Willkommen zu krasse Links No 33. Heute crashen wir die Paywall in den Ambient Information Space der Normies und boosten die Reichweite des Newsnerd-Tribes.
Bernhard Pörksen (mein Doktorvater) hat sich durch die Klimaberichterstattung des Spiegels gewühlt und neben viel guter und legitimer Berichterstattung (besonders in den letzten Jahren), auch sehr viel „Verniedlichungs- und Verharmlosungs-Aktivismus“ gefunden, wie er schreibt.
Der Biologe Josef Reichholf glaubt, dass mit der Erderwärmung die Artenvielfalt zunehme. Raum für ein Riesen-Interview im Jahre 2007. Er freue sich auf »mildere Zeiten«, auch die »Menschheit als Ganzes« werde keine »großen Probleme« bekommen, so heißt es hier. Der Däne Bjørn Lomborg, auch er ein Liebhaber der abwiegelnden Provokation, darf im Blatt über die Klimakonferenz von 2009 – kein Scherz! – schreiben: »Scheitern wäre ein Erfolg. Warum die Menschheit den Klimaschutz vertagen sollte.« Der einstige RWE-Manager Fritz Vahrenholt hat auch eine Meinung. »Die Klimakatastrophe findet nicht statt«, behauptet er. Er attackiert den Weltklimarat, prophezeit, dass es sogar kühler werde – Anlass für ein Riesen-Gespräch im SPIEGEL (2012). »Wir werden hinters Licht geführt«, so lautet der Titel des Gesprächs. Ein seltsamer Sound.
Der Volksverpetzer traut sich auszusprechen, was in der journalistischen Medienwelt gerne verdrängt wird: Dass das Desinformationsproblem nicht nur von rechten Trollen, russischen Einflusskampagnen und „alternativen Medien“ ausgeht, sondern ein Gutteil aus den klassischen Medien kommt. Aber weil man sich in der Branche nicht unbeliebt machen will, wird weithin so getan, als seien NZZ, BILD oder Welt noch seriöse Quellen.
Eigentlich wäre es ja so schön: Einfach Journalismus unterstützen und wir bekämpfen das Desinformations-Problem in unserer Gesellschaft. Diese Gleichung geht aber nicht so einfach auf. Aus Profitgier, aus finanzieller Abhängigkeit oder aus persönlicher Ideologie der Besitzer: Auch etablierte Medien können Desinformation verbreiten und der AfD narratologisch den Weg ebnen. Das ist im Kampf keine Randbeobachtung. Das ist der Ort, wo unsere gemeinsame Faktengrundlage zerbricht.
Es existiert offenbar keine funktionierende Selbstkontrolle in der Branche. WELT, BILD & Co. werden als valide Quellen betrachtet, obwohl sie schon zigfach rechte Desinformation verbreitet haben. Die viele Rügen des Presserats interessieren BILD offensichtlich nicht. Die Selbstkontrolle scheint immer wirkungslose zu werden. Es gibt keine Standards für wirksamen Schutz vor übergriffigen Herausgebern. Und es wird sich nichts ändern, wenn wir die Übeltäter weiter wie seriöse Medien behandeln.
Nils Müller stieß mich auf diesen Podcast, in dem das Buch „Die Unterwerfung“ von Phillip Blom besprochen wird. Ich kannte Philipp Blom nicht, aber wir scheinen auf parallelen Schienen unterwegs zu sein, jedenfalls verfolgt auch Bloms „Unterwerfung“ den Herrschaftlichen Blick des Westens – also das Individuum, das die Welt kontrolliert – durch die Geschichte, allerdings setzt er bereits beim jüdischen Exil in Babylon an und trackt den Seele-Körper-Dualismus durch das Christentum bis zur Aufklärung, wo die Seele dann durch die „Vernunft“ ersetzt wird. Spannend.
Molly White hat das ganze Jahr über die Wahlspenden der Cryptoindustrie getrackt und und hat die Ergebnisse in einem Video aufbereitet.
Mit beinahme 200 Millionen Dollarn hat keine andere Industrie mehr Geld in Wahlkampfspenden investiert und diese Investitionen wurden strategisch geschickt genutzt, nicht nur um eigene Kandidaten zu promoten, sondern um Anti-Crypto-Kandidaten abzustrafen, vor allem aber, um in der Politik den Anschein zu erwecken, es gäbe den sogenannten „Crypto-Wähler“, der cryptofreundliche Politik zum primären Anlass seiner Wahlentscheidung macht, statt … naja, ein paar Silicon Valley Milliardäre, die sich die Legalisierung von Pump-and-Dump-Schemes shoppen.
