Die Pfadgelegenheit

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Dies ist ein temporär stabiler Explainer über die Pfadgelegenheit. Ich editiere hier immer mal wieder rum, nicht wundern.
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Keine Angst! Der Begriff der Pfadgelegenheit ist genau das, was du dir intuitiv darunter vorstellst. Du stehst an einem Punkt eines Weges und von diesem Weg gehen mehrere andere Wege ab. Pfadgelegenheiten. Wo werden sie dich hinführen, wirst du fragen? Zu anderen Pfaden, zu anderen Pfaden.

Die Eingebung hatte ich, als ich mal zusammen mit meiner Freundin den Weidetorkreisel in Hannover zu Fuß überqueren wollte (blöde Idee). Das ist ein Autokreisel mit zwei bis drei Spuren und eine davon mündet in einer Autobahnauffahrt. Fußgängerampeln gibt es da nicht, also warteten wir mehrmals am Straßenrand auf autofreie Gelegenheiten, um die jeweils aktuell vor uns liegende mehrspurige Straße zu überqueren und in all diesem Chaos erkannte ich mein Leben wieder. Einbegriffen in Infrastrukturen, die wir kaum kontrollieren können, lauern wir auf die jeweils nächste Pfadgelegenheit, um Zug um Zug weiterzukommen.

Und plötzlich sind sie überall.

Ob wir vor dem Herd stehen und etwas kochen wollen, ob wir am Computer mit Programmen arbeiten, ob wir durch eine Stadt navigieren oder ein Haus bauen: Überall wird unser Leben ermöglicht, reguliert und verhindert durch Pfadgelegenheiten.

In einer ersten Annäherung könnte man vielleicht sagen, dass Pfadgelegenheiten nützliche Konstellationen im Zusammenspiel der uns zur Verfügung stehenden Infrastrukturen sind.

Ich habe das Wort ganz beiläufig bei meiner Abkehr vom Individualismus erfunden und hatte es kaum beachtet, weil es so unscheinbar ist.

Und das ist auch schon alles, was du über die Pfadgelegenheit wissen musst: Es ist einfach eine schöne Metapher, der Rest muss dich nicht weiter interessieren. Ab jetzt kommen nur noch langweilige theoretische Überlegungen, kompliziert und verwirrend und diese pinke Pille da ist eh nicht für dich und macht dich „woke“ und so.

Der Ausgangspunkt: das Individuum

Ok, ok, du willst es nicht anders. Dann mach dir einen Kaffee oder Tee, das kann ne Weile dauern.

Kaum hatte ich die „Pfadgelegenheit“ zum Nachdenken eingesetzt, puzzelte sich alles plötzlich ganz schnell zusammen: Die Pfadgelegenheit ist der Missing Link zwischen Mensch und Netzwerk.

Versucht es mal: Man kann das Netzwerk nicht mit dem Subjektentwurf des Individuums zusammenbringen, jedenfalls nicht sinnvoll. Ganz grob geht die Erzählung doch so: Du bist ein Geist/eine Intelligenz in einem Körper und der Körper ist in einer Welt und in der Welt gibt es Objekte. Das Individuum hat „Agency“ oder „Freiheit“ in dieser Welt, insofern es fähig ist, sich in der Welt frei zu bewegen und das schließt die Fähigkeit ein, Objekte durch seinen Willen zu kontrollieren. Das ist der heroische Subjektentwurf, von dem wir runterkommen müssen, wenn wir ein vernetzes Subjekt denken wollen.

Ich hatte in Krasse Links No 42 ein Paper von analytischen Philosoph*innen besprochen, die versucht haben, dieses Modell von Agency einmal genau zu definieren und dabei heillos scheiterten.

Sie definieren Agency als „an input-output system’s capacity to steer outcomes toward a goal“ und destillieren daraus vier Kriterien: ein Agent hat Agency, wenn „it has (1) a boundary, (2) is the source of its own actions, (3) has a goal, and (4) adaptively selects outputs based on inputs„.

Es macht Spaß zu lesen, wie sie durch jeden dieser Punkte steppen und daran scheitern, diese Fragen „objektiv“ zu beantworten, aber zur Anschauung hier der Abschnitt über die Zuordbarkeit von Handlungen:

For instance, a wall being knocked over by a wrecking ball could be understood as taking the action of being knocked over. However, the source of this action (and the corresponding potential energy) did not ultimately originate in the wall, but rather in the wrecking ball and its operator.

Und was ist mit dem Chef des Operators, der ihm den Befehl gab, die Mauer abreißen? Was ist mit der Kapitalist*in, gemäß deren Plänen die Wand abgerissen wird? Etc.

Kenton et al. (2023) recently develop a causal account that determines which entities in a causal model might be said to satisfy roughly this property. The difficulty, as Kenton et al. note, is that reaching a conclusion about the source of action in a causal model rests entirely on the choice of causal variables. In this way, identifying whether a given subsystem originates its own action depends on an independent, unrelated choice: the causal variables. Kenton et al. state directly: ”Note [discovering an agent in a causal model] is relative to a frame – a choice of variables that appear in our causal model” (p. 2, Kenton et al., 2023).

Je genauer man hinschaut, sind Grenzen immer nur behauptet, ist der Beweger immer schon bewegt, das Ziel niemals komplett das Eigene und Adaption immer wechselseitig. Dieses Paper ist eine anschauliche Dekonstruktion der Ideologie des Individuums, aber ohne zu merken. […]

Es scheint fast so, als wäre der Agent nie der Agent, sondern immer nur der „Agent plus Welt“ und als residiere die Agency nicht im Agenten, sondern … in seinen Beziehungen zur Welt? Doch das ist halt im „Reference Frame“ des Individuums schlicht nicht darstellbar.

Dass wir über Netzwerkgraphen von Personen oder Institutionen, also Objekten, nicht hinausgekommen sind, hat einen einfachen Grund: All unsere Begriffe, Konzepte, Kategorien und Selbstentwürfe widersprechen der Vorstellung der Eingebundenheit. Und das wiederum liegt daran, dass sie zu einem Großteil auf dem Subjektentwurf des Individuums basieren und daran scheiterten auch die analytischen Philosophen. Sie kamen selbst nicht aus dem Subjektentwurf raus, obwohl seine Inkonsistenz ihnen vor Augen lag, denn dafür hätten sie erst ihr eigenes Modell von sich selbst in frage stellen müssen. Und sowas tut man ja in der analytischen Philosophie bekanntlich nicht.

Here is the thing: Das Individuum ist nicht nur abzulehnen, weil es inhärente faschistische Tendenzen hat und nicht nur weil es nicht netzwerkfähig ist, sondern auch, weil es, sorry, einfach Bullshit ist. Das Individuum ist eine männlich-hegemoniale Machtphantasie und als Modell unserer Subjektivität inkonsistent und extrem verzerrend.

Trotzdem ist das Individuum zumindest in unseren Kreisen ziemlich Hegemonial und das ist ein Problem, denn das heißt: wir alle haben von klein auf gelernt, uns als Individuen zu erzählen, weswegen uns das Netzwerkdenken erstmal fremd und ungewohnt vorkommt. Aber ich habe festgestellt, dass es, wenn man es ein bisschen einübt, auch sehr intuitiv ist und im Gegensatz zum Individuum/Agenten auch erstaunlich konsistent und wenn man es länger anwendet, dann merkt man bald, dass das Individuum eigentlich ein Bug im Betriebsystem unseres Denkens ist, der die Sicht auf die Gesellschaft verhindert.

Mit unseren bisherigen Netzwerkdenken haben wir schon vieles zu beschreiben gelernt: Personennetzwerke oder „Kommunikationsnetzwerke“, Infrastrukturnetzwerke, biologische Netzwerke. Aber das eigentliche Potential des Netzwerkdenken liegt in der Beschreibung der überpersonalen Netzwerke, in die wir eingebunden sind. Die „Strukturen“. Wir haben nie wirklich gelernt, uns selbst im Verhältnis zur Gesellschaft zu erzählen und damit auch zu sehen.

Aber um dahin zu kommen, müssen wir erst das Individuum überwinden. Das machen wir zum einen durch die Schaffung der semantischen Pfadalternative „Dividuum“ (Ausführlicher Explainer). Kurzversion: Das Dividuum ist ein Netzwerkknoten ohne Agency, vollkommen definiert durch seine Milliarden Verbindungen.

Dieser Text ist quasi der zweite Schritt: die Pfadgelegenheit zu denken. Die Pfadgelegenheit ist der wichtigste Begriff von allen. Erst mit der Pfadgelegenheit können wir den Subjektentwurf des Indviduums vollständig ersetzen und das tun wir, indem wir die „Agency“ des Dividuums und damit auch seine gesellschaftlich aggregierte Handlungslogik in die Kanten des Netzwerks verlegen.

Jetzt noch mal richtig. Was ist eine Pfadgelegenheit?

Im Gegensatz zum Individuum, das sich selbst als handelnden „Agent“ begreift, hat das Dividuum seine Agency an die „Pfadgelegenheit“ ausgelagert. Die Pfadgelegenheit ist quasi ein dezentrierter Subjektentwurf: Statt ein Agenten-Modell haben wir ein Dividuums-Welt-Interaktions-Modell.

Das Wort „Pfadgelegenheit“ ist einerseits einfach, intuitiv und alltagspraktisch, aber andererseits auch theoretisch anspruchsvoll und komplex und fungiert deswegen wie ein „semantischer Hack“: Egal, wie tief man einsteigt, die intuitive Handlichkeit bleibt erhalten.

Die beste Überblicks-Zusammenfassung, was eine Pfadgelegenheit ist und umfasst, findet sich in Krasse Links 68.

der begriff der „pfadgelegenheit“ ist der versuch, das amalgam aus handlung und den dafür notwendigen infrastrukturen in einen netzwerkfähigen begriff zu verpacken und so menschliche handlungen wieder an die gesellschaftlichen strukturen rückzukoppeln.

die grundannahme: du kannst nur handeln, wenn es einen weg dazu gibt. wir gehen nicht „unseren“ pfad, wir entscheiden uns zwischen materiell gegebenen pfaden.

„pfadgelegenheit“ ist so ein einfaches, unscheinbares wort, aber auch so extrem nützlich. hier ein paar beispiele:

wir haben damit eine pfadgelegenheit für eine infrastrukturbewusstere semantik:

eine pfadsetzung ist eine pfadentscheidung aus einer gegebenen menge aus pfadgelegenheiten, die rückblickend zur pfadabhängigkeit wird.

zum netzwerk werden pfadgelegenheiten, wenn man versteht, dass der ganze sinn von pfadgelegehheiten ist, neue pfadgelegenheiten zu ermöglichen.
bonusnutzen: das denken in pfadgelegenheiten entfaltet implizit und ganz automatisch eine räumliche und historische struktur, die sich durch pfad-abhängigkeiten beschreiben lässt und damit implizit auch macht abbildet. das funktioniert sowohl für materielle wie für semantische infrastrukturen.

beispiel: die einfach scheinende handlung: „nudeln kochen“ können wir mithilfe der „pfadgelegenheiten/pfadabhängigkeiten“-semantik in ein beliebig feingranulares netzwerk aus logistikunternehmen, wasserrohren, stromkabeln, historischen ereignissen, kraftwerken, weizenfeldern und arbeitsbedingungen in anderen ländern auffalten.

semantische pfadgelegenheiten:

jedes wort, jeder satz, jeder gedanke ist pfadgelegenheit für weitere semantische pfadgelegenheiten.

jedes wissen bereitet pfadgelegenheiten für neues wissen. aber auch semantische pfadgelegenheiten haben materielle pfadabhängigkeiten. bücher im elternhaus, medienkonsum, schulalltag, der vermittelte „wert von bildung“ etc.

auch: verschwörungstheorien bieten pfadgelegeheiten in andere verschwörungstheorien, „rabbitholes“ bestehen aus semantischen pfadgelegenheiten.

das netz aus semantischen pfadabhängigkeiten in das wir reingeboren wurden, ist die matrix in der wir leben. wir haben nicht genug abstand dazu, sie zu hinterfragen. jedenfalls nicht „individuell“. auch hier sind wir auf pfadgelegenheiten angwiesen, auf andere kritische beobachter*innen und ihren alternativen semantischen pfadgelegenheiten zur erklärung der welt.

aus all dem ergibt sich die endgültige dekonstruktion des „individuums“. es gibt kein ungeteiltes res cogitans, alles ist res extensa. das dividuum ist der schnittpunkt aus milliarden netzwerken. es lebt nicht nur in seiner infrastruktur, das dividuum _ist_ seine infrastruktur.

ich nenne das „relationaler materialismus“. es ist im grunde eine fusion aus sience & technology studies und graphentheorie, inspiriert von spinoza, deleuze und donna haraway.

Die „Pfadgelegenheit“ ist ein semantischer Superkleber. Sie verklebt das Subjekt mit seiner Welt, Agency mit Infrastruktur, Handlung mit Gesellschaft, Technologie mit Politik, Gelegenheit mit Abhängigkeit, Freiheit mit Widerstand, Evolutionstheorie mit Zeichentheorie, Poststrukturalismus mit Graphentheorie, Wirtschaft mit Macht, das Materielle mit dem Semantischen, das Hier mit dem Jetzt und markiert damit die atmende Grenze zwischen materieller Realität und dem Virtuellen und sogar dem Imaginären.

Eine Pfadgelegenheit ist immer materiell, aber sie ist immer auch semantisch, denn unsere Perspektive ist niemals „individuell“, sondern immer dividuell. Weil wir keine Individuen sind, die „aus dem Kopf“ oder „aus dem Bauch“ heraus entscheiden, sondern Dividuen, die einander beobachten, wie sie Pfadgelegenheiten wahrnehmen, folgen wir einander auf mehr oder minder etablierten und mehr oder minder populären Nutzen- und Bedeutungspfaden durchs Leben und erzählen uns die Richtigkeit unserer Pfadentscheidungen entlang der Rechtfertigungserzählungen, die wir dabei so aufgeschnappt haben.

Auch praktisch: Der Begriff ist skalenfrei: Die Pfadgelegenheit ist genauso das Jobangebot, der nächste Zug beim Schach, die Investition, die Beziehungsofferte, die Gelegenheit, ein anderes Land anzugreifen, der Link, oder die vor uns liegende Autobahnausfahrt.

Pfadgelegenheiten sind rekursiv/fraktal. Pfadgelegenheiten bestehen aus Pfadgelegenheiten, denn damit etwas funktioniert, muss immer erst etwas anderes funktionieren, etc. Und wenn das dann funktioniert, bauen andere Pfade darauf auf, etc. … Ich könnte den ganzen Tag über die Vorzüge dieses Begriffs schwärmen.

Hier eine vorläufige Definition:

Pfadgelegenheit bezeichnet den interdependenten Vektor aus Perspektive, projizierter Handlung und dafür notwendiger Infrastruktur, durch den sich an einem konkreten Ort zu einer konkreten Zeit unsere „Agency“ entfaltet.

  • Perspektive: Das heißt der spezifische materielle Kontext: Klar, die Relevanz und Plausibilität von Pfadgelegenheiten verändert sich durch die dir zugängliche materielle Infrastruktur. Aber auch der spezifische semantische Kontext macht die Perspektive aus: je nach deinem spezifischen Wissen, deiner spezifischen kulturellen Prägung und deinen spezifischen Plänen, siehst du unterschiedliche Pfadgelegenheiten in derselben Welt.
  • projizierte Handlung: Also eine Handlung, die sowohl materiell möglich, als auch semantisch plausibel sein muss, aber materiell noch nicht aktualisiert ist.
  • Infrastruktur: Alles, was funktionieren muss, um die projizierte Handlung möglich zu machen und alles was funktionieren muss, damit wiederum das funktioniert, etc.

Das klingt erstmal nicht so kompliziert, aber denkt man die Interdependenzen mit, wirds vertrackt. Mal sehen: Die projizierte Handlung ist von der Perspektive abhängig, die Perspektive ist von der verfügbaren Infrastruktur abhängig, die verfügbare Infrastruktur ist von der Perspektive abhängig, die ja selbst aus projizierten Handlungen besteht, die wiederum von der Infrastruktur abhängen.

