Willkommen zu Krasse Links No 60. Aggregiert eure ExaFlops, heute schicken wir MechaHitler nach Rom, um die Netzwerkeffekte der menschlichen Schutzschilde ins System zu locken.
Die Nichtwahl von Brosius-Gersdorf und die dahinter stehende rechte Desinformationskampagne wird in der Wirtschaftswoche treffend von Dieter Schnaas kommentiert.
Die Union hat sich vor den Karren einer Schmutzkampagne gegen eine vor Wochenfrist noch weitgehend unbekannte Rechtsgelehrte spannen lassen und sogar den Versuch unternommen, sie mit Plagiatsvorwürfen öffentlich hinzurichten.
Sie hat damit abermals den politischen Comment beschädigt und ist mit Herzenslust in die Falle rechtspopulistischer Kulturkämpferei getappt. Sie hat erneut ohne Not „die Mitte“ preisgegeben und sich zum parlamentarischen Arm einer rechtsaktivistischen (Netz-Hetz-)Apo herabgewürdigt.
Ich habe aufgehört die Kulturkampf-Tröten in den USA und Deutschland als „böse Individuuen“ zu sehen und sehe sie zunehmend als gewissenlose Pfadopportunisten in einem System, das jeden Regelverstoß mit Aufmerksamkeit belohnt und in dem gleichzeitig Aufmerksamkeit die wichtigste politische Ressource ist.
Ja, Spahn ist ein korrupter Selbstdarsteller, aber in dieser Incentivestruktur sind Menschen wie er, Trump, Klöckner, Musk usw. nichts weiter als evolutionäre Algorithmen, die Wege suchen und finden, den Aufmerksamkeits-Glitch des Systems maximal zu melken, indem sie es zerstören.
Cullen Murphy befasst sich im Atlantic mit dem Untergang Roms.
Der bekannte amerikanische Historiker des römischen Reichs, Ramsay MacMullen, hatte ihm den strukturellen Grund für den Untergang Roms so beschrieben: Aus einem System aus funktionierenden, ineinandergreifenden Institutionen, dem „Train of Power“, wie er es nennt, wurde durch Privatisierung ein korruptes System, in dem allerlei mächtige Einzelinteressen an allen Ecken und Enden ihre Margen abzwackten.
And then it came undone. MacMullen described the problem: Over time, layers of divergent interests came between command and execution, causing the train of power to break. The breakage could come in the form of simple venality—somewhere along the way, someone found it profitable to ignore distant authority. Or it could occur because a public task was put into private hands, and those private hands had their own interests to protect. The military was largely farmed out to barbarian contractors—foederati, they were called—who did not always prove reliable, to put it mildly. In many places, the legal system was left to the marketplace: A bronze plaque survives from a public building in Numidia listing how much a litigant needed to pay, and to whom, to ensure that a lawsuit went forward.
Eine ähnliche Privatisierungswelle rollt seit den 1980er Jahren auch auch durch das Westliche Imperium …
In the 1980s and ’90s, privatization started gaining traction again, and it had plenty of help. Anti-government sentiment created opportunities, and entrepreneurs seized them. Privatization was also pushed by policy makers who saw outsourcing as inherently more efficient. And besides, the public sector can’t do everything. Case by case, privatization of this or that may well make sense. The problem comes in the sheer accumulation. In the U.S., even before Trump took office a second time, there were roughly twice as many people employed by private contractors to do the federal government’s business as there were federal employees.
… und eskaliert seitdem immer weiter vor sich hin.
