Grundrechtsdissonanzen und Beobachtungsschemata

Irgendwie habe ich ein Sommer-Dejà-vue. Wisst ihr noch? Letztes Jahr um diese Zeit stritten wir uns um Beschneidung.

Die Fronten waren verhärtet und die Frage grundsätzlich. Ähnlich wie bei Prism sah man grundlegende Menschenrechte verletzt.

Und ähnlich wie bei Prism kam die Diskussion eigentlich aus dem Nichts.

Die Praxis der Beschneidung jedenfalls war keineswegs eine Neuigkeit. Jeder, der nicht den kompletten Religionsunterricht verschlafen hatte, wusste, dass Muslime und Juden ihre Kinder beschneiden lassen. Auch in Deutschland. Das geschah keinesfalls geheim, sondern völlig offen und alltäglich. Eine ethisch-gesellschaftliche Debatte zu diesen Themen gab es bis dato – jedenfalls nach meinem Kenntnisstand – nicht.

Auslöser war ein Urteil des Landgerichts Köln, gegenüber muslimischen Eltern und ihrem Arzt. Beschneidung ist rechtswidrig, wurde festgestellt, als sei es das normalste der Welt.

Und tatsächlich gibt es nichts im Gesetz, dass diese Praxis legitimieren würde. Beschneidung war also die ganze Zeit schon unrecht. Zumindest seit Anbeginn der Bundesrepublik.

Ich habe mich damals gefragt: das finden die erst 2012 heraus?

Wie kann es sein, dass also eine illegale Praxis über ein halbes Jahrhundert lang vor aller Augen geduldet wurde? Und plötzlich, als ob durch den Richterspruch auf einmal alle aus einem Fiebertraum aufwachen, merken, was sie da getan haben, sich aufregen, diskutieren, zetern.

Der Weckruf kam dieses Jahr von Eward Snowden. Wieder geht es um ein Grundrecht. Aber statt dem der „körperlichen Unversehrtheit“, diesmal um die „Informationelle Selbstbestimmung“. Wieder haben wir gewusst – nein, nicht geahnt, seit Echolon hat es jeder gewusst – dass unsere „Informationelle Selbstbestimmung“ von Geheimdiensten seit Jahrzehnten unterminiert wird.

Snowden lieferte dazu lediglich das Update. Und obwohl dieses Update sicher in seiner Monstrosität besonders ist, ändert sich nichts an der grundsätzlichen Tatsache, die allen schon vorher bekannt war: der Verletzung der Grundrechte.

Ich frage mich also was mit uns los ist. Sind wir auf bestimmten Augen blind, oder wollen wir es sein? Leben wir in einer ständigen kognitiven Dissonanz, aus der uns nur hier und da ein paar Richter und Whistleblower aufwecken können?

Viel wichtiger: Werden wir Prism einfach wieder vergessen, bis in 10 Jahren der nächste Whistleblower „Prosm“ (hihi) aufdeckt, das dann 15 Yotabyte pro Stunde wegspeichern kann?

In meinem Vortrag auf der SigInt habe ich einen Begriff einzuführen versucht, den ich „Beobachtungsschema“ genannt habe. Beobachtungsschema ist ein bisschen verwandt mit dem, was Foucault „Archiv“ und was Thomas Kuhn „Paradigma“ nennt. Bei Foucault ist das Archiv die Summe der Regeln, nach denen bestimmte Diskurse zu einer Zeit funktionieren, insbesondere das, was diese Diskurse thematisieren können und was eben nicht. Mein Konzept des „Beobachtungsschemas“ will sagen, dass es abstrakte Konzepte gibt, die erst angeeignet werden müssen, damit man bestimmte Begebenheiten sehen kann. Sie wirken wie eine Brille. Der Feminismus ist so ein Beobachtungsschema. Wenn man sich nie mit Feminismus beschäftigt hat, wird man sexistische Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft nur schwer entziffern können. Man ist einfach blind dafür. Sobald man sich das Beobachtungsschema Feminismus angeeignet hat, fällt es einem aber wie Schuppen von den Augen. Man sieht überall Ungerechtigkeiten, wo man vorher keine gesehen hat.