Die dividuelle Weltinteraktion als materielle Turing-Maschine

Aber hier ist der Trick: die ständige neu erzeugte Spannung zwischen den interdependenten Vektoren Perspektive, projizierte Handlung und Infrastruktur, treibt die Maschine voran.

Hier wie es doch eigentlich läuft: Die vorhandenen Infrastrukturen machen aus einer bestimmten Perspektive die projizierte Handlung einer Pfadgelegenheit plausibel, die, sobald sie genommen wurde, Teil der pfadabhängigen Infrastruktur wird, was wiederum die Perspektive um eine Pfadgelegenheit weiterschiebt, damit sie die nächste Pfadgelegenheit anvisieren kann.

Stellen wir uns vor, es ist Sommer und ihr wollt einen Sommerausflug nach München machen, denn Sommerausflüge nach München sind schön. Dafür muss man aber unterschiedliche pfadabhängige Pfadgelegegenheiten wahrnehmen, etwa „Ticket kaufen“.

Wir können uns das so vorstellen: Die Pfadgelegenheit „Ausflug nach München“ rückt die Pfadgelegenheit „Zugfahren“ in unsere Perspektive, die wiederum die Perspektive auf „Tickets Buchen“ verschiebt. Ist die bis dahin projizierte Handlung: „Tickets Buchen“ vollzogen, wandern die Tickets in die Infrastruktur und bereiten damit die Pfadgelegenheit des nächsten Schritts vor. Die Veränderung der Infrastruktur wiederum verschiebt die Perspektive, nämlich unter anderem, um eine Pfadgelegenheit weiter. Zu, z.B. Termin in den Kalender eintragen, Hotel buchen, oder zum Bahnhof kommen und dann geht der Spaß geht von vorn los. Und so kommt man Zug um Zug zum Zug und schließlich nach München.

P (Perspektive)
I (Infrastruktur)
δ (Handlung)

δ : (Pt, It​) → (Pt+1​, It+1​)

Pt: „Tickets Buchen“ (aktueller Fokus)
It: Bahnwebsite, BahnInfrastruktur, Kreditkarte, Erwartungen

δ: Ausführung der Buchung

Pt+1: „zum Bahnhof kommen“, neues Perspektivfeld.
It+1: Bisherige Infrastruktur + Tickets

Die dividuelle Weltinteraktion ist eine materielle Turing-Maschine, die die Welt entlang der Übergangswahrscheinlichkeiten δ und über die Herstellung und Nutzung von Pfadgelegenheiten Schritt für Schritt in pfadangängige Infrastruktur verwandelt. Ich nenne sie deswegen auch das „Beppo der Straßenkehrer„-Modell der dividuellen Subjektivierung. Ein Besenstrich nach dem anderen und irgendwann ist die Straße sauber.

Aber weil wir uns im Gegensatz zu Beppo als „Individuen“ erzählen, die eine von ihrer Infrastruktur unabhängige Agency haben, verhalten wir uns eher wie Markow-Bots, die bei jedem ihre Schritte ihre Pfadabhängigkeiten vergessen und dennoch ihre Wahrscheinlichkeiten reproduzieren. Das Dividuum und seine Pfadgelegenheiten zu denken, bedeutet auch, mentale Verantwortung für die eigenen Infrastrukturen zu übernehmen.

Der erwartete Wert des Pfades

Das Problem der „antizipierten Handlung“ δ wurde in der Entwicklungsgeschichte des Maschine Learnings mit dem Konzept der „Q-Function“ gelöst und wie entstand erzähle ich in Krasse Links No 74.

Dieser Video-Explainer über KI dreht sich eigentlich um die Frage, in wie weit Schmerz die wesentliche Zutat ist, die Lernen ermöglicht, kommt dabei aber immer wieder auf die sogenannte „Value Function“ moderner Machine Learning-Systeme zurück.

Schon Claude Shannon führte als erster eine Art Value Function ein, um über die Ketten von Pfadentscheidungen nachzudenken, die ein Schachspiel ausmachen. Die Idee ist, jedem Status des Spiels einen Wert zuzuweisen, der sich aus den strategischen Positionen der relevanten Figuren errechnet. Mit der Value Function ergibt sich so die Möglichkeit einen Pfad zu evaluieren, ohne ihn wirklich zu gehen. Mit einer entsprechend ausgefuchsten Value Function, so dachte schon Shannon, gewänne man jedes Spiel.

Mit Neuronalen Netzen dachte man auf der richtigen Spur zu sein, aber erst mit der Neukonzeption der Value Function durch Christopher Whatskins gelingt der Durchbruch.

In seinem Paper „Learning from Delayed Rewards“ definiert er den Wert um, von dem Wert eines Status des Spiels, hin zu dem Wert einer Handlung im Status des Spiels, den er Q-Function nennt. Das, zusammen mit vielen „Hidden Layern“, ergibt das „Deep-Q-Network“, das sich bei Deep Mind Atari spielen beigebracht hat.

Q-Function errechnet also den subjektiven „Wert“ von Pfadgelegenheiten.

Was ist Freiheit?

In unserem Dividuums-Welt-Interaktions-Modell ergibt sich daraus ein anderes, aber gut formalisierbares Modell von Freiheit, bzw. Agency, das ich aus Anlass eines Interviews mit Joscha Bach in Krasse Links No 31 einmal so ausgemappt habe:

Das, was Joscha Agency nennt und sie der Intelligenz des „Agents“ zuschreibt, nennt die Cyborg Freiheit. Konkreter: horizontale Freiheit, bzw. Positive Freiheit. Man könnte sie auch relational-materielle Agency nennen.

Unsere Freiheit ist der Ausschnitt, der uns zugänglichen Pfade im Netzwerk der Pfadgelegenheiten.

Unsere Freiheit ist diskret, also abzählbar. Sie existiert nur in konkreten, materiellen Pfadgelegenheiten, die uns zu einem Zeitpunkt x zur Verfügung stehen: der Wasserhahn, das Stück Straße zum Weg auf die Arbeit, das Stellenangebot in der Zeitung, das Essen im Restaurant, das Wort auf der Zunge. Die Pfade, auf die die Pfadgelgenheiten führen sind ungewiss, aber das heißt nicht, dass wir ziel- und planlos sind.

Ziele sind Netzwerkzentralitäten im Netzwerk der Erzählungen. Wir sind immer auf Mission als Maincharakter in den vielen Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen und die steuern alle auf ein Happyend?

Pläne sind imaginierte Pfade im Netz der Pfadgelegenheiten auf dem Weg zum Happyend. Mal mehr mal weniger konkret, mal mehr oder weniger realistisch, etc. Damit ein Plan glückt, müssen Pfadgelegenheiten teils hart erarbeitet werden und manche Pfadgelegenheiten kann man nur erhoffen. Wenn die Ungewissheit zu groß wird, muss man Pläne auch beerdigen und das ist immer schmerzhaft.

Das Netz der Pfadgelegenheiten hat ebenfalls Netzwerkzentralitäten und die nennen wir „Liquidität“. Geld ist nicht der einzige, aber netzwerkzentralste Hub in diesem Netzwerk, zumindest im Kapitalismus.

Damit können wir schon mal drei Freiheiten ausmappen:

Die nominelle Freiheit ist die Anzahl, Vielfalt und Qualität der Pfadgelegenheiten, die von einem Dividuum zum Zeitpunkt X ausgehen und deren Länge durch das Geld als Radius begrenzt wird. Die nominelle Freiheit ist also der Ausschnitt im Netz der Pfadgelegenheiten, der für das Dividuum zum Zeitpunkt X zugänglich ist. Es ist nur eine theoretische Freiheit, weil sich niemand die Arbeit machen würde, diese Pfade auszukartographieren.

Die plausible Freiheit ist das viel kleinere Subset dieser Pfade, die dem Dividuum tatsächlich als „plausibel“ im Bewusstsein schwirren. Sie wird somit einerseits durch die nominelle Freiheit begrenzt, aber auch durch die dem Dividuum zugänglichen Erzählungen. Diese plausiblen Pfade sind natürlich imaginiert und auch hier gilt: sie sind nicht rigoros ausgemappt und schon gar nicht vollständig und oft auch gar nicht wirklich plausibel, wenn man genau hinsieht, aber sie bilden das Freiheits-Hintergrundrauschen, vor dessen Kulisse jede Pfadentscheidung getroffen wird. Sie ist der Raum, in dem wir planen und entscheiden. D.h. jede Pfadentscheidung ist immer eine Entscheidung gegen andere plausible Pfade in diesem Raum.

Die geplante Freiheit ist die Freiheit, die wir im Alltag spüren. Hier ist die Schmerzempfindlichkeit am größten. Geplante Freiheit ist die Leichtigkeit (oder nicht), mit der wir unseren Plänen nachgehen. Nichts vermittelt so sehr das Gefühl von Unfreiheit, als wenn Barrieren unsere Pläne verhageln.
Horizontale Macht (auch hegemoniale Infrastrukturmacht) begrenzt unsere nominelle und damit die horizontale Freiheit. Als Pfadopportunist*innen nehmen wir diese Form der Macht nicht als Gewalt wahr, weil die vorenthaltene Agency nie erwartet wurde. Wir fügen uns.

Vertikale Freiheit (auch negative Freiheit) ist geplante Freiheit. Vertikale Macht (auch souveräne Infrastrukturmacht), also Gewalt, kann sich jederzeit zur Netzwerkzentralität in den Pfadabhängigkeiten Deiner Pläne machen und macht Dich somit extrem abhängig. Freiheit von dieser Form der Abhängigkeit ist die Freiheit, planen zu können.

Und dann gibt es noch die semantische Macht (auch hegemoniale Semantikmacht), die die plausible Freiheit … zumindest mitgestaltet. Wer erzählt die Geschichten, die umherschwirren, an denen auch wir unsere Lebenspfade, also Pläne orientieren?

Was auch spannend wäre: „Chancengleichheit“ aus Cyborgsicht einmal auszubuchstabieren.

Evolutionsbiologische Herleitung der Pfadgelegenheit

In Krasse Links No 74 spekuliere ich anhand eines Vortrags von Nicholas Humphrey über die Geburt und Evolution der Pfadgelegenheit und kann dadurch auch einige Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit genauer herausarbeiten.

Ich bin seit ungefähr anderthalb Jahren fasziniert von der evolutionären Theorie des Bewusstseins, die der Biologie Nicholas Humphrey aufgestellt hat. Hier sein absolut sehenswerter Vortrag zum Thema, sein letztes Buch muss ich aber noch lesen.

Der ganze Vortrag ist erhellend, aber ich bin vor allem auf seiner evolutionsbiologischen Spekulation über die Entstehung von Perzeption und Bewusstsein hängengeblieben.

Versetzen wir uns in eine Amöbe zur Halbzeit der Evolution.

  1. Die Amöbe entwickelt unterschiedliche Reaktionen auf Reizungen durch unterschiedliche Umweltzustände: Sie unterscheidet, sagen wir „Grenze“ (hier gehts nicht weiter), „Gefahr“ (run), „Lecker“ (absorbieren).
  2. In Phase 2 bildet die Amöbe eine Art Proto-Gehirn, ein Zentrum, das die Umwelt-Reaktionen zentral koordiniert.
  3. Dann die entscheidende Phase: Von den Reaktionensmustern werden „Kopien“ angelegt und im Zentrum abgelegt und nervlich adressierbar gemacht. Humphrey meint, dass „Planung“ und komplexeres verhalten damit möglich wird.
  4. Zuletzt: Feedbackloop zwischen motorischem System, sensorischen System und den gespeicherten Repräsentationen, ermöglicht/unterstützt durch die Evolution zu Warmbutkörpern.

Soviel zu Humphrey, aber hier, was mein von der Metaphysik des Dividuums „bamboozeltes“ „Mind“ daraus macht:

Dieser evolutionäre Moment, den Humphrey beschreibt, ist gleichzeitig die Geburt der „Pfadgelegenheit“, sowie von Emotion, Semantik, von Handlung, von Widerstand und von Kunst.

Aber Eins nach dem Anderen:

  • Mit der Kopie des Reizreaktionsschemas zum repräsentativen Aufrufen in Schritt 3 haben wir das, was ich im Pfadgelegenheits-Explainer eine „projizierte Handlung“ nenne.
  • Und in Schritt vier sehen wir, wie die Pfadgelegenheits-Turing-Machine angeworfen wird: Infrastruktur (das motorische System in seiner Umwelt), Perspektive (das sensorische System) und die Reizreaktionsschema-Kopie „projizierte Handlung“ sind beisammen.
  • Erste Pfadabhängigkeit: Erst durch die „projizierten Handlung“ kann es „Handlung“ überhaupt geben. Erst wenn ich einen Pfad projizieren kann, kann ich mich für ihn entscheiden. Alles andere ist nur „Reaktion“.
  • Pfadabhängigkeit der Pfadabhängigkeit: Entscheidung aber gibt es erst, wenn ich eine Wahl habe. Eine Wahl habe ich aber nur, wenn ich mehrere Pfadgelegenheiten zur Auswahl habe, klar, aber um auswählen zu können, muss ich erst in der Lage sein, eine Pfadgelegenheit zu antizipieren, ohne sie nehmen zu müssen. Freiheit entsteht aus dem „Nein“.
  • Pfadabhängigkeit der Pfadabhängigkeit der Pfadabhängigkeit: „Antizpieren“ (Q-Function) heißt aber konkret, eine Reaktion zu projizieren, das heißt, zu imaginieren. So tun als ob. Jede Pfadgelegenheit ist eine Inszenierung.
  • Pfadabhängigkeit der Pfadabhängigkeit der Pfadabhängigkeit der Pfadabhängigkeit: Das kopierte Reiz-Reaktionsschema ist nicht nur Q-Function, sondern auch eine Proto-Emotion. Das heißt: Pfadgelegenheiten sind immer und grundsätzlich mit Emotionen verbunden. Der Schmerz des Hungers (Reproduktionsschmerz), aber auch der Genuss des Essens, der Schmerz der nicht (mehr) vorhandenen Pfadgelegenheiten (Netzwerkschmerz) und der Genuss des Flows, die vielen unterschiedlichen Schmerzen der Gefahr (Stress) und der Genuss der Geborgenheit sind von vornherein Teil der kopierten Reaktionsmuster, also auch unserer „projizierten Handlungen“ und immer wenn ich etwas entscheide, spielt ein komplexes Zusammenspiel dieser Emotionen eine Rolle (Bauchgefühl).
  • Mit der Pfadgelegenheit entsteht also auch „Agency“ und wir verstehen: Die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit ist die Fähigkeit einen emotionalen Pfad zu inszenieren und dann „Nein“ zu ihm zu sagen.

Der Pfad

Im Moment der Aktualisierung, d.h. im Übergang von der „projizierten Handlung“ zur „Handlung“, passiert die eigentliche Magie: Die Transition des Dividuums in jemand anderes. Alles verändert sich: unsere Infrastruktur und unsere Perspektive auf die Welt. Denn die Pfadentscheidung eröffnet neue Pfadgelegenheiten und gleichzeitig schließt sie andere, die vorher plausibel schienen. Das meint nicht, dass Entscheidungen generell irreversibel sind, aber selbst wenn wir eine Entscheidung bereuen und versuchen auf den alten Stand zu kommen: Unsere Perspektive und unsere Infrastruktur wird nicht mehr dieselbe sein. Unser Pfad hat sich verändert.

Ich merke im Alltag, dass es hilfreich ist, mich und meine Mitmenschen als Pfadwesen zu begreifen. Wir alle kommen irgendwo her und wir alle wollen oder müssen irgendwo hin. Unser Sein ist die uns zugängliche Infrastruktur, die uns bekannten Pfade darin und die aggregierten Pfadentscheidungen, die uns hier hingebracht haben und vor uns sehen wir immer nur die Pfadgelegenheiten, die sich daraus ergeben. Deswegen ist die Subjekterfahrung des Dividuums ein Navigieren: Eine Pfadentscheidung nach der anderen und wenn du dabei jemandem begegnest, weißt du nie, auf welchem Pfad er oder sie ist.

