Abschluss, Vorbereitung, Anfang

Das war dann ja noch mal spannend, zum Schluss. Gerettet hat mich der eintreffende Sponsoren-Klick für 1000 Euro. Aus unerwarteter Richtung, übrigens. Ich darf nicht sagen, wer, aber es ist niemand, den ich kenne. Jedenfalls wird auch das zweite Stretched Goal realisiert, was mich sehr freut. 20.467 Euro sind es, um genau zu sein und das ist nur wenige Euro entfernt von dem zweiterfolgreichsten Crowdfunding-Buchprojekt Drachenväter, das 20.511 Euro eingesammelt hat. Das einzuholen wäre nett gewesen, aber ich bin auf keinen Fall in der Position mich beschweren zu dürfen. 😉

Es hätte kaum besser laufen können. Ich danke an dieser Stelle also noch mal abschließend allen Helfern, Retweetern und Supportern für ihren Einsatz. Ich habe das Geld im übrigen schon auf meinem Fidor-Konto. Davon runter gingen die knapp 500 Euro Paypal-Gebühren und am Ende wird man gefragt, ob man der Startnext-Plattform noch etwas da lassen möchte. Zwei Prozent waren voreingestellt (etwas über 400 Euro) und ich fand das nur fair, denn ich fühlte mich gut beraten und supportet. Von dem Fidor-Konto überweise ich mir jetzt quasi ein Gehalt, 1000/Monat per Dauerauftrag und sitze seit Montag tatsächlich vollzeit an dem Buch. (Dazu gleich mehr.)

Vorbereitung

Das geht, weil ich noch während der Kampagne einige wichtige Vorbereitungen getroffen habe:

  1. Ich habe mir bereits zwei Wochen vor Ende der Kampagne einen Büroplatz gemietet. Schön gelegen direkt am Weichselplatz in Neukölln. Ein Freund von mir arbeitet da schon länger und hat mich freundlicher Weise aufgenommen. Hier war bis letzten Monat noch eine Agentur mit drin. Die sind nun ausgezogen und jetzt können wir es uns so richtig gemütlich machen. Das hier ist zwar nicht die Gegend, in der man gerne teure Technik stehen lassen will (hier wurde letztens auch eingebrochen), weswegen wir nachts nur leere Schreibtische stehen lassen und unsere Notebooks immer mitbringen. Ich mag diese Art zu arbeiten. Weniger ist mehr. Dieser Minmalismus zieht sich durch meinen ganzen Prozess.
  2. Als Vorbereitung habe ich mir einen sehr detaillierten Zeitplan ausgedacht. Aus den Erfahrungswerten, wie lange ich an Texten arbeite (2 Tage für 6000 Zeichen, 4 Tage für 10.000), habe ich für jedes Kapitel und jedes Unterkapitel eingeschätzt, wie viele Zeichen und Tage ich brauchen werden. Das ganze habe ich dann mit einem erfahrenen Lektor besprochen und angepasst. Nach meinen Berechnungen werde ich ca. 330.000 Zeichen schreiben müssen und dafür 125 Arbeitstage brauchen. Das erste Kapitel soll in seiner Rohfassung am Ende des Monats stehen. Toi Toi Toi.
  3. Nachdem ich die Inhaltsangabe ja bereits veröffentlicht hatte, konnte ich die Kapitel den Kapitelpaten zuordnen. Dazu habe ich mit Google-Docs ein Formular aufgesetzt (das Formular-Tool von Google Docs ist wirklich super praktisch) und die Kapitelpaten gebeten, sich dort für ein Kapitel einzutragen. Der Kapitelpate für das erste Kapitel ist übrigens Ralf Stockmann, was mich sehr freut, weil er nicht nur inhaltlich, sondern auch technisch gewieft genug ist, dass ich mit ihm die Modi der Zusammenarbeit erkunden kann.
  4. Versionierung: Da ich 1. viel mit anderen zusammenarbeiten will (Nicht nur den Kapitelpaten) und ich 2. eine gute Versionierung haben möchte und aber 3. auch offline und lokal arbeiten möchte, war mir bald klar, dass ich das Versionierungssystem Git einsetzen möchte. Das populäre Github ist mir aber zu teuer und außerdem brauchen dann alle meine Collaborateure einen Githubaccount. Max wies mich dann auf penflip.com hin. Das ist ein Git-Tool, das extra aufs Schreiben ausgerichtet ist. Es gibt eine Weboberfläche mit Editor und die Struktur der Standard-Repositorys soll ein Buch darstellen. Jedes Kapitel ist eine txt-Datei und in der Contents.txt werden die zugehörigen Dateien als Buchkapitel verwaltet. Das alles ist noch relativ neu und stellenweise auch noch buggy und unfertig, aber hey, ich werde zunächst eh nur das Git-Backend nutzen. Ich finde den Ansatz großartig und arbeite jetzt schon da drauf.
  5. Git-Tools: Erlehmann meinte, ich solle zum Arbeiten SparkleShare nutzen, was meinen Gitordner zu so ner Art Dropbox macht. Das ist sau bequem und einfach aber leider ist mir das dann doch zu unterkomplex (ich muss auch hier und da mal Konflikte auflösen können und die Versionshistorie im Blick haben, etc.). Eventuell wird das die Lösung für die Kapitelpaten sein. Ralf Stockmann hat das im Einsatz und wir gucken mal, wie weit wir kommen und zur Not arbeiten die anderen eben auf im Penflip-Interface. Ich selbst probier es gerade mit tower und das funktioniert gerade ganz gut für mich.
  6. Form: Zum Schreiben nutze ich schon seit Ewigkeiten keinen Wordprocessor mehr, weil mich das hantieren mit formatierten Text immer nur nervt. Stattdessen schreibe ich immer plaintext im Editor. Für das Buch habe ich mir vorgenommen, alles in Markdown zu schreiben, weil es der ideale Kompromiss für mich zu sein scheint. Einerseits Plaintext (Plaintext ist nun mal das einzig Sinnvolle, wenn man mit Git arbeiten möchte), andererseits minimale Formatiertmöglichkeiten ohne viel Transaktionskosten. Ich weiß, es gibt andere, besser ausgearbeitete Markupsprachen, aber Markdown ist am weitesten verbreitet und für meine Zwecke wird es (hoffentlich) reichen.
  7. Editor: Ich habe viel rumrecherchiert, um einen lightweight Editor zu finden, der einerseits wenig Features hat und andererseits eine gute Markdownunterstützung bietet. Ich bin dann schließlich bei dem schon etwas veralteten IA-Writer gelandet. Der Nachfolger writer pro hatte mir zu viele negative Reviews im Appstore und zum Ausprobieren war er mir einfach zu teuer. Das allseits beliebte Scrivener kommt mir einerseits zu überfeatuered vor und andererseits hat es seinen eigenen Kopf was Ordner- Dateistruktur angeht. Sowas ist Git schwer vermittelbar und hätte zu ständigen Konflikten geführt. Auch wegen der undurchsichtigen Eigenbrödlerei bei der Dateistruktur kam Ulysses nicht in Frage, obwohl es von den Features und der Bedienung her fast perfekt gewesen wäre. IA-Writer hat seine Macken (kann z.B. Keine Kommentare interpretieren), aber ist ansonsten wirklich ein nettes, sehr einfaches Tool.
  8. Immer wenn ich auf Git einen Commit mache, erstellt das super nette Tool Gitstats diese nette Seite in meinen Dropboxordner. Ich weiß, sie ist sau hässlich, aber sie erlaubt Euch, liebe Supporter und Interessierte, mich stetig zu überwachen. Also ob und wie viel ich arbeite und auch wer anderes noch viele Changes macht.

