Gestern habe ich zwei Artikel gefunden, die ich unbedingt kommentieren wollte, es aber gestern nicht geschafft habe. Also mach ich es einfach hier.
Daniel Leisegang hat einen langen Artikel auf Carta veröffentlicht, in dem er den Begriff der digitalen Öffentlichkeit empfindlich angreift. Kernthese: Google könne keine digitale Öffentlichkeit bereitstellen, denn es ist eben ein Privatunternehmen. Im Gegenteil, Google privatisiere öffentliches Gut.
Darauf will ich mehrstufig Antworten:
1. Die Christoph Kappes Antwort: Das ist völliger Quatsch! Nix wird privatisiert, denn der öffentliche Raum ist ja schließlich noch da – und bleibt auch da. Dazu die Sixtus Entgegnung: da Google den digitalen Street View Raum öffentlich zugänglich macht, ist er jetzt zumindest mehr öffentlich als vorher. Das ist doch zumindest ein Fortschritt hin, zu einer digitalen Öffentlichkeit. Dazu die Marcel Weiss Antwort: Klar, ist der digitale Öffentliche Raum dann immer noch in privater Hand, aber Wettbewerber und so und der Markt regelt das schon.
2. Meine eigene Antwort, wie sie bisher ausgefallen ist, ist durchaus zustimmend. Ja, das Problem existiert und ich habe mich damit nicht erst seit gestern beschäftigt. In den Street View Artikeln selbst hatte ich den Aspekt ausgeklammert, weil er mir derzeit nicht ganz so dringlich erscheint (weil: siehe oben). Insgesamt sehe ich das Problem aber schon, und zwar allgemein. Ich nenne es mal: Die privatwirtschaftlichen Grundlagen der neuen Öffentlichkeit. Das Internet und fast alle seine Dienste sind auf die Willkürherrschaft privater Konzerne aufgebaut. Dass das ein Problem ist, sieht man nicht nur an der sich in Gefahr befindenden Netzneutralität. Dieses Problem habe ich bei meinem Umreißen des Begriffs der digitalen Öffentlichkeit auch angeschnitten und insgesamt und schon länger habe ich versucht dem Problem mit meinem Konzept der Plattformneutralität zu begegnen.
3. Die eigentliche Antwort ist aber: Ja. Der Begriff der „digitalen Öffentlichkeit“ ist problematisch. Das habe ich jetzt auch gesehen. Vor ein paar Tagen habe ich genau zu diesem Thema ein Paper für einen Vortrag abgeschickt. Öffentlichkeit ist ein sehr tradierter mit einem derart langen Rattenschwanz von Bedeutungen, Konnotationen und Implikationen durchzogener Begriff, dass man ihn nicht einfach ohne weiteres auf das Internet anwenden kann. Leisegang hat einige Probleme aufgezeigt, Tina Pickhardt hat unlängst Hannah Arendt in’s Spiel gebracht. Aber insgesamt, so bin ich zu dem Schluss gekommen, braucht es einen völlig neuen Begriff. Ich bin mir nur noch nicht sicher, ob es reicht, das, was man Öffentlichkeit nennt, einfach klar zu definieren, oder ob man sich gleich von dem Begriff verabschieden sollte.
Und da sind wir bereits bei dem nächsten Artikel, den ich hier noch kommentieren wollte. Der Postdramatiker hat eine sehr schöne Grundlage für die Diskussion der digitalen Öffentlichkeit geliefert und anhand verschiedener Theorien den ganzen Komplex um
„Überwachung, Beobachtung, Wahrgenommensein“ auseinander genommen.
„Eine Webseite, ein Chatpartner, ein Mailpartner, ein Blog, der mehr Wahrnehmung hat bekommt mehr Realität und damit wiederum mehr “Wirkung”. Das hat Kant so nicht gemeint – versteht sich. Kant sprach von physischen Objekten, nicht von Kommunikationsgrößen. Dennoch lässt sich das Prinzip “rauben”. Ein Webinhalt, der nicht wahrgenommen wird, “ist” nicht. Ein Webinhalt der oft wahrgenommen wird, “ist” mehr. Dieses Phänomen kennt jeder, der ein Blog betreibt und auf die Stats schielt, jeder Werbetreibende, der Visits misst, jeder Video-Uploader, Musik-Uploader, Bild-Uploader. „
Aber auch:
„Wer sich auf die Singebörse stellt, möchte von möglichst vielen anderen infrage kommenden Singles betrachtet werden – aber zugleich nicht von Freunden, Eltern, Kollegen oder Ehepartnern dabei “erwischt” werden.“
Ich glaube, hier liegt genau die Spannungsbreite des Begriffs der Öffentlichkeit begraben. Einerseits gibt es den monolithischen Begriff der „Alle können sehen und je mehr Leute (Quantität!) sehen können desto öffentlicher“-Öffentlichkeit. Aus dem ist auch genau dieses Monstrum der „Öffentlichen Meinung“ entsprungen, dass uns vorschreiben will, was gesellschaftlich erwünscht ist und was nicht. Zum anderen gibt es, wie ja auch Leisegang sagt, das „Private“ als Gegenentwurf, als Rückzugsraum gegen diese Öffentlichkeit.
