen Punkt der Frage nach einer neuen Informationsethik.
(Ein wenig – längst nicht angemessen – führen wir die Diskussion bei Netzwertik in den Kommentaren)
Ehtik ist immer so ein schönes Wort. Ethik beschreibt immer einen Dos & Donts Katalog, Richtschnüre für Verhaltensweisen, die man einzuhalten gebeten wird. Als ob alles eine Frage der Entscheidung wäre. Als ob uns das Internet eine Wahl lassen würde.
Selten hat mir etwas so emotional zugesetzt wie die Ereignisse in Duisburg. Ich habe viel geweint dieser Tage. Und ja. Ich habe mir alles angesehen. Ich wollte alles wissen, habe Video um Video gesehen, Bilder geklickt, Artikel und Erfahrungsberichte gelesen. Ich habe mich sprichwörtlich in den Rausch geklickt.
Und heute tauchte ein Video auf, auf das eigentlich alle gewartet haben. Es ist exakt zum Zeitpunkt des Unglücks exakt an der Stelle des Unglücks gefilmt worden. Und ab nun gibt es keine Distanz mehr. Wer wirklich hart im Nehmen ist und wer glaubt, das ertragen zu können (BITTE NEHMT DIE WARNUNG ERNST!) der kann hier klicken und ist dabei. Mitten drin.[.] (ACHTUNG: Dieses Video wird euch den Tag vermiesen, wenn nicht noch mehr)
[Link]
Ich hatte das Video schon getwittert (in Wirklichkeit geretweetet) als ich es gerade erst angestellt hatte. Und schon nach wenigen Minuten erkannte ich die Tragweite dieser Dokumentation. Und neben dem Schrecken stieg in mir das Unwohlsein ob meiner Tat auf, das Video verbreitet zu haben. War das ein Fehler? Sollte man das nicht tun? Ist das Video „falsch“? Ist es falsch, dass es sich die Leute angucken können? Oder ist es nur falsch das Video zu verbreiten? Sollten es vielleicht nur bestimmte Leute sehen? Wenn ja: wer? Wer entscheidet das?
Ich hab auf die Frage vor allem zurück bekommen, dass das Video zwar krass, aber eben die Wahrheit sei. Dass es gut sei, dass es das Video gibt, denn es trägt zur gesellschaftlichen und juristischen Wahrheitsfindung bei. Die Verantwortlichen können sich so nicht so leicht aus der Verantwortung stehlen, durch das Material. So auch Alvar Freude. So auch der Urheber des Videos, der in diesem Artikel kurz porträtiert wird.
Ich wurde aber auch von einigen – teilweise energisch – ermahnt, den Link heraus zu nehmen. Dass ich eine Verantwortung habe, gegenüber zum Beispiel Kindern, die bei mir lesen. Und natürlich ist auch der Vorwurf der Informationsgeilheit und des Voyeurismus hier nicht weit. Aber kann ich Verantwortung übernehmen für das, was andere sich angucken sollen oder nicht? Wer bin ich, dass ich Gatekeeper spielen soll/darf/muss. Vor allem heute, diesem Heute, dem ich unentwegt den Paradigmenwechsel andichte, dass es die Autonomie des Leser/Konsumenten stärkt und ihm alle Macht in die Hände spielt. Und – selbst wenn ich die Verantwortung über die Information meiner Follower annehmen sollte – welche Verantwortung wiegt stärker? Die der Schonung, oder die des Informierens?
Ich habe auf all das keine Antworten. Und ich bezweifle sogar, dass es welche gibt. Weder habe ich allgemeingültige noch auch nur persönliche, die einen irgendeinen Effekt haben. Einen Effekt auf den Kontrollverlust, der sich manchmal zu einer unbändigen Bestie geriert, die schreit und stinkt, die ungewaschen über all unsere Bedenken rollt und jede Ethik zur Theorie degradiert.
Ich habe nur Fragen. Hier eine Auswahl: Werden wir persönliche oder gesellschaftliche Kulturtechniken entwickeln mit solchen Informationen umzugehen, die weder ein Wegschauen, noch ein zwanghaftes Hinschauen sind? Werden wir vielleicht eines Tages verzweifelt kämpfen, um die Institution des Geheimnisses zurück zu erlangen, weil wir merken, dass wir mit der Wahrheit nicht umgehen können? (mir klingt Tocotronic im Ohr: „… wir brauchen dringend neue Lügen…„). Und nicht zu letzt: gibt es das? Eine gesellschaftliche oder gar Logisch-Positive Notwendigkeit des Geheimnisses und der Lüge? Und gibt es – oder sollte es geben – ein Recht auf Unwissenheit? Ein Recht verschont zu werden, von Informationen? Wie sollte man das selbst bestimmt regeln können? Sichwort: Informationsparadox.
Selten haben sich mir diese Fragen so sehr aufgedrängt wie heute. Selten hatte ich so sehr ein Gefühl der Dringlichkeit.