Anfang

Das alles ist bis zum Freitag geschehen und so konnte ich bereits am Montag loslegen. Heute ist mein dritter Arbeitstag als Autor und es gefällt mir bereits alles ganz gut. Noch sind nicht alle Probleme gelöst aber wir kommen dahin. Ich bin mitten im ersten Kapitel und bisher flowt es eigentlich ganz gut.

Seit die Kampagne gelaufen ist, bekomme ich verstärkt Anfragen von Verlagen und sogar Agenten. So hab ich mir das vorgestellt. Die Suche nach einem Verlag geht also im Hintergrund auch voran. Was das schwerste dabei wird, ist einen Verlag zu finden, der mit mir das Buch bis Herbst herausbringen will, denn Verlage haben meistens eine sehr lange Vorlaufzeit, wie ich erfahren musste. Der Herbstkatalog steht bei den meisten Verlagen bereits und deren Vertreter klappern damit jetzt schon die Buchläden ab. Für uns Netzmenschen ist der Blick in die Printwelt ja immer sowas eine dieser Ultra-Slow-Motion-Filme. Ich werde dennoch versuchen meinen Termin durchzusetzen und dafür auch gerne andere Zugeständnisse eingehen. Mal sehen, ob es was bringt. Ich werde Euch natürlich auch weiterhin auf dem Laufen halten. Eventuell werde ich auf ctrl-verlust noch eine Seite aufsetzen, wo man die Fortschritte jederzeit beobachten kann. Aber erstmal was schaffen.

Backstagebericht, Teil II

Dies ist der zweite Teil meines Backstageberichtes über mein Crowdfundingprojekt, das jetzt noch 2 Tage lang geht. Den ersten Teil findet ihr hier.

Facebookseite

Ich hatte immer schon mal vor, für das Blog ctrl-Verlust.Net eine Facebook-Seite anzulegen. Ich habe das für mspr0.de und es generiert in der Tat einen gewissen Mehrwert an Interaktion und Reichweite. Aber wie das so ist, man schiebt das so vor sich her und irgendwie wurde es bislang nichts

Für das Crowdfundingprojekt machte es aber umbedingt Sinn, eine Seite anzulegen. Also eröffnete ich etwa zwei Wochen vor Beginn der Kampagne reine Blog-Site und trommelte für Likes. Über die Facebook-Seite hatte ich während der Kampagne einen zusätzlichen Kanal, den ich bespielen konnte. Dort habe ich nicht nur die Blogposts aus dem Projektblog gepostet, sondern auch Interviews und Artikel drum rum. Die Likes stiegen automatisch mit dem Erfolg der Kampagne mit. Gutes Tool. Würde ich wieder so machen.

Supportervideos

Ich glaube, es war Jens Scholz, der mir davon erzählte, wie gut es sei, während der gesamten Kampagne die Aufmerksamkeit möglichst ständig auf einem konstant hohen Level zu halten. Seinetwegen kam ich auf die Idee mit den Supportervideos. Gesehen hatte ich sowas ähnliches schon bei Dirk von Gehlens Pitchvideo, wo so bekannte Leute wie Sascha Lobo, Kathrin Passig und Peter Glaser das Projekt beleumundeten.

Ich wollte das auch, es aber in ein eigenes Format auslagern. Kurze Videos, die ich dann sukzessive während der Kampagne teile. Außerdem wollte ich, dass die Leute nicht nur irgendwas dahersagen, sondern auch einen konkreten Bezug zu mir und meiner Arbeit haben und diesen ausdrücken können. Also fragte ich vor allem Leute, die sich bereits mit meinen Thesen befasst haben, mit ihnen gearbeitet haben, sie zitiert oder abgedruckt haben. Sie sollten jeweils für sich ein Video drehen, in denen sie diesen Bezug zu meinen Thesen eigenständig formulieren und damit gleich begründen, warum es sich lohnt, das Projekt zu unterstützen.

Ich finde die Idee immer noch charmant, aber den Anteil am Erfolg der Kampagne lässt sich nur schwer beziffern. Nicht mal die Videos von so bekannten Persönlichkeiten wie Geert Lovink oder Marina Weisband haben sich groß verbreitet. Ich glaube, der Hauptwert der Videos liegt weniger an zusätzlicher Aufmerksamkeit, die sie generierten, sondern tatsächlich in der Leumundsschaft selbst. Wenn sich interessante und intelligente Leute für Dich aussprechen, schenken Dir vielleicht auch Leute vertrauen, die Dich noch nicht so kennen.