Vielleicht gibt es auch bei Prism und der Beschneidungsdebatte sowas ähnliches wie ein Beobachtungsschema, das, ausgelöst durch entsprechende augenöffnende Ereignisse, aus einer lange gängigen Praxis auf einmal einen Skandal macht. Und wenn es diese Beobachtungsschemata gibt und braucht, um gewisse Offensichtlichkeiten zu bewerten, welche fehlen uns dann noch? Welche werden hinzukommen?

Es kann aber auch gerade umgekehrt sein: die Beobachtungsschemata sind längst da, sie sind ja schließlich schon lange in Gesetze und Urteilssprüche codiert. Aber irgendetwas hält uns normaler Weise davon ab, deren inkonsistente Anwendung im Alltag zu sehen. Ähnlich wie bei der Freud’schen Verdrängung wollen wir bestimmte Dinge nicht sehen, weil sie unser Welterklärungsmodell in Gefahr bringen würden.

Vielleicht ist es diese klebrige identitäre Verbindung der Deutschen zu ihrem Grundgesetz. Mit Sicherheit würde eine kritische und konsistente Beobachtung der Grundrechteanwendung all die Verfassungspatrioten in eine Identitätskrise stürzen. Oder noch krasser: Vielleicht braucht ein Rechtssystem zum Funktionieren sogar eine solche Grundrechtsdissonanz?

Viele Fragen, man weiß es nicht. Mal den nächsten Sommer abwarten.

Gamechanger Hilflosigkeit

BEI DER LEKTÜRE EINES SPÄTGRIECHISCHEN DICHTERS

In den Tagen, als ihr Fall gewiß war
Auf den Mauern begann schon die Totenklage
Richteten die Troer Stückchen grade, Stückchen
In den dreifachen Holztoren, Stückchen.
Und begannen Mut zu haben und gute Hoffnung

Bert Brecht

Lange wurde behauptet, dass sich durch Prism und Tempora, durch all die Enthüllungen von Snowden nichts ändern würde. Ich selbst gehörte zu der Fraktion der Immerschon-Bescheidwisser. Und im Grunde ist es ja auch wahr. Es war mehr als nur eine Ahnung, dass die Geheimdienste alles abschnorcheln. Und doch ändert sich jetzt alles.

Die Snowdenleaks sind ein Gamechanger. Wir merken, dass wir gerade in ein neues Spiel eintreten, wir merken es an uns selbst, aneinander. Wir, das sind so ziemlich alle, die sich seit langem mit Überwachung, Datenschutz und Privatsphäre beschäftigen. Wir sind nachdenklicher geworden, die Debatten werden weniger hart geführt, keiner traut sich und seinem bisherigen Standpunkt noch unumstößlich über den Weg. Es wird viel diskutiert, alles wird diskutiert, auch das, was bislang als indiskutabel galt.

Geheimdienstliche Überwachung war lange Zeit eine Wahrheit, die wie die Hintergrundstrahlung als abstrakte Drohung über dem ganzen Diskurs stand. „Schau, der Geheimdienst kann deine Mails mitlesen, wenn du nicht verschlüsselst.“ Der Geheimdienst war irgendwie immer dabei, ohne dabei zu sein, das Auge aus dem Off, das dem Diskurs um Datenschutz und Datensicherheit einerseits seine Legitimität verlieh und andererseits aber nie fassbar genug wurde, um sich wirklich dagegen zu wenden.

Seit Snowden ist nun alles anders. Die Geheimdienste und ihr Tun stehen nun wie ein riesiger Elefant mitten im viel zu engen Raum. Vollkommen gegenständlich, zum Anfassen klar. Aus dem abstrakten Bedrohungsszenario ist ein konkretes geworden. Aus diffusen Befürchtungen manifestierten sich überbordende Realitäten, die diese in vielen Bereichen weit übertreffen. Doch darum geht es gar nicht.

Der Einbruch der Realität in den Datenschutzdiskurs verändert alle Parameter wie dieser geführt werden kann. Als abstrakte Gefahr konnte die geheimdienstliche Überwachung immer als schwebende Drohung die Dringlichkeit des Anliegens unterstreichen. Als manifeste Realität wird sie aber auf einmal zum problematischen Gegenstand des Diskurses, den man bekämpfen muss. Prism steht nun auf einer Linie mit der Vorratsdatenspeicherung und der Bestandsdatenauskunft und nimmt jeden Datenschützer in die Pflicht, dagegen ganz konkret und ebenso entschieden vorzugehen.

