Realms. Vom Tacker zum Locher zum Gesellschaftsumbruch

Ich bin nicht gut mit Papier. Gibt man mir ein Stück Papier – wie zum Beispiel einen Abholschein – werde ich es mit Sicherheit verlieren. Schickt man mir Briefe, kommen sie auf einen Stapel. Die Stapel wachsen mit der Zeit. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann stapeln sie noch heute.

Doch halt. Ich habe einen Gegenspieler. Das Finanzamt. Die wollen immer so Dinge über meine Zettel wissen. Und jedes Jahr wollen die mehr über meine Zettel wissen, bzw. jedes Jahr hab ich einfach auch viel, viel mehr Zettel. Das ist eigentlich gut, denn Zettel bedeuten Geld. Aber mehr Zettel bedeuten auch und vor allem ausufernde Zettelstapel und ist doof bei einem Finanzamt, das alles über meine Zettel wissen will. Ein Teufelskreis!

Jedenfalls wurde der Druck immer größer, mich mit meinen Zetteln zu beschäftigen. Und auch wenn „alles auf einen Stapel legen“ eine ganze Weile funktioniert hat (ihr wärt erstaunt wie lange das gut geht!), wird das Hantieren mit dem Zettelstapel irgendwann ineffizient. Ab einer gewissen Stapelhöhe werden die geringen initialen Organisationskosten durch das „Auf-den-Stapel-legen“ durch später nachfolgende „Wo ist noch mal Zettel X, ich les den Stapel noch mal komplett durch“-Kosten weit überstiegen.

Es brauchte also eine zusätzliche Organisationsmaßnahme. Zu diesem Zweck besorgte ich mir letztes Jahr eine Technologie namens „Tacker“. Ein Tacker erhöht erstmal den Organisationsaufwand pro Zettel, aber reduziert auf längere Zeit die Mit-Zettel-Hantier-Kosten. Mit dem Tacker kann ich verschiedene zusammengehörige Stapel zusammentackern und so klar abgrenzbare Einheiten von Zetteln (die jetzt eine feste Ordnung haben) zusammenfassen, so, dass sie nicht mehr durcheinanderflattern können. Das reduzierte für mich die allgemeinen Organisationskosten wieder auf ein erträgliches Maß. Ich tackerte fröhlich vor mich hin und konnte von nun an mit definierten Zettel-Büscheln arbeiten, sie rumschicken und ablegen, ohne, dass sie durcheinanderflogen.

Eine Freundin, die sich mit Zettelmangement viel besser auskennt als ich, riet mir allerdings recht bald, vom Tacker Abstand zu nehmen und stattdessen eine Technologie namens Locher einzusetzen.

Locher haben erstmal einen gering höheren initialen Kosteneinsatz (Man muss etwas genauer sein beim Lochen als beim Tackern) und haben zudem den Nachteil, dass das Lochen ansich nicht als Organisationsmaßnahme ausreicht. Die Lochertechnologie hat nur einen Sinn, wenn man sie mit einer Komplementär-Technologie wie einer Mappe, einem Schnellhefter oder einer Akte verwendet. Damit steigen die Organisationskosten aber erstmal steil an. Ich brauche als Investition nicht nur den Locher, sondern auch die Mappe oder Akte. Dann muss ich für jeden Zettel zwei Schritte einleiten: 1. Lochen, 2. Wegheften. Das ist mehr als eine Verdoppelung der Organisationskosten pro Zettel! Hinzu kommen neue Organisationsstrukturen für Akten. Die brauchen auch einen Platz, müssen beschriftet werden, etc. (Ok theoretisch, momentan liegt nur ein unbeschrifteter Schnellhefter auf meinem … äh, Zettelstapel.)

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Dann allerdings entfaltet das Lochen einige organisatorische Features, die in Sachen Komplexitätsmanagement recht mächtig sind. Die Zettel haben keine notwenige feste Ordnung, sondern man kann sie jederzeit umorganisieren (auf diesem Level bin ich aber noch nicht. Aber man will ja auch zukunftsfähig bleiben.) Außerdem kann man beinahe beliebig große Stapel zusammenfassen. Hinzu kommen Möglichkeiten der Organisation auf Sub-Ebene: Innerhalb von Akten kann man Sektionen anlegen. Ein Killerfeature für meine Steuererklärung! Auch praktisch ist, dass die einmal gelochten Zettel plötzlich mit anderen Akten und Heftern interoperabel sind. Die Löcher sind allgemein standardisiert und sind mit vielen Aktensystemen weltweit kompatibel, woraus sich – zumindest theoretisch – enorme Netzwerkeffekte ergeben. (Aber auch dieses Feature nutze ich bisher nur begrenzt. Ich habe nur einen einzigen Schnellhefter, in dem meine Steuer von 2014 drin ist.)

Ein weiterer Technologieschritt, der tatsächlich in viel größeren Organisationen gemacht wird, ist alle Zettel zu digitalisieren. Das erhöht die Organisationskosten zwar dramatisch (alle Zettel müssen eingescannt und per OCR maschinenlesbar gemacht werden. Es braucht eine entsprechende Datenbanktechnologie, die meist sehr teuer ist oder selbst programmiert werden muss. Es kommen Kosten für Administration und Hardware hinzu. Hinzu kommen zusätzliche Risiken, wie Datenverlust oder Hackerangriff.) Die Komplexitätsreduktion wäre aber genau so gewaltig. Ich könnte in allen Dokumenten volltext suchen, könnte Reportings machen, verschiedene statistische Auswertungen erstellen und mit intelligenten Skripten könnte ich sogar meine Steuererklärung über weite Teile automatisiseren.

Aber seien wir ehrlich: bis sich ein solcher Schritt lohnt, müsste das Komplexitätsniveau meiner Zettel aber noch mal um einige Orders of Magnitude steigen. Was keiner von uns wollen kann. Oder eine neue Technologie würde die Einscan- und Datenhaltungskosten radikal reduzieren. Was alle von uns wollen.

Worauf ich aber eigentlich hinaus will: der lose Zettelstapel hat mir jahrelang gute Dienste geleistet und die Organisationskosten waren lange auf sehr geringem Maß. Mit zunehmender Komplexität der Menge und Anforderungen begannen die Organisationskosten allerdings dramatisch anzusteigen. Ein Tacker hat sich ab einem gewissen Komplexitätsnivau als heilsam erwiesen, aber eben nicht vorher und nur bis zu einem bestimmten Punkt. Eigentlich hätte ich aber mit dem Tacker noch eine ganze Zeit lang weiter machen können, aber meine erste „richtige“ Steuererklärung hat mich vorschnell zu der Technologie „Lochen + Aktenhaltung“ getrieben. Eine Technologie, die wahnsinnig viel höhere Kosten verursacht, aber auch ein wahnwitzig höheres Maß an Komplexität bewältigen kann, das heißt viel, viel „mächtiger“ ist. Mehr Macht, als ich derzeit brauche zwar, aber eben auch so viel wie nötig.

Das heißt, es gibt verschiedene „beste“ Technologien für unterschiedliche Komplexitätsniveaus. Die Organisationstruktur folgt der Organisationstechnologie, folgt dem Sweetspot von Organisationskosten und Komplexitätsbewältigung. Ich nenne die Bereiche, in denen ein Komplexitätsniveau im Zusammenhang mit einer Organisationstechnologie einen Sweetspot bildet der Einfachheit halber mal ein „Realm„. Realms sind stabile Zustände – eine Art Kosten-Anforderungs-Homöstase für Technologien – die sich einpendeln, wenn eine Technologie gerade billig und gleichzeitig mächtig genug ist, um eine gegebene Komplexität effizient zu managen. Ein Realm reicht von „Meine alte Organisationstechnologie reicht gerade nicht mehr aus, ich brauche eine Neue“ bis zu ihrem Gegenpart bei der nächst höheren Organisationsstufe/-Technologie (Iteration). Ich bin also gerade über die Schwelle gestiegen, die das Tacker-Realms vom Locher-Realm trennt und stehe nun etwas ratlos und überfordert am Beginn des Locher-Realms und kann die Weite kaum überblicken.

Ich schreibe das hier auf, weil ich verstehen will, wie Organisation funktioniert. In meinem Buch habe ich die derzeitige Transition von der Institution hin zur Plattform mit dem Verhältnis von Netzwerkeffekten und Organisationskosten begründet. Die Digitalisierung und das Internet haben die Organistationskosten für Sozialität und Kommunikation so weit gesenkt, dass die Netzwerkeffekte in einem viel, viel höherem Maße abgeschöpft werden können. (Vorher gab es auch Netzwerkeffekte, aber ihr Nutzen wurde bei steigender Gruppengrößen und höherer Entfernung der Teilnehmer schnell von den steigenden Kosten aufgefressen. Das Internet hat das geändert.)

Wir sehen in der IT-Technologie ständig solche Transitionen. Wenn die Grafikberechnung vom Prozessor auf einen eigenen Chipsatz ausgelagert wird, dann wieder zurück in den Prozessor wandert, um dann als Chipsatz wieder externalisiert zu werden. Wenn die frühen Computer Timesharingsysteme waren, dann vom Trend zum Heimcomputer eingeholt werden, der dann aber wieder vernetzt wird und sich wieder ein hierarchisches Server/Client-Verhältnis einfügt, bishin zu dem was wir heute Cloudcomputing nennen. Oder nehmen wir das Internet selbst. Von einer ziemlich dezentralen Struktur von heterogen betriebenen Servern hin zu den großen Plattformen und ihren Datencentern, die alle Dienste und User bündeln und konzentrieren. All diese Entwicklungen antworten auf bestimmte Trends in Sachen Organisationskosten, Komplexitätsniveaus und natürlich bestimmten technischen Innovationen. Der Timesharing-Computer hatte ein bestimmtes Realm, der PC hatte eins und die Cloud hat eines. Die Grafikkarte scheint sogar mehrere (gehabt) zu haben.