Es hat einige Zeit gekostet, die Videos anzuleiern und »einzutreiben«. Aber am Ende hat fast jeder zugesagt und es fühlt sich sehr gut an, dieses Vertrauen von Leuten entgegengebracht zu bekommen, die ich sehr schätze.

Lizenz

Über die Lizenz (WTFPDL) habe ich schon so viel erzählt. Wer genaueres wissen will, kann sich hier gut informieren. Natürlich hatte die Lizenz einen zusätzlichen PR-Effekt, der aber leider recht bald verpuffte. Man kann die Lizenz sicher kritisieren, niemand weiß, wie gut sie im Zweifel funktioniert. Ich glaube aber nach wie vor, dass sie in die richtige Richtung weist und nein, ich würde auch beim nächsten Mal keine CC-Lizenzen benutzen.

Grundsätzlich glaube ich, dass bei solchen Projekten mit kreativem Output eine möglichst freie Lizenz Wunder wirkt. Dass es der Allgemeinheit nutzt, wenn ein Werk möglichst von Jeder/m, in jeder Weise für jeden Zweck genutzt werden kann, ist vor allem der Netzszene sehr bewusst. Der Akt der Unterstützung wird dadurch mehr als ein nur eigennütziger »Einkauf«. Ich kann jetzt zwar kein eBook mehr für viel Geld verkaufen, aber ich glaube, die Unterstützungen wären nicht so großzügig ausgefallen, hätte ich den Content nicht freigegeben.

Die Summe

Eine zentrale Frage bei der Planung spielt natürlich die Zielsumme. Setzt man sie zu hoch an, läuft man Gefahr, das ganze Projekt in den Sand zu setzen, denn wenn man sie nicht erreicht, bekommt man nichts. Für mich wäre das eine katastrophale Schmach gewesen. Das war der Hauptgrund, die Summe mit 8000 Euro so niedrig anzusetzen. Spekuliert habe ich in Wirklichkeit mit 10.000+, und obwohl die Restzweifel nie so richtig zu beseitigen waren, war ich sehr zuversichtlich. Mit einem solchen Erfolg habe allerdings nicht gerechnet. Heute würde ich die Ausgangssumme wohl von vornherein auf – sagen wir – 12.000 Euro setzen. Grundsätzlich glaube ich aber nach wie vor, dass es Sinn macht, ein Projekt erstmal niedrig anzusetzen. Nicht nur der Sicherheit wegen, sondern auch, weil es sich nicht empfielt, allzu unbescheiden aufzutreten. Es macht aber definitiv Sinn, sich im Vorhinein Gedanken um eventuelle stretched Goals zu machen. Die muss man manchmal schneller liefern, als man denkt …

Das Announcement

Natürlich ist die Planung die eine Sache, die Durchführung eine ganz andere. Mein Plan, die Startphase so leise wie möglich hinter mich zu bringen, hat … so mittel geklappt.

Ich setzte eine Mailingliste mit Freunden und Bekannten auf (und machte sie nicht richtig zu, was einige der Teilnehmer sogleich zu Trollaktionen veranlasste). Dazu stellte ich fest, dass ich von vielen Leuten, die ich die letzten 4 Jahre kennengelernt habe, die E-Mailadresse gar nicht habe. Facebook und Twitter haben ein da großes Loch in meine lokale Datenverwaltung gerissen. Auch über die Facebookprofile kam ich fast nie an die fehlenden E-Mailadressen. Also entschied ich mich, kurzerhand neben der Mailingliste noch eine Facebookmessage an viele Leute zu schicken.
In beide Nachrichten schrieb ich rein, dass die Leute doch bitte so nett sein sollten, den Fanbutton zu betätigen, aber den Link noch nicht zu verbreiten. »Achtung!« schrieb ich extra groß. Natürlich war der Kontrollverlust vorprogrammiert. Aus der Mailingliste ebenso wie aus dem Facebook-Chat landete die Information, dass ich eine Crowdfundingkampagne starte, sofort auf Facebook und Twitter. Nicht aus Bosheit. Wer liest schon noch Mails genau? Die Nachricht ging also rum, einige Tweets und Retweets, aber so groß war der Schaden nicht.

Schlimmer war die Facebook-Chatfunktion. Die Message an alle, wurde von einigen Teilnehmern zum fröhlichen Facebook-Sticker-Sturm genutzt. (Sticker sind so kleine lustige Bildchen) 2 bis 3 Tage lang schickten sich die Leute Sticker hin und her, bis auch der Letzte aus dem Kanal getrollt war. Bis heute kommt hier und da noch ein Sticker an. Auch wenn es viele mit Humor nahmen, nochmal an alle Beteiligten: Es tut mir leid! Ich hätte nicht erwartet, dass es soo schlimm wird. Das nächste Mal frage ich einen Social-Media-Berater um Rat.

Im Grunde war aber alles halb so wild. Die Rechnung ging auf. Ich hatte die 100 Fans innerhalb von 4 Stunden zusammen, und als ich am Montag drauf in die Finanzierungsphase ging, taten die wenigen Irrlauf-Tweets, der anrollenden Aufmerksamkeitswelle keinen Abbruch. Die war gefühlt hundertmal größer, als die Leaks. Der Rest ist Geschichte: Die Summe von 8000 Euro wurde innerhalb von 28 Stunden erreicht.

Streched Goals

Bei Startnext gibt man zu Anfang einen konkreten Zeitraum an, über den man gedenkt, Geld einzusammeln. Die Zielsumme ist weniger relevant als der Zeitraum, denn egal wie schnell man den Geldbetrag erreicht – die Kampagne dauert so lange wie sie dauert. Ich habe mir mit über 6 Wochen einen recht großzügigen Zeitrahmen gegeben. Das würde ich heute anders angehen. 3 bis 4 Wochen hätten für mich genügt.