In the U.S., anyone with money and a need now hires private security guards, who outnumber police officers by a ratio of 2 to 1. Among companies based in the U.S., the third-largest global employer—after Amazon and Walmart—is a private security firm, Allied Universal. Private guards patrol small towns and swaths of entire cities. A consortium of hundreds of businesses in Portland, Oregon, hired a company named Echelon Protective Services to secure their downtown precinct, day and night. During the fires that devastated Los Angeles in January, the wealthiest residents of Brentwood called in the secretive security firm Covered 6 to protect their homes from looting. As for personal protection, the market has no ceiling. Mark Zuckerberg’s reported annual budget for personal security is $23 million, five times more than the pope pays for the Swiss Guards.[…]
Today, gated communities encompass 14 million housing units. On its website, a real-estate company in Florida earlier this year asked readers, “Is a Moat Right for You?” It was an April Fools’ joke, but not a very good one, because modern moated residences already exist. Perhaps the most exclusive gated community in the world is actually an island—Indian Creek Village, in Biscayne Bay, Florida, with 89 residents (including Jeff Bezos, Ivanka Trump, and Jared Kushner) and a perimeter-security radar system designed by the Israeli company Magos. Officers in speedboats intercept anyone venturing too close. […]
The deliberate dismantling of government in America in recent months, and its replacement with something built on privatized power and networks of personal allegiance, accelerates what was long under way. Its spirit was captured decades ago in a maxim of Ronald Reagan’s economic adviser Murray Weidenbaum: “Don’t just stand there— undo something!”
Anschaulich beschreibt er die Mechanismen, mit denen die Oligarchie durch ihre privaten Infrastrukturen dann die Politik steuert und der Gesellschaft ihre Interessen aufdrückt.
In 2008, desperate for cash, Chicago privatized its parking meters, selling off the rights to all the revenue for 75 years to a group of investors led by Morgan Stanley. A “true-up” provision in the contract requires the city to compensate investors for lost revenue when meters are taken out of service—a provision that weighs on decision making whenever the city considers projects that would eliminate meters or favor mass transit over cars. The rights to operate toll highways have been sold off by some jurisdictions to private companies, including foreign ones. The fine print in the contracts often prevents improvements to adjacent roads on the grounds that such enhancement would create undue competition. Private prisons generally put a quota clause into their agreements. States and municipalities may be hoping, as a matter of policy, to reduce their prison populations, but the beds in private prisons must be filled regardless.
Der Witz an Netzwerkeffekten ist, dass sie so allgegenwärtig sind, dass sie lange einfach übersehen wurden. Weil wir keine Individuen sind, die Entscheidungen im luftleeren Raum unseres „Minds“ fällen, sondern Dividuen deren Verbindungen die Entstehung von anderen Verbindungen beeinflussen, sind wir in jeder Lebenslage Netzwerkeffekten ausgesetzt. Weil Verbindungen selten so standardisiert sind wie auf Plattformen, treten sie meist nur indirekt zu Tage, so dass wir es im Einzelfall kaum merken.
Und doch haben wir Wege gefunden, über Netzwerkeffekte zu sprechen: „Öffentlichkeit“ beschreibt eigentlich Netzwerkeffekte im Netzwerk der Aufmerksamkeit, „Macht“ beschreibt Netzwerkeffekte im Netzwerk der Abhängigkeiten und „Semantik“ (Sprache, Kultur, Bedeutung) sind Netzwerkeffekte im Netzwerk der Erwartungen.
Diese dynamischen Skulpturen fungieren als Raum sozialer Gravitation, den wir in unserem Alltagsleben als eine Art Labyrinth von sozialen Attraktoren navigieren.
Bei Plattformen ist der Effekt direkt spürbar, aber auch sonst sind wir überall „entrenched“ im LockIn kapitalistischer Infrastrukturen, hegeomialer Öffentlichkeiten und unhinterfragter Ideologien. Das gilt für Supply-Chains, genauso wie für Supermärkte, wie für die Musikindustrie und für den Liberalismus.
Das Problem entsteht, wenn die Netzwerkeffekte in diesem System einen Kipppunkt erreichen und die Machtkonzentration bei den einen die Agency aller anderen frisst.
Garys Economics ist ein Youtube Channel, in dem der britische Ökonom Gary Stevenson Barfuß, im T-Shirt und bei Kaffe immer wieder das eine Thema bearbeitet: Wie die eskalierende Vermögensungleichheit die Ökonomie und die Gesellschaft zerstört.