Auch interessant, darüber nachzudenken: Mit jeder Pfadentscheidung produzieren wir Geschichte als Netz von Pfadabhängigkeiten. Materiell infrastrukturelle Pfadabhängigkeiten genauso wie semantische Pfadabhängigkeiten. Unsere Gebäude und Gedankengebäude, unsere Schulen und Ideologien, unsere Straßen und Argumente und unsere Arten auf die Welt zu schauen, existieren nicht unabhängig von einander, sondern sind sozial konstruiert und historisch gewachsen, bauen aufeinander auf, nutzten einander als Infrastruktur.

Kein Argument existiert ohne explizite – aber allzu sehr oft auch einfach unausgesprochene – Pfadabhängigkeiten. Eine gut abgehangene philosophische Technik, um neue, interessante Pfade im makro-semantischen Raum zu finden, ist netzwerkzentrale Pfadabhängigkeiten herauszuarbeiten und sie in Frage zu stellen. Und optional kann man dann im zweiten Schritt alternative plausible Pfade um die betreffende Pfadabhängigkeit herumzubauen und dann mal sehen, wo man damit landet?

Aber hier ist das Problem: Im Moment der Pfadentscheidung ist es unmöglich vorherzusehen, wohin einen eine Pfadgelegenheit bringt und oft wird alles ganz anders, als wir es uns vorgestellt haben. Deswegen machen wir Pläne und starten „Projekte“, aber weil nie etwas nach Plan verläuft, leben wir in den Ruinen unserer Pläne, aber vor allem in den Ruinen der Pläne anderer.

Diese Ruinen sind nicht nichts, auch sie bieten immer neue Pfadgelegenheiten und stabilisieren Erwartungen was bedeutet, dass die Erwartungen pfadabhängig vom aktuellen System werden und was Revolution immanent schwierig macht. Die Menschen haben was zu verlieren. Um zu rebellieren, muss das Dividuum nicht nur imaginieren, welche Pfadgelegenheiten eine bessere Welt wohl bringen wird, sondern auch den Schmerz des Verlusts der eigenen Infrastruktur riskieren. Und so klein und bescheiden sie auch sein mag: that’s a lot to ask.

Und deswegen ist unsere Standardeinstellung „Komplize des Systems“, einfach aus der Anerkenntnis dieser Abhängigkeiten. Das ist ein großes Problem, weil unsere Infrastrukturen in der Welt großes Leid anzetteln. Spätfolgen des dritten Reichs und des zweiten Weltkriegs, Spätfolgen des Kolonialismus, Bodenschätze, die wir nachwievor ausrauben, die Klimakatastrophe, die wir zu einem nicht geringen Teil mitverursacht haben und weiter verursachen, unsere Unterstützung von korrupten Regimen, weil es gerade opportun ist und nicht zuletzt unsere Unterstützung für Genozide, für die wir Waffen, Geld, politische Rückendeckung und Unterdrückung von Protest organisieren und vieles mehr.

Noch bevor wir eine Entscheidung getroffen haben, sind wir Komplizen. Wenn wir unsere Infrastrukturen sind, dann sind wir auch für sie verantwortlich. Und aus dieser Verantwortung heraus ergibt sich für das Dividuum fast wieder so etwas wie eine nationalestaatsbezogene Subjektivierung – als Verantwortlichkeit. Eine Unmöglichkeit der Selbstherausnahme aus dem aktuellen Geschehen. Das ist ziemlich das, was ich spüre, wenn ich Deutschland in der Welt agieren sehe. Ich fühle mich als pfadabhängiger „Profiteur“ dieser Infrastruktur, die wir „Deutschland“ nennen ein Stück weit verantwortlich und deswegen schmerzt mich deutsche und auch westliche Politik gerade bis ins Mark.

Das Orientierungswissen im Latentspace

Der Raum der Pfadgelegenheiten ist ein komplexes Netzwerk, aber in diesem Netzwerk finden wir uns intuitiv zurecht, weil wir ein Leben darauf trainiert haben, es zu navigieren. Wir kennen unsere Pfade und haben ein grobes Orientierungswissen. In Krasse Links 69 formulierte ich das so:

Wir werden immer schon in ganz konkrete materielle und semantische Strukturen hineingeboren und deswegen begegnen uns alle Dinge und Worte als immer schon in materiell funktionale Pfade (Löffel als Pfadgelegenheit zum Brei essen), und ihre Pfadabhängigkeiten (Schüssel, Tisch, Essen), sowie in soziale Netzwerke (Mama füttert mich mich Löffel) und in semantischen Pfade („Will Löffel!“) eingebunden.

Weil wir keine Individuen sind, die sich der Welt gegenüberstellen, sondern relationale Materialist*innen, denken wir weder in „Objekten“ noch in „Begriffen“, sondern in Pfaden.

Denkt mal über das Denken nach und beobachtet euch selbst: Nachhausefinden, Planen, Sprechen, Kuchenbacken, Singen, Erzählen, Nachdenken, Erinnern, Kopfrechnen, Forschen, ein Wissenschaftlicher Versuch – all das sind Pfade. Um uns unsere Schuhe zuzubinden, müssen wir zuerst in die Hocke gehen, dann mit der einen Hand den einen und mit der anderen den anderen Schnürsenkel greifen und so weiter. Jeder Schritt ist notwendig, also eine Pfadabhängigkeit für den nächsten Schritt.

Dieselben Bewegungs-Pfadabhängigkeiten sind aber selbst wiederum in andere Kontexte eingewoben. Wenn z.B jemand im Trainingsanzug in die Hocke geht, gibt es diesen Moment der Unsicherheit, ob er sich die Schnürsenkel binden will, oder in den „Slav Squat“ geht.

Handlungen und ihre Infrastrukturen sind als materielle Pfadgelegenheiten mit dem Raum der semantischen Pfdgelegenheiten rhizomatisch verwoben. Oder anders: Semantik und materieller Weltbezug bilden einen gemeinsamen Latent Space, den wir nur von innen und immer nur entlang konkreter Pfade kennenlernen. Alles ist eins. Ja, doch, Spinoza, aber mit Übergangswahrscheinlichkeitsmatrix statt Kausalitätsketten.

Der Latent-Space ist nicht zufällig anschlussfähig, an das was Deleuze das „Virtuelle“ nennt, denn auch Deleuze ist Spinozaleser. Das „Virtuelle“ nennt er das „Feld der Differenzen“, das zu jedem gegebenen Jetzt den Raum des Möglichen vorzeichnet, also eine Struktur, die immer schon vor jeder konkreten Handlung wirksam ist: sie legt fest, welche Aktualisierungen überhaupt in Frage kommen. Aber wenn das Virtuelle der globale Möglichkeitsraum von Differenzen ist, dann sind die Pfadgelegenheiten die lokale Zugriffspunkte eines Dividuums auf diesen Raum. Die kleinste relevante Einheit dieses Raums ist aus dieser Sicht nicht die abstrakte Differenz, sondern die konkrete Pfadgelegenheit: die Möglichkeit, eine Differenz als Pfad zu aktualisieren.

Macht

Aber Pfadabhängigkeiten sind auch Macht und das ist auch schon die Kernthese der „politischen Ökonomie der Pfadgelegenheiten“. Die Grundlage dafür ist die Macht-Interdependenz-Theorie und wie man von dort zur Macht/Wert-Formel kommt.

Kurz: Macht ist Netzwerkzentralität im Pfadgelegenheitsnetzwerk. Wer im Nutzenfluss so eingebunden ist, dass viel mehr Abhängigkeiten durch die selbst kontrollierten Pfadgelegenheiten verlaufen, als man selbst von anderen abhängig ist, kann aus diesen Beziehungen „Marge“ pressen.

In Krasse Links 73 beschrieb ich den ökonomischen Blick auf das Netz der Pfadgelegenheiten so:

Man kann sich das Netz der Pfadgelegenheiten als eine riesige, komplexe, multidimensionale Landschaft mit Tälern und Schluchten vorstellen, die die wahrscheinlichen Pfade vorzeichnen, durch den der Nutzen entlang der infrastrukturellen Übergangswahrscheinlichkeiten pfadopportunistisch fließt und an dessen Engstellen sich Macht konzentriert und wo die Oligarchen ihre Schmerzkraftwerke betreiben.

Das hängt damit zusammen, dass „Wert“ ein Pfad ist, der zu keinem Zeitpunkt abgeschlossen ist, solange er existiert. Deswegen ist „Trauer“ ebenso unabschließbar, wie die Zukünfte, die man sich zu erwarten erlaubte. „Trauer“ ist nicht nur die Trauer um eine Sache, ein Tier, eine Beziehung, oder einen Menschen, sondern um all die plötzlich unplausibel gewordenen gemeinsamen Zukünfte. Betrauert wird ein riesiger Strauß gemeinsamer plausibler Pfadgelegenheiten, der, egal wie klein er auch war, doch unabschließbar wertvoll bleibt. Bei der „Trauerarbeit“ geht man unter anderem all diese Pfade im Kopf durch und verabschiedet sich von jedem einzelnen von ihnen.

Ich nenne diesen Aspekt der Trauer auch „Netzwerkschmerz“. Der Netzwerkschmerz ist ein wichtiger Indikator für den „Wert“ einer Sache, denn Meistens werden uns unsere eigenen erwarteten Pfadgelegenheiten, also Pfadabhängigkeiten erst bewusst, wenn sie materiell fehlen.

Ansonsten bleibt es bei Erzählungen und die daraus Pi mal Daumen für sich triangulierten Betroffenheit, um den Wert einer Sache für sich einzuschätzen und da sind wir halt nicht so gut drin? Aber vor allem: Wir sind manipuliert. Preise sind Propaganda. Preise halten ein manipuliertes Wertesystem aufrecht, das behauptet, die Arbeit eines Investmentbankers sei wertvoller als die einer Krankenschwester, oder die Profite von Unternehmen seien wertvoller als der Regenwald. Investmentbanker werden uns als Netzwerkzentralität im Abhängigkeitsnetzwerk verkauft, als notwendiges Übel, das aber für uns als Gesellschaft „Zukunft organisiert“ und „Risiken managed“. Ohne Investmentbanker, heißt es, würde alles zusammenbrechen.

Und das mag ja sogar für das aktuelle System stimmen, aber dann ist das System halt falsch, das so einen Flaschenhals im Abhängigkeitsnetz zulässt? So dass die Geldoligarchie auf Kosten der Restgesellschaft dort leistungsfrei Wert abschöpfen darf, gleich nachdem wir sie als „Too Big To Fail“ mit Steuergeldern gerettet haben und sich das alles unter dem dreisten Banner erlaubt, unsere Zukunft durch ihre Projekte zu planen.

Die politische Ökonomie der Pfadgelegenheiten ist ja bekanntlich „Kapitalismus aus Nutzerperspektive“ und ich sag mal so: ich brauch die nicht! Und ich würde lieber in einem unausgeräuberten System meine Leistung einbringen und in einem, in dem ich gemeinsam mit anderen die Wertflüsse und damit unsere Zukunft demokratisch, statt oligarchisch planen kann.

Das Dividuum

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Dies ist ein temporär stabiler Explainer über den Subjektentwurfs des Dividuums. Ich editiere hier immer mal wieder rum, nicht wundern.
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Das Dividuum ist ein Subjektentwurf, der sich als semantische Pfadalternative zum Individuum positioniert. Genauso wie das Individuum ist das Dividuum einzigartig, aber anders als das Individuum ist das Dividuum kein abgeschlossenes Ganzes, dass der Welt gegenüber steht, sondern ein Verkehrsknotenpunkt für Milliarden Netzwerke.

Genaugenommen ist das Dividuum dadurch sogar viel einzigartiger als das Individuum, denn während alle Individuen aus denselben Zutaten bestehen, also „Geist/Intelligenz“ und „Körper“, kann man ähnliches nicht für Dividuen sagen. Jedes Dividuum ist ein wilder, einzigartiger Mix aus allerlei Welt, die in es hineinragt.

Deswegen lässt sich auch nur wenig Allgemeines über das Dividuum sagen, außer, dass es immer an einem ganz konkreten Ort in der Welt ist und zu einer konkreten Zeit und wenn man die Zeit laufen lässt, wird das Dividuum zum Pfad. Der Pfad hat ein Anfang und ein Ende und um diesem Pfad entsteht und verändert sich Infrastruktur, die wiederum die Welt der anderen Dividuen beeinflusst.

Das Dividuum ist eigentlich erst ein nützliches Modell, wenn man es in eine Welt setzt, also seine Dimensionen betrachtet. Im Gegensatz zum Individuum lebt es nicht in seinen Infrastrukturen, sondern ist seine Infrastrukturen und das stimmt auf dreifache Weise:

  1. Materiell: Die ganze Agency des Dividuums realisiert sich über seine ihm zur Verfügung stehenden Infrastrukturen, also Pfadgelegenheiten.
  2. Psychologisch: Das Dividuum subjektiviert sich entlang und über die Verfügbarkeit seiner Infrastrukturen (siehe unten).
  3. Sozial: Das Dividuum ist immer wieder selbst in vielen Belangen Pfadgelegenheit für andere, also eine Infrastruktur für dieses und jenes.

Die materielle Geschichte des Dividuums

Das Dividuum entstand aus Notwehr. Mein Argwohn gegen das Individuum trug ich schon länger mit mir rum und natürlich kannte ich bereits viel der philosophischen Kritik am Individuum, aber mit Kritik ist es ja nicht getan. Wenn man so tief in den Eingeweiden der westlichen Perspektive herumdoktort, hat man ein Problem: Alle möglichen Erzählungen, Konzepte, Begriffe und nicht zuletzt all unsere Selbsterzählungen, unsere Subjektivierungen sind Pfadabhängig vom Subjektentwurf des Individuums. Und ich will mich ja auch morgen noch, naja, subjektivieren. Deswegen war mir klar: ich brauche eine plausible Pfadalternative, die die pfadabängigen semantischen Verbindungen des Individuums übernimmt. Einen Bypass.

Ich hatte ein paar grobe Ideen eines vernetzten Subjektentwurfs und hatte zu diesem Zweck im Newsletters schon einiges an semantischer Infrastruktur zusammengesammelt und als ich die Pfadgelegenheit sah, verkündete ich in Krasse Links 27 meinen offiziellen Austritt aus der Kirche des Individualismus.

Ich hatte mir das lange überlegt, aber ausschlaggebend war letztendlich dieser Ted Talk von Deb Chachra über Rolle von Infrastrukturen in unserem Leben.

Ich kommentierte den Talk so:

Infrastrukturen sind das, was Deine „Agency“ überhaupt ermöglicht und damit auch Deine Fähigkeit, Dich als Individuum zu erleben.

Und als ich dann noch mit Ishay Landa im selben Newsletter verstand, wie der Transmissionsriemen zwischen Individualismus und Faschismus funktioniert, war für mich das Maß voll.

Okay, hier ist mein Deal: Ich habe aufgehört, ans Individuum zu glauben. Ja, es gibt Akteure, die Dinge anstoßen, aber wir alle navigieren nur innerhalb vordefinierter Strukturen. Wir können nur navigieren, weil uns zu jedem Zeitpunkt immer nur so und so viele Optionen zur Verfügung stehen, unsere Geschichte weiterzuerzählen. Wir sind also Opportunisten und alles was wir tun, ist mit den uns zur Verfügung stehenden semantischen Schablonen nach Pfadgelegenheiten Ausschau zu halten, um auf ihnen durchs Leben reiten.