Irgendwie komm ich bei der ganzen Crypto-Selbsterzählung auch nicht mehr mit und finde im Bitcoin-Whitepaper auch die Stelle gar nicht, wo „Finanzielle Freiheit“ durch börsengehandelte Bitcoin-ETFs oder dem „Regulatory Capture“ des Staates zum Durchbruch verholfen werden soll?
Zwei Wissenschaftler haben Hinweise dafür gefunden, dass der Algorithmus von X zugunsten von Republikanern manipuliert war.
The analysis reveals a structural engagement shift around mid-July 2024, suggesting platform-level changes that influenced engagement metrics for all accounts under examination. The date at which the structural break (spike) in engagement occurs coincides with Elon Musk’s formal endorsement of Donald Trump on 13th July 2024.
Tweets von Republikaner*innen wurden anscheinend häufiger über den „For You“-Feed ausgespielt.
However, only view counts showed evidence of a group-specific boost, with Republican-leaning accounts exhibiting a significant post-change increase relative to Democrat-leaning accounts. This finding suggests a possible recommendation bias favouring Republican content in terms of visibility, potentially via recommendation mechanisms such as the „For You“ feed.
Die Trends sind zwar deutlich, aber weit weniger deutlich als der Boost, den sich Elon Musk selbst verpasst hat.
Following the identified structural break on July 13, 2024, Elon Musk’s account showed a substantial increase in view counts, rising by approximately 138.27% compared to his average view count before the change. In contrast, other accounts experienced a more moderate increase of 56.93% in view counts over the same period.
Wenn ich über die Relevanz von X spreche, stoße ich immer wieder auf die Beschwichtigung, dass da ja eh niemand mehr wäre und dass X ja unterm Strich ein so kleines, unbedeutendes Netzwerk sei und ich schätze, die Tatsache, dass wir immer noch in „Reichweiten“ denken, ist ein Atavismus der Gutenberg Galaxis und ein Zeichen dafür, dass wir noch nicht im Netzwerkdenken angekommen sind.
Reichweite ist die Frage, wo ich potentiell die meisten Leute erreiche und das sind auf Instagram, Tiktok und wahrscheinlich auch Facebook und Youtube sicher viel größere Zahlen, aber Reichweite ist nur ein Puzzelteil der viel entscheidenderen Frage des „Einflusses“. Einfluss ist die Frage, wo ich am besten eine Information platziere, um ihr besten Verbreitungsvorteile einzuräumen.
Twitter war nie riesig und seit Musk es übernommen und in X verwandelt hat, hat es an Reichweite und Einfluss verloren, aber ich behaupte es ist nachwievor für die öffentliche Meinungsbildung das relevanteste aller Netzwerke. Nirgends sind so viele Medienmacher*innen miteinander in Konversation wie auf X: Journalist*innen, Aktivist*innen, Autor*innen, meinungsstarke Milliardäre, Prominente, Influencer*innen, Politiker*innen und Expert*innen zu allen möglichen Themen. Twitter ist einflussreich, weil die Leute, die sich dort austauschen außerhalb von Twitter einflussreich sind. Die spezifische Netzwerkzentralität, die Twitter im Aufmerksamkeitsnetzwerk einnimmt, das wir Öffentlichkeit nennen, nennt sich Eigenvektorzentralität. Wichtiger als die Reichweite ist der Einfluss der Leute, die du erreichst.
Unsere politisch-mediale Elite wird auf X nicht einfach gehirngewaschen und auf rechts gedreht, aber sie erfährt dort ein anderes „Normal“. Ein Normal, in dem rechtsradikale Sichtweisen unwidersprochen bleiben und in dem man sich längst weitgehend einig ist, dass Linke Antisemiten, Ausländer die Mutter aller Probleme und die Grünen unfähige Warmduscher sind.
Im starken Kontrast zur ersten Trumpwahl 2016 ist Meta in den Analysen bisher eher unterm Radar geflogen. Zu unrecht:*
Just six days before the 2024 presidential election, Facebook is running hundreds of ads from pages that falsely claim that the upcoming election may be rigged or postponed. Facebook parent company Meta’s ad library shows that the pages behind the ads have paid the company more than $1 million to run them. They racked up a bill of more than $350,000 for ads run in just the past week.