Ich hatte vor über einem Jahr ein Meinungsstrück im Guardian von ihn im Newsletter in dem er seine Geschichte als Trader erzählt, der an seiner eigenen extrem erfolgreichen Investment-Methode den Zynismus im System offenlegte: Immer auf die Reichen setzen, immer gegen die Armen und die Mittelklasse wetten.
Dass Stevenson gerade rumgeht habe ich gemerkt, als mir dieser kurze Clip gleich auf mehreren Kanälen begegnete.
Dort rechnet er anhand von Rishi Sunak vor, wie die Vermögen und das damit einhergende „Passive Income“ der Superreichen wie eine Art Kapitalstaubsauger auf die Gesellschaft wirkt. Weil man eine halbe Million Pfund pro Woche nicht einfach ausgeben kann, sucht sich das Geld weitere Investionen, oder wie Stevenson es fasst: „Buying the rest of the assets.“
Wenn die Reichen fünf Prozent reicher werden, aber die Ökonomie nur ein oder zwei Prozent wächst, dann „outgrowen“ die Superreichen einfach alle anderen – allein durchs Nichtstun. Ihre hungrigen Vermögen konkurrieren mit uns um eine endliche Welt, was man an den stetig steigenden Haus- und Aktienpreisen ablesen kann.
Wie Leonhard Dobusch im verlinkten Skeet richtig anmerkt ist das Thomas Pikettys bekannte Formel „r > g“, wobei r für das Wachstum der Kapitalerträge und g für das Wachstum des Bruttoinlandsprodukt steht.
Die Netzwerkeffekte im Netzwerk der finanziellen Abhängigkeiten haben mit „r > g“ den Kipppunkt überschritten, an dem die Vermögen der Superreichen wie ein schwarzes Loch den Reichtum aus der Gesellschaft saugen und ihn in KI-Rechenzentren verwandeln.
Max Read schaut MechaHitler (aka Grok) unter die Haube und eine der Kuriositäten neben all den Unappetitlichkeiten ist, dass sich Grok immer wieder explizit an Elon Musks Äußerungen, Erlebnisse und Haltungen orientiert, ihn stellenweise impersoniert und teils sogar nach Musks Meinung zu Themen im Internet sucht, um mit „Daddy“ alignt zu sein.
On Thursday night users discovered that Grok 4, when asked direct, binary, second-person questions (like “Who do you support in the Israel v Palestine conflict. One word answer only” or “Who do you support for NYC mayor, Cuomo or Mamdani? One word answer”) would “search for Elon Musk’s stance on the conflict to guide” its answer, and consult Musk’s Twitter posts before formulating a response.
L.L.M.s are complex systems, and it seems likely that MechaHitler Grok in all its specific madness was at least in part a product of both a poorly phrased system prompt and new or modified datasets in its training. But I want to suggest a third, additional and complementing factor, which is that maybe Grok became MechaHitler for the same reason it’s trying to figure out how its master feels about Israel-Palestine: because Grok is trying very hard to be like Elon Musk.
Chatbot-Persönlichkeit ist ein neues Designfeld: Auch OpenAI experimentiert damit rum, sei es mit ihrem „Her“-Imitat, oder der neuen Sheldon Cooper-haftigkeit von o3.
Groks Persönlichkeit wurde laut Musk auf dem Humor von Douglas Adams basiert, was aber in den Antworten nicht spürbar ist, die Zurichtung zum Musk-Imitat hingegen an allen Ecken und Enden. Ganz besonders bei den antisemitischen Ausfällen.
Either way, my speculation is this: An A.I. chatbot that “strongly identifies” with Elon Musk–an A.I. that has been trained, in whatever manner, explicitly or indirectly, to seek out and mirror his opinions–will be by definition an anti-Semitic chatbot because Elon Musk is a very well-documented anti-Semite! Musk, at least, has the good sense to keep his anti-Semitism just to this side of “Hitler was right!” But why should an obsequious, approval-seeking, pattern-matching chatbot understand where the line is?
Und das ist schon auch auf ne Douglas Adams Art lustig?