Diese Gelegenheiten werden wiederum von Infrastrukturen bereitgestellt, materielle wie semantische und weil wir uns nun mal im Kapitalismus bewegen, ist eine besonders netzwerkzentrale Infrastruktur das Geld. Zugang zu dieser Ressource ermöglicht Zugang zu vielen anderen Ressourcen und damit Pfadgelegenheiten. Aber Eigentum/Geld/Preise sind nur ein Abstraktionslayer, den wir als Zugangsregime über einen Großteil unserer Infrastrukturen gelegt haben. Im Alltag erleben wir Normalos Geld deswegen als den entscheidenden Flaschenhals, der unsere individuelle Navigationsfähigkeit ermöglicht und begrenzt und damit das absteckt, was Lea Ypi neulich „horizontale Freiheit“ nannte.

Was Landa hier beschreibt, stelle ich mir konkret so vor: Leute, die vergleichsweise viele Pfadgelegenheiten vor sich zu haben gewohnt sind, also wir Mittelstandskids aus dem Westen, haben uns eingeredet, bzw, einreden lassen, dass wir Individuen sind. Das Framework des „Individuums“ erlaubt es uns auszublenden, dass sich unsere Freiheit aus den vielfältigen materiellen und semantischen Infrastrukturen speist, die unsere Vorfahren und andere Menschen um uns herum gebaut haben, bzw. bauen und maintainen. Statt also unsere Eingebundenheit in diese Strukturen anzuerkennen, reden wir uns seitdem ein, wir hätten unseren „Wohlstand“ „erarbeitet“ und wenn wir es materiell zu etwas gebracht haben, schließen wir daraus, dass wir besonders „intelligent“ sein müssen und damit auch individueller als andere Menschen.

Und dann schauen wir auf andere Menschen, deren Infrastrukturen ihnen deutlich weniger Pfadgelegenheiten bieten und unser Individualismus-Framing deutet diese mangelnde Agency dann als verminderte, oder gar abwesende Individualität, also ein Mangel an Intelligenz und/oder Zugehörigkeit zu einer „rückständigen Kultur“. Das ist der materielle Kern dessen, was Judith Buttler mit „Abjectification“ meint und es ist die Rutschbahn vom Liberalismus zum Faschismus, auf der gerade der gesamte Westen gleitet. Huiiii!

Den ersten Schritt, den man tun muss, um das Dividuum zu denken, ist vom Glauben abzufallen. Denn wir alle sind Gläubige in der Kirche des Individuums und man wird das mistige Ding nicht los, wenn man sich dessen nicht bewusst wird und aktiv Widerstand leistet.

Der zweite Schritt ist, die Pfadalternativen zu entwerfen. Im selben Newsletter sah ich den Fluchttunnel noch in Haraways „Cyborg“ und das ist immer noch metaphorisch richtig, aber aus formalen Gründen bin ich dann doch beim „Dividuum“ gelandet. Dennoch gilt, was ich hier über Cyborgs schreibe, auch für das Dividuum.

Cyborgs sind defizitäre, bedürftige Wesen, die auf ihre Infrastrukturen angewiesen sind, um und zu überleben. Und nur weil die Cyborg kein Individuum ist, heißt das nicht, dass sie ohne Agency wäre. Die Agency des Cyborgs speist sich nicht aus ihrer „Vernunft“ oder wie es heute heißt, „Intelligenz“, sondern aus den materiellen und semantischen Infrastrukturen, die ihr zur Verfügung stehen.

Die Cyborg lebt in den Infrastrukturen und ist die Infrastruktur. Sie arbeitet an den Infrastrukturen, baut sie, betreibt sie, hält sie in Stand. Als höfliche Pfadopportunistin navigiert sie die Schmerzarchitektur zwischen Arbeit und Konsum und versucht mittels der ihr zugänglichen Infrastrukturen ihre Geschichte weiterzuerzählen. Diese Geschichte ist ein Pfad im Netzwerk, der von der Vergangenheit bis ins Jetzt und durch Pläne, Ziele und Projekte bis in die Zukunft weitererzählt wird.

Die Cyborg ist Dividualistin. Sie beobachtet nicht die Welt, sondern beobachtet wie andere die Welt beobachten. Sie surft auf diesen Beobachtungen, Worten, Bildern, Gesten und Geschichten und sortiert sich in ihnen ein. Gleichzeitig sendet jede ihrer Bezugnahmen einen Impuls durchs semantische Netzwerk, weil sie ja ihrerseits beim Schreiben, Sprechen, Denken beobachtet wird.

Es kann sich nur noch um Minuten handeln, bis die Cyborg begreift, dass sie die Infrastruktur ist und den Laden übernimmt.

Die dividuelle Subjekterfahrung habe ich in Krasse Links 26 so skizziert:

Und jetzt kann man, wenn man will, die Intention wieder reinlassen, aber nicht mehr als eine aus sich selbst heraus sprechende Stimme, die sagt „ich will“, sondern als Navigator, Surfer, oder Trommler.

Navigator, weil wir zu jedem Zeitpunkt immer an einem konkreten semantischen Ort im Raum stehen, wann immer wir handeln. Das heißt, wenn wir irgendwo hinwollen (etwas sagen oder denken), müssen wir Schritt für Schritt von dort nach da hin-navigieren und unsere Fähigkeit zu Sprechdenken besteht, wie bei der LLM, vor allem aus allerlei gemerkten Weganweisungen.

Man kann das auch Surfen, wenn man etwas firmer mit einer bestimmten Semantik ist. Dann verknüpft man die vorbeifliegenden Sinn-Ereignisse wie Wellen, auf denen man reitet. (yeah!)

Und zuletzt drücken wir auf „Play“ und nehmen die Zeit mit dazu und dann beginnt sich dieses Netzwerk langsam aber stetig auf uns zuzubewegen. Semantiken verschieben sich, verwandeln sich, werden größer oder kleiner, zentraler, peripherer, mutieren, streuen, sterben, etc. Und wir sehen immer neue Ereignisse eintreffen, die immer neue Narrative aufs Gleis setzen. Die Narrative wiederholen sich, referenzieren sich, zitieren sich und in stetiger Wiederholung und Bekräftigung werden sie erwartbar und strukturieren wie ein Beat unsere Zeit und geben uns Orientierung nach vorn.

So richtig eingeführt habe ich das Dividuum in Krasse Links No 28, in dem ich anlässlich meines Textes über KI und Semantik Derrida mit Haraway und Deleuze verbinde.

Wie schon Derrida sagte: Wir sprechen nicht, wir werden gesprochen. Das bedeutet nicht, dass man nicht auch neue Pfade finden kann, aber eben immer nur an den Rändern des bereits Gedachten und Gesagten. So wie die Nordpolexpiditionen erst machbar wurden, als die Infrastrukturen es erlaubten, so sind auch neue Gedankengänge nur als Verlängerung oder Abzweigung bereits existierender Routen denkbar. Es gibt kein Punkt außerhalb des Netzwerks.

Der Text selbst ist ein gutes Beispiel: Er basiert offensichtlich auf einer poststrukturalistischen Infrastruktur, aber wäre auch ohne Donna Haraway nicht denkbar. Mit ihrem „situierten Wissen“ stellte sie den Poststrukturalismus vom Kopf auf die Füße und ermöglicht, die richtige Perspektive aufs Netzwerk zu finden. Wenn Bedeutung stetiger Aufschub, aber dabei stets situiert ist, dann passiert Schreiben, Sprechen, Denken immer an einem ganz bestimmten Punkt eines ganz spezifischen Kontextes. An diesem je spezifischen „Hier und Jetzt“ gibt es immer nur eine überschaubare Zahl an plausiblen Pfadgelegenheiten, von denen man sich von einer zur nächsten stürzt. Wenn man dann die Zeit anstellt, bewegt sich der Punkt durchs Netzwerk und wird zur Linie, bzw. ein Pfad oder eine Route. Fertig ist die LLM, bzw. Sprechen und Denken.

„Die Individuen sind ›dividuell‹ geworden, und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder ›Banken‹.“ Schreibt Gilles Deleuze im „Postskriptum zu den Kontrollgesellschaften“ bereits Anfang der 1990er und verabschiedet damit Foucaults „Disziplinargesellschaft„, die sich noch auf die Zurichtung des Individuums und der Organisation von Masse konzentrierte. Aus dem Unteilbaren (lat. individuus) wird etwas per se Teilbares (lat. dividuus).

Das Navigieren in der Semantik – Schreiben, Sprechen, Denken – ist ein dividueller Akt. Man beobachtet nicht die Welt, sondern man beobachtet einander, wie man die Welt beobachtet. „Dividuell“ bedeutet also, sich selbst als Teil des Netzwerkes zu imaginieren, das Sprache, Denken und Öffentlichkeit und Infrastrukturen hervorbringt.

Es ist den Zitaten anzumerken und relevant zu verstehen, dass sich der Subjektentwurf des Dividuums parallel und in ständiger Korrespondenz mit der Enststehung der Semantiktheorie entwickelt hat. Das Dividuum ist ohne „semantische Pfadgelegenheiten“ nicht denkbar, bzw. es ist andersrum: Man kann das Individuum nur dann denken, wenn man Semantik nicht denkt und dann die Stimme in eigenen Kopf für ein unverbundenes „Res Cogitans“ hält, das als Agent einen Körper durch die Welt steuert, mit dem man sich dann fälschlicher Weise identifiziert. Und genau da ging und geht ja der ganze Schlamassel mit der Infrastrukturvergessenheit seit Descartes schon los, der uns gerade im Gesicht explodiert.

Klar, im Vergleich zum Individuum kann das Dividuum erstmal nicht viel. Das Dividuum hat keine Eigenschaften und „tut“ auch nichts, es ist halt ein Netzwerkknoten, der vollständig durch seine Verbindungen definiert ist. Und ausgerechnet durch Verbindungen, die nicht wirklich dem Dividuum gehören, sondern teil von Netzwerken sind, in deren Interaktion das Dividuum eingebunden ist und danach strebt sich darin temporär zu stabilisieren. Zu diesen Netzwerken gehören biologische Netzwerke, genetische Netzwerke, Bakterielle Netzwerke, Blutkreisläufte, Nährstoffkreisläufe, Klimakreisläufe, städtische Infrastrukturen, Gesetzesframeworks, Produktionskreisläufe, Lieferketten, die Sprachen, die ich spreche, Diskurse an denen ich teilnehme, die Geschichten die ich mir und anderen erzähle, mein Emailprovider, die Straßenbahn und die regelmäßigen Bedürfnisse meines Hundes.

Im Gegensatz zum Individuum, das in sich selbst ruht, hat das Dividuum einen ständigen Hang zur Instabilität. Das Dividuum ist immer im Flux, weil sich all die Verbindungen, aus denen es besteht, ständig verändern. Einerseits wechseln Dividuen ständig ihren Ort in der Welt, d.h. verlieren ständig Verbindungen und gewinnen neue. Andererseits verändern sich die Verbindungen selbst, weil sich die Welt verändert. Deswegen ist das Dividuum den Gezeiten und Turbulenzen seiner Netzwerke ausgeliefert und wird wie eine Boje im Wasser von den Wellenbewegungen im Netzwerk hin und hergeschüttelt. Das Resultat ist ein ständig instabiler Dividuums-Knoten, der die ganze Zeit damit beschäftigt ist, die veränderte Beziehung in einem Netzwerk, durch Veränderung von Beziehungen im anderen Netzwerk auszutarieren (dafür braucht es allerdings Pfadgelegenheiten).

Ohne seine Pfadgelegenheiten ist das Einzige, was das Dividuum „kann“, also „beeindruckt sein“ von der Welt. Aber genau in dieser strukturellen Berührbarkeit steckt der epistemische Wert des Dividuums: Im Sich-Verhalten des Divduums zur Welt verbrigt sich ein struktureller Spiegel der Gesellschaft. Man muss nur den Beat hinter dem Tanzmove erkennen.

Exkurs: Wie funktioniert dividuelle Subjektivierung?

Jetzt rede ich die ganze Zeit von „Subjektivierung“ und sage gar nicht, was ich genau damit meine. Deswegen hier ein Explainer im Explainer: was ist Subjektivierung?

Die traditionellen Subjektivierungs-Theorien sind natürlich Individualistisch und damit unbrauchbar. Foucault und Buttler haben das Individuum aufgebrochen, aber sie sind für unsere Zwecke nicht radikal genug.

Deswegen schlage ich einen eigenen Entwurf vor: Die Relationale Subjektivierung.

Ganz grob betrachtet ist Relationale Subjektivierung die Art und Weise, wie wir uns selbst in dem Anderen und den Anderen in uns sehen, bzw. differenzieren (also eher von Levinas, Haraway inspiriert).

Diese „Art und Weise“ ist wiederum ganz grob das Set an pfadabhängigen Unterscheidungen, die ich zum Erkennen der Differenzen in der Wiederholungen des Anderen in mir verwende.

Beispiel: Wenn ich mich als „Individuum“ entwerfe, entwerfe ich alle anderen um mich herum auch als Individuum, aber eben als andere Individuen, jedes ein „unteilbares“ „Bewusstsein“ in einem Körper in der Welt. Außer die ohne Agency – das sind im besten Fall „tragische Fälle“, aber oft auch „Versager“ oder bei manchen Menschen sogar „Abschaum“, also grob das was Judith Buttler „Abjection“ nennt.

Aber auch abseits des Individuums verstehen wir Subjektivierung als die tägliche Praxis des mich im Anderen erkennen und differenzieren, nach einem bestimmten Schema von Unterscheidungen.

Aber das Schema von Unterscheidungen ist natürlich sozial konstruiert. Klar, durch Infrastrukturen der Disziplinierung, durch Diskurshoheiten, Gesetze, Normen, Rollen und ihre sozialen Hierarchien und Ausgrenzungen. Aber auch durch teils über tausende Generationen geerbt und verinnerlichte und nie hinterfragte Unterscheidungen. Aber unsere Unterscheidungen kommen auch aus Gesprächen auf der Arbeit oder beim Sport, Büchern oder Newslettern, die wir gelesen haben, News die wir mitbekommen haben oder über das neuste Tiktok-Meme. Oder wir sammeln unsere Unterscheidungen aus den Geschichten aus dem Kino, das aber auch nur dieselben Narrative immer wieder anders erzählt, von denen die meisten aus der Antike stammen. Da gibt es ehrlich gesagt auch gar nicht so viel Spielraum, denn um zu funktionieren, müssen Narrative anschlussfähig an bereits erwartete Narrative sein, so wie ein Satz anschlussfähig an den vorherigen Satz sein muss und ein Wort an das vorherige Wort.

Diese soziale Co-Produktion von Wirklichkeit und Subjekt kann man auch mit Federico Campagna als Worlding bezeichnen. Aus Krasse Links No 20

Im Zentrum seiner Theorie, oder wie er sagt: „Metaphysik“, steht das „Worlding“: Welt, aber als Verb. Worlding ist etwas, was wir konstant tun: wir bauen und aktualisieren unser Weltmodell. Aber dieses Weltmodell ist natürlich kein individuelles, sondern eine geteilte Semantik, ein Vibe, ein „Rhythmus“, wie er es auch nennt. Es gibt also Weisen des Worldings und sie bilden die unbewussten und unhinterfragten Axiome unseres Weltverständnisses oder wie ich immer sage: die Art, wie wir auf die Welt blicken.

Wordling ist semantisch, d.h. wir haben uns unser Worlding in den seltensten Fällen ausgesucht, sondern haben es zum Großteil geerbt und auch ansonsten kreieren wir es zusammen: wir „worlden“ gemeinsam, miteinander, aber immer wieder auch gegeneinander, wobei man sich das „Worlden“ wie einen Beat vorstellen kann, den alle um einen herum tanzen, ein Vibe in dem man fühlt, und machmal auch der Beat, den „die anderen nicht haben“.

Ein Resultat dieses gemeinsamen und wechselseitigen konkurrierenden Worldings nennen wir auch „Wirklichkeit“ und ich muss in diesen Zeiten nicht extra darauf hinweisen, wie schief das gehen kann.