Ich denke, dass ähnliche Realms eben auch in der Geschichte der gesellschaftlichen Organisation stecken. Vom Stamm zum Dorf, zur Stadt, zum Fürstentum, zum Königreich, zum Nationalstaat, zur Plattform. Ein bisschen geht Dirk Baeckers Theorie zur Nächsten Gesellschaft in diese Richtung, legt aber meines Erachtens zu wenig Fokus auf die ökonomischen Wirkkräfte die dahinter Stecken. Medientechnologien spielen für die gesellschaftliche Organisationsform vor allem deswegen eine Rolle, weil sie auf die Organisationskosten Einfluss nehmen.

Eine Vorstellung davon, wie agil und organisch ich mir diese Transitionsprozesse aus der Markoebene betrachtet vorstelle, bekommt man ein bisschen, wenn man sich anschaut wie sich sogenannte Ferrofluids (Magnetische Flüssigkeiten) in unterschiedlich starken Magnetfeldern organisieren – und bei veränderten Magnetkräften reorganisieren. Sie stabilisieren sich immer wieder in verschiedenen Stadien, also das, was ich Realms nenne.

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Die multibeschissene Weltordnung

In Douglas Adams Anhalter durch die Galaxis findet sich die Theorie, dass wenn jemand hinter die letzten Geheimnisse des Universums käme, es sich in dem Moment zusammenfalten und ein völlig neues Universum entstehen lassen würde. Eines das wahnwitzig viel komplexer ist als das alte. Es gibt zudem eine flankierende Theorie, dass das bereits geschehen sei.

Und genau so kommt mir unsere Welt vor. Aufgewachsen bin ich in der bipolaren Weltordnung. Der eiserne Vorhang trennte Ost von West, zwei Mächte, die sich gegenüber standen, beide bis zu den Zähnen mit Atomraketen bewaffnet. Machste Ärger, dann Apokalypse! Diese Welt war beängstigend, aber immerhin einfach und verständlich. Beide Akteure waren zudem rational agierende, auf den Werten der Aufklärung basierende Systeme, die daraus nur unterschiedliche Schlüsse gezogen hatten. Genau deswegen konnte sich der Konflikt auch spieltheoretisch so gut modellieren lassen. Am Ende entschieden die wirtschaftlichen Ressourcen, wer bei diesem Angstspiel den längeren Atem hatte.

Nachdem die 10 Jahre währende Technoparty, die wir heute als „die 90er“ bezeichnen, jäh von dem einstürzenden World Trade Center beendet wurde, kam der Begriff der „Multipolaren Weltordnung“ auf. Alles ist irgendwie total kompliziert geworden. Da gibt es China, recht friedlich, aber wirtschaftlich immer bedeutender und es hat Atomwaffen. Da bedrohen sich Indien und Pakistan mit Atomwaffen, als wollten sie den kalten Krieg in klein nachspielen. Israel und Iran haben auch (wahrscheinlich) Atomraketen und grimmen sich an. Dann haben wir die islamische Welt mit dem fortwährenden Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten. Daraus entspringen dann verschiedene Strömungen von islamistischen Terrorismus. Die USA sind irgendwie auf dem Abstieg, aber immer noch die dominierende Ordnungsmacht. (Obwohl es schon lange her ist, dass sie einen Konflikt gewonnen haben.) Europa ist wirtschaftlich mächtig, aber verzankt, militärisch aber nicht sehr bedeutungsvoll. Russland findet zurück zu alter Stärke, bemüht sich jedenfalls dazu, hat Europa ein wenig im Würgegriff, weil die von dem Erdgas abhängen. Überhaupt ist Energie ein wichtiges Thema. Nur weiter südlich geht es immer mehr um Wasser.

Kurz: es ist kompliziert.

Aber wenn man sich wie ich bemühte, zu verstehen, sich in den einen oder anderen Konflikt einlas, dann konnte man doch meist irgendeine – zumindest eine grobe – Position dazu finden. Israel muss sein Existenzrecht verteidigen, Terroristen gehört das Handwerk gelegt, dieser Diktator knechtet sein Volk, dort wird für Demokratie und Freiheit gekämpft und Pakistan unterstützt den islamistischen Terror. Natürlich war das immer vereinfacht, immer biased, immer an „westlichen Werten“ orientiert, subjektiv und oft verzerrend. Und meine Solidarität war auch nie bedingungslos. Ich sah beim Nahostkonflikt immer auch die andere Seite, ich habe die USA oft und deutlich kritisiert zb. für die Irakinvasion und mir war immer klar, dass es alles nicht so einfach ™ ist. Aber am Ende hatte ich doch eine Seite, auf die ich mich stellen konnte. Auch wenn ich das nicht herausposaunt habe, war ich zum Beispiel natürlich trotzdem gegen Sadam Hussein und hoffte insgeheim, dass die Amerikaner in der Region für Besserung sorgen. (Und hier sehe ich gleich tausend Schlaumeierkommentare auf mich zurollen, die schon immer alles besser wussten und viel objektiver waren und meine Haltung gar nicht nachvollziehen können. Ja, ich weiß, ihr seid furchtbar toll. Aber behaltet es für euch, ja?)

Aber das geht jetzt nicht mehr. Meine These ist: wir haben nicht mehr die multipolare Weltordnung, sondern die multibeschissene Weltordnung.

Also, was ist heute anders? Ich stehe immer ratloser vor den Konflikten in der Welt und halte alle Seiten für total beschissen. Und damit meine ich nicht so ein „die USA haben ein völkerrechtswidriegen Krieg mit falschen Argumenten begonnen„-beschissen, sondern mehr so ein „Hitler„-beschisssen. So „geht gar nicht“-beschissen. So „da ist absolut keinen Zentimeter, um mich irgendwie zu solidarisieren„-beschissen. Und das gilt fast immer und für fast alle Seiten eines jeden Konflikts.

Das erste mal ging es mir so nach dem arabischen Frühling. Wie habe ich mich gefreut, als das losging. Tunesien, dann Ägypten. Ein Freiheitskampf, mit dem ich mich identifizieren konnte. Der scheiß Mubarak muss weg! Und tatsächlich: Happy End. Alles super! Hach!

Und dann: Die Muslimbruderschaft gewinnt die erste freie Wahl, schränkt gleich mal die Freiheiten ein. Scharia soll Gesetz werden und ich so: What the Fuck!?! Dafür habe ich nicht mitgefiebert! Die müssen weg!

Dann so: Ein militärischer Putsch metzelt die Muslimbrüder nieder. Ein riesiges Massaker an einer demokratisch legitimen Regierung. In der Blutlache wird dann die ägyptische Zukunft als säkularer Staat versprochen.

Ich so: ähhhhh … uff!

Alles Arschlöcher. Auf allen Seiten. Und zwar so sehr, dass eine Solidarität in keine Richtung möglich ist.

Es gibt seitdem eine Reihe Beispiele, wo es mir so erging. Wer ist zum Beispiel der Nichtbeschissene im Ukrainekonflikt? Klar, Russland ist der Aggressor, keine Frage ist Putin ein Arschloch. Aber will ich mich wirklich mit den Rechtsnationalen, die immer noch die ukrainischen Seite dominieren, solidarisieren? Geht das?

Und auch meine Israelsolidarität hält mich nicht davon ab, Netanyahu für einen durchgeknallten Irren zu halten, der schlimme Menschenrechtsverletzungen an großen Bevölkerungsteilen in Kauf nimmt, obwohl er aus einer Position der Stärke operiert. Netanyahu ist ein Arschloch. So, jetzt ist es raus. Natürlich kann ich mich aber auch nicht auf die Seite der antisemitischen Terrororganisation Hamas stellen, die alles dafür tut, um israelische Zivilist/innen zu töten. Faschistische Arschlöcher. Überall nur Arschlöcher!

Und nun zu Syrien. Syrien ist das Paradebeispiel für die multibeschissene Weltordnung. Schauen wir mal: Da haben wir als erstes mal Assad. Der scheint sich am Beispiel Mubarak erschrocken zu haben und ist sofort mit voller Härte gegen das sich gegen ihn auflehnende Volk losgeprescht. Angeblich hat er bereits 200.000 Menschen umgebracht. 200.000!! Was für ein riesen Arschloch!

Und auch wenn wir ständig von ISIS reden: Assad ist definitiv mit weitem Abstand der Schlächter Nr. 1 in der Region. Aber natürlich ist auch ISIS beschissen. Sogar wahnsinnig beschissen. Mit ihrer ganzen faschistischen Islamismusideologie, wie sie Frauen versklaven, wie sie Gewalt glorifizieren und wie sie tausende Menschen auslöschen, weil sie an das falsche glauben. Wenn sie könnten, würden sie die halbe Welt ins Gas schicken. Das sind knallharte Nazis, nur mit anderem kulturellem Background. Hinzu kommt, dass ich mich von denen persönlich bedroht fühlen muss, nach Paris.

Zu den anderen Gruppen weiß ich zu wenig, aber diese beiden Beschissenheitspole sind schon mal die beiden größten Kräfte in der Region und reichen für mein Argument vollkommen.

Bei Syrien kommt die Beschissenheit zweiter Ebene hinzu: Da ist zum Beispiel die Türkei, die statt ISIS zu bekämpfen unter diesem Deckmantel lieber die unliebsamen Kurden bombardiert. Was für ein Arschloch ist eigentlich Erdogan? Da ist Russland, das unter demselben Vorwand lieber die Oppositionsgruppen, die gegen Assad kämpfen, bombardiert. Die wollen Assad stützen, koste es was es wolle. Auch Arschlöcher, alle beide.

Relativ sicher bin ich mir allerdings, dass die NATO hier die einzigen nicht beschissenen sind. Also die, die zumindest das richtige wollen, die gegen ISIS sind und gehen Assad und sich das nicht leicht machen. (Klar: Die Fehler machen, die Dummes tun, die auch Eigeninteressen verfolgen, die ISIS mitverschuldet haben, die keine Frage weder „gut“, noch „rein“ sind, aber eben auch nicht beschissenen in dem Maße wie Assad und ISIS, Putin und Erdogan beschissen sind.)