Und hier bricht alles zusammen. Nachdem das „Wir haben es Euch doch gesagt“-Geschrei verklungen ist, schauen nun alle auf ihre Waffen. Und sie sind stumpf. Verschlüsselung? Ach naja, nett im Einzelfall. Aber der Geheimdienst interessiert sich eh viel mehr für die Metadaten. Und gesellschaftlich ist das eh keine Lösung. Datenschutzgesetze? Gesetze helfen gegen Geheimdienste nicht weiter. Verfassungsgericht? Ist für die NSA nicht zuständig. Druck auf die Politik? Merkel findet das alles gar nicht so schlimm und auch alle anderen Parteien zucken mit den Schultern. Selbst wenn: glaubt wirklich jemand, die USA würden mit der Spionage aufhören, wenn Merkel nur doll genug auf den Ovalofficeschreibtisch haut?

Die sich gerade abzeichnende Hilflosigkeit gegen Prism und co. ist der Gamechanger, der nicht unterschätzt werden darf. Alle Datenschutzerklärungen sind auf einen Schlag null und nichtig. Alle Datenschutzgesetze sehen ab nun an aus wie Hohn. Und wie will man den Bürgern in Zukunft erklären, dass es wichtig ist, gegen die Vorratsdatenspeicherung auf die Straße zu gehen, wenn jeder weiß, dass die NSA eh zuhört?

Wenn sich die Leute mit Prism abfinden – und es sieht alles danach aus, als müssten sie das tun – ist der Datenschutzdiskurs in Deutschland in erheblichen Schwierigkeiten.

PS: Ich schreibe das hier alles ohne einen Funken Genugtuung. Ich bin entschieden gegen die Überwachung durch die Geheimdienste und ich sehe ebenso wie jeder Datenschützer eine ungeheure Gefahr in dieser unkontrollierten Machtakkumulation. Und ebenso wie die Datenschützer bin ich geschockt über die Stumpfheit unserer Mittel – ihrer wie meiner.

Why we fight (each other) – Links

Am Freitag hielt ich einen Vortrag auf der SigInt in Köln, darüber, warum die Netzszene sich 2012 so schön selbst zerfleischt hat. Den Vortrag wird es wohl dereinst auch als Video geben (wird nachgereicht), bis dahin kann man das alles bei diesem fleißigen Liveblogger grob nachlesen.

Außerdem habe ich versprochen, die Links zu den zitierten Texten zu veröffentlichen. Hiere they are:

Resignatives Stück über Demokratie oder so (vorsicht: für Idealisten nicht verdaubar)

Und da sind sie wieder, die Jugendlichen, voller Zorn und Hoffnung und dem Antrieb die Gesellschaft zu verändern. Alles ist wie damals am Tahrir Platz. Menschen, die für mehr Freiheit kämpfen, mehr Mitbestimmung. Menschen, mit denen ich mich identifizieren kann: interessiert, aufgeschlossen, gebildet nur eben in einem Land, dass sie nicht lässt, dass sie unterdrückt. Menschen auch, die mir Respekt einflößen mit ihrem Mut, die ihre Existenz und ihre Zukunft auf diesen Kampf verwetten, die ihre körperliche Unversehrtheit in die Waagschale werfen für Selbstverständlichkeiten.

Doch nun sitz ich da, ich versuche zu verstehen, ich will mich solidarisieren, doch es macht mich betroffen. Weil ich weiß, dass Erdogan den Kampf bereits gewonnen hat. Erdogan ist, im Gegensatz zu Mubarak, demokratisch gewählt. Es gibt nicht mal leise Zweifel an seiner demokratischen Legitimität. Und nichts was da passiert und was uns erzürnt und erbost, wird wesentlich an seiner Mehrheit ruckeln.

Nach Mubarak kam nicht die Demokratie, sondern die nächsten Despoten. Diesmal religiöse und sie sind wie Erdogan zweifelsfrei demokratisch legitimiert. Wie damals schon im Iran. Die Revolution fing ähnlich an, junge, aufgeschlossene Leute wollten mehr Freiheit und Mitbestimmung. Sie stürzten den Schah und Khomeini kidnappte anschließend die Revolution. Übrigens auch alles quasidemokratisch. Bis heute.

