Europa und ich

Danke Irland. Danke, dass ihr den verkorksten Pseudoverfassung ein vorzeitiges Ende bereitet habt. Ich weiß, ihr habt vor allem aus egoistischen Motiven heraus den Vertrag abgelehnt. Das ist Euer gutes Recht. Der Vertrag war nicht gut für Irland, also für Euch.

Dennoch würde ich Euer Nein gerne, wenn auch idealistisch, meinetwegen pathetisch, uminterpretieren wollen: Ich hoffe zutiefst, Ihr habt den Vertrag auch, wenigstens ein bisschen, in Stellvertretung des gesamten europäischen Volkes abgelehnt. In einer Stellvertretung, die der Stellvertretung, die die Kommission und das europäischen Parlament für sich beansprucht (vergessen wir nicht, auch diese Damen und Herren halten sich für Stellvertreter des europäischen Volkes) ferner nicht sein könnte. Sondern ihr habt es in einer Stellvertretung abgelehnt, in der sich nicht das Volk in der Regierung spiegelt, sondern ein Volk für die Völker, deren Meinungen übergangen wurden.
Ihr wart die einzigen, die man gefragt hat. Und wenn der eine oder andere von Euch, sich in Solidarität mit allen anderen europäischen Völkern, vielleicht über diese Tatsache, diese unermessliche Arroganz, geärgert hat und es sein Stimmverhalten beeinflusst haben sollte, dann war das „Nein“ zum Vertrag, ein großer und wichtiger Schritt hin zu Europa und eben nicht weg davon.
Wir erinnern uns an das erbärmliche Scheitern der Europäischen Verfassung. Damals hieß sie noch Verfassung, weil einige Länder, ähnlich wie ihr, zur allgemeinen direkten Abstimmung aufgerufen waren. Denn eine Verfassung ist nur dann eine Verfassung, wenn sie sich ein Volk selber gibt. (Deswegen heißt die Verfassung in Deutschland bis heute „Grundgesetz“, weil es nie zur Abstimmung gelangte. Zunächst – provisorisch – der Teilung wegen und heute, weil die Politiker Angst davor haben. Angst vor uns.) 
Der Kniff, das Paragraphenwerk einfach anders zu nennen und es dann durch die Parlamente zu peitschen, hat nicht geklappt, an der einzigen Station nicht geklappt, an der das Volk gefragt wurde. Was für eine Ohrfeige!
Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich nicht mal wirklich weiß, was da alles drinsteht, in diesem Vertrag. Es soll in einer ganz schrecklichen Juristensprache verfasst sein. Ich habe keine Lust, mich damit auseinander zu setzen. Darum geht es mir aber auch nicht. Es geht um die Arroganz der Mächtigen, die jeweiligen Verfassungen der Länder über die Köpfe der Menschen hinweg, einzuschränken oder umzumodeln. Denn genau das tut dieser Vertrag.
Das heißt nicht, dass ich gegen eine europäische Verfassung bin. Ich bin sogar entschieden dafür. Ich bin für Europa und für eine engere Bindung und gerne auch für eine Verfassung. Diese Verfassung muss aber auch so heißen. Sie muss mit offenem Visier diskutiert werden und von allen Einzelstaaten per Plebiszit abgesegnet werden. Von. Jedem. Einzelnen. Ich stelle dabei bewusst keine inhaltlichen Anforderungen, denn ich weiß, dass diese ihre Richtigkeit haben werden, wenn alle Völker ihr zustimmen würden.
Ich weiß, liebe Herrschenden, das ist verdammt schwer. Ihr würdet sogar sagen, das sei unmöglich. Das glaube ich nicht, aber meinetwegen. Dann ist das halt so. Aber so sieht nun mal Euer Job aus. Wir können noch hundert Jahre warten, wenn es denn nötig ist, für eine Verfassung, die den Namen verdient. Solange Ihr Europa nur als Vehikel für unpopuläre und teils verfassungswidrige Gesetzesnormen nutzt, wird kein Volk Euch einen Blankoscheck ausstellen. 
PS: Als Tipp. Ich bin ein Fan vom Grundgesetz. Und nicht nur ich. Müsste ich dafür abstimmen, meine Stimme wäre Euch sicher.

Marktverwirrung

Da hab ich mich aber Erschrocken bei meiner SpOn-Lektüre:

Dann aber die Entwarnung im Text:

Da hat wohl ein Redakteur unsere derzeitige Wirtschaftsordnung mit der „sozialen Marktwirtschaft“ (Gott hab sie seelig) verwechselt. Kann ja passieren. 

Vielleicht lag’s ja aber auch am Auftraggeber der Studie:

 

Profiling mit Twitter, oder was ist ein Captcha?