Doch was tut man, wenn die Summe vor Ende des Zeitraums bereits eingesammelt ist? Geld wird über die Zeit eh weiter reinkommen. Wie kann einerseits die Spannung beibehalten und gleichzeitig die Zusatzeinnahmen rechtfertigen?

Ich hatte schon länger mit der stretched Goal-Idee gespielt, weil ich das bei Dirk von Gehlen gesehen hatte. Bei Erreichen der Zielsumme definiert man einfach ein neues, aber verwandtes Ziel, das mit dem zusätzlichen Geld dann möglich wird. Damit hält man die Kampagne spannend und generiert Mehrwert für alle Beteiligten. Ich hielt die stretched Goal-Idee für eine gute Sache. Irgendwas würde mir schon einfallen. Da würde ich mir dann mal bei Zeiten Gedanken drüber machen. Dann …

Aber nach 28 Stunden? Darauf war ich einfach nicht vorbereitet. Ich hatte keinen konkreten Plan parat für »danach«, denn ich dachte, dass ich dafür noch mindestens eine Woche, ach was, einen Monat Zeit haben würde. Also gab ich erstmal die 10.000 Euro als neues Ziel aus, mit der einzigen Begründung, dann eine komfortablere Summe zur Verfügung zu haben.

Auch dieses Ziel war aber schon einen Tag später erreicht. Aber diesmal war ich vorbereitet. Auch von Dirk habe ich die Idee für das Audio-Book, das schon er als stretched Goal angegeben hatte. Da ich selbst podcaste und die Audioversion eh unter derselben Lizenz veröffentlichen wollte, verband ich die Idee kurzerhand mit dem Audiobook. Bei 15.000 sollte es also einen Podcast geben, der kurz nach der Produktion eines Kapitels diese als Podcastfolge veröffentlicht. Und am Ende sollte natürlich das Audiobook als Gesamtdatei stehen. Diesmal dauerte es über einen Monat, bis das Goal erreicht war.

Geert Lovink hatte mich bereits vor meiner Crowdfundingkampagne kontaktiert. Er war begeistert von meinen 10 Thesen zum neuen Spiel und wollte sie in seiner Reihe Networked Notebooks veröffentlichen. Einen 20.000 Wörter starken Essay in englischer Sprache. Man muss dazu sagen, dass Lovink einer der bekanntesten und ersten Internettheoretiker ist. Er betreibt die legendäre Mailingliste nettime-I und ich habe schon im Studium seine Texte gelesen.

Ich fühlte mich also sehr geschmeichelt – dazu hieße das eine enorme internationale Aufmerksamkeit für meine Thesen. Ich wollte aber noch nicht konkret zusagen, weil ich ja jetzt erstmal das Buchprojekt starten musste. Dazu kam, dass auch Lovink sich nicht klar war, wo er das Geld für die Übersetzung herbekommen sollte. Das Projekt verblieb damals also erstmal in der Schwebe.

Der Zufall wollte es, dass Lovink 2 Tage bevor ich das stretched Goal von 15.000 Euro erreichte und etwa eine Woche vor Ende der Kampagne, in Berlin für einen Vortrag weilte. Wir trafen uns und ich machte ihm kurzerhand den Vorschlag, dass ich das Projekt – die Übersetzung und das Lektorat – als weiteres streched Goal mit in die Kampagne aufnehme. Lovink war einverstanden und so holte ich mein Handy raus und wir machten den Film.

Kommunikation

Am Anfang hatte ich wie gesagt eine Mailingliste mit allerlei Freunden und Bekannten. Nach und nach verlagerte sich meine Kommunikation auf die Startnext-Plattform. Dort gibt es ein Blogsystem (recht rudimentär, aber es funktioniert), das es anbietet, alle Supporter per Klick über einen neuen Eintrag zu informieren. Ich habe versucht, das Blog sehr regelmäßig zu bespielen und immer wenn ich glaubte, dass es etwas Wichtiges zu erzählen gibt – wie zum Beispiel dass Erreichen eines stretched Goals, das Veröffentlichen eines neuen oder die Veröffentlichung der geplanten Buchinhalte, etc, habe ich diese Funktion genutzt.

Man muss sich darüber im Klaren sein, dass man im Laufe der Kampagne seinen Freunden, Unterstützern und Followern ganz schön auf den Zeiger geht. Besonders, wenn man ein Goal nach dem anderen stretched. Aber im Grunde wissen ja alle, dass es sich um einen begrenzten Zeitraum handelt. Es gab zwar hier und da ein paar Beschwerden, aber hey, so ne Crowdfundingkampagne macht man ja auch nicht aller Tage.

Werbung

Ich habe sogar ein bisschen mit Werbung rumgespielt. Auf Facebook kann man, wenn man eine Seite betreibt, seine Posts »boosten«. Man wirft per Paypal ein paar Euro rein und erreicht dann sehr viel mehr Menschen. Über das Experimentierstadium bin ich dabei aber nicht herausgekommen. Der Effekt war bescheiden. Zwar sehen den Post dann ein paar tausend Leute, aber die Interaktion ist meist doch gering. Aus meiner Filterbubble bin ich damit jedenfalls kaum herausgekommen. Wahrscheinlich habe ich aber auch einfach alles falsch gemacht und wenn ich es richtig gemacht hätte, dann wäre ich jetzt Millionär oder so.

Presse

Ich habe auch einen Presseverteiler angelegt. Ich bin schon lange eine relativ öffentliche Person und so bleibt es nicht aus, dass man Kontakte zu Journalisten hat. Ich hab mich durch meine Mails gewühlt und die Adressen aller Journalisten, mit denen ich die letzten Jahre zu tun hatte, zusammengesammelt. Das war mein Presseverteiler.