Die Leute auf dem Taksim-Platz kämpfen nicht gegen Erdogan, sondern gegen die konservative Mehrheitsgesellschaft ihres Landes. Deswegen hatten sie bereits verloren, bevor sie überhaupt angefangen haben.

Die Diskrepanzen zwischen einem jungen Mädchen aus der Uni in Istanbul und den sich noch in Klans organisierenden Familien in Ostanatolien sind enorm.

Das ist nicht nur ein arabisches oder türkisches Problem. In den USA erkennt man ähnliche Differenzen, dort zwischen progressiven (eher städtischen) Küstengebieten und dem tief religiösen, sehr konservativen Inland. Und auch ich fühle mich oft als zwangsvergemeinschaftetes Opfer einer viel zu konservativen Mehrheitsgesellschaft.

Und dann denke ich, vielleicht ist genau das das Problem. Dass man uns nach geographischer Herkunft zusammenpfercht in diese abstrakten Gebilde namens „Nationen“. Mit den Jugendlichen von Taksim und Tahrir verbindet mich so viel mehr, als dem treckerfahrenden Oberammergauer. Warum muss ich unter einer Regierung leben, die Leute wie er durch unreflektiertes CSU-Wählen legitimieren? Warum kann ich nicht lieber mit den anderen aufgeschlossenen Menschen auf der Welt eine neue, bessere Gesellschaft bauen. Ohne die Betonköpfe?

Ein bisschen geschieht das bereits. Dadurch, dass alle tendenziell aufgeschlosseneren, tendenziell jüngeren, tendenziell progressiveren in die Städte ziehen ergibt sich eine Auslese. Eine Konzentration von Offenheit, Toleranz, Progressivität und, ja, Bildung. Aber auch die Städte stehen unter der Knute der Nationalstaaten. Warum eigentlich?

Vielleicht wird es wieder Zeit, über freie Stadtstaaten nachzudenken.

PS: Und ja, ich weiß selbst, dass das alles furchtbar elitär ist. Während andere die Bezugsrahmen der Demokratie am liebsten noch ausbauen würden, würde ich gerne weniger Demokratie wagen. Jaja, steinigt mich.

PPS: Und ja, resignativ, fatalistisch ist es auch. Ich weiß. Ist auch irgendwie die Grundstimmmung. Oder glaubt ersthaft jemand, dass die Aufdeckung von Prism irgendetwas bewirken wird? Wird das Hyperventilieren aller Orten zu irgendwelchen Konsequenzen führen? Politisch oder individuell? Ich denke nicht, dass es da irgendwelche Anzeichen für gibt. Und zwar nicht, weil die bösen, bösen Mächtigen das so wollen, sondern weil es hier wie dort keine Mehrheit dafür gibt! (Klar gibt es eine Mehrheit in Deutschland den USA das schnüffeln zu verbieten, so wie es in den USA sicher eine Mehrheit dafür gibt, allen anderen als sich selbst das Schnüffeln zu verbieten. Aber selbst die Schnüffelei einstellen? Wo doch die Terroristen uns bedrohen?!? Auf keinen Fall!) Unser System mag dumm und ungerecht sein. Aber undemokratisch ist es nicht.

PPPS: Und ja, das ist alles furchtbar unoriginell. Dass hat schon euer Opa in der Weimarer Republik gedacht und so. Aber mich beschäftigt das eben, deswegen musste das mal raus.

So Sachen

– Wir waren am Montag in Wittenberge an der Elbe, ein bisschen Sandschippen. „Höhö, Beliner Hipster kommen zur Hilfe“, dachten wir so selbstironisch bei uns und nannten die Aktion #hipsterflood. Es gibt auch ein offizielles Video:

– Am Mittwoch war ich bei Deutschland Radio Kultur und hab ein wenig was über Postprivacy und Prism erzählt. Kann man hier nachlesen und nachhören.

– Am 5. Juli werde ich auf der SigInt einen Vortrag darüber halten, warum wir – also die Hacker- und Netzszene – uns ständig verstreiten.