(Nein, das hier ist kein Twitkrit)
Ist es nicht schön? Man kann es einfach so raushauen. „Ich mache jetzt Feierabend“, schleudert uns Moeffju entgegen. Einfach so. Nix besonderes, eigentlich. Genau diese Art Information, die man bei Twitter einfach so raushaut, ohne sich einen Kopf zu machen. Denn was ist schon dabei? Jeder macht doch Feierabend, irgendwann. Würde man nie drauf kommen, dass das, außer für ein paar Leute, für die es die Möglichkeit eröffnet jetzt mit dieser Person ein Feierabendbier zu trinken, irgendeine Relevanz besitzt. 

Man kann dies auch regelmäßig machen. Jeden Tag zum Feierabend dieser oder so ein ähnlicher Tweet. Für solcherart Rituale ist Twitter immer gut. Man kann das Wort Feierabend auch gleich als Tag ablegen: #Feierabend.

Und dann kommt irgendwer. Ein zukünftiger unentschlossener Kunde, ein potentieller Arbeitgeber, oder einfach nur eine Profilingagentur. Oder gar eine Web2.0 offene Profilaggregationsplattform. Und Zack wird aus den einzelnen und für sich harmlosen Feierabenden und ihrer Tweetszeitzen ein Arbeitszeitenprofil geschustert.

Es ist nicht immer sofort ersichtlich, welche Daten wir preisgeben, während wir sie preisgeben. Mit Regelmäßigkeiten und Hashtags lassen sich Daten zu Profilen verknüpfen, von denen wir heute noch gar keine Ahnung haben, welchen Komplexitätsgrad und welche Tiefe sie erreichen können.

Als Kosmar im Artikel bei den Blogpiloten von seinem Geburtstagskalender berichtete, war ich zunächst begeistert.

Ich selbst pflege zum Beispiel gerne den Twitter-Geburtstagskalender mit #hpybdy oder zeichne meinen letzten Tweet des Tages gerne mit #n8 aus.

Ist ja auch eine tolle und ebenso einfache Idee. Dass dort aber Liste für alle Leute zugänglich ist, die das für die Identifizierung ziemlich wichtige Datum des Geburtstags vieler Twitterer einfach so abrufbar macht, ist ein Datenschutzproblem. Ganz besonders dann, wenn man wie ich anonym im Netz unterwegs ist. 

Ich weiß nicht, wie weit die Profilingagenturen sind, Twitter systematisch auszuwerten. Ich weiß nur, dass das eine Datenverknüpfung ungeahnter Tiefe ermöglicht und zusammen mit anderen Daten viel tiefer und weiter in die Privatsphäre Einblick gewährt, als es einem beim jeweiligen Gebraucht bewusst ist.

Ich weiß selber noch nicht, was das alles für mich und meine Twitterei bedeutet. Ich weiß aber, dass man vorsichtig sein sollte. Vor allem, wenn man anfängt, Dinge zu standardisieren, mit Regelmäßigkeiten und Hashtags aber auch mit dem Gebrauch des Locationtags „L:“. Man kann sich noch etwas schützen, indem man auf die Interpretationsbereitschaft seiner Follower setzt und die Maschinenlesbarkeit reduziert. Man muss im Grunde in Captchas twittern.

Wobei auch das keine Sicherheit ist. Was ein Captcha ist und was nicht, ist eine Frage, die letzten Endes in einer ungewissen Zukunft entschieden wird. Und zwar von Moores Law.

Rinke und lechte Brogs

Frédéric fragt, wo sie denn bleiben, die deutschen Konservativen. Also hier in der Blogosphäre und im gesamten Web 2.0 sind sie irgendwie nicht zu finden. (Wenn man die paar rechtsradikalen Hassblogs gegen den Islam mal außer acht lässt, was ohnehin das Beste ist, was man mit denen anstellen kann.) Jedenfalls wurde mein Kommentar, den ich dort tippte, länger und länger und irgendwann zu lang. Also poste ich ihn lieber hier.

Ich möchte daran erinnern, dass die konservative Blogosphäre in den USA die letzten Jahre sogar stärker war, als die liberale („links“ gibt‘s da ja nicht). Das hat mich anfangs auch gewundert. Partizipation und basisdemokratische Ideen, die ja die Grundpfeiler der Idee des Bloggens sind, sind jedenfalls in Deutschland immer eher linke Werte gewesen.