Ich kann keine Pressemitteilungen formulieren. Also mir fehlt das Wissen UND ich finde das irgendwie … komisch. Pressemittelungen sind grauenhaft. Ich hasse es, sie zu lesen und komme mir irgendwie schmutzig vor, sie zu schreiben. Da ich aber mit allen Journalisten auf meinen Verteiler bekannt bin, konnte ich relativ frei schreiben. Ich schrieb bei allen wichtigen Ereignissen eine PM: Der Start der Kampagne, das Erreichen der Stretched Goals und die Einrichtung der neuen Goals.

Nun, meine Presseresonanz ist – verglichen mit den Projekten von Dirk von Gehlen oder Drachenväter – eher bescheiden. Die erste PM hatte eine gewisse Wirkung, die anderen eigentlich keine. Vielleicht liegt es an meiner Pressearbeit, vielleicht an was anderem. Ein Link von Spiegel Online oder Zeit.de wäre schon nett gewesen, aber wie man sieht, es geht auch ohne die großen Kanäle.

Der Countdown

Als sich die Kampagne dem Ende näherte, kam ich auf die Idee des Countdowns. Ich wußte, dass es zum Ende jeder Crowdfundingkampage noch mal spannend wird. Viele Leute sparen sich die Unterstützung bis zum Ende auf, sind bis zum Ende unentschlossen, oder wollen das Projekt einfach nur über die Schwelle heben. So kommt es, dass Crowdfundingprojekte zum Ende immer nochmal einen Peak haben. Um diese Leute noch zu aktivieren und die Spannung insgesamt zu steigern, habe ich mir den Countdown ausgedacht.

Der Plan ist, die letzten 10 Tage noch mal richtig aufzudrehen und jeden Tag einen Blogpost zu verfassen. Jeder Blogpost ist dabei mit dem Countdown versehen (»nur noch X Tage«) Die Planung der Inhalte für die Blogposts passierte relativ kurzfristig, aber auch dieser Backstagebericht hier ist eine der Ideen, die dabei geboren wurden. Ich glaube, es bringt eine Menge, wenn man den Leuten, die vergehende Zeit anschaulich macht und so ständig die Aufmerksamkeit wach hält. Klar, geht es manchen Leuten auch auf die Nerven, wenn man ständig so viel Alarm macht. Aber gleichzeitig sehen sie ja an der Anzahl der Tage, dass das nur temporär ist.

Fazit

Die Kamagne läuft noch etwas mehr als 24 Stunden, aber ich denke, ich kann schon mal ein Fazit ziehen:
Es war ein riesiger Erfolg, egal, was jetzt für eine Summe bei rauskommt. Neben dem Geld finde ich es ausgesprochen toll, dass es so viele Unterstützer geworden sind. Auch wenn ich von der Summe her nur das dritterfolgreichste Crowdfunding-Buchprojekt geworden bin; an Anzahl der Unterstützer kommt niemand ran. Das Geld ist auf sehr vielen Schultern verteilt und ist damit, mehr noch als alle anderen, ein waschechtes Grassroots-Communityprojekt. Ein Beweis dafür, was viele Einzelne mit ihrer Vernetzung zusammen leisten können. Da bin ich ziemlich stolz drauf.

Mir ist bewusst, dass die Kampagne in dieser Form nicht für jede/n einfach so wiederholbar ist. Ich bin seit 8 Jahren im Netz präsent, befasse mich mit meinem Thema seit 4 Jahren und veröffentliche dazu auch oft in »erwachsenen Medien«. Das ist aus vielerlei Hinsicht eine perfekte Ausgangssituation so etwas wie eine Crowdfundingkampagne zu starten. Egal, wie toll Deine Idee ist, die Leute müssen überzeugt sein, dass Du auch der/die Richtige bist, sie umzusetzen.

Die Kehrseite des Ganzen bekomme ich zunehmend zu spüren. There is nowhere to run. Das Internet hat die Welt zu einem Dorf gemacht und wer da heraussticht, kann nicht einfach so weggehen und ein neues Leben beginnen. Weit über 500 Augenpaare sind nun auf mich gerichtet und sie erwarten, dass ich abliefere. Kein Verlag, kein nerviger Lektor, keine abstraktes Irgendwas könnte mir mehr Respekt einflößen, als die Erwartungen meiner eigenen Community. Leute, die so viel von mir halten, dass sie Geld in mich investiert haben. Der Druck – das sollte klar sein – ist riesig. Aber keine Angst, ich komme damit klar.

Derzeit überwiegt bei mir aber die Dankbarkeit. Die Dankbarkeit gegenüber den Helfern bei der Kampagne, gegenüber all jenen, die für mein Projekt geworben haben und natürlich den Unterstützern, die ihr Vertrauen in mich gesetzt haben. Das ist schon ein verdammt gutes Gefühl! Und ich verspreche, mein Bestes zu geben, Euren Ansprüchen zu entsprechen.

Danke! Vielen Dank!

Backstagebericht, Teil I

Im neuen Spiel gibt es neue Freiheiten und neue Einschränkungen. Kulturprojekte per Crowdfunding zu finanzieren ist ein Paradebeispiel dafür, das neue Spiel anzunehmen und zu spielen. Dieselben Mechanismen, die mir nicht mehr erlauben Kontrolle über die Inhalte auszuüben, erlauben es mir, eine Community aufzubauen und zu vernetzen, die mir die Inhalte vorfinanziert. Ich halte Crowdfunding also für eine wegweisende Strategie der Kulturfinanzierung und will deswegen meine Ideen, Gedanken und Erfahrungen mit der Kampagne weiter geben. Dies ist der erste Teil.

Idee

Dass ich ein Buch schreiben will, weiß ich seit einigen Jahren. Das Thema Kontrollverlust hatte sich so weit entwickelt, dass sich dieser Schritt seit langem aufdränt. Ebenso lange liegen mir Freunde und Weggefährten in Ohren, es doch nun einfach mal zu tun.