Ganz und gar nicht sicher bin ich allerdings, ob es gut ist, sich mit Waffen in diese multibeschissene Weltordnung zu werfen. Denn was will man erreichen? Dass das eine Arschloch über das andere Arschloch siegt? Dass man alle Arschlöcher beseitigt? Geht das überhaupt? Und wenn ja: Dann muss man das ganze Land auf längere Zeit besetzen. Das grenzt wieder an Kolonialismus, würde jedenfalls so empfunden werden. Was dann wieder zu mehr Terrorismus führt, etc.

Ich fürchte, in der multibeschissenen Weltordnung kann man nichts richtig machen. Das ist alles ziemlich … beschissen.

Ding Dong, Safe Harbor ist tot!

Hallo. Ich finde die aktuelle Freude über den Sturz von Safe Harbor ziemlich … erstaunlich.

Kurz: was ist Safe Harbor? Safe Harbor ist ein Abkommen zwischen der EU und den USA betreffend der Übermittlung von Daten. Es wird angenommen (zumindest erklärt), dass die unter dem Label Safe Harbor zertifizierten US-Unternehmen dem europäischen Datenschutzrechtstandard genügen. Tjo.

Zu kompliziert? Ok, anders: Safe Harbor ist Grunde nichts anderes ist, als eine riesige Datenschutzerklärung, die 2000 die EU-Kommission stellvertretend für uns alle einmal geklickt hat. Ja, auch für dich. Was da drin steht? Woher soll ich denn das wissen! Wer liest denn schon Datenschutzerklärungen?

Jedenfalls hat Max Schrems es jetzt geschafft und das Ding ist gekippt. Und nun? Derzeit agieren wir in unzureichend definiertem Rechtsrahmen, wann immer wir einen Tweet absetzen oder was auf Facebook posten. Das wird erstmal so bleiben, denn bis eine Neuverhandlung wirksam wird, kann es noch lange dauern.

Vermutlich wird es aber erstmal irgendwelche provisorischen Lösungen geben. Vielleicht wird die Provisorische auch die Langfristige Lösung. Hier sind ein paar der Strategien aufgelistet. Eine Möglichkeit aber sticht heraus. Die der individuellen Einwilligung.

Obwohl Juristen/innen jetzt wieder hin und her-analysieren lässt sich festhalten; das europäische Datenschutzrecht ist in seinen Grundzügen recht banal. Es geht so: alles ist verboten. Es sei denn, du hast zugestimmt. „Informed Consent“ nennt sich das in der Theorie. Und in der Praxis ist es der „ich stimme zu“-Button, den du immer wegklickst. „Ja doch! Nerv nicht!“ Wir kennen das schon aus der Cookierichtlinie. Genau, das wo du im Mobile Safari immer das winzige [ok] treffen musst, um das extra Banner wegzuklicken, damit du den verdammten Artikel lesen kannst.

Das ist meine Prognose: so wird es auch hier kommen. Datenschutz ist, wenn man immer mal wieder was neues wegklicken kann. „Informed Consent“ kann man aus Unternehmenssicht gut übersetzen mit „cover you ass“. So funktioniert Datenschutz: Du klickst extra, Unternehmen bekommen ihren Ass gecovert. Das war bisher automatisiert per Safe Harbor der Fall, das ist jetzt weg. In Zukunft heißt es wieder selber klicken. Danke Max Schrems!

Ich kann deswegen auch nicht verstehen, warum die Journalisten auf das Urteil gerade so abfahren. Als wichtigen Schlag gegen die Geheimdienstüberwachung wird es bezeichnet. Srsly? Wie sollte dieser Schlag denn aussehen? Wird die NSA jetzt aufhören mit PRISM Daten von Nicht-US-Bürgern aus Facebook rauszuziehen? Wohl kaum. PRISM wurde letztes Jahr von einer extra eingesetzten Untersuchungskommission für legal befunden. Was soll sich also ändern?

Facebook (und all die anderen Unternehmen) stehen vor der Wahl. Sollen sie dem Recht in ihrem Heimatland USA folgen und gegen EU-Recht verstoßen, oder EU-Recht folgen und US-Recht mißachten. Choose one. So wird es natürlich außerhalb der Phantasie von Max Schrems nicht kommen. Der Extra-Klick wird das lösen, da bin ich mir sicher.

Aber gut. Stellen wir uns jetzt mal kurz den härtesten aller Fälle vor: Die EU macht jetzt einen auf Putin und beharrt darauf, dass alle Unternehmen europäische Daten nur in Europa speichern und auswerten dürfen. DigitalCourage jubelt, Thilo Weichert klopft Jan Phillip Albrecht auf die Schulter. Alles schön und gut. Aber was wäre damit gewonnen?

Haben alle die bisherigen Ergebnisse des NSA-Untersuchungsausschuß schon wieder vergessen? Der BND hängt nicht nur tief in der NSA-Überwachung mit drin, er hat auch seine eigenen Internet-Massenüberwachungskapazitäten und natürlich nutzt er sie auch. Auch der BND kommt an in Deutschland gehostete Daten ran. Deutsches Datenschutzgesetz hin oder her.

Und ist der GCHQ eigentlich schon vergessen? Der englische, noch viel niederträchtigere kleine Bruder der NSA zapft alles an, was in Europa nicht bei drei auf den Bäumen ist!

Aber jetzt mal grundsätzlich: Glaubt ihr wirklich, dass eure Daten in Europa sicherer sind? Wegen unserem Datenschutzgesetzt? „Für Datenschutz klicken sie bitte hier!“ Nein, ich denke, das Gegenteil wäre der Fall. Dafür muss ich kurz etwas ausholen:

Das Grundrecht auf „Informationelle Selbstbestimmung“ wurde nicht geschaffen, weil die Verfassungsrichter 1983 Privatsphäre einfach so knorke fanden. Nein, es dient einem konkreten Zweck, den die Richter auch in ihrer Begründung weitschweifend erläutert haben: Informationelle Selbstbestimmung ist, wie alle Grundrechte, erstmal ein Schutzrecht gegen den Staat. Der Staat hat nun mal scheiße viel Macht. Gewaltmonopol nennt sich das. Das ist, wenn der Staat dein Haus stürmen, dein Vermögen einkassieren, dich zusammenprügeln und in den Knast werfen darf. Ja, das darf er unter bestimmten Bedingungen und er tut das auch bisweilen mit Leuten. Genau deswegen hast du ein Recht auf Informationelle Selbstbestimmung. Um dieses Machtungleichgewicht etwas auszugleichen. Und dieses Anliegen ist nach wie vor eine wichtige und richtige Sache. (Weswegen ich trotz Post-Privacy und alles immer und überall gegen die Vorratsdatenspeicherung bin und war.)

Aber wie kommt ihr jetzt also auf die Schnapsidee, dass eure Daten ausgerechnet im eigenen Land am sichersten sind? Sicher vor wem? Als allerletztes doch vorm Staat!

Was meint ihr, warum Russland ein solches Gesetz zur Bewahrung russischer Daten im eigenen Land gerade eingeführt hat? Weil es Sorge um die Privatsphäre seiner Bürger hat? Wer das glaubt, schaut zu viel RT_Deutsch. Nein, Putin will an die Daten von Oppositionellen und Aktivist/innen ran. Das geht halt viel besser, wenn die Daten in russischer Hoheit liegen.

Ich will die EU nicht mit Russland vergleichen. Aber der gleiche direktere und einfachere Zugriff würde ebenfalls für europäische Behörden gelten, wenn die Daten hier lägen. Ich sehe da freiheitsrechtlich keinen Fortschritt, im Gegenteil. Im Zweifel ist es mir 1000 mal lieber, wenn die NSA meine Daten hat, als der Verfassungsschutz.

Wenn es nach mir ginge, säh ein neues Safe Harbor-Abkommen wie folgt aus: „Macht mit den Daten was ihr wollt, aber bitte gebt sie nicht an meinen Staat weiter. Danke!“

Also, liebe Leute, die ihr euch so freut, dass Safe Harbor weg ist. Befragt mal genauer die Motivation hinter eurer Freude. Grundrechtsverbesserung kann es jedenfalls nicht sein. Vielleicht ist es am Ende ja doch nur wieder schaler Antiamerikanismus? Aber endlich kann man da jetzt was tun. Klicken gegen den Imperialismus!!11

Alternativlos! 35

Ich habe gerade den dümmsten Podcast gehört, der mir je in den Catcher rutschte. Gut, Alternativlos war dafür immer der vorhersehbarste Kandidat und es ist gut möglich, dass sich auch der zweit- oder drittdümmste Podcast darunter befindet. Eigentlich finde ich Alternativlos aber ganz unterhaltsam. Die vorletzte Folge mit Rop Gonggrijp funktioniert ganz prima, wenn man sie für sich als Satire lablet. Da reden drei von sich total überzeugte Nerds sehr breitbeinig über den Zustand der Welt aus Nerdsicht. Könnte man glatt ne Comedyshow draus machen.

Bei der aktuellen Folge funktioniert diese Herangehensweise nicht. Zwei Stunden und 19 Minuten Nazi-Verharmlosung wollen einfach nicht lustig werden, egal wie ironisch man es hören will.

Ja, es gibt ein paar ernsthaftere Stellen, Dinge über die man reden kann. Wie gut, oder schlecht funktioniert Ausgrenzung in Zeiten des Internets? Welche Strategien und welche moralischen Pflichten knüpfen sich an Diskurs. Bei vielem bin ich nicht einer Meinung, aber darüber könnte man diskutieren. Aber diese Stellen sind in der Minderheit und vor allem werden sie inhaltlich überschattet von dem fortwährenden Gedankengängen von Fefe, wie man am besten mit Nazis umgehen sollte. (Ich hab keinen Nerv den Kram noch mal zu hören, deswegen zitiere ich aus dem Gedächtnis und ohne Zeitangaben, sorry.)

