Eines der ersten Opfer des Kontrollverlusts ist die Wahrheit. Wahrheit – hier als die eine, objektive, von allen geteilten und unzweifelhafte Wahrheit verstanden. (die es – klar – eh nie wirklich gab)
Ich will mich hier gar nicht erst in die Tiefen der Epistemologie verstricken, sondern es nur bei der Anmerkung belassen, dass wenn alle Daten mit allen anderen Daten verknüpfbar sind und die Art der Verknüpfung für jede Abfrage offen bleibt (der Kern der Kontrollverlustthese), werden Korrelationen aller Art herstellbar sein. Korrelationen die in den Händen dieses oder jenes Menschen, mal diese und mal jene These stützen. (Von der informationellen Segmentierung des gesellschaftlichen Diskurses durch bessere Filtertools mal ganz abgesehen. Hier wäre allerdings noch einiges zu sagen.)
Wir kennen das schon. „Amerikanische Wissenschaftler haben jetzt herausgefunden…„. Die Welt ist komplex. Sie ist mitunter so komplex, dass selbst in einem speziellen Fachgebiet ausgebildete Menschen Schwierigkeiten haben, jede Studie nachvollziehen zu können, geschweige denn, sie verifizieren, falsifizieren, peereviewen etc. zu können. Was sie allerdings auch heute nicht mehr brauchen. Schließlich gibt es ja eine andere Studie, die das Gegenteil der jeweilig angezweifelten besagt.
Ganz unabhängig davon, wie viele und welche Zahlen Thilo Sarrazin nun wirklich frei erfunden, welche er tatsächlich recherchiert hat: der Fall zeigt sehr gut, wie man in diesem Wirrwarr eines Grundrauschens der Zahlen, in denen wir leben, einfach die sich selbst genehme Korrelation herauspicken und damit Politik machen kann. Wahrheit – gesellschaftlich betrachtet – ist schon ziemlich am Ende. Aber der Todesstoß steht noch bevor.
Dass das alles erst der Anfang ist, zeigt nun OkCupid. Diese Flirtplattform für Statistiknerds fragt eine schier unendlich wirkende Kaskade an Fragen ab. Der Katalog von Fragen zählt bereits 4000. Der Nutzen für die User: es werden „Matches“ zu allen anderen Usern berechnet, so dass sich findet, was zusammen gehört. So lautet zumindest das Versprechen.
Diese Plattform, die nun so viele persönliche Daten von den Nutzern hat, wie Google sich in seinen kühnsten Träumen nicht erhoffen wagt, stellt damit regelmäßig lustige statistische Dinge an, die sie in ihrem Blog veröffentlichen.
Jetzt haben die Macher den Thilo 2.0. gemacht und die Vorlieben, Qualitäten und Nichtqualitäten nach den (von den Unsern selbst einzustellenden) ethnischen und religiösen Kriterien her aufgeschlüsselt – und haben dabei einige rassistische – zumindest stereotype – Klischees bestätigt und manche widerlegt. (Link via Kathrin Passig ihre Shared Items.)
Jetzt kann sich jeder selbst ein Bild machen und sich fragen, was er davon halten will. Für mich steht etwas anderes fest: Das hier ist nur der Anfang. Und: bösartiger aufbereitet können mit solchen Dingen schlimme rassistische Konflikte heraufbeschworen werden. Wie wird eine Gesellschaft demnächst damit umgehen?
Jeder kann sich aus dem immer schneller wachsenden Wust der Daten seine eigene Wahrheit formen. „Menschen mit langen Fußnägeln werden öfters von Regentropfen getroffen – mit anderen Worten: sie sind heilig!“ – Warum also nicht gleich eine Fußnagelsekte gründen?
Und das Ende der Wahrheit ist das Ende der Öffentlichkeit, denn diese war sowieso nur ein ausgedachtes Projektionswesen der Massenmedien, als eine Reflexion über sich selbst und ihr Publikum.
Sind die Daten rassistisch, oder sind es die Abfragen? Die neue Öffentlichkeit ist nicht mehr in den Daten selbst zu suchen und ihrem wie auch immer gearteten Sichtbarkeitsstatus – sondern in ihrer Abfrage. Und damit beim Anderen. Braucht es eine Ethik Abfrage? Oder muss sich die Gesellschaft (sofern es die unter diesen Umständen überhaupt noch gibt) immunisieren, gegen solche Provokationen. Indem sie einsieht, dass die publizierten Antworten eben keine „Wahrheit“ sind, dass sie zwar nicht beliebig, aber eben nur eine Sicht auf Dinge darstellen. Eine von unendlich vielen möglichen Sichten, bei dem die Macher nun mal die rassistische Variante wählten.
Wir sind auch hier – wie in der Frage der Kreativitätsentlohnung und der Privatsphäre – dem Anderen hilflos ausgeliefert. Der Andere, als die ganz andere Abfrage der Daten (die nicht in den Daten ausgeschlossen werden kann, die überhaupt nicht voraussehbar ist).
Es gibt nur zwei Dinge, die wir tun können. Entweder, wir entwaffnen den Anderen (nehmen ihm die Macht uns wirklich zu schaden: Plattformneutralität), oder wir sind seiner Ethik ausgeliefert, die wir nur erbitten können, weil es keine Hebel gibt, sie durchzusetzen. (jedenfalls keine, ohne die Freiheit abzuschaffen).
PS: Nach etwas Nachdenken, bin ich übrigens darauf gekommen, dass Sascha Lobo in der Filesharingdebatte genau das tut: an die Ethik des Anderen appellieren. Und ja, das kann eine (Teil-)lösung sein. (Weshalb ich noch weniger verstehe, warum er Flattr nicht mag.)