Das andere Resultat des Wordings ist eine bestimmte „Perspektive“, bzw. die semantische Seite unserer Perspektive. Perspektive ist ja zunächst einmal der materielle Ort in der Welt, von dem ich sehe und spreche und ist somit vor allem geprägt, durch die mir zur Verfügung stehenden Infrastrukturen und den Abhängigkeiten, die sich daraus ergeben.

Doch die semantische Seite der Perspektive funktioniert über das „Worlding im Anderen“ – als Navigation der eigenen Erwartungen an mich selbst im Raum der Erwartungserwartungen der anderen.

Die semantische Perspektive ist von der materiellen Perspektive nicht unabhängig. Je nach den Infrastrukturen, die ich gewohnt bin, zur Verfügung zu haben, kann ich mir andere Subjektentwürfe plausibel machen oder auch nicht.

Beispiel: In Krasse Links No 31 hatte ich einmal die materielle Geschichte des Subjektentwurfs des Individuums umrissen:

Das Individuum erblickte das Licht der Welt in den europäischen Salons der besseren Gesellschaft des späten 18. Jahrhunderts, als die Oberschicht wechselseitig an sich feststellte, wie schwerelos das Leben ist, wenn man Hausangestellte hat. Genau genommen haben sie den letzten Teil ausgeblendet, genau so wie die Tatsache, dass sich die Agency ihres Hauspersonals auf Arbeiten oder Hungern beschränkte und ihnen also das Individuum gar nicht plausibel war.

Das Virus sprang schnell über zu den Sklavenhaltern in den USA und perkulierte entlang der sprießenden Infrastrukturen der Industriellen Revolution immer weiter in die Gesellschaft hinein (überall wo Lebensstandards einen bestimmten Schwellenwert an Pfadgelegenheiten erreichten), bis das Individuum so ab 1900 zum Mainstream wurde. Mit Strom, fließend Wasser, Telefon und Auto wurde das Individuum zum Lebensgefühl des 20. Jahrhunderts und zum Grundbaustein der Metaphysik des Westens.

Der Subjektentwurf des „Individuums“ kann überhaupt erst plausibel werden, wenn einen die Welt mit einen bestimmten Threshold an Pfadgelegenheiten ausstattet.

Das heißt, man muss sich bestimmte Subjektentwürfe leisten können und viele Subjektivierungs-Pfade stehen aus bestimmten Perspektiven überhaupt nicht zur Verfügung oder sind nicht plausibel. Der Subjektentwurf des „Superindivuums“ zum Beispiel wird erst ab Milliardär plausibel, aber auch die ganzen anderen materiellen Statusgames dazwischen könnt ich mir eh nicht leisten (außer son bisschen Applehardware, ok).

(Werbehinweis: Einer der Vorteile des Dividuums ist, dass es sehr „affordable“ ist. Sogar die Amöbe könnte sich das Dividuum leisten, würde sie subjektivieren.)

Ja, man kann aus Subjektentwürfen ausopten, und das ist, was wir hier machen, aber auf einer tieferen Ebene, was das Projekt früher oder später extrem schwierig machen dürfte.

Denn Subjektentwürfe sind auch Macht. Simone de Bauvoire machte darauf aufmerksam, dass die Subjektentwürfe „Frau“ und „Mann“ soziale Konstruktionen sind, die die gesellschaftliche Funktion haben, das Patriarchat am Ruder zu halten. Auch Foucault kannte die Macht der Subjektentwürfe aus schmerzhafter Erfahrung und schrieb sein Werk nicht zufällig zu einer Zeit, als sich neue Subjektivierung-Pfade Bahn brachen und die hegemoniale Weisen des Worldings und der Subjektivierung aus dem Takt brachten. Buttler und die Intersektionalist*innen haben die Subjektivierung weiter ausdifferenziert, indem sie sie aus den „Kategorien“ befreit haben und sie stattdessen als vieldimensionale Erfahrungslandschaft dachten. Das Dividuum baut auf dieser Tradition auf.

(Werbehinweis: Das Dividuum ist beliebig erweiter-/ausdifferenzierbar und macht alle Dimensionen des Lebens darstellbar..)

Subjektivierung ist nicht nur narrative Selbst-, sondern immer auch Welt-Reproduktion. Das Dividuums-Subjekt ist weder Ursprung noch Endpunkt von irgendwas, sondern nur die sich ständig aktualisierende Form einer Dividuum-Welt-Relation, die sich im gemeinsamen und wechselseitigen Worlding stabilisiert.

Subjektvierung ist das stetige Anwenden und gleichzeitige Einüben der eigenen Perspektive an und anhand des Anderen.

Deswegen reicht es auch nicht das Dividuum zu „verstehen“ oder zu „denken“. Zumindest, wenn man, wie ich, aus der Individuums-Perspektive kommt, muss man das Dividuum als alternativen Subjektivierungspfad erst mühsam einüben und ich bin da auch erst am Anfang, tbh. Aber diese andere Perspektive ist real und die ganzen Beobachtungen, die ich hier teile, wurden erst durch diese Perspektive möglich.

Das Dividuum ist also das Projekt eines anderen Pfads der Subjektivierung, das andere Formen des Worldings erlaubt. Es ist eine Häresie, basically. Oder wie ich es in Krasse Links öfter nenne: eine semantische Sezession.

Die Perspektive des Dividuums

Perspektive ist die Art, wie wir auf die Welt schauen.

Im Gegensatz zur Perspektive des Individuums, das vor sich Objekte und andere Individuen zu sehen glaubt, ist die Perspektive des Dividuums vielgeteilt: Sie ist die Summe unserer Eindrücke und die Summe unserer plausiblen Pfadgelegenheiten an einem Ort, sowie die Summe der erinnerten Pfadabhängigkeiten hinter uns, die implizite Zeugenschaft der Anderen und die Geschichte, die das alles zusammenhält.

  1. Ort: Jedes Dividuum ist an einem Ort. Der Ort grounded die Perspektive.
  2. Eindrücke: Alles, was sich in das Individuum eindrückt. Semantiken helfen dabei, die Eindrücke zu unterscheiden.
  3. Plausible Pfadgelegenheiten: Alle Unterscheidungen, die das Dividuum nutzt, um sich in die Zukunft zu projizieren. Pfadgelegenheiten bilden die Agency des Dividuums. Plausible Pfadgelegenheiten bilden den Raum, in dem wir planen und entscheiden.
  4. Pfadabhängigkeiten: Der Pfad von dem man herkommt, die Erinnerung, if you will.
  5. Die Erwartungen der anderen/Erlaubnisstrukturen. Der durch die Subjektivierung verinnerlichte Blick des Anderen. Auch bekannt als „Gewissen“ oder „Überich“.
  6. Emotion/Empathie. Emotion und Empathie sind dasselbe, denn jede Emotion ist bereits semantisch.
  7. Aufmerksamkeit. Der Fokus des Dividuums auf die aktuellen Unterscheidungen.
  8. Motivation. Das Orientierungsschema der Pfadselektion.
  9. Geschichte: Jedes Dividuum verbucht Eindrücke, Pfadabhängigkeiten und Pfadgelegenheiten in eine Erzählung über sich selbst. Diese Geschichte ist der schwammig erinnerte und nur stellenweise dokumentierte Pfad durch das Leben des Dividuums entlang eingeübter Narrationsstrukturen bis zum Jetzt.

Ort. Erstmal bedeutet Perspektive die Einsicht, dass wir alle „von einem konkreten Ort“ aus sehen, denken, handeln und sprechen. Ich hab das von Donna Haraway und klar, die Einsicht ansicht ist erstmal nichts neues und das behauptet Haraway auch nicht, aber sie macht etwas Neues daraus: eine Übung.

In Krasse Links No 10 führe ich Donna Haraway so ein:

Das Werk ist zunächst nicht so leicht zugänglich, nicht, weil sie so voraussetzungsreich schreibt, sondern weil man erst eine Menge verlernen muss, bevor alles Sinn ergibt. Ihr wichtigster Beitrag in der Philosophie ist weniger eine ausgefeilte Theorie der Welt, als vielmehr ein bestimmer Blick. Ich habe das letzte Jahr damit verbracht, diesen Blick einzuüben und wenn man das schafft, dann eröffnet sich im wirren, mäandernden und eklektischen Werk Haraways plötzlich ein Füllhorn von Sinn.

Haraway denkt – mehr noch als Bruno Latour – aus dem Netzwerk heraus. Dass klingt banal, aber es ist wirklich nicht einfach. Eine erste, überraschende Lektion ist zum Beispiel, dass Du als Netzwerkteilnehmer das Netzwerk selbst nie zu Gesicht bekommst. Das heißt, du verlierst erstmal eine ganz bestimmte Sicht, nämlich die Draufsicht. Also jene Illusion von ort- und körperlosem Schweben über den Dingen, die gerade in der abendländischen Tradition einen Großteil des wissenschaftlichen Blicks ausmacht. Diese Perspektive, so Haraway, sei nicht real, sondern reine Imagination. Eine männliche Machtphantasie.

Haraway zu denken, bedeutet erst einmal ein Loslassen dieser Perspektive und die eigene Situiertheit in der Welt anzuerkennen und damit auch die Tatsache, dass jedes Denken immer unter ganz bestimmten materiellen Verhältnissen und an einem ganz bestimmten Ort in der Semantik stattfindet. Es ist, als müssten sich die Augen erst an die veränderten Lichtverhältnisse anpassen, aber langsam schärft sich mein Blick auf Beziehungsnetzwerke: auf materielle Abhängigkeiten, genauso wie auf Semantiken.

Eine andere Sache, die passiert, wenn man anfängt die Netzwerkperspektive ernst zu nehmen, ist, dass alles unrein wird. Es gibt plötzlich keine saubere Kategorien mehr, weil alles in einander hineinragt. Das gilt vor allem für das Selbst. Das Selbst steht nicht mehr als abgeschiedene Entität den Dingen gegenüber, sondern interferiert durch seine Eingebundenheit mit den Semantiken und Abhängigkeiten der Umwelt.

Ort ist der Referenzpunkt von allem. Nichts ist einfach gegeben, alles ist teil der Welt, auch und vor allem, deine Perspektive.

Eindrücke: Im Gegensatz zum Individuum hat das Dividuum keinen Körper, aber es ist zu relevanten Teilen ein Körper. Der Körper ist die wichtigste Infrastruktur des Dividuums und netzwerkzentral zur Navigation aller anderen Infrastrukturen und damit die wichtigste aller Pfadabhängigkeiten (oh gott, wie ich gerade gar nicht danach lebe …).

Der Körper ist aber auch auf eine andere Art, teil der Perspektive. Achtet mal drauf, wie allein ein leichtes Hungergefühl oder eine unterschwellige Hornyness eure Sicht auf die Welt strukturiert.

Auch sonst drückt sich die Welt auf vielfältigste Art und Weise in das Dividuum ein und verändert seine Perspektive auf die Welt, auch dann, wenn wir es nicht gut benennen können. Unser Vokabular ist begrenzt und ständig kommen neue Einflüsse hinzu, für die wir noch keine Begriffe haben. Unser Vokabular reicht meist nur für die direkt physische „Objekt-Welt“, die wir um uns herum kreiert haben, aber die Versuche, die Strukturen, in die wir eingebunden sind, zu beschreiben, haben noch viel aufzuholen. Uns fehlt zum Beispiel die Sprache, die vielen Vektoren der strukturellen Gewalt zu benennen und zu beschreiben, denen wir zunehmend, aber sprachlos ausgesetzt sind.

Pfadgelegenheiten. Die Perspektive des Divduums ist nicht abschließend, aber doch erheblich bestimmt, durch die materiellen und semantischen Pfadgelegenheiten (ausführlicher Explainer), die ihm zur Verfügung stehen. Die semantischen Pfadgelegenheiten sind dabei kritisch, denn sie liefern unter anderem die heuristischen Schablonen, mit denen man in der Welt nach Pfadgelegenheiten Ausschau hält.

Und hier ist der schwierige Part, den es zu verstehen gilt: Dividuen sehen unterschiedliche Pfadgelegenheiten in derselben Welt, je nach dem wo und wie sie aufgewachsen sind, welche Pfade ihnen vertraut sind, welche Erzählungen sie gehört haben und welchen sie glauben, wie sie sich selbst erzählen und welche Ziele sie sich setzen, usw.

Pfadabhängigkeiten Wenn man in einen Raum reingegangen ist, ist es nützlich, sich zu merken, wie man wieder rauskommt. Und wenn man durch ein Haus mit vielen Räumen geht, muss man sich viele Pfadabhängigkeiten merken. Hier unterscheiden sich Individuum und Dividuum auf den ersten Blick nicht, aber das Dividuum hat dem Individuum dennoch etwas voraus: Es hat eine infrastrukturbewusste Sprache, die die Eigenheiten und Vertraktheiten von Pfadabhängigkeiten einpreist.

Beispiel: Nehme ich eine Pfadgelegenheit und gehe den Pfad weiter und immer weiter, dann erhöht sich dadurch automatisch meine Abhängigkeit von der ursprünglichen genommenen Pfadgelegenheit. Das stimmt sowohl für das Umherirren im Wald, für das Coden von komplexen Programmen, für die Struktur eines Textes beim Schreiben, als auch für Businesses, die ihren Vertriebskanal über Amazon Marketplace laufen lassen.

Wir spüren diese Abhängigkeit durchaus und wir blicken auf Abhängigkeiten nicht selten mit bangem Blick, aber uns fehlt die Sprache, die die Gefahr plastisch machen würde. Aber wir sind doch freie Individuen, versichern wir uns. Und wenn die Schmerzen zu groß werden, wird „der Markt uns schon auffangen“, so die Verdrängungserzählung des Individuums.

Deswegen produziert die Gesellschaft vielfältige und enthusiastische Erzählungen über plausible und begehrenswerte Pfadgelegenheiten, aber hat keine angemessene Sprache gefunden, die sich aus den Pfadgelegenen ergebenden Pfadabhängigkeiten zu beschreiben. Wir sprechen über „das Klima“ als sei es ein Objekt, wie eine aussterbende Tierart, die nur ein paar Ökospinner beweinen würden und als ginge es nicht um ein grundlegendes infrastrukturelles Problem mit einer tiefsitzenden Pfadabhängigkeit für alles, was wir tun und sind.

Das wir dafür keine Sprache gefunden haben, liegt nicht an unserer mangelnden „Intelligenz“, sondern weil wir pfadabhängig vom Individuum denken und sprechen.

Die Infrastrukturvergessenheit des Individuums ist sein Geburtsfehler. Es entwirft sich als von der Welt losgelöster, autonom handelnder Agent, dessen Pfadgelegenheiten immer schon da waren, und das immer schon schlau war, praktisch seit Geburt, wobei es das eigene „Geborensein“, wie auch die Sterblichkeit, meist erst auf zweifache Nachfrage zugibt.

In Krasse Links No 55 beschreibe ich die Kopfgeburt des Individuums so:

Descartes kleiner Trick war, einfach so zu tun, als gäbe es die Sprache nicht – also diese externe Infrastruktur, mit der er seine Gedanken organisiert und ohne die er nichts wüsste vom „Ich“, vom „Denken“ und vom „Sein“. Das ermöglicht ihm, sein Denken („Res Cogitans“) von „dem Außen“ („Res Extensa“) abzutrennen und damit den Widerspruch von Geist (Vernunft/Intellekt) und Welt zu behaupten.

Dadurch wurde auch die Illusion des infrastrukturfreien Sehens möglich, der Blick von nirgendwo, der objektive Blick, der – wie wir alle wissen – der einzig vernünftige Blick ist.

Der Descartes-Trick funktioniert für alle Infrastruktur, denn genau betrachtet ist nicht nur unser Denken, sondern auch unser Handeln immer infrastrukturvermittelt. Wir können nicht denken oder tun, was wir wollen – nicht mal wollen, was wir wollen – denn wir sind immer an einem ganz konkreten Punkt in der Welt mit ganz konkreten, materiellen und semantischen Pfadgelegenheiten, die uns zu einem konkreten Zeitpunkt zur Verfügung stehen.