Zunächst einmal findet er, man müsse mit Nazis doch reden. Man dürfe sie nicht ausgrenzen. Nazis auszugrenzen, findet Fefe, zeuge davon, dass man Angst habe, der Nazi könne einen überzeugen. Das ist natürlich Quatsch und jeder, der sich mal mit Nazis unterhalten hat, weiß das auch. Weder kann man für sich selbst aus den Ansichten von Nazis etwas herausziehen, noch wird man den Nazi davon überzeugen können, kein Nazi mehr zu sein. Diese Leute wissen, dass das Menschenverachtend ist, was sie denken, doch das ist ihnen einfach egal. Aber gut, mir egal, soll Fefe doch mit Nazis reden, wenn es ihn glücklich macht. Im Zweifel aber lese man sich durch, was Wiglaf Droste schon vor einiger Zeit zu dem Thema schrieb.

Fefe meint weiter: Nazis wären doch auch nur alles arme Schweine. Und weil man immer nach unten tritt (Naturgesetz!), treten die halt auf die Flüchtlinge. Tja, is halt so! Und – jetzt kommts: Da dürfe man denen „nicht böse sein“. Hier war ich das erste mal sprachlos. Dass ich von der „Man tritt halt immer nach unten“-These nichts halte, weil sie alle längst gründlich untersuchten Aspekte von Rassismus und Xenophobie komplett ausblendet – und nebenbei die Tatsache, dass eben nicht alle sozial schlecht Gestellten Nazis werden, mal dahin gestellt. Aber man dürfe den Nazis „nicht böse sein“? Das hat der wirklich so gesagt. Und Frank Rieger ist nicht eingeschritten. What the fuck, Jungs!

Aber gut, dann müssen wir das halt akzeptieren. Treten halt nach unten. So ist das nun mal.

Fefes nächste These ist, dass durch die Ausgrenzung ja das Naziproblem erst entstanden sei. Dadurch habe man nämlich Nazistrukturen ignoriert und nun zu wenig Wissen über sie. Hier springt Frank dankenswerter Weise ausnahmsweise mal dazwischen und erklärt Fefe, dass es da ja noch die Antifa gebe, die die Nazis eben doch ziemlich gut durchleuchten würde. (Irgendwo muss Frank ihm auch erklären, dass die Nazis gar nicht erst kürzlich aufgetaucht sind, wie Fefe vermutet. Köstlich.) Aber ich finde die These von Fefe so hanebüchen, dass ich noch mal was dazu sagen muss: Nein, Ausgrenzung ist nicht das Problem, sondern das Gegenteil: zu große Toleranz. Der Staat und große Teile der Gesellschaft haben die Nazis zu lange gewähren lassen. Das Problem wurde systematisch heruntergespielt.

Etwa so wie Fefe, der als nächstes behauptet, dass das Naziproblem ja auch aufgebauscht sei. So schlimm sei das ja auch alles gar nicht und er wolle da erstmal Zahlen sehen. Und wenn der Staat die Nazis verfolge sei das ja schlimm, denn wenn der Wind sich dreht, dann sei ja vielleicht er dran. Die jetzige Regierung sei ja quasi schon irgendwie „faschistisch“ (das sagt er wirklich so!). Ich denke beim Hören langsam, ich bin beim Kopp-Verlag und beginne den Faden zu verlieren. Wie jetzt? Es gibt gar keine Nazis ausser der Bundesregierung?

Als Frank dann ausführt, dass der Staat das Nazi-Problem lange unterschätzt habe, ruft Fefe, der Staat sei ja er und irgendwie kommt er bei dieser – auf den ersten Blick ziemlich dummen Aussage – der Wahrheit schon am nächsten.

Denn ja, Fefe repräsentiert ziemlich alles, was im Umgang mit Nazis schief läuft. Fefe legitimiert ihr Verhalten durch unterkomplexe Sozialtheorien, Fefe wertet die Nazis auf, weil er meint, man müsse ihnen zuhören, mit ihnen reden, dürfe sie nicht ausgrenzen, Fefe verharmlost das Problem im Generellen und Fefe findet nebenbei auch, dass er mit rassistischen Äußerungen im Netz ganz gut leben könne. JA, WARUM WOHL?

Kurz, Fefe ist halt wie die sächsische CDU. Und warum das ein Problem ist, wie die sächsische CDU zu sein, wird in diesen Beitrag hier ganz gut dargestellt.

Für die Leute, die es immer noch nicht verstanden haben: Nazis werden Nazis, weil man sie lässt. Sicher gibt es soziale Hintergründe, sicher sind die nicht alle reich, die wenigsten sind intelligent. Aber in erste Linie sind Nazis Rassisten, denen noch keiner deutlich genug widersprochen hat. Denen keiner die Tür gewiesen hat, wenn sie was rassistisches gesagt haben. Die in einer Umgebung groß werden, in der Rassismus nicht geahndet wird und sozial akzeptiert ist. Wo sogar die Polizei augenzwinkernd dabei steht, wenn sie den Arm heben. Das ist das Umfeld, in dem Nazis entstehen und dazu gehört eben auch die „Mitte“ mit ihrer Toleranz, mit ihrer Duldung, ihrem Mitgefühl und ihrem Herunterspielen des Problems.

Fefe ist Teil der Legitimationsstruktur der „Mitte“, die Nazis das Leben einfach macht. Fefe ist kein Nazi, aber er ist Teil des Naziproblems das wir in Deutschland haben.

Ich schreibe das hier auf, weil ich den Podcast nicht unwidersprochen stehen lassen kann. Es ist einer der meistgehörten Podcasts, vor allem in der Nerd- und Hackerszene und damit leider sehr einflussreich. Ich fürchte Leute, die politisch nicht so bewandert sind, hören das und finden das gut, was Fefe sagt. Zufällig ist es ja auch ziemlich bequem. Und das, so fürchte ich, macht das Problem nochmal schlimmer.

Mir ist rätselhaft, wie man einen solchen Podcast veröffentlichen kann. Damit meine ich nicht Fefe, der weiß es wahrscheinlich einfach nicht besser. Aber Frank Rieger, das wurde deutlich, hat da ein deutlich klares Bild. Ich verstehe schon nicht, warum er Fefe nicht davon abhält, sich in der Öffentlichkeit über Politik zu äußern. Ich verstehe noch weniger, dass er so einen Podcast in den Äther bläst. Ehrlich, Spaß beiseite. Ich finde das unverantwortlich.

Reisetagebuch 14 – Abschluss (jetzt aber wirklich!)

Tag 14:

Um 9 aufgewacht, einigermaßen ausgeschlafen. Kein Wunder, ich war gestern schon gegen 0 Uhr im Bett. Ich konnte einfach nicht mehr. Gerade hatten wir die Gewitterfront „überlebt“, die über das Camp hergefallen war. Aber das war gar nicht der Punkt.

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Ich hab mich einfach die letzten drei Tage durch alle Nächte gefeiert. Jede Nacht höchstens 4 Stunden Schlaf abbgekommen, immer betrunken und übernächtigt ins Zelt gekrabbelt und dann immer gegen 9 von der erbarmungslosen Sonne wieder aus dem Zelt geprügelt worden.

Klingt, als ob ich Spaß gehabt hätte. Dem will ich nicht widersprechen. Es war eine großartige Zeit. Aber gestern war der Akku alle.

Also heute, das habe ich beschlossen, ist Abreisetag. Ist eh der letzte Tag. Gemütlich mache ich mir noch zwei 5Minutenterrine zum Frühstück. Dann Kaffee. Dann für alle Kaffee im Village, die wollen. Die Gas-Kartusche soll leer werden.

„Village“ heißen die lokalen Zusammenschlüsse von sich thematisch einander zugehörig fühlenden Zelten. Unser Village ist das Open Data/Open Knowledge Village. Es ist das beste Village. Tolle Leute, etwas abseits, sehr entspannt und gediegen.

Um 11:15 gehe ich noch zu einem Vortrag. Irgendwas mit KI, aber leider nichts Neues, dafür eine elaborierte Zusammenfassung des Diskurses, der Probleme und den Aussichten. Talks habe ich eh kaum mitbekommen. Genau genommen war ich tagsüber fast immer in wechselnden Konstellationen am See. Es war ein Badeurlaub mit angeschlossenem Nerdfesival.

Ich gehe das Kochgeschirr abwaschen und bringe es Herr Schrat, von dem ich es für meine Tour geliehen hatte, zu seinem Hausboot. Er liegt direkt neben dem Zeltplatz am Hafen. Auch eine Art das Camp zu genießen.

Dann gehe ich noch schnell auf Sticker-Jagd. Auf jeder CCC-Veranstaltung gibt es immer einen ganzen Haufen begehrenswerte Sticker. Besonders stolz bin ich auf den oben links: 2015-08-17 10.45.02

Der oben rechts ist aber wichtiger. Hier die URL zum klicken.

Als Gregor (Sedlag) merkt, dass ich mit meiner Abreise ernst mache, entscheidet er sich doch noch mitzufahren. Eigentlich wollte er noch einen Tag dranhängen. Finde ich natürlich gut. Wir beide packen unsere Sachen zusammen.

Zelt ausräumen, Schlafsack und Isomatte zusammenballen, Zeltabbauen, alles in die Taschen räumen. Diese Arbeitsabläufe habe ich noch vor ein paar Tagen jeden Tag gemacht, aber diesmal ist es anders. Hier habe ich sechs Nächte verbracht, mich ganz anders eingerichtet und dabei eine ganz andere Qualität von Chaos produziert.

Und natürlich emotional. Ich habe mich an den Ort gewöhnt, an das Village. An das CCCamp. An den Staub, an die Zelte, an das schnelle W-Lan, an all die Technik, den vielen blinkenden Kram, an die Artefakte der Kreativität von all den Verrückten hier. Aber noch eine Nacht halte ich nicht durch. Ich will ins Bett. Also so richtig in mein Bett. Mit Matratze und so.

Gegen 13:00 sind wir fertig mit Packen und es geht los.

Wir fahren ohne Navigation, Tracking oder Karte. Einerseits befinden wir uns eh auf dem berühmt berüchtigten Berlin-Kopenhagen-Radweg, der überall ausgeschildert ist, außerdem ist Gregor die Strecke schon hergefahren.