Ich glaube, das alles ist völlig falsch gedacht. Wie sich schon mehrfach angedeutet hat, ist „das Private“ nicht so privat wie man es gemeinhin annimmt und das öffentliche ist nicht so öffentlich, wie man glaubt. Das Private ist immer nur privat in Bezug zu einem bestimmten oder unbestimmten Gegenüber. Ich habe jeweils Privates gegenüber meiner Familie, das ich meinen Freunden erzähle und ich habe Privates gegenüber meinen Freunden, das ich meiner Familie erzähle. Das ganze verkompliziert sich entsprechend mit Hinzunahme der Gruppen Kegelverein, Arbeitskollegen, Chef, Twitterfollower etc. Wir beginnen gerade erst zu merken, was für ein kompliziertes Gebilde das ist, was wir „privat“ und „öffentlich“ nannten, wie viele Privatheiten wie vielen Öffentlichkeiten gegenüberstehen. Und wenn man noch genauer schaut, dann gibt es Freund A, dem man X erzählt und Freund B nicht und umgekehrt und überhaupt und alles fliegt einem dann mit einem lauten Knall um die Ohren.
Deswegen braucht es eben einen völligen Neuansatz für Öffentlichkeit und Privat und bevor wir den nicht haben, macht es kaum Sinn, damit auf das Internet los zu gehen. Das ist in Arbeit wie gesagt und einen Ansatzpunkt habe ich auch schon. Für eine Definition, nicht für eine Lösung des Problems, wohl gemerkt. Wir werden nicht umhinkommen uns von allerlei Tand zu verabschieden, der sich um die all die Verallgemeinerungen schart, die wir mit den Kategorien heraufbeschworen haben: All die Gruppenidentitäten wie Familie, Freunde, Arbeitskollegen etc. Vor allem auch das Monster „Öffentliche Meinung“ ist rücksichtslos zu sprengen (Ging eh nur auf die Nerven, oder?). Wir müssen uns von all diesen Kategorien der immaginierten Vergemeinschaftung und Versammlung befreien und die menschliche Beziehung wieder auf das einzige zurückführen, von dem wir mit Sicherheit wissen, dass es sie gibt: Nämlich der Beziehung zum Anderen. Es gibt nur mich und den Anderen, den anderen und mich. Alles andere sind eingebildete Kategorien.
Man wird also versuchen müssen, die Öffentlichkeit (und die Privatheit) vom Anderen her zu denken, was sowohl den Anderen betreffen kann, der mir Nahe steht, der aber auch der unbekannte Andere sein kann, der liest, was ich schreibe (zum Beispiel Du!) und es wird vor allem auch der zukünftige Andere sein, der mit dem man nicht rechnet, der deswegen aber um so sicher in mein Leben treten wird. Wie gesagt, ich arbeite dran.
PS: Auch wenn ich jetzt vielleicht eine Diskussion angestoßen hab (was ich hoffe), ich hab gar keine Zeit, sie zu führen. Ich muss jetzt ganz dringend aufräumen. Letzter Tag in New York und so…
Du solltest Dich wirklich mal mit Commons-Theorie beschäftigen, dann erledigen sich diese Scheinalternativen von selbst. Du redest oft von Commons ohne sie zu benennen.
Die Gesellschaft wegzudefinieren und nur als Summe von 1 zu 1 – Relationen zu denken ist auf jeden Fall keine Lösung (so klang das jetzt für mich zumindest).
„Es gibt nur mich und den Anderen, den anderen und mich. Alles andere sind eingebildete Kategorien.“ Ging es nicht eigentlich um ein 1:n, also doch um ein „öffentlich machen“? Das jetzt einfach runterzubürsten auf ein 1:1 (wäre das dann nicht „privat“?), weil man die n nicht mehr in Kategorien gliedern mag, naja, das verstehe ich entweder nicht oder es ist dann doch ein bisschen zu Larifari.
Was genau ist an „ich arbeite dran. “ falsch zu verstehen. Ihr könnt ja gerne alles mögliche an dem Text kritisieren, aber doch nicht eine Theorie, die es noch nicht gibt.
Stimme dir ausdrücklich zu, dass das Internet diese lieb gewonnenen Begriffe auf die Bewährungsprobe stellt und neu zu denken und zu definieren veranlasst. Ich habs ansatzweise mit einem zwischengeschalteten, noch undefinierteren aber vielleicht gangbaren Begriff von „Socialitäten“ zu beschreiben versucht, der sowohl ins Private hinüberreicht wie auch ins „Öffentliche“ (http://wp.me/pL6lj-ld und http://wp.me/pL6lj-kI)
Ralf Bendraht hatte mir dazu auf diesen Artikel den filgenden sehr interessanten Kommentar mit Lesetip und Link auf eine eigene Arbeit hinterlassen, den ich hier zitieren will:
Das mit den verschiedenen Privatheiten und Socialitäten (Plural) sagt z.B. auch Helen Nissenbaum seit Jahren. Die nennt es “Privacy as Contextual Integrity”. Ich hab das auf deutsch mal ein wenig ausgeführt (http://userpage.fu-berlin.de/~bendrath/Bendrath-Future_of_Privacy-Buchfassung.pdf) und versucht in Tabellenform darzustellen (ab S. 103).
Kennst du den – meines Erachtens enorm hilfreichen – Artikel von Alex Demirovic (http://bit.ly/d9VLdD)
Wo trägst du denn dazu vor?
Auch Einkaufszentren und Bahnhöfe sind öffentliche Orte, obwohl in privatem Besitz. Das selbe gilt für Zeitungen, die meisten Fernseh- und Radiosender und das Internet. Dass soziale Treffpunkte und Meinungs- und Nachrichtenmedien öffentlich, aber nicht in öffentlicher Hand sind, ist nichts neues. Und auch ganz gut so.
Achja, vergessen: Gute Reise!
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