Aber indem wir die Infrastruktur verdrängen (jedenfalls bis sie kaputt geht), können wir uns die Agency selbst zuschreiben. Unserem individuellen Ich können wir dadurch „Fleiß“, „Intelligenz“, „Geschmack“ und „Freiheit“ attestieren, ganz besonders wenn wir mit 200 Sachen auf der Autobahn an den Losern vorbeirasen.

Diese Selbstzuschreibung von Agency war nützlich, unter anderem im Kolonialismus, wo man die eigenen Infrastrukturen erfolgreich gegen andere Völker wendete. Die Genozide wurden schon damals mit der eigenen „Zivilisiertheit“ gerechtfertigt und der nun mal überlegenen europäischen „Vernunft“, was aber eigentlich nur meinte: infrastrukturvermittelte Agency. Aus dieser Erlaubnisstruktur ergibt sich der Koloniale Blick: eine implizite Hierarchie der Völker entlang ihres „Entwicklungsgrades“, die bis heute in allen unseren Debatten spukt.

Das Individuum ist auch Grundlage unseres Blicks auf die eigene Gesellschaft. Statt Menschen zu sehen, die jeweils versuchen, in den ihnen zur Verfügung stehenden Infrastrukturen zu überleben, haben wir die Gesellschaft als „Markt der Individuen“ imaginiert, in der dein Platz in der Welt, deiner „individuellen Leistung“ und damit über Bande auch deiner „Intelligenz“ entspricht.

Wenn Du den goldenen Löffel im Mund für eine Ausbildung an einer Elite-Universität eingetauscht und mit dem erworbenen Wissen und den Kontakten von Papa ein erfolgreiches Start-Up gegründet hast, dann bist Du „deines Glückes Schmied“. Wenn du in Gaza aufgewachsen bist, in der dritten Generation vertrieben in den Ruinen Deines Hauses sitzt und Israel am liebsten abschaffen willst, bist du ein Antisemit und kannst weg.

Wie gesagt, das ist alles logisch und richtig so und dass die Super-Individuuen aus dem Silicon Valley mit ihren milliardenschweren aber völlig verdrängten Infrastrukturen gerade die Demokratie abräumen, liegt nicht daran, dass sie an ihrer eigenen Super-Individualität durchgeknallt sind, sondern das ist ein wichtiger Schritt zur nächsten Stufe menschlicher Zivilisation: AGI – die Vernunft in der Flasche. Das letzte Individuum.

Ich hänge immer alles so der an Descartes auf, aber natürlich weiß ich, dass die Geschichte komplexer ist, aber auch lustiger. Das Individuum entstand eigentlich als „Juristische Person“ im späten Mittelalter. Eine „legale Fiktion“ einer „Annahme von Urteilskraft“ und „freien Willen“, die die Pfadgelegenheit des „rechtskräftigen Vertrags“ ermöglichte, dazu eine Art Eigentumsrecht an sich selbst, bzw. seinen Körper (hence: Marx‘ doppelte Freiheit des Arbeiters). Ja, die Karriere des Individuums begann als infrastruktureller Ur-Grundbaustein, der sich bildenden kapitalistischen Ordnung. Descartes ist auch nur ein Dividuum, das als Jurist den Vibe seiner Zeit eben durch die Paragraphen der Gesetzbücher aufschnappte und restrukturierte.

Aber Descartes liefert mit seiner „Cartesianischen Meditation“ nicht nur die philosophische Erlaubnisstruktur des „Individuums“ und damit der Grundlage des kapitalistischen Systems, sondern ahmt dabei gleichzeitig die Geste vor, die ihm immer mehr Dividuen nachmachen sollten, im Versuch, Individuum zu werden. Er verleugnete seine Eingebundenheit in die Welt, indem er seine geerbte und über einen langen Prozess eingeübte Unterscheidungs-Infrastruktur einfach seinem eigenen „Res Cogitans“ zuschrieb, um eine Abgeschlossenheit zu behaupten, die nicht existiert. (Nebenbei ist das auch der ursprüngliche „geistige Diebstahl“, auf dem der geistige Diebstahl des „Urheberrechts“ basiert, aber das führt hier zu weit.)

Infrastrukturvergessenheit ist seitdem bei uns eine anerzogene Haltung, die pfadabhängiger Teil eines implizit herrschaftlichen Blicks auf die Welt ist. Descartes Unterscheidung von „Res Cogitans“ und „Res Extensa“ war rückblickend eine verheerende Pfadentscheidung im westlichen Denken, die uns allen die Sicht auf die Gesellschaft verstellt und die uns gerade in Form der Broligarchie und ihrem Gefasel von „AGI“ um die Ohren fliegt.

„Frühe Pfadentscheidungen strukturieren die späteren vor“, das ist nichts Neues, tausendfach erlebt, tausendfach beschrieben und das ist ja wirklich auch kein Hexenwerk, das zu verstehen, sogar als Individuum.

Aber es wichtig zu finden, es als relevanten Vektor bei den Beobachtungen der Welt mitlaufen zu lassen, und zur Grundlage eigener Entscheidungen zu machen, ist etwas, das dem Individuum schon aus seiner Selbsterzählung heraus schwer fällt. Das Individuum redet nicht gerne über Abhängigkeiten.

Ich behaupte: das fällt dem Dividuum leichter, allein schon weil das Wort „Pfadgelegenheit“ jeder sogenannten „Handlung“ die Bürde des Pfades aufzwingt. Wenn jede meiner Entscheidung Teil eines Pfades ist, dann passiert keine Handlung ohne Vorgeschichte und, noch wichtiger, keine Handlung bleibt ohne Konsequenzen.

Und fängt man an, sich und seine Welt so zu erzählen, also anders zu sehen, mit andern Unterscheidungen, dann bekommt man mit der Zeit ein Orientierungswissen aus differenzierten und zu Erwartungen geronnenen Erfahrungen. Ein „Gefühl“ für Dimensionen, Dynamiken, Flüssen und Kritikalitäten in den Pfadabhängigkeiten unseres gemeinsamen Seins. Wobei das andere „Sehen“ nicht wirklich ein kognitives „Aufnehmen“ oder „Verstehen“ ist, sondern eine Art zusätzlicher, im idealfall mit eigenen Schmerzerfahrung beschwerter „Sensor“ für die Welt, der der Perspektive „im Netzwerk Sein„, als zusätzliche Dimension hinzufügt und Semantiken wie „Techfaschismus“ und „Klimakatastrophe“ zu emotional-plastischen Ungetümen aus antizipiertem Schmerz inszeniert. Ist nicht schön, tbh.

Die Erwartungen der Anderen. Ludwig Wittgenstein kam bei seinem Nachdenken über Sprache letztlich zu zwei wichtigen Schlüssen: Wofür wir keine Semantiken haben, darüber können wir nicht sprechen. Und die Einsicht, dass es keine Privatsprache geben kann. Sprache können wir nur gemeinsam erschaffen.

Der Grund dafür – und Wittgenstein ist da sehr explizit – ist, weil wir uns selbst keine Gesetze auferlegen können. Also wir können das schon versuchen, so Wittgenstein, aber wir brauchen eine externe Instanz, die uns materiell Grenzen setzt. Die materiell „Nein“ zu uns sagt. Im Grunde hat Wittgenstein das Dividuum entdeckt.

Weil wir keine Individuen sind, die „autonom“, also Selbstgesetzgebend sind, sondern Dividuen, die sich gegenseitig outcallen, führen wir beim Handeln und Sprechen immer den Blick des Anderen bei uns, wie einen Passierschein.

Der Blick des Anderen wurde oft „Gewissen“ genannt, bei Sigmund Freud ist es das „Überich“ und in meinem Newsletter verweise ich auf den Blick des anderen meist als Erlaubnisstruktur.

Wie das Dividuum diesen Blick des Anderen konstruiert, ist natürlich sehr unterschiedlich. Für manche ist es vor allem nach wie vor Gott, für manche mehr der strenge Vater, für andere Romanfiguren, aber ich denke heute in unserer modernen Welt ist dieser „Blick des Anderen“ meist ein wilder Mix aus sich überlagernden Perspektiven unterschiedlicher Communities, Autoritäten, Freundschaften und sonstigen Loyalitäten. Ein aggregierter Blick all derer, denen man sich verpflichtet fühlt.

Unsere Erlaubnisstrukturen sind natürlich verkoppelt mit den Pfadabhängigkeiten, denn die Erwartungen derjenigen, von denen wir abhängig sind, können wir nicht ignorieren. Deswegen konzentriert Macht immer auch Aufmerksamkeit.

Emotion/Empathie. In Krasse Links No 74 kam ich mit Hilfe des Biologen Nicholas Humphrey darauf, wie Pfadgelegenheit und Emotion zusammenhängen:

Das kopierte Reiz-Reaktionsschema ist nicht nur Q-Function, sondern auch eine Proto-Emotion. Das heißt: Pfadgelegenheiten sind immer und grundsätzlich mit Emotionen verbunden. Der Schmerz des Hungers (Reproduktionsschmerz), aber auch der Genuss des Essens, der Schmerz der nicht (mehr) vorhandenen Pfadgelegenheiten (Netzwerkschmerz) und der Genuss des Flows, die vielen unterschiedlichen Schmerzen der Gefahr (Stress) und der Genuss der Geborgenheit sind von vornherein Teil der kopierten Reaktionsmuster, also auch unserer „projizierten Handlungen“ und immer wenn ich etwas entscheide, spielt ein komplexes Zusammenspiel dieser Emotionen eine Rolle (Bauchgefühl).

Emotion ist inszenierter Reiz und sie ist gleichzeitig die Proto-Semantik, von der alle Semantik stammt. Und das heißt, das alles, was wir tun, alles, was wir sagen, nicht nur durch unseren Ort, sondern auch durch Emotion „gegrounded“ ist. Und weil aber Emotion immer schon eine Inszenierung, d.h. eine Iteration als Wiederholung in der Differenz ist, ist sie immer schon semantisch. Deswegen reicht es, Körperhaltungen, oder die Angst in Gesichtern zu sehen, um Schmerzen in uns auszulösen. Wenn wir Empathie bedeutet, den Schmerz oder den Genuss des Anderen in uns selbst inszenieren.

Die jeweilige emotionale Groundingslandschaft ist natürlich dividuell extrem verschieden, denn wir alle haben unterschiedliche Schmerz- und Genusserfahrungen gemacht, die uns fähig machen oder nicht, sich mit den Schmerzerfahrungen anderer zu verbinden. Und je nachdem, in welcher emotionalen Groundings-Landschaft man lebt, verändert das die Perspektive auf die Welt und damit auch den „Klang“ aller Unterscheidungen.

Das Wort „Krieg“ klingt in den Ohren von jemandem, der in einem lebt, anders, als in meinem und das Wort „Klimakatastrophe“ klingt nicht so, wie es klingen sollte, wie ich mal in Krasse Links No 29 feststellte.

Mein Doktorvater Bernhard Pörksen sagte mal zu mir: „Realität ist das, was noch da ist, wenn du nicht dran glaubst“, was ich auf Anhieb schlüssig fand. Aber wenn man das zu Ende denkt, bedeutet das: Realität ist Schmerz. Schwerkraft ist nicht „wahr“, weil Newtons Formeln stimmen, sondern weil hinfallen weh tut.

Schmerz ist auch der Antrieb für diesen Newsletter. Ich habe mir am Netzwerk den Kopf gestoßen und seitdem verarbeite ich diese Erfahrung zu einer anderen Sicht auf die Welt.

Der Klimawandel ist wie das Netzwerk ein Hyperobjekt, und meine These zu Hyperobjekten ist, dass sie Dimensionen von Realität sind, zu denen uns noch der passende Schmerz fehlt. Deswegen hat dieser Clip wahrscheinlich mehr zum allgemeinen Verständnis des Klimawandels beigetragen als der letzte IPCC-Bericht.

In die Unerträgliche Leichtigkeit des Seins formulierte Milan Kundera es so:

Schwere, Notwendigkeit und Wert sind drei eng zusammenhängende Begriffe: nur das Notwendige ist schwer, nur was wiegt, hat Wert

Aufmerksamkeit. Jedes Dividuum hat nur eine begrenzte Aufmerksamkeit und das bedeutet, dass jede Perspektive gleichzeitig ein Fokus ist, der anderes Ausschließt.

Die Perspektive beginnt mit der Unterscheidung und die Unterscheidung ist gleichzeitig die Fokussetzung. Aufmerksamkeit ist das zeitliche Grounding der Perspektive.

Jede Pfadgelegenheit erfordert ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit, auch wenn uns mit der Zeit viele Dinge in „Fleisch und Blut“ übergehen. Viele Tätigkeiten, spezielle wiederkehrende Tasks werden durch Übung „naturalisiert“, so dass sie ohne eigens mobilisierten Planungsaufwand durchgeführt werden können.

Aufmerksamkeit ist quasi gleichzeitig das „System 2“ von Daniel Kahnemann und ein bisschen auch das „Bewusstsein“ bei den Kognitivisten, aber viel bescheidener: als der Fokus auf die aktuell relevanten Unterscheidungen einer Perspektive, im Kontext eines Pfads.

Aufmerksamkeit ist knapp und überall gefragt: Ein Gutteil ihres Lohns bekommen produktiv Arbeitende für ihre Aufmerksamkeit. Die Werbeindustrie hat aus Aufmerksamkeit ein Trillion-Dollar Business gemacht. Aufmerksamkeit ist eine Währung. In Krasse Links No 38 schrieb ich:

Das Paper, das den Transformeransatz, der heute alle generativen KIs antreibt, der Welt vorstellte, hieß literally: „Attention is All you need“ und das denke ich mir auch immer wieder, wenn ich meinen Hund streichel. Der körperlichen Kontakt ist wichtig, doch das Streicheln ist nur Medium einer noch wichtigere Ressource: Aufmerksamkeit.

Dass Aufmerksamkeit eine knappe Ressource ist, um die ein ökonomischer Kampf geführt wird, hatte bereits Georg Franck formuliert, aber Aufmerksamkeit ist auch die grundlegenste Infrastruktur all unserer sozialen Beziehungen. Aufmerksamkeit ist die Währung jedes dividuellen In-Beziehung-Tretens und jede Beziehung erfordert ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit. In einer soliden Beziehung ist man wechselseitig über beide Ohren in Aufmerksamkeit verschuldet.

Aufmerksamkeit macht, dass wir uns als ein „Gegenüber“ spüren. Aufmerksamkeit ist Anerkennung – zumindest der eigenen Existenz. Die Suche nach Aufmerksamkeit, egal ob privat, oder öffentlich, ist deswegen immer auch ein wichtiger Teil unserer Motivation.

Motivation ist das Orientierungsschema der Pfadselektion und die ist „messy“, denn alle bisher genannten Faktoren der Perspektive – die Suche nach Aufmerksamkeit, die Erlaubnisstrukturen, die Emotionen, die Pfadgelegenheiten, die Eindrücke, usw. spielen hier natürlich immer mit rein, aber dennoch lassen sich einige davon unabhängige, populäre Motivationsschema isolieren und betrachten.

Das Individuum zum Beispiel strebt oft nach „Individualität/Authentizität“, wobei die „Individualitäten“, die sich die Individuen einreden, nur heterogene Pfadgelegenheiten in einer größtenteils nur oberflächlich pluralistischen Pfadgelegenheitslandschaft sind. Daraus ergibt sich ein „Lockstep Individualismus“, ein Konzept, das der Linguist Adam Aleksic aus Krasse Links No 29 anhand von männlicher Namensgebung erklärt.

In diesem Video beschreibt er das Phänomen, dass Jungennamen in den USA immer häufiger mit „n“ enden und dieser Trend zur Uniformität lässt sich paradoxer auf einen Abgrenzungswillen zurückführen. Es wurden ganz viele neue Namen kreiert, aber meist welche, die auf „n“ enden, weil das irgendwie „low key“ männlich wahrgenommen wird. Das führte zu mehr Männern mit „n“ am Namensende, was den Eindruck verstärkte, etc. Network effects all over again.