Es geht eine wundervolle, lange Strecke am Fluss vorbei. Wir fahren zu zweit, aber ein recht strammes Tempo. Kommt mir jedenfalls so vor, ich habe ja kein Tracking an.

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Nach etwa Kilometer 15 meldet sich meine Achilles-Sehne wieder. Verdammt. Ich dachte, das hätte ich auskuriert gehabt. Die ersten 2 Tage auf dem Camp war die Sehne durchaus präsent und ich habe versucht, wenig herumzulaufen. Was sehr schwierig ist auf einem Gelände mit 4000 Besuchern. Dann ging es immer besser. Am Schluss hatte ich sie ganz vergessen gehabt.

Es ist nichts schlimmes, die Schmerzen halten sich in Grenzen, dennoch ärgerlich.

Wir fahren weiter und kommen schnell voran. Bei Km 20 essen wir schnell ein Eis. Ich weiß, dass ich noch was essen sollte. Mein Frühstück war so gegen 10 und ich hatte noch nichts zu Mittag. Es drängt aber nicht, also fahren wir weiter. Nicht mal bei Oranienburg machen wir halt. Erst in Birkenwerder, also ca. 16:00 und nach über 50 Km machen wir eine Rast. Aber dafür was für eine!

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Mit über einem Kilo Extra-Payload im Magen geht es weiter. Erst ist etwas mühsam, wieder in den Bewegungsmodus zu kommen, dann geht alles recht schnell. Bald schon ist Berlin-Pankow ausgeschildert. Das ist fast dort, wo Gregor wohnt. Wir fahren mit jedem Kilometer weiter in urbanes Gebiet. Bald schon macht sich das Berlin-Feeling breit. Als wir das Berlin-Schild überfahren, jubeln wir ein bisschen wie Rennfahrer beim durchqueren der Zielline.

Bei Prenzlauer Berg verabschiede ich Gregor. Für mich heißt das weitere acht Km fahren. Aber das bekomme ich auch noch rum. Die Strecke – bereits tausendmal gefahren – bekommt einen neuen Kontext. Diesmal mit über 70 Km hinter mir und überhaupt: einem unglaublichen 14 Tage-Tripp. Alles wirkt so surreal geschäftig.

Ich lenke mich und den brandenburger Dreck an meinem Körper bis nach hause und werde dabei von lauter aggressiven Fahrradfahrern überholt. Waren die schon immer so? Vor allem der Alex ist so voll wie am letzten Samstag vor Weihnachten nicht mehr. Sind das alles Touris? Was ist passiert? Oder komm ich einfach nur nicht mehr auf die Großstadt klar?

Als ich zu Hause ankomme, merke ich eine gewisse Erschöpfung. Nicht nur von der Strecke, sondern von den letzten zwei Wochen. Ich habe wirklich, wirklich Lust auf mein Bett.

Nach dem Duschen liege ich auf eben jenem Bett und Blogge. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es schaffe, den Post heute noch rauszupusten. Ich bin sehr müde. Die Augen fallen mir gleich …

Ach, das bekomme ich auch noch hin. Da!

Reisetagebuch 8 – Vorzeitiges Ende

Tag 8:

Erst um kurz vor 8 aufgewacht. Gestern ging es noch lang – also für meine derzeitigen Verhältnisse. Halb eins bin ich ins Bett. Wir saßen im Garten, tranken Bier und Schnaps. 11882838_10207291594273962_2019203257290441094_o

Irgendwann schrieb ich etwas angetrunken ein Gedicht ins Gästebuch. 11825239_10207298146517764_7773955610997533850_n

Ich habe heute aber keinen Kater und vor allem auch keinen Muskelkater mehr. Ich fühle mich gut: ausgeruht und fit.

Ich recherchiere die Strecke zum CCCamp – diesmal mit Strava. Strava ist eine Empfehlung von Martin. Er nimmt die App zu Tracken und Planen von Touren. Sie greift zur Unterschützung auf die Nutzerdaten der anderen Radler zu. „Populäre Routen“ stehen einem so zur Verfügung. Alles wird besser mit Daten!

Ich finde einen Campingplatz unterwegs, unterhalb von Neustrelitz. Das sind dann allerdings 100 Km von Greifswald entfernt. Eine Herausforderung, aber die 100 Km wollte ich eh noch knacken. Warum nicht heute.

Ich wecke Leander und wir frühstücken belegte Brote. Ich würde gerne noch etwas länger rumsocializen, aber ich habe Hummeln im Hintern. Ich will los. Gegen 9 fahr ich vom Hof. Danke für die Gastfreundschaft!

Als ich so fahre, merke ich, dass der Hinterreifen unrund läuft. Oh nein, was ist denn nun schon wieder? Ich steige ab und sehe eine Wölbung an einer Stelle des Mantels. Hmm, keine Ahnung was das ist. Wird sich sicher noch einfahren.

Ich irre durch die Stadt und suche den Ausgang. Strava kann zwar Routen planen, hat aber keine aktive Navigation. Naja, geht schon mit etwas rumverfransen.

Das Unrunde laufen des Hinterrades wird derweil zum Schleifen. Och nöö. Ich steige ab. Die Wölbung ist tatsächlich größer geworden. Wohl nicht richtig draufgezogen, der Reifen.

Per Google Maps finde ich einen Fahrradladen, gleich 100 Meter weiter. Ich schiebe mein Rad hin und zeige das Problem. Ich müsse die Luft noch mal ablassen und neu aufpumpen wird mir empfohlen. Sie geben mir eine Luftpumpe. Nachdem ich getan wie sagten, ist das Problem wieder da. Wir schauen genauer.

Ah, ich hatte das Ventil zu sehr rausgezogen. Das dürfe man nicht machen, sagt man mir. Das soll ganz locker sitzen und sich nur durch den aufgepumpten Schlauch von allein rausdrücken. Wieder was gelernt.

Mit rundem Rad fahr ich weiter, raus aus Greifswald. Jetzt ist alles ok. Das Wetter ist bedeckt, leicht windig. Ideal. Das einzige Manko. Meine Achilles-Sehne schmerzt etwas beim treten. Wahrscheinlich eine leichte Entzündung. Kann ich auf dem Camp auskurieren, denke ich.

Ich fahre immer weiter gen Süden. Die Strecke ist unspektakulär. Sie geht vor allem auf großen Straßen entlang, Autos und LKWs fahren ständig an mit vorbei. Das nervt etwas, aber dafür komme ich auf dem Asphalt schnell voran.

Kaum, dass ich mich versehe, habe ich 41 Km gemacht. In unter zwei Stunden. Krass. So easy war das noch nie. Bis auf die Schmerzen. Die werden aber auch nicht schlimmer. Immerhin. Ich esse einen Erdbeerkuchen, trinke einen Kaffee und fülle mein Wasser nach.

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Martin hat mir beigebracht, immer das Wasser immer mit einer Sprudeltablette isoton zu machen. Ich wusste zwar, dass das irgendwie gut ist beim Sport machen, aber Martin insistierte, dass es unabdingbar wäre. Man verliere ja schließlich im gleichen Maße Satz, wie man Wasser ausschwitze. Das sehe ich ein.

Kaum, dass ich mich versehe, bin ich in Neubrandenburg. Ein Ort von dem ich vorher noch nie gehört habe. Um so erstaunter bin ich, als ich merke, dass das eine richtige Stadt ist. So richtig mit McDonalds und Banken und so.

Hier mache ich meine nächste Pause. Es ist mittag und ich ziehe mir zwei der Energieriegel rein, die ich Martin abgekauft habe. Außerdem geh ich zu McDonalds. Will Cheeseburger holen. Ich stelle mich vor eine neu aufgemachte Kasse, merke aber, dass eine Frau aus der anderen Schlange auch vor die Kasse huschen wollte. Ich überlasse ihr das Feld. Ich bin ja nicht so. Dann stellt sich ihr Typ mit dazu. Direkt vor mich. Er trägt Thor Steinar und hat eine Glatze. Ich ärger mich über mich selbst.

Wieder unterwegs kommt mir das erste Mal der Gedanke, den Flow auszunutzen und zu versuchen, einfach bis zum CCCamp durchzufahren. Ich halte an und passe die Stravastrecke entsprechend an. Okay …

Die Sehne schmerzt immer dann am dollsten, wenn ich nach eine Pause wieder anfahre. Dann wird der Schmerz wieder weniger. Ich bin gespannt, wie es mir damit morgen geht …

Ich bin immer noch schnell und gut unterwegs, aber die Pausenintervalle werden kleiner. Nach nur weiteren 25 Km mache ich Rast bei Neustrelitz. 100 Km habe ich da auf der Uhr. Das Netz ist schlecht.

Ab Km 100 beginnt es, anstrengend zu werden. Dafür wird die Strecke schöner. Abseits der großen Straßen geht es durch die Mecklinburger Seenplatte und die Uckermark, hier und da sogar durch den Wald. Dafür habe ich die ganze Zeit fast nie Netz.

So langsam merke ich die Km. Aber mit dem elektrolytigen Wasser und den Energieriegeln, die ich mir in einer Tour reinschiebe, ist scheinbar alles machbar.

Es geht jetzt teils über abenteuerliche Feldwege, quer durch den Wald und über anstrengende Sandwege und unbefestigten Straßen. Ich fahre durch allerlei Dörfer am Arsch der Heide, doch die Landschaft ist schön.

Meine Muskeln brennen. Außerdem geht mir langsam das Wasser aus. Ich habe heute zwei mal geholt. Das heißt insgesamt 8 Liter müssen durch meinen Körper diffundiert worden sein.

Bei Km 140 esse ich den letzten Energieriegel, den ich habe und fülle das letzte Wasser in die Trinkflasche. Es sind nur noch ca. 10 km. Das war knapp kalkuliert.

Um kurz vor 18:00 komme ich auf dem Gelände des Ziegeleiparks an. Ich blicke über ein Meer von Nerdzelten. Ich bin da. Meine Tour ist vorbei.