– Und dann wollte ich noch diese schöne Grafik loswerden, die man bei Foursquare abrufen kann. So ein statistischer Rundumschlag über meine Checkins. Da kann man mal sehen, wo ich so immer rumhänge:

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Google Latitude reparieren

Vor einigen Wochen ging mein Google Latitude kaputt. Auf einen Schlag waren alle meine Kontakte verschwunden und meine Position wurde bei meinen Freunden nicht mehr aktualisiert.

Nach einiger Zeit habe ich mich nun durchgerungen, dem Problem auf den Grund zu gehen, ein bisschen rumzugoogeln und Foren zu lesen. Und tatsächlich haben das selbe Problem eine ganze Menge Leute. Interessanter Weise haben es Android-Benutzer seit sie ihr Google Maps aktualisiert haben, iPhone-Nutzer wohl, seit sie sich die neue Google App (mit Google Now) installierten.

Es gibt anscheinend ein neues Flag für das Sharing der eigenen Locationdaten, das Google mit dem neuen Maps eingerichtet hat und das defaultmäßig wohl ausgeschaltet ist, egal, ob man vorher Latitude benutzt hat, oder nicht (DARTÄNSCHOTZ!!). Dummer Weise ist dieses Flag aber weder über die iPhone App von Latitude, die Google-Maps-App oder Google-App setzbar. Es ist aber AUCH nicht auf den Profileinstellungen per Web-Login zu finden, weder bei Maps, noch bei Latitude oder Google+. Die einzige Möglichkeit, die Sharing-Option wieder zu aktivieren, hat man auf aktuelleren Maps-Application eines Android Devices.

Ich selbst besitze kein Androidgerät, habe aber kurzer Hand auf dem Telefon meiner Freundin einen Gastaccount eingerichtet. Dort einfach Maps aufgerufen, sharing aktiviert und den Gastaccount wieder runtergeschmissen. Wenige Minuten später waren alle meine Kontakte wieder da. Puh!

Bleibt die Erkenntnis, dass sich Google so langsam aber sicher in seiner eigenen Komplexität zu verheddern scheint.

Werbung ist sozial

Keine Frage: Der Anraunzer von der Seite, den die Verlage kürzlich ihren werbeblockenden Lesern entgegenbrachten war peinlich, wahrscheinlich sogar kontraproduktiv.

Werbebblocker sind eine der reinsten Ausformungen dessen, was ich mal Filtersouveränität genannt habe und zu dessen allgemeiner Nützlichkeit ich mich nach wie vor bekenne. Jedoch gibt es einen Aspekt in der Diskussion, der mich auf Seiten der Netzgemeinde etwas verstört. Und das ist der Ruf nach der Abkehr vom Werbegeschäftsmodell für Verlage und für Dienste im Allgemeinen.

Wenn Du nicht für das Produkt bezahlst, bist du das Produkt„, ist einer dieser vielzitierten Sprüche, die weismachen sollen, wie furchtbar böse Werbung als Geschäftsmodell doch ist. Und klar, der aufgeklärte Bürger will kein Produkt sein, wo kämen wir denn da hin? Und so wird in der FAZ für App.net geschwärmt, weil es einen eben nicht zum Produkt macht und wird mit dem Hashtag #ichwillzahlen Kampagne für Bezahlinhalte im Internet gemacht.

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Werbung ist nervig, für Werbung werden Daten gesammelt, Werber sind sowieso doof und überhaupt ist Werbung mindestens eine der schlimmsten Ausformungen des Kapitalismus. Einself.

Was dabei aber keiner bedenkt: Werbung ist sozial. Ich habe nicht viel Geld. Meinen App.net Account habe ich damals gespendet bekommen, sonst hätte ich ihn mir nicht leisten können. Und wenn die Geschäftsmodelle der Verlage auf einen Schlag auf Bezahlung umgestellt würden, wäre ich von Informationen ausgeschlossen. Und eben nicht nur ich. Es gibt in diesem Land Millionen Menschen, die noch weniger haben als ich. Ich halte den Ruf nach Bezahlmodellen für eine Lobbybewegung der monetär Privilegierten und unsolidarisch gegenüber denen, die dann aus dem gesellschaftlichen Diskurs einfach ausgeschlossen würden.