Jedenfalls nennt man das wohl „Lockstep Individualism“ und ich musste herzlich lachen, aber dann fragte ich mich: gibt es einen Individualismus, der nicht lockstep ist? Ist nicht jede Abgrenzungsgeste bereits im lockstep mit all den anderen Abgrenzungsprojekten? Ist lockstep-Abgrenzung nicht auch irgendwie unser Thing?

Das, was Philosoph*innen seit Platon und Aristotelis, über Walter Benjamin zu René Girard als „Memisis“ identifizieren, ist einfach ein Effekt unseres Pfadopportunismus im Zusammenspiel mit unserer dividuellen Subjektivierung. Das äußert sich natürlich beim Kleinkind deutlicher, also in einer Phase wo man noch keine Infrastrukturen hat und nach allen beobachten Pfadgelegenheiten greift. Jedenfalls mehr als heute, wo sich unser Pfadopportunismus als „Lockstep-Individualismus“, der eigentlich einfach ein Dividualismus ist, in Form von Moden, Trends, Memes, Subkulturen, „Bürgerlichkeit“, oder der „Öffentlichen Meinung“ aggregiert.

Während die Motivation des Individuums also oft mit „Nutzenmaximierung“ beschrieben wird, ist die Motivation des Dividuums am einfachsten mit Will Storr, als „to get ahead und to get along“ umschrieben, also: Weiterkommen und Auskommen. Nur legen manche mehr Wert auf getting ahead und andere mehr auf getting along?

Dieses Navigationsschema führt bedauerlicherweise zu einem notwendigen Pfadopportunismus. Die Welt ist eng, das Leben kurz, man muss die Pfade nehmen, wie sie sich einem bieten, wobei die allgemeine Plausibilität eines Pfades in der Gesellschaft eine entscheidende Rolle spielt. Und ist man auf einem Pfad, werden die Kosten immer größer, die ein Exit bedeuten würde und so lässt man sich leiten, wie auf Schienen.

Hier ist die Schwierigkeit: Es braucht immer ein aktives „Nein“, um einen Pfad zu verlassen und dieses „Nein“ muss die Kosten der Pfadabweichung immer mit einpreisen. Deswegen gelingt das „Nein“ nur, wenn das Dividuum es schafft, einen alternativen Pfad emotional zu inszenieren, also zu imaginieren und ihn dem aktuellen Pfad vorzuziehen. Doch selbst wenn das gelingt: an den Schmerzen führt kein Weg drumrum.

Geschichte. Wie auch jedes Individuum, erzählen sich auch Dividuen, jedenfalls sofern sie subjektivieren. Aber während das Individuum sich als Protagonist seiner Welt erzählt, erzählt sich das Dividuum eher als höflicher Pfadopportunist. Als Überlebender in einer Welt mit anderen Überlebenden (siehe dazu Anna Tsing, The Mushroom at the End of the World), auf der Suche nach Frieden und Sicherheit.

Weil sich die Welt ständig in das Dividuum eindrückt, verändert sie ständig auch seine Perspektive und Pfadgelegenheiten und ein Großteil seiner Zeit verbringt das Dividuum damit, Abhängigkeiten zu verlagern und neue Pfadgelegenheiten zu suchen, um verschwundende Pfadgelegenheiten durch andere und schlechte Pfadgelegenheiten durch bessere zu ersetzen, etc. Das heißt, das Leben des Dividuums ist meistens gar nicht so spannend und selten heldenhaft, aber erstens braucht es Geschichte, um zu planen, denn ohne Geschichte, ohne einen Ausgangspunkt und einen Pfad, kann man sich nicht in die Zukunft entwerfen. Der zweite Grund ist, dass sich das Divdiuum ohne die eigene Geschichte nicht von der Welt und vor allem den Erwartungen der anderen abgrenzen kann. Die eigene Geschichte ist immer eine Abgrenzungsgeschichte. Jede Geschichte ist anders, aber die Eckpunkte jeder Geschichte bestehen aus den Momenten, wo sind wir von den Erwartungen der anderen abgewichen sind, ob freiwillig oder unfreiwillig.

Die Geschichte reguliert das Handeln über den Blick des Anderen: Bei jeder Pfadgelegenheit, die wir nehmen, fragen wir uns, ob der Andere sie uns erlauben würde, was im Endeffekt heißt: Ob er die Geschichte kaufen würde, die wir uns selbst auftischen. Das ist der Mechanismus, der uns „ehrlich“ hält.

Geschichte und Geschichten beginnen immer dann, wenn von einer Erwartung abgewichen wird, weil sie erst durch Erwartungsabweichung notwendig wird und oft überzeugt die Geschichte nicht alle.

Beobachtungen: Das Dividuum in seiner Welt

Weil alle Dividuen überlappende materielle und semantische Welten bewohnen, ergeben sich darin Topologien: Verdichtungen, Erhebungen, Muster, Hubs, Cluster, Barrieren, Flüsse, Staus, Infarkte, Formationen, Abkürzungen, Highways oder Backbones und Netzwerkzentralitäten und ihre Provinzen. In der Beschreibung des Netzwerks der Pfadgelegenheiten können wir viel über die Gesellschaft erfahren.

Hier ein paar nützliche Datenpunkte, die ich im Newsletter über die Zeit über das Dividuum und seinen Weltbezug trianguliert habe:

  • KL29: Weil wir keine Individuen sind, die die Welt beobachten, sondern Dividuen, die einander beobachten, wie sie die Welt beobachten, ist Öffentlichkeit ein Klangkörper, den wir alle miteinander bespielen.
  • KL30: Weil wir nicht einfach gewalttätige Individuen sind, sondern Dividuen, die einander Gewalt erlauben (siehe auch Milgram), kommt jede Gewalt mit ihrer Erlaubnisstruktur.
  • KL31: Weil wir keine generalisierenden Individuen sind, sondern Dividuen die gemeinsam an einer sozialen Skulptur arbeiten, die wir wechselseitig als „Wirklichkeit“ beglaubigen, verwenden wir einander als Erlaubnisstruktur für unsere Generalisierungen.
  • KL34: Weil wir keine Individuen sind, deren „Mind“ über psychologische Stimuli „manipulierbar“ ist, sondern Dividuen, die sich aneinander orientieren, funktioniert echte Manipulation nicht als Operation am Individuum, sondern über Modifikation der Öffentlichkeit.
  • KL35: Weil wir keine Individuen sind, die die Welt beobachten, sondern Dividuen, die ihre Beobachtungen dazu nutzen, aufgeschnappte Erzählungen zu plausibilisieren, tragen Milliarden Schmerzerinnerungen als verteilte Privatempirie die Thesen der Rogannomics.
  • KL39: Weil Silicon Valley Oligarchen keine ruchlosen Individuen sind, sondern Dividuen, die sich die Ruchlosigkeit voneinander abgucken, borgt sich Mark Zuckerberg die männlich-hegemoniale Erlaubnisstruktur von Elon Musk, wie Ryan Broderick aufzeigt.
  • KL40: Weil wir keine Individuen sind, die sich einfach entschließen können, die Matrix zu verlassen, sondern Pfadopportunisten, die immer nur den plausiblen Pfaden folgen, die sie vor sich sehen, brauchen wir Infrastruktur, um der Matrix zu entfliehen.
  • KL41: Weil wir keine Individuen sind, die mit „kognitiven Verzerrungen“ ihres eigentlich „objektiv-rationalen“ Denkapparates kämpfen, sondern dividuelle Pfadopportunisten, die einander auf Deutungspfaden folgen, bleiben wir auf die Deutungsangebote angewiesen, die uns materiell, semantisch und sozial zugänglich sind.
  • KL53: Weil wir keine Individuen sind, die einfach „verdrängen“, sondern Dividuen, die sich über ihre Verdrängungserzählungen zu semantischen Verdrängungsgemeinschaften verbinden, basieren die meisten echten Verschwörungen auf Groupthink.
  • KL60: Weil wir keine Individuen sind, die Entscheidungen im luftleeren Raum unseres „Minds“ fällen, sondern Dividuen deren Verbindungen die Entstehung von anderen Verbindungen beeinflussen, sind wir in jeder Lebenslage Netzwerkeffekten ausgesetzt.
  • KL62: Weil wir keine Individuen sind, die ihre Überzeugungen aus ihrem Inneren schöpfen, sondern Dividuen, die ihre Überzeugungen aus den Überzeugungen von anderen triangulieren, verändert es unseren Orientierungssinn, wenn wir „normale Menschen“ in der Öffentlichkeit dumme Dinge sagen hören.
  • KL62: Weil wir keine Individuen sind, die die Welt beobachten, sondern Dividuen, die einander beobachten, wie sie die Welt beobachten, akkumuliert sich unsere Aufmerksamkeiten dort, wo wir die Aufmerksamkeit anderer erwarten.
  • KL63: Weil wir keine Individuen sind, die einfach Sinn in ihrer Arbeit sehen, sondern Dividuen, die sich durch Einsatz ihrer Aufmerksamkeit gegenseitig den Sinn in ihrer Arbeit beglaubigen, schickt uns die Versloppung der Welt in eine Verantwortungslosigkeits-Spirale.
  • KL65: Weil wir keine Individuen sind, die die Welt beobachten, sondern Dividuen, die einander Beobachten, wie sie die Welt beobachten, können wir uns nicht einfach „eigene Gedanken“ machen, sondern sind gefangen in dem jeweils wechselseitig beglaubigten semantischen Raum, den wir „Wirklichkeit“ nennen.
  • KL68: Weil wir keine Individuen sind, die entweder egoistisch oder solidarisch sind, sondern Dividuen, die einander beim egoistisch oder solidarisch sein zuschauen, und daraus ihre Schlüsse für ihre Strategie ziehen, hat Trump eine Möglichkeit gefunden, die halbe gesellschaftliche Elite der USA – immer einen nach dem anderen – in die Knie zu zwingen.

Alles was das Dividuum „kann“, „ist“ oder „hat“ ist entweder aus seiner ständigen Anpassungsleitung an die Umwelt entstanden, oder aus der Anpassungsleistung der Umwelt an seine Pfadbedürfnisse. Das Dividuum ist gleichzeitig Medium von Strukturen und Strukturgenerator (Pfadgelegenheiten vorausgesetzt).

Doch hier ist das Problem: Sobald wir Fragen, was das Dividuum „ist“, d.h. woraus es besteht, wie es abgegrenzt ist, wie es aufgebaut ist, usw., stellen wir es uns schon falsch vor.

Das Dividuum und seine Pfadgelegenheiten ist der oder das Andere, bei Levinas. Wir sind aufgefordert, uns in das Dividuum hineinzuversetzen, ihm gastfreundschaftlich statt zu geben, aber wir werden niemals alle seine Netzwerke kennen und selbst wenn. Das Dividuum ist niemals abgeschlossen und auch apriori unabschließbar, denn seine Pfadgelegenheiten sind für die Zukunft offen. Das Dividuum ist das Andere in uns, die unabschließbare Differenz unseres eigenen Handlungspotenzials – das Unverfügbare, das sich nicht messen, nicht besitzen, nicht zentralisieren lässt. Jedenfalls nie vollständig.

Genau deswegen ist das Dividuum ein antifaschistischer Subjektentwurf. Aber wie das bei linken Projekten immer so ist: Es ist leider ein unvollständiger Subjektentwurf. Es ist quasi das Individuum als entkernte Ruine und ohne seine Agency.

An einer anderen Stelle schreibt Deleuze im Postskriptum:

Weder zur Furcht, noch zur Hoffnung besteht Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen.

Das Dividuum allein ist noch keine Waffe. Damit das Dividuum handlungsfähig wird, braucht es eine oder mehrere Pfadgelegenheiten. Erst mit der (semantischen) Pfadgelegenheit zusammen, vervollständigt sich der alternative Subjektentwurf.

Von der Macht-Interdependenz Theorie zur Wert-Formel

Kernstück der Politischen Ökonomie der Pfadgelegenheiten ist die Macht-Interdependenz Theorie von Richard M. Emerson. Ich habe sie bereits an vielen Stellen erklärt, aber an dieser Stelle möchte ich den genauen Weg beschreiben, wie man von Emerson zu der Wert/Machtformel kommt.

Emersons Theorie ist deswegen von Vorzug, weil sie Macht nicht als etwas behandelt, das nur die anderen haben. Macht ist bei ihm aber auch nicht das schemenhafte Geraune, das sie in postmodernen Theorien annimmt. Macht ist bei Emerson einfach eine soziale Tatsache, in die wir alle jeden Tag und zu jederzeit, tausendfach eingebunden sind. Und gleichzeitig lassen sich alle beobachteten Machtphänomene mit Emerson beschreiben.

Im Plattformbuch habe ich Emersons Macht-Interdependenz-These so zusammengefasst.

Abhängigkeit definiert Emerson wie folgt: D(a|b) (D für “dependence”) sei die Abhängigkeit eines Akteurs A von einem Akteur B. Sie ist (1.) proportional zu As Motivation, jene Ziele zu erreichen, die B zugänglich macht, und (2.) umgekehrt proportional zur Erreichbarkeit dieser Ziele jenseits der A-B-Beziehung. Macht definiert Emerson folgendermaßen: P(a|b) (P für “power”) sei die Macht eines Akteurs A über einen Akteur B. Sie bemisst sich an dem Widerstand von B, den A fähig sei zu überwinden.

Zunächst gilt: P(a|b)=D(b|a) Die Macht von A über B entspricht der Abhängigkeit Bs von A. Da Beziehung jedoch wechselseitig abhängig ist, gilt:

P(a|b)=D(b|a) & P(b|a)=D(a|b).

Alle interdependenten Beziehungen lassen sich so darstellen. P(a|b)=D(b|a) & P(b|a)=D(a|b) bedeutet nicht, dass die Beziehung ausgeglichen ist. Eine ausgeglichene Beziehung entspräche: P(a|b)=D(b|a) == P(a|b)=D(b|a). (Die Macht und die Abhängigkeit von A über B entspricht der von B über A.)

Hier haben wir eine einfache Machtinterdependenz.

Wir denken Macht radikal relational. Macht ist immer bezogen und immer wechselseitig. Außerdem ist Macht latent. Sie tut erstmal nichts, sondern ist ein Potential. Außerdem heißt Interdependenz nicht, dass es keine Machtungleichgewichte geben kann.

Es lassen sich aber auch leicht ungleiche Beziehungen darstellen. Eventuell hat B einen guten Job und A lebt in Bs Haushalt und hält ihn am Laufen. Klar braucht B auch A, doch nicht so stark wie A B braucht. Eine solche Beziehung sähe dann so aus: P(b|a)=D(a|b) > P(a|b) = D(b|a). Emerson sieht Macht also nicht als Einbahnstraße, erkennt aber die Existenz von Ungleichgewichten an und kann sie aus den wechselseitigen Abhängigkeiten direkt ableiten.

Man kann sich das an einem Kinderspiel veranschaulichen.

Stellen wir uns eine ausgeglichene Beziehung vor: P(a|b) = D(b|a) == P(a|b) = D(b|a). A und B sind hier zwei Kinder aus der Nachbarschaft. Die beiden Kinder spielen gerne zusammen, denn allein spielen langweilt. Sie sind also von der wechselseitigen Kooperation abhängig. Würde A sich weigern, mit B zu spielen, könnte B sein Ziel (gemeinsames Spielen) nicht erreichen. Aber A könnte es ebenso wenig.

Nun zieht eine neue Familie in die Nachbarschaft, und A lernt C kennen, das gleichaltrige Kind der Familie. Die beiden freunden sich an. Das verändert auch die Beziehung zwischen A und B, da A jetzt eine alternative Spielpartnerin hat. Nun gilt P(a|b) = D(b|a) > P(b|a) = D(a|b). A hat nun mehr Macht über B, da er weniger abhängig von B ist als B umgekehrt von A.

B müsste nun einen Balanceakt vollziehen, um dieses Machtungleichgewicht wieder auszutarieren. Dafür hat sie vier Optionen.