One of the ads features a stylized image of Vice President Kamala Harris with devil horns and an American flag burning behind her. Other ads feature images of Harris and VP candidate Tim Walz interposed with post-apocalyptic scenes, and pictures of Walz and President Biden mashed up with images of prescription drugs spilling out of bottles. One features an apparently AI-generated image of a smiling Harris in a hospital room preparing to give a screaming child an injection. Another features images of anti-vaxxer and third-party candidate RFK Jr. Some of the ads question whether Harris will remain in the race and suggest that America is “headed for another civil war.”
Auch Elon Musk hat viel Geld in diese Art Werbung gesteckt, aber ich glaube gar nicht, dass Werbung der entscheidende Faktor war.
Since 2021, Meta has dramatically reduced the amount of political posts that it serves to users — which may increase the power of paid political ads in reaching Facebook users with a candidate or party’s message. This year, Vice President Kamala Harris has dramatically outspent former President Donald Trump on Facebook ads.
Ok, hier eine steile These:
Mark Zuckerberg hat über seine Plattformen Trump mehr zum Wahlsieg verholfen, als Musk durch X.
Seit 2021 führt Meta einen algorithmischen Krieg gegen „Political Content“ und wir tun die ganze Zeit so, als sei das politisch neutral. Aber wenn nur die eine Seite tatsächlich über echte Ereignisse, Kandidaten, Wahlen und Policies spricht, ist das eben eine einseitige Benachteiligung.
Politische Kommunikationstrategien, die auf Memes, Kulturkampf, Desinformationen, Persönlichkeitskult und KI-Slop basieren, funktionieren auf Metas Plattformen nach wie vor prima?
Musk konnte mit X gar nicht so viel Wind für die Republikaner entfachen, wie Facebook, Instagram und Threads der demokratischen Botschaft genommen haben.
Nilay Patel hatte bereits im Mai einen tollen Decoder-Podcast über ein Phänomen gemacht, das er „Google Zero“ nennt. Dazu hatte er Gisele Navarro, die CEO von HouseFresh, einer kleinen Luftfilter-Review-Website, zu Gast und sie erzählt, wie ihnen im Zuge von Updates in Googles Such-Algorithmus ihr Such-Traffic praktisch über Nacht um 95% zusammengebrochen ist. Patel definiert Google Zero so:
“Google Zero” — my name for that moment when Google Search simply stops sending traffic outside of its search engine to third-party websites.
Google, so die These, sei zunehmend mit KI-generierten Content zugespammt und priorisiert gleichzeitig ihre KI-Zusammenfassungen über die Link-Ergebnisse, dass Websitebetreiber*innen die Incentives verlieren, über Google findbar zu sein.
Interessant fand ich auch Navarros Art der Schilderung: Als ob dort 10 Jahre lang eine Straße war und dann sei die Straße über Nacht einfach weg gewesen.
Die bislang hilfreichste Bestandsaufnahme der Rolle der Medien in der US-Wahl hat bisher Natalie Behring im New Yorker geliefert. Sie sieht Anzeichen dafür, dass sich das ganze Mediale Ökosystem unserer Öffentlichkeit verändert hat.
It is wrong to suggest that people now relate only through digital screens. (People still show up at cookouts, dinner parties, track meets, and other crossings.) But information travels differently across the population: ideas that used to come from local newspapers or TV and drift around a community now come along an unpredictable path that runs from Wichita to Vancouver, perhaps via Paris or Tbilisi. (Then they reach the cookout.) Studies confirm that people spend less and less time with their neighbors. Instead, many of us scroll through social networks, stream information into our eyes and ears, and struggle to recall where we picked up this or that data point, or how we assembled the broad conceptions that we hold. The science historian Michael Shermer, in his book “The Believing Brain,” used the term “patternicity” to describe the way that people search for patterns, many of them erroneous, on the basis of small information samplings. The patterns we perceive now rise less from information gathered in our close communities and more from what crosses our awareness along national paths.
In diesem Ökosystem werden mediale Ereignisse mehr und mehr zum Hintergrundrauschen, von dem einem Politik meist als viraler Got-You-Clip erreicht. In der Welt der „ambient Information“ bleibt nichts mehr hängen, als ein bestimmter Vibe.