Statistik: Ich habe jetzt tatsächlich 22 Km/h Durchschnittsgeschwindigkeit über den ganzen Tag gehalten. Die ganzen 149,3 Km lang.

Insgesamt bin ich ca. 650 Km in 8 Tagen gefahren. Ich habe viel gelernt, habe viel gesehen und bin jetzt um einiges fitter als am ersten Tag.

Als ich aufs Gelände fahre, hole ich mir ein Bändchen und laufe sofort Bekannten übern weg. Ich baue mein Zelt im OpenDataCity-Village auf und begrüße Leute. Dann, als erste Maßnahme geht es ab, springe ich in den Teich. Selten hat Wasser so gut getan.

Ich halte den Abend über meine konstante Wasserzufuhr aufrecht, auch immer mit den Elektrolyte-tabletten. Da ist auch Magnesium dabei. Ich will keine Krämpfe kriegen heute nacht.

Dann mache ich mir ein weiteres Mal mit dem Kocher mein Spezial-Reis-Rezept. Ich brauche immer noch massig Kohlenhydrate.

Nun nur noch das Zelt von Gregor Sedlag aufbauen. Es wurde ihm per Karavan hergebracht, er selbst kommt aber erst morgen.

Jetzt sitz ich Village, mit dem Rechner auf den Schoß und verblogge das vorzeitige Ende meiner Ostseetour. Es war einer meiner tollsten Urlaube, ein großartiges Abendteuer.

Wahrscheinlich gehe ich heute früh ins Bett.

Danke für die Aufmerksamkeit, liebe Leser. Es war mir ein großes Vergnügen. Die Show ist jetzt vorbei, ihr könnt alle nach hause gehen. Oder aufs Camp. Aber wenn, dann sagt hallo.

Reisetagebuch 7

Woah, so eine Couch ist schon ziemlich gemütlich nach 5 Nächten im Zelt. Dennoch wache ich gegen halb 8 auf und spüre jeden Knochen in meinem Körper. Ich habe einen riesigen Ganzkörpermuskelkater. Der setzt anscheinend bei mir immer mit etwas Verspätung ein.

Ich mache mich schnell fertig, denn wir wollen pünktlich um 9 bei Ladenöffnung in der Fahrradwerkstatt stehen. Kurzes Frühstück mit Martin, dann das Hinterrad ausbauen. Das ist gar nicht so einfach, da Nabenschaltung. Ein Kompliziertes Ding, von dem niemand auf der Welt so recht weiß, wie es funktioniert. Nicht mal Martin, dabei weiß der eigentlich alles über Fahrräder. Wir entfernen auch Mantel und Schlauch vom Rad, so dass nur noch Felge, Speichen und Nabe (mit Getriebe) übrig bleibt.

Der erste Händler, zu dem wir fahren, meint, man müsse das Rad einfach nur neu Speichen. Das beruhigt mich. Leider kann er uns keine Zeit garantieren, die sein Laden dafür brauchen würde. Wir versuchen es bei einem anderen Händler.

Die Frau ist freundlich und kompetent und verspricht eine neugespeichte Felge bis 15:00 – „Wahrscheinlich früher“. Meine Tour ist damit offiziell gerettet. \o/

Wir lassen das Rad da und fahren zurück zu Martin. Ich habe dort inzwischen mein gesamtes Equipment ausgebreitet. Größtensteils zum Trocknen. Das Zelt liegt auf der Terrasse in der Sonne, Schlafsack und Isomatte sind über Stühle gelegt, meine Wäsche ist gewaschen und hängt an einem Ständer und alle meine Akkus hängen am Strom.

Ja, ich habe mehrere Akkus. Mein iPhone 5 ist akkumäßig nur noch schwach auf der Brust – es hält kaum mehr einen halben Tag mit Tracking – und dennoch hängt von seinem Funktionieren so viel ab. Um sein Funktionieren zu gewährleisten habe ich unterschiedliche Akkustufen.

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Rechts sehen wir meinen normalen Nachladeakku. Er fasst 6000 Milliamperstunden. Das reicht für … sagen wir knapp 2 iPhoneladungen. Dieser Akku kommt pro Tag mindestens einmal am Tag zum Einsatz, meistens so nach Km 30. Ich habe ihn dann in einer der Hosentaschen während der das iPhone läd, das in einer anderen Tasche sitzt (oder ans Lenkrad geschnallt ist)

Der Akku links ist ein Brecher. 22.400 Milliamperstunden. Es hat gerade wieder mindestens 28 Stunden gebraucht ihn vollzuladen. Aber wenn er voll ist, dann hält er echt ewig. Er ist die EZB unter den Powerbanks. The lender of last ressort. Er ist mein ständiger Begleiter im Rücksack und hat mir schon oft den Arsch gerettet. Während der Tour lädt er nachts den anderen Akku sowie das iPhone. Gleichzeitig, denn er hat zwei USB Anschlüsse. Und das hat er die ganze Reise schon gemacht und gestern war er alle. Tjo.

Zurück zu meinen Sachen. Mein Geschirr habe ich abgewaschen, die Taschen habe ich vom Sand befreit – (überhaupt habe ich alles vom Sand befreit). Gegen 12 Uhr ist alles trocken, sauber, voll oder entsandet. Nur die Akkus sind noch nicht ganz fertig geladen.

Ich setze mich auf die Couch und spüre immer noch eine große Müdigkeit. Vermutlich war es das Adrenalin, dass mich die letzten Tage auf Draht gehalten hat, mutmaßt Martin. Ich merke jedenfalls, dass nicht nur meinem Equipment, sondern auch mir die unfreiwillige Pause sehr gut tut.

Und während ich so durch meine Timeline scrolle … schlafe ich ein. Ich muss so 2 Stunden weg gewesen sein. Als ich aufwache, ist es jedenfalls 14:00 und ich habe Hunger. Wir holen uns bei einem der ältesten Fischläden Deutschlands Fischbrötchen – unter anderem sind sie die Erfinder des Bismark-Hering-Rezeptes. Sogar Merkel hat hier schon Fisch geholt, zeigt ein Foto. Joah, schmeckt auch nicht nicht schlecht.

Als bis 15:00 noch nicht der erlösende Anruf von der Werkstatt kommt, werde ich nervös. Martin sucht die Nummer raus und ich rufe an. Besetzt. Später wieder besetzt. Dann geht niemand ran. Was ist da los?

Gegen 15:50 beschließen wir einfach nochmal hinzufahren. Vor Ort vertröstet man mich, es würde noch ca. 15 Minuten dauern. Dann – endlich – meine neue Felge ist da.

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Der Einbau gestaltet sich schwierig, weil wir trial and error versuchen, die Nabenschaltung wieder zusammenzufriemeln. Am Ende schauen wir uns Youtube-Videos dazu an.

Aber gegen halb sechs passt alles wieder zusammen. Mein Rad ist wieder heile und einsatzbereit. Meine Tour kann weitergehen.

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Meine ursprünglichen Pläne sind natürlich nicht rettbar. Ich kann jetzt nicht mehr Greifswald und Rügen machen, sondern muss mich entscheiden. Zunächst tendiere ich zu Rügen, aber dann bekomme ich eine SMS von Leander Wattig. Er sei jetzt doch heute schon wieder in Greifswald. Perfekt.

Also mach ich mich auf die Tour runter nach Greifswald. Nur ca. 35 Km, aber es ist ja schon spät und ich noch nicht vollständig erholt.

Die Strecke ist schon eine der unbequemsten. Sie besteht fast ausschließlich aus Kopfsteinpflaster und so werde ich zwei Stunden lang durchgerüttelt.

Als ich gegen 20:00 in Greifswald ankomme hat mir Leander geschrieben. Sein Zug sei ausgefallen, er müsse einen späteren nehmen, aber ich könne ja schon mal zu seiner Family fahren. Was ich gerne annehme.

Ich werde herzlich empfangen, dusche und quatsche ein bisschen. Dann ziehe ich mich zurück zum Bloggen. Ungefähr jetzt müsste Leander dann auch am Bahnhof ankommen und wir können zu Abend essen.

Beim Tracking habe ich den Überblick verloren. Dauernd kackt die App ab, dauernd geht irgendwas schief. Ich bin jetzt bei 465 getrackten Km, die eigentlichen Km sollten aber viel höher sein. Vermutlich irgendwo bei 500.

Morgen mache ich mich auf den Weg zum CCCamp. So langsam werden die guten Zeltplätze rar, habe ich den Eindruck. Ich werde es nicht an einem Stück schaffen. Mal sehen was so kommt. Kennt ihr schöne Fahrradstrecken bzw. Zeltgelegenheiten zwischen Greifswald und Berlin?

Ah, da ist ja Leander. Dann können wir ja essen!

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Reisetagebuch 6

Tag 6:

Ich habe eigentlich ganz gut geschlafen, fühl mich aber noch gerädert. Es ist halb 7 als ich die Morgenroutine beginne. Energieriegel reinziehen, Zähneputzen, Sachen in den Taschen verstauen, Zelt abbauen, zusammenpacken. Los. Noch ein Abschiedsfoto vom tollen Strand:

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Als ich gerade zum Aufgang zwischen den Dünen hoch zum Radweg kraxle, kommen mir drei Parkranger entgegen. „Guten Morgen“ sagen sie. „Morgen“ antworte ich, während es mir kalt den Rücken runterläuft. Das war knapp. (Vielleicht auch nicht. Sie sind schnell wieder zurück. Wahrscheinlich hätten die mein Zelt gar nicht gefunden …)

Ich bin jedenfalls wieder unterwegs. Komoot will nicht, weil kein Netz. Gut, dann halt ohne Tracking.

Zunächst will ich in die nächste Stadt, frühstücken. Ich habe einen riesen Hunger. Nach einiger Verfranserei im Darß komme ich endlich nach Perow und esse ein paar belegte Brötchen, dann mache ich mich über Zingst auf Richtung Stralsund. 2015-08-09 09.39.14

Die Fahrradstrecke ist wieder im Einklang mit Komoot und wir haben uns wieder lieb. Und zwar so richtig. Ich würde sagen, es ist der Höhepunkt unserer Beziehung, denn die Strecke, die mich Komoot entlang führt ist atemberaubend schön.