Es lohnt sich, sich die Struktur des Werbemarktes vor Augen zu führen: Es ist richtig: in der Werbung sind wir das Produkt: jedenfalls unsere Aufmerksamkeit und zunehmend auch unsere Daten sind es. Mithilfe der gesammelten Daten kann man nämlich die Erfolgsaussichten unserer Aufmerksamkeit erhöhen, indem man uns zu uns passende Produkte bewirbt. Das nennt man Targeting.

Nun sind die Daten und die Aufmerksamkeit des Einzelnen eben nicht gleich viel wert. Meine Aufmerksamkeit und meine Daten sind beispielsweise wesentlich weniger wert, als die von jemandem mit festem und hohem Einkommen. Denn das, was erreicht werden soll ist schließlich, dass der Empfänger der Werbung sein Geld für die beworbenen Produkte ausgibt. Je mehr Geld er hat, desto mehr wert ist seine Aufmerksamkeit. Daraus folgt: die Daten und die Aufmerksamkeit der Besserverdienenden quersubventionieren zu einem nicht unwesentlichen teil meinen Medienkonsum. Und den von vielen anderen Leuten mit wenig Geld. Ich finde das gut.

Auf globaler Ebene ist es sogar noch krasser: Facebook, Twitter und Google sind für alle Menschen auf der Welt für den selben Tarif zu haben: Aufmerksamkeit und Daten. Bedenkt man, dass der Preis für die Daten und die Aufmerksamkeit aufgrund der vielfach höheren Kaufkraft in der „westlichen Welt“ ebenfalls um ein vielfaches höher ist, ergibt sich eine globale Umverteilung. In Schwellenländern wie Ägypten und Peru kann man all diese Dienste nur deswegen unentgeltlich (und das heißt hier meistens: überhaupt) nutzen, weil sie mithilfe der Daten und der Aufmerksamkeit aus den Industrienationen finanziert werden.

Wer eine Abkehr der Internet- und Contentwirtschaft von den Werbegeschäftsmodellen fordert, sollte sich darüber bewusst sein, dass er damit diese globale wie lokale Umverteilung von Reich nach Arm stoppen würde und so vielen Leuten, die es sich sonst nicht leisten könnten, den Zugang zu Diensten und Informationen abschneiden würde. Ich halte diese Position für extrem selbstgerecht und unsolidarisch. Aber vermutlich ist es einfach nur die übliche Privilegienblindheit.

Blackbox Urheberrecht


Vor ein paar Tagen ist das Buch “Blackbox Urheberrecht” erschienen, das in 22 Essays und Interviews den Stand der Urheberrechtsdebatte wiedergibt. Das von Daniel Brockmeier im Eigenverlag herausgegebene Werk ist als eBook via Amazon, Google Play und Apple iBooks erhältlich.

Brockmeier geht von der Grundthese aus, das Urheberrecht habe aktuell einen Crash erlitten und übrig geblieben sei eine „Blackbox Urheberrecht“.

Die Autorenschaft hat Brockmeier bewusst bunt und vielfältig ausgewählt, um die ganze Bandbreite der Debatte abzubilden. Das Meinungsspektrum reicht deshalb von der Notwendigkeit einer noch strikteren Durchsetzung des Urheberrechts bis hin zur Forderung nach seiner vollständigen Abschaffung. Urheberrechtslobbyisten kommen ebenso zu Wort wie Kritiker des geltenden Urheberrechtsregimes.

Brockmeier ist es gelungen, auch einige sehr prominente Autoren wie Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Neelie Kroes oder Frank Schirrmacher zu gewinnen.

Es ist mir deshalb eine Ehre, dass auch ich einen Beitrag zu “Blackbox Urheberrecht” beisteuern durfte. Mein Text ist schon vor ein paar Wochen auf Carta erschienen: Die Null-Euro Utopie.

Abschließend noch eine alphabetische Liste sämtlicher Autoren von “Blackbox Urheberrecht”:

Anonymous, Daniel BrockmeierVera BunseDirk von GehlenNina GeorgeJohnny HaeuslerChristoph KeeseTill KreutzerNeelie KroesSabine Leutheusser-SchnarrenbergerPim RichterFrank SchirrmacherJürgen SchönsteinJulia SchrammThomas StadlerAnatol StefanowitschUdo Vetter.

(Dreist und ohne vorher zu fragen von RA Thomas Stadtler geklaut.)