Planting ideas this way isn’t argument, and it’s not emotional persuasion. It’s about seeding the ambience of information, throwing facts and fake facts alike into an environment of low attention, with the confidence that, like minnows released individually into a pond, they will eventually school and spawn. Notions must add up to a unified vision but also be able to travel on their own, because that’s how information moves in a viral age. And national media is key. Trump’s command of the ambience of information wouldn’t have been possible without his own platforms, such as Truth Social, as well as allies such as Fox News’ C.E.O., Suzanne Scott, who in 2020 excoriated her team after they fact-checked Trump, and Elon Musk, who, hoping for executive-branch power over his own sector, largely funded more than a hundred and seventy-five million dollars’ worth of pro-Trump outreach, was read into early voting data, and tweeted lies, conspiracy theories, and mistrust of media on his network, X, which boosts his posts. The communications researcher Pablo Boczkowski has noted that people increasingly take in news by incidental encounter—they are “rubbed by the news”—rather than by seeking it out. Trump has maximized his influence over networks that people rub against, and has filled them with information that, true or not, seems all of a coherent piece.
Dieser Vibe ist keine Desinformation im Sinne, dass eine konkrete, falsche Information dafür Dingfest gemacht werden kann, sondern mehr ein Beat aus hunderten von Informationsschnippseln (falsche, richtige, aus dem Kontext gerissene), bei dem alle mittrommeln können.
The pollster and political-marketing-language consultant Frank Luntz assembled a focus group of men who had previously voted for a Democratic nominee but were voting for Trump this year. Many of their rationales were based on untrue information settled deep in the ambience of information. “Nothing against people from California, but the policies in California are so bad I wouldn’t be surprised if the state goes bankrupt,” a participant in Indiana said. (California has the largest economy in the U.S.) “Kamala from California is too radical . . . she’s too far left.” (Biden’s policies tended to be to the left of Harris’s, when they didn’t align.) These are not convictions that someone acquires from a specific source, neighborhood, or community.
Ich musste an Gespräche mit Menschen in den letzten Wochen denken, in denen jemand aus dem Nichts anfing, über die Grünen zu lästern, eher aus Smalltalk-Gründen, denn um sich politisch zu positionieren. Grünenbashing hat sich als unverfängliche Konversationstechnik etabliert aber wenn man nachfragt, was denn genau das Problem ist, kommen meist sehr ungenau erinnerte und eher vage Behauptungen, irgendwelche alten, längst widerlegten Geschichten, irgendwelche Klips aus dem Netz, wo irgendwer irgendwas nicht gewusst hat, oder sich versprochen hat, etc. Meistens sind diese Menschen überrascht, wenn ich solche Erzählungen in Frage stelle, aber ich merke schnell, das die einzelne Geschichte egal ist, weil sie nur eine von vielen austauschbaren Erlaubnisstrukturen ist, aus denen dieser Vibe besteht.
In a country where more than half of adults have literacy below a sixth-grade level, ambient information, however thin and wrong, is more powerful than actual facts. It has been the Democrats’ long-held premise that access to the truth will set the public free. They have corrected misinformation and sought to drop data to individual doors. This year’s contest shows that this premise is wrong. A majority of the American public doesn’t believe information that goes against what it thinks it knows—and a lot of what it thinks it knows originates in the brain of Donald Trump. He has polluted the well of received wisdom and what passes for common sense in America. And, until Democrats, too, figure out how to message ambiently, they’ll find themselves fighting not just a candidate but what the public holds to be self-evident truths.
2008, in der frühen Phase des Social Web, ging unter Medienleuten ein Satz viral, mit der die NYTimes einen Studenten zitierte:
“If the news is that important, it will find me.”
Das war damals gerade für Journalist*innen eine unvorstellbare Vorstellung, doch heute ist sie die Realität der meisten Menschen. In dieser Welt ist die Frage der Reichweite unzureichend und wir müssen anfangen, in anderen Bildern zu denken.
Ich komme zum Beispiel immer wieder zurück auf den Begriff der Perkulation. Perkulation ist eigentlich ein anderes Wort für „Durchsickern“. Das Prinzip kann man bei jeder Filter-Kaffeemaschine beobachten. Die heißen Wassertropfen, die auf das Kaffeepulver im Filter treffen, suchen sich im Labyrinth der Zwischenräume ihre Wege Richtung Schwerkraft und erst, wenn genug Wasser im Pulver ist, damit sich Wege von oben nach unten finden – also das Kaffeepulver im Filter durchgesuppt ist – fängt der Kaffee an, in die Kanne zu tropfen.
Die Frage, die man also statt der nach der Reichweite stellen müsste, könnte so lauten:
Welche Pfade existieren von mir als Sender im Perkulationsraum der Social-Media-Plattformen bis in den „Ambient Information Space“ des oben zitierten Studenten?
Und die Antwort ist: immer weniger?
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Michael Seemann
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Ich muss nochmal auf die Tribaliusmus-Grafik aus dem letzten Newsletter zurückkommen.