Doch wie soll ein Theoretiker des Kontrollverlusts und erklärter Gegner des Urheberrechts ein Buch schreiben, ohne dabei entweder zu verhungern oder sich unglaubwürdig zu machen? Spätestens nach dem Erfolg von Dirk von Gehlen war die Option das Buch zu crowdfunden präsent. Wirklich dafür entschieden habe ich mich aber erst im Herbst letzten Jahres. Ich dachte: das mach ich jetzt mal einfach und erzählte jedem, der nicht bei drei auf den Bäumen war von meinen Plänen.
Mein erster angedachter Starttermin war Anfang Oktober. So dachte ich jedenfalls noch Mitte September, vollkommen unwissend, was ich mir da an Arbeit aufgehalst hatte. Doch es gab kein Zurück. Eine gute Motivationsstrategie für alle, die auf ein konsistentes Außenbild wert legen.

Titel/Cover

Man glaubt es kaum, aber ich habe wirklich lange gebraucht, bis ich den Titel so hatte, wie er heute ist. Und auch das Cover machte eine lange Überlegungsphase aus. Natürlich hängen die beiden zusammen und so musste ich meinen Designer, Mark Wirblich, immer wieder mit neuen Titelideen malträtieren, was seine Aufgabe nicht leichter machte. Ähnlich wie beim Titel ging es uns mit dem Cover. Eigentlich kam Mark sehr schnell auf die Idee, hatte das richtige Bild parat. Ja, es ist eine Atomexplosion. Die Atombombe veränderte die Welt, es veränderte die Regeln, nach denen das Spiel der Mächte gespielt werden konnte. Die Raute auf dem Atompilz ist wunderbar ambivalent. Sie rastert das Bild, wie einige bereits bemerkten. Doch dieses Raster ist ebenfalls leeres Tic Tac Toe Spiel. Ein neues Spiel also. Hinzu kommt der Bezug zum Internet, zur Vernetzung, dem Hashtag, etc. Und obwohl wir noch einige Iterationen lang in andere Richtungen dachten und rumprobierten, landeten wir am Ende wieder dort. Ich muss sagen, ich bin sehr zufrieden.

Planung

Als Erstes habe ich mir Leute gesucht, die sich besser auskennen, als ich und habe sie intensiv ausgefragt. Erster Ansprechpartner war da natürlich Dirk von Gehlen, der bereits ein sehr erfolgreiches Buch gefundet hat. Eine der zentralen Fragen ist natürlich die Plattform. Ich habe mir Verschiedene angesehen, mich am Ende aber ebenfalls für Startnext entschieden.

Es macht Sinn, sich ein möglichst bekanntes Portal mit einer möglichst großen Community auszusuchen. Das Konzept Crowdfunding in Deutschland noch nicht so in die allgemeine Wahrnehmung eingesickert ist, wie beispielsweise in den USA: Das heißt für den Crowdfunder, dass er die Schwelle für die Leute, die etwas geben wollen, möglichst gering halten muss. Eine große, etablierte Plattform empfiehlt sich aus zwei Gründen: 1. Die Community beherbergt bereits eine menge Leute, die schon mit dem Konzept Crowdfunding vertraut sind. 2. Die Chance ist höher, dass Leute, die mich unterstützen wollen, bereits einen Account haben.

Nachdem ich meinen Startnext Account eingerichtet hatte, merkte ich, dass ich einige Voraussetzungen erfüllen musste, um überhaupt loslegen zu können. Am besten führt man sich diesen Leitfaden zu Gemüte. Startnext arbeitet mit einem Finanzdienstleister namens Fidor zusammen, die die treuhänderische Verwaltung der Unterstützergelder übernimmt. Dort muss man sich in einem im Zweifel mehrere Tage dauernden Verfahren registrieren und legitimieren. Das sollte man auf jeden Fall als Erstes machen.

Die Voraussetzungen, um ein Projekt zu starten, sind in jedem Fall die Texte, die es zu schreiben gilt. Alle Fragen auf der Startseite müssen beantwortet sein. Ein Coverbild muss da sein, Dankeschöns müssen definiert sein und die Fidor-Legitimation muss aktiv sein.

Dankeschöns

Ich glaube, die Dankeschöns auszudenken und zu definieren, ist ein wichtiger Baustein zum Erfolg. Auch wenn es nie so richtig vorhersehbar ist, wie erfolgreich eine Dankeschönidee sein wird (ich wurde auch hier und da sehr überrascht), gibt es doch ein paar Dinge, die ich versuchte zu beachten:

  1. Guck es Dir die Ideen bei anderen ab. Klau gnadenlos zusammen. Es gibt kein Urheberrecht auf gute Dankeschönideen (wär ja auch noch schöner!). Auch längst durchfinanzierte Projekte sind auf Startnext noch zu finden und man kann dort ganau ablesen, welche Dankeschöns gut gingen, welche nicht so gut. Ich habe beispielsweise keine T-Shirts gehabt, weil ich gesehen habe, dass sie bei Dirk nicht so gut gingen.
  2. Die Dankeschöns sollten unmittelbar mit dem Produkt zusammenhängen. Bei einem Buch ist es klar: gibt es das Buch. Aber auch die Releaseparty, die Kapitelpatenschaften und die Namensnennung sowie das Sponsoring haben direkte Bezüge zum Buch.
  3. Achte darauf, dass das Verhältnis zwischen Geldbetrag und Dankeschön irgendwie stimmig ist. Natürlich wollen Leute, die nur 5 Euro zahlen, dich vor allem unterstützen. Aber Leute, die das Buch klicken, wollen vor allem das Buch. Das darf gerne über dem späteren Verkaufswert liegen (wie gesagt, es geht auch um Unterstützung), aber eben nicht völlig darüber.
  4. Achte darauf, dass die Einnahmen die Kosten deutlich decken. Man kann sich da schnell verkalkulieren. Ein Poster zum Beispiel ist billig zu drucken. Gute Idee denkt man sich und bietet das an. Leider ist ein Poster zu verschicken aber sehr aufwändig und teuer (Pappröhre kaufen, extra Porto, etc.). Also immer eine mit Recherche verbundene Kostenkalkulation machen.
  5. Die Dankeschöns sollten preislich in »geschmeidigen« Schritten ausdifferenziert sein. Wenn man etwas für 5, 10 und 20 Euro anbietet, darf nicht das nächst Höhere 100 Euro kosten. Die Beträge, die die Leute zu geben bereit sind, sind sehr individuell. Sorge dafür, dass jeder seinen Sweetspot findet und achte darauf, dass das nächstteurere Dankeschön sich vom vorherigen auch in seinem Wert deutlich abhebt.
  6. Ich habe – jetzt im Nachhinein – den Eindruck, dass Limitierung hilft. Gerade bei teuren Dankeschöns ist das »Es sind nur noch 3 Stück da«-Gefühl anscheinend ein Anreiz für Leute, das Dng schnell noch mitzunehmen. Viele meiner eng limitierten Dankeschöns waren jedenfalls für mich überraschend schnell weg.