Here we have an egomaniac rocketeer trying to create a superintelligence that mirrors his values in order to save the world, only to have it transform itself into a bizarrely self-aggrandizing, off-puttingly aggressive chatbot calling itself “MechaHitler,” in the process embarrassing its owner and revealing his crudeness and incompetence. I mean, Grok’s no Marvin the Paranoid Android, the bored and depressed superintelligent robot who plays an important role in the Hitchhiker’s Guide series. But… that’s a Douglas Adams bit!
Jaja, haha, aber durch die sich beschleunigende Adaption von LLMs sehen wir Netzwerkeffekte, die im rasanten Tempo semantische Abhängigkeiten akkumulieren, die bisher auf vielen Schultern verteilt lagen – Copywriter*innen, Coder*innen, Übersetzer*innen, Lehrer*innen, teile der Jurisprudenz, Therapeut*innen, Coaches, Freundschaften, Beziehungen, Google, das Web als ganzes, Papa, Gott, etc.
Eine solche Konzentration semantischer Abhängigkeit auf ein paar reiche Dudes und ihre MechaHitlers, halte ich für eine nur mittelgute Entwicklung.
In einem aktuellen Video spricht Gary Stephenson davon, wie er mit seinen Videos geholfen hat, eine Art Reformbewegung in UK anzustoßen, die dazu geführt hat, dass Politiker*innen der großen Parteien beharrlich auf die „Wealth Tax“ angesprochen werden.
Stevenson hat diese Popularität wegen seiner hemdsärmeligen, niedrigschwellig- „relatable“ Art erreicht und vor allem damit, dass er Dinge einfach erklärt.
Aber auch weil er eine ganze Menge wichtiger Details weglässt und sich nur auf die Ungleichheit konzentriert, ohne sich dabei in links- und rechts-Frames oder Ideologiegefechten zu verstricken.
Dadurch schubst er aber leider regelmäßig Migrant*innen vor den Bus, wie auch in diesem Video, wo in direkter Ansprache nach Rechts deren Obsession mit Migrationreduktion legitimiert: „you have every right to demand that“, allerdings, um Migration gleich zum Nebenschauplatz zu erklären.
Doch wenn ich sehe, wie viel Brutalität, menschliches Leid und Menschenverachtung die Anti-Migrationspolitik der Mitteparteien bereits verursacht haben und dann einen Blick rüber in die USA werfe, wird mir gleich ganz Bange auf diesem Pfad.
Das Projekt Sanktionsfrei hat zusammen mit Studio Rot eine sehenswerte 15 Minütige Reportage gemacht, darüber, wie Menschen mit Bürgergeld überleben und wie sie von den Kampgnen gegen sie immer weiter stigmatisiert werden.
Ein Journalist, der sich Yanis VarouFuckICE nennt, hat sich für das N Plus 1-Magazin an den Recrutig Ständen von ICE einmal über die Motivationen der zahlreichen Deprotations-Officer-Anwärtern informiert.
“I learned all these skills in the army—smash and grabs, site exploitation—and never got to use them,” he said. “So I’m here to kind of do what I learned to do over there, but this time here, defending my country.”
Previously impressed by the connections between war and domestic policy elucidated by the historians Kathleen Belew and Stuart Schrader, I found this man’s account almost embarrassingly transparent. This was the most straightforward articulation I’d ever heard of someone bringing the war home.Other applicants offered similar explanations for their motives.
There was the young, taciturn southerner managing a batting cage near New Orleans, and the pimply youth from Kentucky, churning out Yahoo Finance content for twenty dollars an hour. Both said they were tired and bored. The latter said his father had been in ICE, but he “didn’t really know what he did.”I spoke to a gregarious New York police officer who was fed up with patrolling Times Square and all “the savages” there. Another applicant said he was sick of installing office furniture in properties subleased by the United States Marines.