Wir haben uns bei unserer Untersuchung auf den Roten Ball, also die Fakenews-Verbreiter*innen konzentriert. Aber was ist mit der blauen Wolke? Wer sind die, die die Richtigstellungen verbreiteten? Wer sind die, die sich so intensiv mit journalistischen Inhalten auseinandersetzen, dass sie mit den News öffentlich in den Diskurs gehen?
Wir haben bei unserer Untersuchung die blaue Wolke gewissermaßen als die „norm“ in den Hintergrund geschoben, doch was in diesem Bild natürlich nicht zu sehen ist, sind die Abermillionen von Twitter-Konten, denen die ganze Angelegenheit – und alle ähnlichen Vorkommnisse – komplett am Arsch vorbei gehen. Also fast … alle?
Hier eine nachträgliche These: die blaue Wolke ist ebenfalls Ausdruck eines Tribes, ich nenne ihn „Newsnerd-Tribe“. Das ist der auf allen Social Media Plattformen aber vor allem auf Twitter ansässige Tribe, der aus Erfüllung, Karriere oder Kontrollillusion heraus, öffentlich mit den Nachrichten in den Diskurs geht. Mit dem Zuzug von immer mehr Journalist*innen, Promminent*innen, Politiker*innen, usw. wurde daraus die digitale Öffentlichkeit der Öffentlichkeitsmacher*innen.
Der Tribe ist diffus genug, dass er in alle möglichen Gesellschaftsbereiche hineinragt, ist aber auch abgrenzbar genug, um festzustellen, dass wir es hier mit einer verschwindend kleinen Minderheit zu tun haben. Weil der Tribe in alle möglichen Vektoren heterogen genug ist, um sich zu erlauben, sich als Zufallsseletion der Gesellschaft mißzuverstehen, hat er irgendwann angefangen, seine Mikroöffentlichkeit mit der Öffentlichkeit ansich zu verwechseln.
Ab hier wechsle ich ins „Wir“, denn Du, liebe/r Leser*in gehörst wie ich diesem Tribe großer Wahrscheinlichkeit an. Weil wir uns ständig über jeden Scheiß in den Haaren haben, fühlen wir uns nicht als Tribe, sondern als heterogenes, zufälliges Abbild der Gesellschaft, aber die kulturelle Praxis des „Sich wegen News in die Haare kriegens“, macht uns nun mal zu einer vergleichsweise kleinen, abgrenzbaren Interaktionseinheit, mit seinen eigenen Regeln, Ritualen, Hierarchien und Traditionen.
Wie ist es diesem Tribe seit 2017, dem Jahr, als die Grafik gemacht wurde, ergangen? Hier eine materielle Geschichte des Newsnerd-Tribes:
- Der Trend zur Paywall war bereits 2015 losgegangen und von 2017 bis 2023 hat sich der Prozentsatz der Medien mit irgendeiner Art von Paywall nochmal von rund 77 Prozent auf 94 Prozent verschoben. Da Zugang einerseits kritisches Kriterium für Partizipation am Newsnerd-Tribe ist und andererseits Zugänglichkeit auch kritisch für die Verbreitung der Inhalte ist, verkleinerten sich gleichzeitig der Tribe und sein Einfluss enorm.
- 2022 übernahm Musk Twitter, das angestammte Habitat des Newsnerd-Tribes, das für viele damit unbewohnbar wurde. Vor allem der liberal-links-progressive Teil des Newsnerstribes migrierte in allerlei Splitternetzwerke, die jeweils nicht genug eigenvektoriale Aufmerksamkeit gebündelt bekommen, um als Öffentlichkeit empfunden zu werden.
- Ungefähr zeitgleich beginnt Mark Zuckerberg seinen Krieg gegen News und politische Inhalte. Die Ambient-Information-Spaces der Massen werden auf Facebook, Instagram und Threads von politischen und News-Inhalten algorithmisch abgeschirmt.
Was man immer wieder lernte, wenn man den Ukrainekrieg etwas aufmerksamer verfolgte, war, dass eine Einkesselung nicht bedeutet, dass sich 100.000 Soldaten um eine Stadt reihen, sondern, dass es reicht, wenn die eine Zufahrtsstraße besetzt, die andere in Artilleriereichweite und die letzte zu schlammig ist.
Ich fürchte, der Newsnerd-Tribe hat vor lauter Infrastrukturvergessenheit gar nicht mitbekommen, dass er kurz vor Social Zero steht.