Startphase

Startnext hat eine Eigenschaft, die ich nicht so schön finde. Bevor es richtig losgeht, man also um Geld werben kann, muss man erst durch die sogenannte Startphase durch. Da geht es darum, Fans zu sammeln. Also Leute, die einen Account haben und den Fanbutton geklickt haben. Ab 5000 Euro braucht man 100 Fans. Ich kann mir vorstellen, was der Sinn und Zweck dieser Übung ist. Leute, die nicht so bekannt sind, sind erstmal gezwungen, sich eine gewisse Grundaufmerksamkeit zu erarbeiten. Niemand will gerne gescheiterte Projekte, als letztes Startnext.

Durch meinen allerdings etwas anderen Status was Vernetzung angeht, war die Startphase ein Problem. Natürlich ist es für mich am besten, wenn die erste und damit größte Aufmerksamkeitswelle nicht an einem Fan-Button verschwendet wird, sondern auf einen »Werde Unterstützer«-Button trifft. Doch es ist davon auszugehen, dass meine Bekanntheit in Netzzusammenhängen dazu führt, dass die Nachricht ansich bereits eine gewisse Breitenwirkung entfalten wird. Wie kann ich also die Startphase im »Stillen» hinter mich bringen, um die Aufmerksamkeit voll auf die Finanzierungsphase zu lenken?
Normaler weise hat man für die Startphase 30 Tage zeit. Ich plante ein Wochenende ein und hatte vor, in erster Linie Freunde und Bekannte nicht-öffentlich auf die Startphase hinzuweisen, um die 100 Fans zu sammeln. Ich verabredete mit Startnext, dass ich am darauffolgenden Montag – sofern die 100 zusammen sind – in die Finanzierungsphase einzutreten. (Wie das dann klappte, erzähle ich in Teil II)

Pitch-Video

Da ich also von der Startphase direkt in die Finanzierungsphase eintreten wollte, musste ich also vor dem Start auch schon die Voraussetzungen für die Finanzierungsphase erfüllen. Das ist vor allem die Existenz eines Pitchvideos.

Das Pitchvideo ist das Herzstück der Kampagne. Potentielle Unterstützer mühen sich meist nicht damit ab, sich durch endlose Textwüsten zu wühlen. Sie wollen den Playknopf drücken und in 2 Minuten überzeugt sein. Eventuell geben sie Dir noch eine dritte Minute, wenn sie geduldig sind. Deswegen sollte auf die Produktion des Pitchfilms sehr großen Wert gelegt werden.

Es kommt da nicht darauf an, dass es besonders aufwändig und hochglanzmäßig produziert ist, sondern darum, seinen Punkt gleichzeitig präzise, glaubwürdig und sympathisch rüber zu bringen.

Den Text zu dem Video hab ich natürlich selbst geschrieben. Als Kameramann fragte ich meinen alten Freund Mate Steinforth. Er ist zwar von Haus aus Motion-Designer, hat aber eine Menge Erfahrung und das Equipment zur Verfügung. Die größte Herausforderung war die Findung eines Drehtermins. Sowohl Mate, als auch Philipp Otto von iRights (der in dem Video auftritt) waren vor Weihnachten sehr eingespannt und sie auf einen gemeinsamen Termin festzulegen, war ein großer Akt. Als wir den Termin hatten, drehten an einem Nachmittag alles ab. Jede Einstellung mehrere Takes (wichtig). Und wenn ich was gelernt habe, dann, dass ich das nächste mal den verdammten Text auswendig lerne. (Beim Schnitt war die größte Herausforderung, Aufnahmen zu finden, bei denen ich zufällig mal nicht ablese.)
Geschnitten hat das Video Gerlinde Schrön. Sie arbeitet ebenfalls in einem solchen Bereich und machte bereits einige sehenswerte Piratenvideos. Sie hat wirklich ganze Arbeit geleistet und das Beste aus dem Material rausgeholt. Für das Schneiden haben wir etwas mehr als ein Wochenende gebraucht.

Das Video ist das Herzstück der Kampagne, aber auch die meiste Arbeit. Mir als Blogger, der es gewohnt ist, die Resultate seiner Arbeit immer von gleich auf sofort zu veröffentlichen und sich dabei mit niemandem absprechen zu müssen, fiel die Zusammenarbeit nicht leicht. Das ständige aufeinander warten, die nötigen Abstimmungen, etc. sind etwas, nicht besonders leicht. Aber ich denke, es hat sich gelohnt.

Lieber Sascha, wir müssen reden.

Ich habe ein da paar Punkte anzumerken zu Deinem … Bekenntnis.

Erstens: Ich muss das jetzt mal aussprechen, auch wenn das vielleicht einige Gefühle verletzt: Nein, das Internet ist nicht kaputt. Die Katzengifs sind noch da, wo sie hingehören. Ich lerne immer noch spannende Menschen über das Netz kennen, führe dort gute Diskussionen und kann immer noch schnell und unkompliziert Dinge bestellen. Auf Facebook wird sich immer noch zum Eisessen, Feiern oder zu Demonstrationen und Revolutionen verabredet. Mein Internet ist jedenfalls noch heile. Gut, manchmal ist es ein bisschen langsam, das nervt, aber das liegt nicht an der NSA.