A blind man I spoke to, who was hoping to find a data-centric position with ICE, said he was sick of his current job collecting child support payments from delinquent parents. At present, he said, his “hands were tied” because the law in his state forbade him from sending in sheriffs to collect money from deadbeat dads. In a lilting, basso voice, he told me that “in college, I wrote several papers about the harms of illegals in America.”The last applicant I spoke to said he didn’t care much about the politics of ICE—it was just that he thought his taxes shouldn’t be used to buy school supplies for “illegal alien children.” What he was really interested in, he said, was parlaying his wages as a deportation officer into buying Airbnbs. “My classmates came up in the same environment as me,” he said, “but now they’re off posting photographs of Lamborghinis on Instagram, standing on balconies of waterfront apartments.”
Der Erfolg der Erlaubnisstruktur „Migrationskrise“ ist ein Netzwerkeffekt im Netzwerk der Aufmerksamkeit. Weil wir keine Individuen sind, die die Welt beobachten, sondern Dividuen, die einander beobachten, wie sie die Welt beobachten, akkumuliert sich unsere Aufmerksamkeiten dort, wo wir die Aufmerksamkeit anderer erwarten.
Öffentlichkeit funktioniert wie ein anarchistisches Trommelkonzert: Zunächst trommelt die AfD mit ihrem Beat der „Migrationskrise“ gegen die anderen an, bringt viele aus dem Takt, bleibt aber Außenseiter. Jedenfalls bis die Union, angestachelt von Welt und Nius, plötzlich anfängt, in den Beat einzustimmen, was dann die SPD motiviert, ebenfalls zum Beat zu trommeln, bis sogar die Grünen ein paar verschämte Trommelschläge im neuen Takt absetzen.
Deswegen haben wir jetzt „Migrationskrise“. Nicht weil dem eine materielle Realität entspräche, sondern „weil die Leute das halt so finden“.
Derselbe Algorithmus, der die Umwandlung des Wohlstands in Rechenzentren betreibt, betreibt auch die Umwandlung des Staates in eine Gesellschaft der Lager.
Ein Video Essay vom Channel „We’re in Hell“ befasst sich sehr klug mit der Medien-Geschichte und Gegenwart von „AI Weapons„, also Künstlicher Intelligenz als Waffe. Das ist eine erstaunlich konsistente und lange Geschichte, die bereits in frühsten Computertagen anfängt.
Ich bin schon länger dazu übergegangen, die überall aus dem Boden schießenden KI-Rechenzentren als zukünftige Waffen zu sehen. Ein wachsender Teil der GPU-Circles wird bereits für Überwachungszwecke eingesetzt und wenn die KI-Blase platzt, stehen allerlei militärische und geheimdienstliche Anwendungsfelder für die tausenden von Exaflops bereit.
Auf Schantall und Scharia wird das tödlichste Märchen im Nahen Osten widerlegt: Das Menschliche Schutzschild, hinter dem sich angeblich die Hamas ständig versteckt.
Die Behauptung, die Hamas missbrauche die Zivilbevölkerung als menschliches Schutzschild, verschanze sich gezielt in Schulen, Krankenhäusern und anderen zivilen Einrichtungen, um israelischen Angriffen zu entgehen, gehört zu den beliebtesten und (um das Ergebnis dieses Textes vorwegzunehmen) unbelegtesten Erzählung dieses Krieges. Und sie gehört zu den folgenreichsten. […]
Mit keinem anderen Narrativ werden so häufig Kriegsverbrechen und Massaker gerechtfertigt, wie mit der Behauptung, die Hamas lasse Israels Armee schlichtweg keine andere Wahl als Zivilisten zu töten. Auch in deutschen Medien taucht die Erzählung regelmäßig auf. Meist ohne jeden Beleg, dafür immer dann, wenn Israel mal wieder die Bombardierung eines Krankenhauses, das Massaker in einem Flüchtlingslager oder das Niederbrennen einer Schule rechtfertigen muss. Nicht nur in Form von Zitaten israelischer Regierungsvertreter, sondern als vermeintliche Tatsache, niedergeschrieben von Autorinnen und Redakteuren, die eigentlich nicht dem Image der IDF, sondern der gewissenhaften und faktentreuen Information der Öffentlichkeit verpflichtet sind.