Aber die USA tickt da eben ganz anders. Demokratie und Meinungsfreiheit – was nebenbei mit einschließt, dass die Meinung eines Einzelnen immer wichtig ist und geäußert werden sollte – ist ein Wert, den dort fast niemand anzweifeln würde, egal wie weit „rechts“ er sich befindet.
In Deutschland hingegen findet man sogar viele „Linke“, die die Legitimität von Blogs glatt in Abrede stellen wollen. Der maulkorbverpassende Richter am berühmten Hamburger Landgericht beispielsweise, wähnt sich selber links. Auch einige Journalisten, die sich sonst offen links positionieren, würden am liebsten eine Lizenz zur Meinungsabgabe fordern, wie man immer mal wieder voller Erschrecken lesen muss. Ich würde also behaupten, dass diese Art der Publizistik von Jedermann auch weiten Teilen der Linken durchaus suspekt ist.

Wenn man sich darüber hinaus die Wahlbeteiligungen bei Plebisziten in Deutschland anschaut, kann man schon daran zweifeln, dass die Meinungsfreiheit hierzulande irgendwas wert ist. Wir sind ja auch ein ziemlich einsames Völkchen mit der Tatsache, nie über unsere Verfassung abgestimmt zu haben. Und die EU-Verfassung wurde uns von Anfang an nie zur Abstimmung angetragen. Ich würde soweit gehen zu behaupten, dass ein Plebiszit zur Verhinderungen einer drohenden Diktatur wegen zu geringer Wahlbeteiligung abgelehnt werden würde. So absurd ist das nicht. Das Plebiszit zur verbindlichen Verankerung von Plebisziten in die Hamburger Verfassung ist letztes Jahr aus eben diesem Grund gescheitert.

Zieht man das alles in Betracht, so muss man zu dem Schluss kommen, dass wir Blogger innerhalb Deutschlands sowas wie Aliens sind. Und ganz erhlich: wenn ich mit einigen Offlinefreunden übers Bloggen rede, komme ich mir auch so vor. Man gerät immer in dem Verdacht sich zu wichtig zu nehmen. Bestenfalls wird es belächelt, was man tut.

Jedenfalls kann man festhalten: Meinungsfreiheit zählt hier zu Lande nicht viel. Nicht mal bei den Linken im allgemeinen, höchstens bei einer bestimmten linken Untergruppe. Wenn überhaupt jemand der Meinung ist, Meinung sei irgendwie wichtig, dann kommt er hierzulande fast ausschließlich aus einem bestimmten links-liberalen Meinungsspektrum, welches in der echten Politik so wenig vertreten ist, dass es fast keine Rolle spielt. (zu „links“ und „liberal“ hat Jens Berger mal einen schönen Artikel geschrieben) Und daraus rekrutiert sich – jedenfalls die politische – Blogosphäre fast ausschließlich.

Was habt ihr denn?

Ich blogge doch! Sogar regelmäßig.

Eigentlich

Was ist „Eigentlich“ eigentlich für ein komisches Wort? Eigentlich scheint es nur im deutschen zu geben. „Really“ im Englischen entspricht ihm nicht wirklich (not really). „Eigentlich“ macht etwas ähnliches, aber es macht es konsequenter. Während „Really“ zwar auf eine Realität hinweist, die anders ist als es scheint, impliziert „Eigentlich“ von vornherein zwei Realitätsebenen. Zwei Realitätsebenen, mit denen wir ganz selbstverständlich umzugehen wissen, die uns sprachlich seit unserer Kindheit begleiten. Die also mit der Muttermilch aufgesogen, uns tief in unser Stammhirn eingepflanzt sind, kaum mehr bewusst aber immer präsent.

Einerseits haben wir die Welt des Scheins. Die Dinge scheinen auf eine bestimmte Art und Weise klar vor uns zu liegen, sie lassen sich beobachten und bewerten, aber der Deutsche weiß bereits, dass dem ja nicht so ist.

Denn eigentlich ist es ja alles ganz anders. Die Welt der Eigentlichkeit ist die Welt der Wahrheit, genauer: der Wahrheit hinter der Wahrheit. Hier, abgetrennt von der äußerlichen Welt, regieren die verborgenen, ja, geheimen Mechanismen der Welt. Das, was nicht offensichtlich ist, hat hier seinen Platz. Das Wort „Eigentlich“ ist das Tor, das man seinem Gesprächspartner dahin öffnet.

Und hinter diesem Tor ist nichts wie es scheint. Hässliche Dinge werden plötzlich schön (Eigentlich ist es doch ganz schön), Aufgaben, an denen man noch sitzt, sind plötzlich erledigt (Eigentlich bin ich schon fertig) und widerliche Menschen werden nett (Eigentlich ist er ganz nett).

Tolles Wort eigentlich, dieses „Eigentlich“.