Giftige Early Adopter

Bei den Diskussionen um App.net werden immer wieder viele Thesen diskutiert, warum sich manche Dienste zu starken Plattformen entwickeln und warum manche nicht. Warum waren beispielsweise Myspace, Facebook erfolgreich, warum Instagram und Twitter, aber Diaspora, identica und Google+ eher nicht so? Das ist eine immer wieder gern geführte Diskussion und im Grunde begibt man sich schnell in den Vergleich von technischen Details und Features, was natürlich nicht zielführend ist.

Denn eigentlich weiß jeder, dass der wesentlichste Faktor, der über den Erfolg eines Dienstes entscheidet, sein Erfolg ist. Jeder ist dort, wo jeder ist, denn mit jedem zusätzlichen Nutzer steigt auch der Nutzen des Dienstes für jeden Nutzer. Ich spreche natürlich vom Netzwerkeffekt.

Ich glaube aber, dass man die Wirkmechanismen des Netzwerkeffekts auch noch differenzierter betrachten kann. Meistens bekomme ich nämlich nicht zu hören, dass man nicht an den Erfolg von App.net glaube, weil da niemand sei, sondern viel häufiger „weil da nur Nerds sind„.

Gerade las ich einen Artikel über Google Glass, der mir zu denken gab. Denn während wir bezüglich Google Glass noch über Privacy-Invasion oder mögliche Preispolitik diskutieren, macht der Autor Marcus Wohlsen eine ganz andere Rechnung auf.

Er stellt Google Glass in eine Reihe mit Innovationen wie das Bluetooth Headset und den Segway. Alles wunderbare und nützliche Erfindungen seien das gewesen. Dass sie sich nie im großen Maßstab durchgesetzt haben, lag nicht an den technischen oder preispolitischen Unzulänglichkeiten, sondern daran, dass man damit irgendwie „bekloppt“ aussieht.

Wohlsen meint, es gäbe eine dünne Linie zwischen Nerdyness und Beklopptheit, die beispielsweise bei Leuten, die ständig mit Bluetooth-Headset im Ohr rumlaufen oder sich per Segway fortbewegen deutlich überschritten ist. Und eben die selbe Beklopptheit macht er aus, wenn er Leute wie Robert Scoble mit Google Glass sieht.

Um ganz ehrlich zu sein, man wird diese Assoziation in der Tat nicht los, speziell wenn man auf das Tumblr White Men Wearing Google Glass schaut.

White Men – ich würde noch „middle age“ noch hinzufügen – diese Hauptgruppe, aus der sich die Nerds nun mal speisen, könnten Glass den Garaus machen, bevor es auf den Markt kommt, so Wohlsen. Denn natürlich ist es nicht nur das Ungewohnte Ding im Gesicht, das uns ästhetisch erschaudern lässt, sondern die Rolemodels selbst, die wir mit Glass assoziieren. Kurz: Robert Scoble ist nicht cool.

Was uns zurück bringt zu App.net. Die Early Adopter, die App.net angezogen hat, leiden unter dem selben Problem: es sind hauptsächlich männliche weiße Nerds. Mit dem Fokus auf Entwickler hat App.net genau das auch forciert.

Crossing the Chasm“ ist ein geflügeltes Wort im Produktmarkting. Es ist eine Sache, Early Adopter dazu zu bringen, ein Produkt zu benutzen. Problematischer ist es, den Graben zwischen Early Adopter und Massenmarkt zu überwinden.

Und wie gut oder schlecht man diesen Graben überwinden kann, liegt natürlich auch daran, wie dieser Graben beschaffen ist. Welche Early Adopter stehen hier eigentlich dem Massenmarkt gegenüber? Denn man will ja ein Produkt eben auch deswegen haben, weil man dazugehören will. Doch zu wem will man dazugehören? Und zu wem nicht?