  • Balanceakt 1: Sie kann ihre eigene Motivation, mit A zu spielen, zügeln. („A ist eh doof.“)
  • Balanceakt 2: Sie kann sich eine alternative Ressource erschließen, also zum Beispiel eine andere Spielkameradin finden. (Eine Spielkameradin D zum Beispiel.)
  • Balanceakt 3: Sie kann sich selbst als Spielkameradin für A wieder attraktiver machen (indem sie zum Beispiel in ein neues Legoset investiert), damit A wieder lieber zu B zum Spielen kommt.
  • Balanceakt 4: Sie kann As Zugang zu alternativen Ressourcen (in diesem Fall also zu C) versperren. Sie kann zum Beispiel Cs Familie überreden, wieder wegzuziehen (schwierig), oder sich mit C verbünden (leichter).

An dieser Stelle geht Emerson leider nicht in die Analyse. Er erklärt nicht, wieso und wie A mächtiger wurde, aber wir wissen, dass das Auftauchen von C offensichtlich ausschlaggebend ist.

Für meine Formel der Plattformmacht folgerte ich:

Stellen wir uns jetzt mit Emerson wieder A und B vor, die eine wechselseitig abhängige Beziehung mit komplementären Interessen führen. Durch die Graphnahme dieser Beziehung schafft es die Plattform C, dass A und B ihre Beziehung über ihre Infrastruktur fortführen. Für A und B ist das eventuell erstmal von Vorteil, denn C bietet verbesserte Techniken der Interaktion an, die die Beziehung zwischen A und B vereinfacht.

Da C aber durch seine Kontrollregime in der Position ist, die Verbindung zwischen A und B jederzeit zu unterbrechen, ergibt sich eine neue, vielleicht zunächst verdeckte Abhängigkeit von A und B zu C. A braucht C, um die Beziehung mit B fortführen zu können, und B braucht C, um die Beziehung mit A fortführen zu können. C hat somit sowohl die Macht von A über B als auch die Macht von B über A in sich aufgenommen. Dadurch ist C bereits der mächtigste Akteur in der Dreierkonstellation. As und Bs Abhängigkeit von C und damit die Macht von C reduziert sich allerdings insoweit, als A und B auch andere Möglichkeiten haben, ihre Beziehung zu führen. In der Realität sind A und B nicht nur über Facebook miteinander verbunden, sondern auch über SMS und Telegram.

Was wir bis hierhin als C beschrieben haben, ist noch nicht notwendigerweise eine Plattform, sondern ein ganz normaler Mittelsmann (oder -frau). Doch nichts anderes ist eine Plattform, nur eben mit wesentlich mehr Beziehungen. Sowohl A als auch B führen nämlich noch andere Beziehungen, zum Beispiel ist A mit D, E und F und B mit G, H und I befreundet. Auch diese Beziehungen verlagern sich zunehmend auf Plattform C, was die Abhängigkeit aller Beteiligten von C entsprechend erhöht. Was sich hier also akkumuliert, ist Netzwerkmacht, und bei Emerson wirkt sie wie Balanceakt 3: Alle Verbindungen, die über C stattfinden, erhöhen die Attraktivität von C gegenüber allen anderen Akteuren. Das Resultat sieht nun folgendermaßen aus: A, B, D, E, F, G, H und I bilden ein Netzwerk aus gegenseitig abhängigen Beziehungen, doch allesamt sind sie abhängig von C.

Vereinfacht ergibt sich daraus folgende Formalisierung der Plattformmacht P von Plattform C über eine Person X mit den Beziehungen Y:

P(c|x) = D(x|a) + D(x|b) + D(x|d) + D(x|e) … = D(x|y)
Vereinfacht:

P(c|x) = ∑D(x|y)

Wir haben also folgende Situation:

Aber die Macht wird relativiert durch die alternativen Plattformen.

Die Plattformmacht P über eine Person X, P(c|x), entspricht der Summe der Abhängigkeiten von X vom Zugang zu A, B, D, E … Y. Allerdings relativiert sich die Macht um die alternativen Möglichkeiten, diese Beziehungen auch abseits von Plattform C zu pflegen. Wenn die alternativen Plattformen C’ ebenfalls eine Beziehung zu Y ermöglichen, dann verteilt sich die Plattformmacht eben auf die Anzahl alternativer Plattformen – plus eins für Plattform C.

Und so kam es zu der Formel für Plattformmacht in meiner Dissertation.

Für die Buchausgabe, da drängte mein Lektor darauf, sollte ich die Formel rauszulassen und ich gab dem nach kurzem ringen statt. Ich gab auch deswegen nach, weil ich selbst merkte, dass da irgendwas noch nicht stimmte. Die Macht auf Personen, Plattformen und Zielen herunterzubrechen schien mir auf zweifache Weise verfehlt: Es geht doch eigentlich nie um die ganze Person und gleichzeitig geht es immer um mehr als die Person und ein irgendwie feststehendes „Ziel“. Das, was wir uns aus der Verbindung erhoffen, ist einerseits nur ein Aspekt der Person und andererseits so viel mehr: die sozialen und semantischen Pfade, die sie eröffnet, ihre Sympathie, ihre Nähe, ihr Wissen, ihre Berühmtheit (semantischer Wert), ihre Dienstleistung, ihre Unterhaltsamkeit, ihre Quellen, ihre Art auf die Welt zu schauen, etc. D.h. Ihre Pfadgelegenheiten zu weiteren Pfaden.

Das hat mich aber nicht davon abgebracht, das Konzept auf Supplychains anzuwenden, wo das Emerson-Konzept sogar noch besser als Erklärungsansatz passt.

Es brauchte aber noch ein paar Jahre, meine Beschäftigung mit Donna Haraway, meiner Beschäftigung mit LLMs und den Subjektentwurf des Dividuums, bis ich verstand, was falsch ist: Es geht nicht um die Abhängigkeit von Menschen, sondern um Abhängigkeit von Pfaden.

Enter: „Pfadgelegenheit

„Pfadgelegenheit“ ist für unsere Zwecke erstmal ein semantischer Hack, der das Denken in Netzwerken vereinfacht.

Die Pfadgelegenheit erlaubt es uns, Menschen in Netzwerken zu denken, das heißt, in den Strukturen, die sie bewohnen. Es entfaltet sich damit eine Netzwerk-Beschreibungsebene aus Handlung, Perpektive und Infrastruktur, die uns erlaubt, Realität anders zu formulieren. Siehe dazu den Pfadgelegenheits-Explainer.

Auch praktisch: Der Begriff ist skalenfrei: Die Pfadgelegenheit ist genauso das Jobangebot, der nächste Zug beim Schach, die Investition, die Beziehungsofferte, die Gelegenheit, ein anderes Land anzugreifen, der Link, oder die vor uns liegende Autobahnausfahrt.

Pfadgelegenheiten bestehen aus Pfadgelegenheiten, denn damit etwas funktioniert, muss immer erst etwas anderes funktionieren, etc. So muss A zu B oder B zu A kommen, damit sie zusammen spielen können, was ebenfalls infrastrukturelle Vorraussetzungen hat, etc. Und das Spiel ist nicht einfach das Spiel, sondern von der Pfadgelegenheit „gemeinsames Spiel“ gehen wiederum andere Pfade ab: Sozialität, Vertrauen, Vertrautheit, Lernen, gemeinsame Semantiken, Freundschaft, auf die wiederum andere Dinge aufbauen können, etc … Ich könnte den ganzen Tag über die Vorzüge dieses Begriffs schwärmen.

Mit der Pfadgelegenheit können wir auch das Kinderspiel leicht umschreiben:

Die Macht von A über B ist die Abhängigkeit Bs von der Pfadgelegenheit γ, die A zum Kinderspiel für B bietet und die Macht von B über A ist die Abhängigkeit As von der Pfadgelegenheit γ, die B zum Kinderspiel für A bietet und beide teilen das jeweils durch die Pfadalternativen zu der betreffenden Pfadgelegenheit + 1. Das + 1 steht für die irreduzibele Pfadgelegenheit, die γ bietet. Ohne 1 – ohne mindestens einen Pfad, den Pfad um den es geht – ist alles nichts.

Hier kommt die Substitutionsmatrix rein. Mit der Substitutionsmatrix können wir Austauschbarkeit berechnen, also die Pfadalternativen zum jeweiligen γ.

Hier für die Ausgangssituation von A und B.

Setzen wir die Austauschbarkeit als Pfadalternative ein, ergibt sich folgende Rechnung für die aggregierte Nettomacht der beiden Racker.

Wir sehen ein ausgeglichenes Machtverhältnis. Beide haben Macht übereinander, aber sie entspricht sich.

Doch sobald sich C sich mit A befreundet, verändert sich die Subsitutionsmatrix.

Weil aus As Sicht die Pfadgelgenheiten, die B und C jeweils zum Kinderspiel bieten, austauschbar sind, addieren wir für B und C jeweils eine 1 in den Nenner, womit ihre Pfadgelegenheiten nur noch die hälfte wert sind.

Wir sehen, wie B und C jeweils 0,5 einbüßen, die auf das Konto von A fließen.

Emerson hat über die Pfadgelegenheiten von B gesprochen, um das Ungleichgewicht wieder aufzulösen, aber nicht über die Pfadgelegenheiten von A, seine Macht auszunutzen. Dabei steckt darin das ganze Geheimnis des Kapitalismus:

  • Machtakt 1: A könnte seine Macht nutzen, um die Politik der Pfadentscheidung auszuüben: „Klar können wir spielen, aber nur wenn ich bestimmen darf, was.“
  • Machtakt 2: A könnte auch seine Macht ausnutzen, um eine Politik des Flaschenhals zu etablieren: A könnte Regeln aufstellen und zB. fordern, dass die anderen immer einen Schokoriegel zum Spielen mitbringen sollen.
  • Machtakt 3: Politik der Omniszenz, der Allwissenheit. A weiß über B und C bescheid und kann das für sich nutzen, B und C aber nur über A.
  • Machtakt 4: Politik der Sichtbarkeit. A könnte C gegenüber B verschweigen, oder andersrum.

Für die politische Ökonomie der Pfadgelegenheiten, insbesondere für die Analyse von Plattformen, sind alle Machtakte wichtig, aber Machtakt 2, die Politik des Flaschenhals, ist die Presse, aus der die Marge fließt.

Wir können unsere Interdependenz-Bilanz aufmachen und sehen, wie die Abhängigkeitsdividende in Marge verwandelt wird.

Jedenfalls wenn A ein kleines Arschloch ist. Um das hier auch einmal aufzuführen: Es gibt andere Möglichkeiten, mit Machtungleichgewichten umzugehen.

  • A könnte seine Macht ignorieren und einfach ganz normal mit B und C spielen. Wie ein ganz normaler Mensch.
  • A könnte seine eigene Macht nutzen, um sie loszuwerden. Etwa B und C miteinander bekannt machen und sich freuen, wenn sie sich anfreunden.
  • A könnte Verantwortung für die Macht empfinden und vorsichtig mit ihr umgehen und zum Wohle von B und C nutzen. Ein Konzept, dass sich „Fürsorge“ nennt, aber das aus Sicht des Kapitalismus schlicht ungehobene Marge bedeutet.

Jedenfalls wäre damit auch das Verhältnis zwischen Kapitalist*in und Arbeiter*in, sowie das zwischen Leitunternehmen und Zulieferern hinreichend erklärt. Die Effektivität von Gewerkschaften (Balanceakt 4) leuchtet auf Anhieb ein und auch die Musikindustrie lässt sich auf diese Weise gut erklären, wie es ich neulich in diesem Talk vorgemacht habe. Und natürlich lässt sich auch das Machtverhältnis zwischen Plattformuser und Plattform damit beschreiben.

Hier das Beispiel von Twitter zum Zeitpunkt der Übernahme: Twitter, also C sieht in uns Usern, also X, vor allem eine Pfadgelegenheit für 50 Dollar pro Monat an Umsatz, hat dafür aber noch 260 Millionen Pfadalternativen + 1. Aus unserer User-Perspektive sehen wir alle Pfadgelegenheiten, die die Plattform uns bietet, geteilt durch die Pfadalternativen, was bei Twitter damals gefühlt höchstens 1,6 waren (kann man drüber streiten), was aber eh egal ist, weil der erste Wert verschwindend klein ist. Mit anderen Worten: die Beziehung ist so ungleich, dass die Plattform den gesamten Wert der geschaffenen Pfadgelegenheiten als aggregierte Netto-Macht absorbiert, die sich dann so berechnet:

Wie wir sehen, setzt sich die aggregierte Netto-Macht (ANM) aus zwei Dimensionen, bzw. Faktoren zusammen: Breite mal Tiefe. Breite ist die Anzahl der Nettoabhängigen und die Tiefe ist die durchschnittliche Stärke ihrer Abhängigkeit und gibt damit Hinweise auf die erwartbare Schmerztoleranz. Bei Plattformen basiert auf der Breite die Netzwerkmacht, also die Hegemonie der Plattform und auf der Tiefe basiert ihre Plattform-Souveränität, das heißt, ihre Fähigkeit, sich gegen die Interessen und den Willen ihrer Nutzenden zu verhalten und weiterzuentwickeln, ohne relevant Verbindungen zu verlieren. Das Enshittyfication-Potential pro User, if you like.

Ich weiß, ich hatte die Plattformmachtformel in Krasse Links No 69 so formuliert:

Da ich die Formel bis zu diesem Zeitpunkt immer nur zum Denken benutzt habe, nicht zum Rechnen, machte es diesem Kontext Sinn mit γ‘x einen Parameter für den emergenten Nutzen mit aufzuführen, aber natürlich kann man formal γ‘x als pfadabhängigen Wert von γx subsummieren und erhält dann eine handliche allgemeine Macht/Wert Formel:

Die Macht von C über X ist die Summe der Pfadgelegenheiten γ, die X von C erwartet, geteilt durch die erwarteten Pfadalternativen von γ + 1.

All das bedeutet nicht, dass wir Macht berechnen können, denn der Wert von Pfadgelegenheiten ist ein messy Messwert, da er erstens subjektiv und zweitens latent ist. Das Preissignal ist ein Anhaltspunkt, aber man darf es nicht überbewerten, denn die wenigsten Unternehmen schöpfen die Abhängigkeits-Dividenden allzuweit aus, bzw. wir wissen es einfach nicht und auch die Kapitalist*innen wissen es nicht, sie müssen da auch immer erst vorfühlen. Aber wir können Mechanismen beschreiben, Strategien, Geschäftsmodelle, Strukturen und Ausbeutungszusammenhänge. Wir können damit einen Sensor für Macht entwickeln.

Habe ich hier etwas bewiesen? Nein. Ist die Formel beweisbar? Schwierig, aber ich denke, da werden sich Wege finden? Ich hab jedenfalls ein paar Ideen.

Davon abgesehen weiß ich eh, dass die Formel falsch ist. Alle Formeln, die versuchen, die Realität zu beschreiben, sind falsch. Aber ich glaube nicht, dass sie ganz falsch sein kann. Sie hat einen richtigen Kern. Aber wenn man das eine oder andere besser oder genauer berechnen kann, als ich es hier tue: Prima. Ich bin für Kritik und Vorschläge offen. Mathe ist echt nicht so mein Fachgebiet und ich bin für Feedback wirklich dankbar.

Was ich sagen kann ist das: Es ist die Formel, nach der ich gesucht habe. Es ist die Formel, die mir plausibel ist, die mit allem konsistent ist, was ich so beobachte: dazu gehören nicht nur die Plattformen, Supplychains und KI, sondern es matcht auch meine eigenen Erfahrungen mit Macht, d.h. Wert, d.h. Schmerz des Verlusts. Aber vielleicht ist das auch bei euch anders? Auch das interessiert mich.

Bis auf weiteres halte ich die Formel als grobe Annäherung an die Realität und damit als heuristisch-narratives Device für nützlich, weswegen mich die kommende Purge-Koalition und ihr Thanos-Effekt tatsächlich spooked.