Matussek und die Twitteratur

Im Rahmen meiner ganz normalen Tätigkeit als Kulturblogger, habe ich es mir natürlich nicht nehmen lassen einen Kollegen zu seiner Meinung zum nächsten heißen Scheiß der Literaturscene zu befragen: zur Twitteratur. Auf der Premierenfeier zu Dorfpunks haben wir uns endlich zum Interviewtermin getroffen. Den Kollegen kennen Sie vielleicht schon, er hat auch eine kleine Videokolumne bei einem dieser neumodischen Internet-Nachrichtendienste (sowas wie Twitter, nur länger und man kann einzelne Autoren nicht entfollown) – Spiegel-Online: Matthias Matussek. Hier also mein Interview:

[Video by PickiHH]
[Dass der Lobo sich auch immer in den Vordergrund usw...]

Twitkrit

Ich glaube, es war auf Sascha Lobos Followerparty, als Bosch und ich auf die Idee zu Twitkrit kamen. Denn im Gegensatz zu den Twitterkritikern sehen wir in Twitter nicht eine Verarmung und Verrohung der Sprache, sondern dessen Gegenteil. Viele Tweets sind der Beweis dafür, dass es selten mehr braucht als 140 Zeichen. Aber natürlich nur, wenn man seine Kreativität bemüht. 

Und diese immer wiederkehrenden Fälle der kreativitätsfördernden Nanoprosa wollten wir der schnelllebigen Welt von Twitter entreißen, um ihnen einen Altar bauen und ein rauschendes Fest zu bereiten.
Als erstes nun wollen wir aber beginnen, indem wir dem Twitterer huldigen, der wie kein zweiter für das deutschsprachige Twitter steht: Kosmar.
Danach aber wird es regelmäßige Tweetkritiken geben. Etwa jeden Tag eine von unseren hervorragenden Autoren. Bosch, Picki, Bjoern Grau, Cara und meiner Wenigkeit.
Ich wünsche gute Unterhaltung.

Twitter vs. Twitter

Über Hype und Phänomen hatte ich einst im Zusammenhang mit Myspace vs. Second Life geschrieben. Es gibt einen Unterschied zwischen einem Phänomen und einem Hype. Er ist eigentlich ganz leicht zu erkennen:

Wenn man einen Dienst vor sich hat, der ganz offensichtlich highend, scraped edge, die krasseste Technologie mit den kühnsten Träumen der Menschheit zu einer super sexy multiuser Megasause in 3d vermischt, so dass sich die Berichterstattung überschlägt – aber dennoch niemand hingeht, dann hat man es mit einem Hype zu tun.

Wenn ein unscheinbarer Onlinedienst vor Wachstum und Userzahlen explodiert, ohne dass man das, was der Dienst anbietet irgendwie in sinnvolle Worte kleiden kann und es von nahezu allen Medien trotz seines Erfolgs schulterzuckend ignoriert wird, dann hat man es mit einem Phänomen zu tun.
Wenn sich in einem Raum ein Bedürfnis Bahn bricht, von dem vorher niemand wusste, dass es existiert, nicht mal die Erschaffer des Raumes selbst, dann ist es legitim vom Phänomen zu sprechen und es vom Hype zu trennen.
Don, jedenfalls, ist dennoch der festen Meinung, es bei Twitter mit einem Hype zu tun zu haben (sehr unterhaltsam). Ich bin da anderer Meinung. Als Gastautor bei den Blogpiloten.

Nachtrag: ich

Eines der eisernen Gesetze der Medienbranche unserer Branche (hihi) heißt ja: Wer in den Medien ist, der wird ab und an selber Teil der Berichterstattung. Die übliche Selbstreferenzialität derjenigen, die selber einen Film drehen und dabei gedreht werden (z.B. vom Pottblog). Was allerdings auf der re:publica der ganz normale Wahnsinn war.
Jedenfalls merkt man es: ich komme vorm ganzen Berichterstattetwerden, nicht mehr zum Berichterstatten. Denn ja, es geht noch weiter.
 

Ich bin zwar kein von Qualitätsjournalisten zertifizierter Neu-A-Blogger, wie Tristessedeluxe, habe aber auch meinen Platz an der Sonne der Qualitätsmedien gefunden. Zwar nicht im Feuilleton der FAZ, aber immerhin auf 3Sat:


(zu sehen bin ich ab 02:50 – online gestellt von Netzpolitik)
Wer jetzt denkt: Nett, der mspro ist also ein herumstehender Statist, der keinen Text, ja nichtmal eine Meinung hat, dem sei angeraten dieses Interview mit mir über Twitter bei Cem Basman zu lesen.
Aber jetzt heißt es aufpassen. Ab wann ist man eigentlich eine Person der Zeitgeschichte? Die BILD-Reporter stehen schon vor der Tür…