Schaut man sich die erfolgreichen Beispiele: Facebook, Myspace, Instagram und Tumblr an, stellt man fest, dass deren Early Adopter eben nicht weiße, männliche Nerds waren. Bei Facebook waren die ersten Nutzer Harvard Studenten, in einer zweiten Phase Studenten aller Universitäten. Erst später öffnete sich der Dienst für alle. Studenten sind jung, intellektuell und zum großen Teil weiblich. Studenten feiern, fliten und sind sexy. Selbst wenn der Mainstream nicht dazugehört, er würde es gerne. Myspace zog früh Musiker und Bands an, was wiederum deren Fans anzog. Musiker sind sexy, Fans immerhin jung. Tumblr und Instagram sind beides Dienste, die technisch gesehen überhaupt nicht bemerkenswert sind. Sie haben es aber geschafft, technisch weniger affine Hipster für sich zu begeistern. Der Erfolg von Twitter wiederum kam erst in Fahrt, als sich nach Ashton Kutcher und Stephen Fry nach und nach die großen Stars anmeldeten. Stars sind sexy.

Let’s face ist: Männliche, mittelalte, weiße Nerds sind nicht sexy.

Ich glaube tatsächlich, man kann an dieser Stelle festhalten: Produkte, deren Early Adopter sich hauptsächlich aus männlichen, weißen Nerds speisen, werden es schwer haben den Chasm zu überwinden. Denn gegenüber steht der Massenmarkt und stellt fest: „das ist was für Nerds“. Da gehört man nicht dazu und da will man auch nicht dazu gehören und wahrscheinlich ist das dann auch alles ganz furchtbar kompliziert, so mit Kommandozeile und kryptischen Befehlsketten.

Männliche, mittalte, weiße Nerds sind giftige Early Adopter. Wenn man Erfolg haben möchte, sollte man dafür sorgen, dass sie den Dienst möglichst lange ignorieren. Wenn die Nerds bereits da sind, sollte man sie verstecken. Oder zumindest übertünchen, indem man andere Leute: junge, weibliche, stilbewusste Leute begeistert.

Für Google+ und App.net sehe ich schwarz. Die haben ihr Image weg. Bei Google Glass kann man vielleicht noch was machen. Aber dann muss es bald wirklich ein Tumbler geben, wie coolpeoplewearinggoogleglass. Aber ist das realistisch?

Eine Frage zur Netzneutralität

Gerade scheinen sich nicht alle einig zu sein, ob die Telekom mit ihren Zusatzpaketen wie „Entertain“ nun bereits die Netzneutralität verletzt. Mit Entertain hat man sowas wie Fernsehen über IP, die Telekom rechnet den entstandenen Traffic aber nicht in das Drosselungsfreivolumen mit ein, so dass man sorgenlos „fernsehen“ kann und nur beim „normalen DSL“ die Uhr rattert.

Was zunächst wie eine klare Netzneutralitätsverletzung aussieht, kann aber durch eine technische Definitionen der Netzneutralität argumentativ ausgeräumt werden. Da das angebotene Fernsehen zwar per IP aber dort per Multicast und nicht per TCP „gesendet“ wird, gehöre es technisch gar nicht zum Internet und sei eher vergleichbar mit dem Fernsehkabel in der Wand, das nur zufällig die gleiche Leitung benutzt. (So zum Beispiel Fefe und die Telekom, aber auch eine ganze Menge vertrauenswürdiger Quellen)

Nun besteht auch das Internet schon immer aus mehr als TCP/IP (z.B. gibt’s auch UDP), was diese Definition dringend ausbaufähig macht. Aber damit nicht genug: Die Telekom bietet bei Entertain ja eben nicht nur lineares Fernsehen an, sondern mit TV-Archiv und Videoload gehören Video on Demand-Dienste auch mit zum Service. Ich weiß allerdings nicht, wie sie das technisch machen, das per Multicast anzubieten, oder ob da nicht auch TCP/IP oder UDP/IP im Spiel ist. (Die Wikipediaseite spricht auch von Unicast-Traffic) So oder so, stehen diese Video on Demand Dienste im direkten Wettbewerb zu iTunes, Amazon und Whatchever, etc.

Abgesehen also davon, dass ich hier schon wettbewerbsrechtliche Probleme sehe, frage ich mich, ob wir mit einer engen, technischen Definition von Netzneutralität wirklich glücklich werden. Die Provider bräuchten nur irgendwelche exotischen oder selbst zusammengestöpselten Protokolle verwenden, um der Netzneutralität definitorisch zu entgehen. Wenn die Telekom also demnächst ihr Youtube+Paket über FNORD/IP anbietet, stehen wir da, mit unserer technischen Definition von Netzneutralität.

Oder wie seht ihr das?