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Ich fahre zwischen Feldern, Meer und Wiesen, die direkt aus der Windows-Hintergrundbildersammlung entsprungen sein könnten.

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Etwa bei Km 45 bekomme ich eine SMS, auf die ich gleich antworte.

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Martin ist ein Bekannter. Er ist befreundet mit meinem Freund Mark, mit dem ich im Büro sitze. Martin sitzt dann manchmal auch im Büro, daher kennen wir uns lose. Mark hatte ihn auf meine Tour aufmerksam gemacht, weil ich im Begriff war in seine Stadt zu kommen. Stralsund.

Nur eine halbe Stunde später höre ich ein leichtes, periodisches Rumpeln. Ich nehme zunächst an, dass wieder irgendwas von meinem Equipment zwischen Rad und Taschen gelangt sein muss. Aber da ist nichts. Ich fahre weiter. Das Rumpeln hört nicht auf. Ich steige noch mal vom Rad, sehe nichts. Fahre weiter. Das Rumpeln wird deutlicher. Mir wird klar, dass es sich um was ernsteres handeln muss. Ich sehe, dass das Rad unrund läuft. Habe ich mir eine 8 reingefahren? Aber wann? Es gab kein Ereignis, das dies rechtfertigen würde.

Ich halte nochmal an und schiebe ganz langsam. Da, die Felge scheint an einer Stelle mit der Bremse zu kollidieren. Zunächst denke ich, die Bremse habe sich verstellt, doch dann seh ich die Verformung in der Felge.

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Mist. Eine kaputte Felge hat mir gerade noch gefehlt. Einen Reifen hätt ich noch gewechselt bekommen, aber das. Naja, es sind nur noch knappe 20 Km bis nach Stralsund. Erstmal dahin eiern und dann mal weitersehen.

Ich steige wieder aufs Rad. Es rumpelt, aber das wird ja wohl noch zu schaffen zu sein. Doch das Rumpeln wird lauter, das Treten anstrengender. Verflucht. So komm ich nicht weiter. Nach etwa 100 Metern steige ab und muss aufgeben.

Und nun? Nun sitze ich mitten in der Pampa mit meinem Gepäck und dem Rad und es ist Sonntag. Ich schreibe Martin, dass das mit dem Mittagessen nichts wird, da ich eine Panne habe.

Ich rufe bei der Taxizentrale an. Dort sagt man mir, dass ich in ganz Stralsund kein Taxi finden würde, das mein Fahrrad mitnehmen würde. Wäre einmal so entschieden worden. Achso ja, na dann.

Auch der ADAC will nicht. „Wir schleppen nur Dinge ab, die ein Nummernschild haben.“

Doch Martin ruft an. Er könne mich mit dem Auto abholen. Ich bin gerettet. Nach einer knappen Stunde kommt er vorbei und findet mich am Straßenrand.

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Martin schaut sich die Felge an. „Ist wohl durchgebremst“, sagt er. Wir laden alles ein und fahren zu ihm. Nachdem wir dort meinen Krempel abgeladen haben, lade ich meinen Retter erstmal zum Essen ein.

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Martin hat auch einen tollen Hund namens Piet.

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Martin ist selber Radfahrer, nur mit sehr viel mehr Erfahrung und Ehrgeiz. Er wollte selbst gerade rausfahren – er macht immer Tagestouren – als ihn mein Notruf ereilte.

Nachdem ich bei ihm geduscht habe (war das herrlich!) und meine Wäsche in die Waschmaschine und die Akkus an die Steckdose getan habe, konnte er dann auch tatsächlich noch mal los und ich hatte Zeit die Stadt zu erkunden.

Stralsund ist sicherlich die schönste Stadt auf meiner Reise bisher.

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Um 19:00 treffen wir uns wieder. Martin kocht leckere Sportlernahrung (habe vergessen wie man das nennt) und ich fange an zu bloggen, während ich Bier trinke.

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Es hätte alles viel, viel schlimmer kommen können.

Jetzt hängt alles davon ab, was die morgen im Fahrradladen sagen. Wenn die das einigermaßen bezahlbar morgen noch hinbekommen, ist meine Tour gerettet. Wenn nicht, muss ich gucken. Einen Tag kann ich hier noch verbringen. Dann fahr ich halt mit dem Zug nach Rügen oder so. Wenn es mehrere Tage dauert, weil die was bestellen müssen oder wenn die das ganze Rad samt Gangschaltung austauschen müssen, habe ich ein Problem.

Alles hängt von morgen ab. Wünscht mir Glück!

Jetzt geh ich jedenfalls erstmal auf die Couch. Und das wird sehr gemütlich nach fünf Nächten Isomatte.

Reisetagbuch 5

Tag 5:

Die Luftmatratze: nass. Der Schlafsack: nass. Das Zelt: nass. Meine Klamotten: nass. Ich: nass. Alles, was ich auf dieser Tour besitze ist nass. Es hat die ganze Nacht geregnet und das Zelt war nur sehr notdürftig aufgebaut. Mein Fehler. Ich dachte ja, ich hätte das Unwetter besiegt. Aber das Wetter hat immer den längeren Atem.

Ich hab kaum geschlafen. Die Schweinshaxe von gestern liegt mir sehr quer im Magen. Vor allem mit dem Orangensaft, den ich draufgekippt habe. Das, und das Donnern und Blitzen die ganze Nacht haben mich wach gehalten. Ich habe höchtens hier und da ein Stündchen Schlaf abbekommen.

Als ich um 7 das letzte mal aufwache, ist mein Magen wieder einigermaßen ok. Aber es pladdert immer noch überall rein. Genervt schau ich aufs Regenradar. Gegen 8 wird es kurz aufhören zu regnen. Bis 9. Dann geht es wieder los. Wettervorhersage sagt bis mindestens 14 Uhr Regen. Ich checke meine Optionen. Einfach im Zelt liegen bleiben und ein wenig weiterschlafen, oder die Stunde nutzen, alles zusammenzupacken und dem Regen zum Trotz weiterzufahren. Ich entscheide mich für letzteres. (Bin ja nicht zum Spaß hier, haha!)

Das Zelt zusammenzubekommen ist diesmal schon deswegen ein Problem, weil sich überall Nacktschnecken angeschleimt haben. Die muss ich erstmal vorsichtig überall losmachen. Ich bin sehr genervt. Meine Ausrüstung ist so nass, dass sie bestimmt ein paar Kilo mehr wiegt als sonst.

Das Fahrrad und ich sind bepackt und ich schiebe die Möhre das Feld entlang. Es fängt wieder an zu regnen. Da muss ich jetzt durch. Eine Nacktschnecke sitzt auf meiner Gangschaltung. Hallo.

Ich fahre langsam und mühselig und suche mir meinen Weg raus aus Rostock. Komoot will mich immer noch durch den Hafen schicken und nervt mich. Ich schaffe es, einen funktionablen Weg hinaus zu finden, bin aber von der von Komoot geplanten Strecke abgekommen. „Die Tour wird agebasst“. Ja doch!

Ach ja, noch ein Update von gestern. Ich habe gestern fuckin 96 Km gemacht. Und davon waren 20 für die Katz, weil Komoot scheiße gebaut hat. !%&$?-App!

Als ich wieder on Track bin, führt mich Komoot wieder ganz passabel Richtung vorpommersche Boddenlandschaft. Nach etwa einer Stunde hört es auch auf zu regnen. Es ist immer noch sehr schwül, aber dafür kommt die Sonne ab und an raus.

Vor Diehagen nehme ich eine andere Strecke, als die Komoot vorschlägt. Ich will da auf diese Halbinsel rauf, Komoot will aber, dass ich von unten rum her fahre. Die App schafft es auch nicht eine Alternativroute vorzuschlagen, die mir zusagen würde. Es kennt die Strecken hier ganz einfach alle nicht. Dumme App. Gottseidank ist das hier nicht so kompliziert und gut ausgeschildert. Ich finde mich allein zurecht.

Es ist eine wunderschöne Strecke. Meistens auf einem Deich entlang, mit Meerblick und vielen Zugängen zum Strand.

So langsam ist das Wetter wieder richtig ok, und meine Laune bessert sich. Da ich so früh los bin, hab ich schon vor der Mittagszeit ordentlich Km gemacht und bin fast an meinem Wunschziel.

Um 12 kehre ich in ein Fischrestaurant ein. Ich frage höflich, ob ich hier auch meinen Laptop laden kann und die Bedienung schaut mich an, als hätte ich sie gerade um ihr erstgeborenes gebeten. „Also, nein. Ich weiß nicht. Also …“ stottert sie. Ich erkläre ihr, dass Strom für einen Laptop sehr wenig kostet und biete an, 2 Cent extra zu zahlen. Am Ende lässt sie sich ein. Ich komme mir vor, wie ein Alien.

Währen mein Laptop und mein Telefon laden, esse ich das hier.

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Es ist großartig und viel bekömmlicher als Haxe. Ich verbringe etwa anderthalb Stunden hier bis die Akkus wieder im 90%-Bereich sind. Dann breche ich auf.

Kurz nach Arenshoop, dem Ort mit dem Restaurant, geht der Fahrradweg von der Straße weg. Während die Straße weiter Inlands führt, geht der Fahrradweg entlang des Naturschutzgebietes Darß. Hier gibt es wunderbare Strandzugänge, die nicht so überlaufen sind, weil Autos hier nicht hinkommen. Ich radle durch den Wald und nehme gleich die erste Anlaufstelle zum Weststrand.

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Es ist wunderschön. Der schönste Osteseestrand, den ich bisher sah. Und es ist wenig los. Trotz Wochenende im August. (Die offiziellen Zeltplätze sind übrigens alle überfüllt. Ich habe extra überall nachgefragt.)