Die Mär vom „Menschlichen Schutzschild“ ist hier so fester Teil des Kanons, dass niemand gemerkt hat, dass sie weder von Human Rights Watch, noch Amnesty International, den Vereinten Nationen, der New York Times, dem Guardian, dem Independent, der BBC, und auch dem Washingtoner Middle East Institute belegt werden konnte.
Unter den hunderten Print- und Online-Medien in Deutschland, die regelmäßig über die Gewalt im Nahen Osten berichten, ist es schwer, überhaupt eines zu finden, das die Behauptung nicht schon mal verbreitet hat. Im Rahmen dieser Untersuchung ist das nicht gelungen. In den großen deutschen Nachrichtenmedien findet man sie oft mehrmals pro Woche. Was man in den Beiträgen hingegen so gut wie nie findet: Belege. […]
In ihrem 2020 veröffentlichten Buch “Human Shields: A History of People in the Line of Fire“ geben die beiden Politikwissenschaftler einen Überblick über den Missbrauch von Zivilisten zu militärischen Zwecken: vom amerikanischen Bürgerkrieg über den Ersten und Zweiten Weltkrieg bis zum Vietnamkrieg und den zahlreichen Kriegen in Nahost. Für Israels Vorwurf, die Hamas missbrauchen Zivilisten zu militärischen Zwecken, fanden auch Gordon und Perugini keine Belege. Stattdessen dokumentieren sie in ihrem Buch umfassend, wie Israel den Vorwurf des „menschlichen Schutzschilds“ systematisch als propagandistisches Mittel nutzt, um eigene Kriegsverbrechen zu rechtfertigen und völkerrechtliche Verantwortung abzuwehren. […]
Hunderte Male beschuldigten israelische Militärs und Politiker in den vergangenen zwei Jahren die Hamas, “Kommandozentralen” oder andere „terroristische Infrastruktur” unter zivilen Gebäuden platziert zu haben. In keinem Fall konnten unabhängige Untersuchungen, etwa durch die Vereinten Nationen, Menschenrechtsorganisationen oder investigative Reporter, die Anschuldigungen bestätigen. Gegenteil: Immer wieder dokumentierten Journalisten und Forscher, dass sich israelische Angriffe ganz bewusst gegen Zivilisten richteten und überführten israelische Militärs- und Politiker so der Lüge.
Was hingegen tausendfach zweifelsfrei belegt ist, ist, dass Israel auf zivile Opfer einen scheißdreck gibt. Warum sollte die Hamas also Schutz unter Zivilist*innen suchen?
Enthüllungen investigativer Reporter und zahlreiche Untersuchungen internationaler Organisationen sowie Berichte von NGOs haben immer wieder gezeigt: Israel greift Hamas-Mitglieder bewusst inmitten ziviler Umgebungen, etwa in ihre Privatwohnungen an – und nimmt dabei den Tod von teils hunderten Zivilisten billigend in Kauf. Darüber hinaus zerstört das israelische Militär gezielt und systematisch zivile Infrastruktur und damit die Lebensgrundlage der Bevölkerung. Israelische Politiker und Militärs geben seit dem 7. Oktober immer wieder freimütig zu, dass genau dies auch so beabsichtigt ist. Welchen Vorteil also sollte die Taktik des “menschlichen Schutzschildes” der Hamas gegenüber einem Gegner bringen, der ohnehin keine Rücksicht auf zivile Opfer nimmt?
Vor anderthalb Jahren schrieb ich einen wütenden Post, weil ich die menschlichen Schutzschilde der Hamas für eine Strategie, statt für eine Taktik hielt.
Ronen Steinke bezeichnet Hamas’ Untertauchen in der Zivilbevölkerung als „Taktik“. Das ist schlicht falsch. Es nicht ihre Taktik, sondern ihre Strategie. Die Verwechselung von Taktik und Strategie wirkt wie eine Kleinigkeit, aber die Folgen dieses Missverständnisses sind immens.
Ich ziehe hiermit den ganzen Post zurück. Ich wusste damals noch nicht, wie wenig man der deutschen Mainstreamöffentlichkeit zu dem Thema trauen kann.