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Hier verbringe ich den Tag. Ich kann eine Pause gebrauchen. Die letzte Nacht hat mich sehr geschlaucht. Außerdem habe ich noch kein Wasser am Körper gesehen, seit ich aus Poel weg bin. Der Sprung in die Ostsee ist dementsprechend wohltuend.

Das wars für heute. Hab nur 57 Km gemacht. Aber ich brauch das jetzt.

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Ich liege am Strand, nackt (es ist ein FKK Strand), springe ab und zu ins Wasser und schlafe fast in der Sonne ein.

Gegen 17:00 beginne ich Campingpläne zu schmieden. Ich gehe rauf auf die Dünen und suche einen geeigneten Platz. Da, in der Kuhle ist ideal.

So langsam lichtet sich der Strand. Leute brechen auf, wollen nicht im Dunkeln durch den Wald radeln. Gegen 18:00 ist der Strand fast leer. Ich gehe rüber zu meinem Fahrrad, wo noch die Taschen dranhängen. Ich schließe es ab, nehme die Taschen ab und rolle das Rad ins Gebüsch. Dann strotze ich mit den Taschen den Strand entlang.

Das Zelt ist aufgebaut und die Taschen verstaut.

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Ich gehe mit dem Kochgeschirr zurück an den Strand. Es ist Essenszeit. Der Kocher braucht ungewöhnlich lange, bis er das Wasser zum Kochen bringt. Vermutlich ist das das Ende der erste Kartusche. Hoffentlich reicht sie morgen noch zum Wasser kochen.

Erst gegen sieben ist das Essen fertig. Okok, hier ein Foto:

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Der Sonnenuntergang wird von Wolken verhindert. Ich nehme das Notebook raus und fange an zu bloggen. Und das Wetter fängt an zu regnen. Nicht doll, aber doll genug, dass ich meinen Rechner doch lieber wieder einpacke.

Ich gehe zurück zum Zelt und schreibe dort weiter. Hier hinten habe ich aber kein Netz … Es regnet nicht mehr. Ich glaube, ich geh noch mal raus. Nur zum Bloggen.

Ja, hier ist es besser. Oh, und der Sonnenuntergang ist auch nicht schlecht.

Morgen werde ich über Stralsund (Mittagessen) nach Rügen fahren. Dort will ich endlich mal wieder auf einen Campingplatz. Duschen! Ich will so gerne mal wieder heiß duschen!

Auch: So ganz, ganz, ganz langsam vermisse ich menschenliche Interaktion. Aber gut, das CCCamp ist ja nicht mehr weit. Also zeitlich. Räumlich schon, wie ich heute erst nachgeschlagen hab. Ich dachte, es wäre ne lockere Tagesreise von Greifswald (meiner letzten Station) entfernt, aber nee. 140 Km! Das schaff ich nicht an einem Tag. Ich werd mal gucken, wie ich das umorganisiere. Entweder ich streich den freien Tag auf Rügen, oder ich komm einfach am 13.

Kurz zur Bilanz. Ich bin jetzt bei KM 368. Und es sind noch einige zu fahren.

Während der Sonnenuntergang sich einem dramatischen Höhepunkt nähert und ich das hier schreibe, kommen die Mücken und attackieren mich von allen Seiten.

Nur … noch … dieses … letzte … Foto … Arrggggh!

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Reisetagebuch 4 Fortsetzung

Tag 4 / Fortsetzung:

Was für ein krasser Tag!

Also kurz, nachdem ich die letzten Zeilen schrieb, hat es aufgehört zu regnen. Ich also Zelt abbauen, Sachen packen und dabei möglichst wenig Sand mitnehmen. Es ist brüllend schwül. Ich schwitze und fluche. Dann ist alles zusammen, alles verstaut und es kann losgehen.

Mein Hunger treibt mich aber zunächst Richtung Timmendorf. Dort bei einem kleinen Imbiss bestell ich mir Matjesfilet mit Bratkartoffeln. (Ja, ich stehe auf Matjes. Außerdem ist es voll super, wenn man Sport macht. Denkt an die Elektrolyte!) Dazu mach ich natürlich erstmal meine Wasservorräte voll. (Auch so ein Ritual, dass mir in Fleisch und Blut übergegangen ist.)

Ich also runter von Poel, immer der App nach. Blöder weise habe ich gestern die App nicht mit „Pause“ beendet sondern habe mich vertouched (hihi) und bin auf „Ende“ gekommen. Nun ist mein Tracking weg. Also musste ich ein neues starten.

Die Neue Route geht aber davon aus, dass ich zunächst einmal erst wieder nach Wismar will. Also radle ich und radle ich und bemerke erst den Fehler als ich schon über 5 Km in die falsche Richtung unterwegs bin. Als ich den Fehler bemerke, ärgere ich mich gleich doppelt. Nicht nur habe ich 10 Km umsonst zurückgelegt, nein. Der großen, grauen Gewitterfront, die da von Westen auf mich zurollt, hätte ich leichter hinter mich lassen können.

Ich also wieder Richtung Norden. Bis ich meinen Weg wiedergefunden habe, ist die Front bereits so nah, dass ich die Striemen am Horizont sehen kann, die Regen versprechen. Ein Blick auf Regenradar macht klar, dass ich Glück habe, aber mich durchaus sputen muss. Die Front verläuft nordwärts, aber drückt sich dabei auch immer weiter Richtung Osten – auf mich zu. Ich hingegen muss weiter Richtung Nord-Osten. Der Gewitterfront vorweg.

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Ich will nicht nass werden, also beschließe ich, mir mit der Gewitterfront ein Rennen bis nach Rostock zu geben. Ich steige in die Pedale und versuche Land zu gewinnen, während die graue Front sich links von mir immer weiter nähert.

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Ich radle also was das Zeug hält. So langsam nehme ich bei mir einen deutlichen Trainingseffekt wahr. Als ich die 30 Km zusammen habe, ohne größere Pause (ich muss alle Stunde mal die Wasservorräte umfüllen), merke ich das nur beiläufig. Selbst bei dem höhren Tempo. Zum Vergleich: bislang war ich die Tour mit 18 Km/h Durchschnittsgeschwindigkeit unterwegs. Jetzt bewege ich mich zwischen 21 und 22 Km/h.

Ich und die Gewitterfront bewegen uns fast perfekt parallel. Nur, dass sie ein bisschen schneller scheint. Bei Km 40 merke ich die ersten Ermüdungserscheinungen. Wie weit ist es eigentlich noch nach Rostock. Egal, wird schon nicht so weit sein. 50Km oder so.

Bei Km 50 ist Rostock nicht mal ausgeschildert. Dafür ist die Gewitterfront fast über mir. Ich spüre die ersten Tropfen. Mist. Ich muss schneller treten.

Bei Peplow dann die Wende. Meine Strecke geht direkter nach Osten weg. Das verschafft mir Luft. Langsam aber stetig radel ich mich frei. Der Himmel über mir klar sich auf. Ich versuche dennoch das Tempo zu halten. So langsam spüre ich meine Beine. Und mein Arsch. So ein Fahrradsattel ist nicht gerade das bequemste.

Bei Neubokow seh ich das erste mal die Unterzeile „Landkreis Rostock“ und freue mich. Kann ja nicht mehr allzu weit sein.

Dann geht es erstmal wieder nordwärts. Ich merke, wie die Gewitterfront wieder näher kommt. Oha, da ist sie. Direkt vor mir.
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Ich geb noch mehr Gas. Wieder die Tropfen. Bei Km 60 ist Rostock immer noch nicht ausgeschildert und die Gewitterfront ist ganz nah.

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Verdammt. Wie weit ist dieses verfluchte Rostock denn noch? Da ein Schild. Rostock 23 Km. Nooooooiiiiin!!

Ich radel immer noch wie wild. Die Tropfen werden weniger. Ich schwimme mich frei. Aber ich bin völlig am Ende. Über 60 Km ohne pause mit vollem Gepack, vollgas. Ich kann gleich nicht mehr. Das Gewitter immer noch im Nacken.

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10 Km vor Rostock wird klar. Ich hab es geschafft. Ich hab das Gewitter abgehängt.

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Aber zu was für einem Preis. Ich war die Tour noch nie so fertig. Völlig unterzuckert. 76 Km Vollgas. Ich will in Rostock sofort eine riesige Portion – irgendwas Deftiges essen. Das mache ich dann auch. So als Siegerehrung.

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(Ich schaffe es natürlich nicht, diese Riesenhaxe aufzuessen.)

Nach dem Essen gehe ich erstmal zu Netto einkaufen, Vorräte auffüllen. Ich schau mich etwas in Rostock um. Es ist hübsch.

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Aber ich muss weiter. Ich muss noch einen Platz zum Zelten finden, außerhalb von Rostock. Die App führt mich weiter auf meiner Route, durch wunderliche Grünanlagen am Rande von Rostock. Es ist schön. Und wie als Anerkennung zwischen zwei Sportler schenkt mir der Himmel ein wunderschönes Bild.

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Es ist bereits kurz vor 8 und ich bin unter Zeitdruck. (Mal wieder). Wenn ich vor 9 mein Zelt nicht aufgebaut habe, killen mich die Mücken und im dunkeln aufbauen ist eh doof.

Die App führt mich direkt in den Hafen. Finde ich nett. Ich mag diese riesigen Industrieanlangen. Aber dennoch merkwürdig. Wo soll es denn hier hingehen?

Nach einigen Km im Hafengelände komme ich an ein Tor mit polnischer Aufschrift. Die App sagt: weiter geradeaus. Ich sage: ich glaube nicht.

Ich drehe um. „Route wird angebasst.“. Und „Bitte jetzt umkehren“. Ich sage: „Fick dich! Deinetwegen hab ich mich verfranzt“. Ich muss tatsächlich den ganzen Weg zurück. Ich fahre wieder zurück zu dem Grünstreifen. Hier war nett.

Ich schlage mein Notunterkunftszelt auf. Mitten in der Wallachei, hinter einem Busch am Feld. Ich tarne das Zelt mit ein paar abgerissenen Zweigen. Muss reichen.