Ich verstehe Deine Verletztheit und deinen Ärger. Aber die meisten Dinge, die wir im Internet tun, funktionieren auch dann noch, wenn die NSA dabei zuschaut. Und ja, das ist einer der Gründe, warum keiner auf die Straße geht. Wenn Youtube bedroht ist, wie durch ACTA, dann werden die Leute sauer. Ohne Youtube is scheiße, dann geht man auf die Straße. Aber es gibt wenig Hinweise zu glauben, dass schwarze Hubschrauber im Vorgarten landen, weil man eine falsche E-Mail geschrieben hat.

Und wo wir dabei sind: Vergleiche. »Kränkung der Menschheit« durch Internetüberwachung? Der Vergleich des überwachten Internets mit dem Massenmord an der Urbevölkerung Amerikas? Srsly? Geht‘s auch ne Stufe drunter? Komm mal runter, ey! Wir leben seit 10 Jahren mit der Überwachung. Dass wir mit ihr leben können ist keine Frage, sondern ein empirisch bewiesener Fakt.

Vielleicht ist das wichtigste, was wir jetzt tun sollten, erstmal mal runter zu kommen von diesem Gruseltripp auf den uns Snowden geschickt hat und uns ganz rational überlegen, was da eigentlich passiert und wo die wirklichen Bedrohungszenarien dabei liegen. Das geht zum Beispiel, indem man sich noch mal den Überwachungsbegriff nüchtern anschaut und qualifiziert, wie ich es schon mal begonnen habe.

Zweitens: Du hast das Internet falsch eingeschätzt, sagst Du? Wenn Du gedacht hast, dass die auch von Dir viel gepriesene Offenheit des Netzes nicht dazu führt, dass auch jeder mitlesen kann, dann war das in der Tat eine fatale Fehleinschätzung. Und ich finde es gut, dass Du gedenkst, sie zu revidieren.

Wenn Du aber schreibst, dass das Internet zwar kaputt sei, aber die Idee der digitalen Vernetzung eben nicht, dann merke ich einfach, dass Du das Problem immer noch nicht durchdrungen hast. Lass mich etwas ausholen:

Wenn zwei Menschen sich bereits kennen und sich vertrauen, können Sie ihre Public Keys austauschen und verschlüsselt kommunizieren. Ich vermute aber, dass Du mit „digitaler Vernetzung“ etwas anderes meinst. Das Wunder der digitalen Vernetzung findet dann statt, wenn einander völlig unbekannte Menschen sich finden. Wenn sie aufeinander stoßen, weil sie die selbe Leidenschaft teilen, weil sie sich in ihrer Empörung über die Zustände zusammenfinden, weil sie diese eine spezielle sexuelle Vorliebe teilen, oder weil sie spannende Ansichten haben, die sie ausdiskutieren wollen, nein müssen, weil: there’s someone wrong on the internet! Das Sich-finden und Vernetzen von einander Unbekannten durch Wünsche, Interessen und sonstiger Eigenschaften – diese Idee der digitalen Vernetzung geht nur in einer offenen Infrastruktur, mit Menschen, die ihre Wünsche, Interessen und sonstigen Eigenschaften offen kommunizieren, sie geht nur mithilfe von indizierenden Algorithmen und großen Datenbanken, sie geht nur mit mächtigen Abfragesystemen, die diese Unbekannten finden und ja, vernetzen. Und es gibt kein anderes denkbares Tool, das dieses Wunder ähnlich toll vollbringen könnte wie das Internet es täglich tut und gleichzeitig abhörsicher gegen Dritte ist. No. Fucking. Way.

Das Internet ist eine so effektive Vernetzungsmaschine, dass man sich nicht immer aussuchen kann, mit wem sie einen vernetzt. Zum Beispiel mit der NSA. Und die Kränkungen, von der Du sprichst, wird anhalten, solange das nicht begriffen wird.

Natürlich hat auch mich das Ausmaß der Ausnutzung dieses Kontrollverlusts durch die Geheimdienste überrascht. Natürlich stehe ich auch staunend vor dieser übermächtigen Kulisse und bekomme den Mund nicht zu. Und auch ich habe dazugelernt. Ich habe zwar nie etwas gegen Crypto gesagt aber die Wichtigkeit, jedem die Möglichkeit einzuräumen, verschlüsselt zu kommunizieren, ist mir erst seit Snowden wirklich bewusst geworden. Gleichzeitig ist mir aber auch klar geworden, dass Crypto uns nicht retten wird. Vor allem wird Crypto nicht die Idee der digitalen Vernetzung retten.

Drittens: Das heißt nicht, dass die NSA nicht bekämpft werden muss. Man sollte sich nur die richtigen Ziele setzen und die richtigen Methoden wählen. Vor allem sollte man klar ausmachen, wer der Gegner ist.

  • Der Gegner ist der Staat und nicht, wie die FAZ ständig abzulenken versucht, die Unternehmen. Jeder Geheimdienst ist ein zusätzliches Überwachungsproblem in jedem Land. Die Geheimdienste sind international vernetzt und kooperieren, wann immer es ihnen in den Kram passt. Mehr Mittel für die Geheimdienste? Not so much, lieber Sascha.
  • Natürlich kann man gegen die Überwachung ankämpfen. Es lässt sich aber meines Erachtens kein technisches oder politisches Szenario vorstellen, bei dem der Überwachung effektiv Einhalt geboten wird. Es lässt sich aber sehr wohl für transparentere Prozesse in Geheimdiensten einsetzen. Es lässt sich gut für besseren Whistleblowerschutz einsetzen. Man kann die Geheimdienste gegenüberwachen. In den USA kann man für eine Reform des unsäglichen FISA kämpfen. Es lässt sich für mehr Geheimdienstkontrolle kämpfen oder für die Beschneidung von Budges und Kompetenzen. Jeder Euro und Dollar, der – weltweit – nicht in Geheimdienste fließt, hilft die Überwachung einzuschränken oder zumindest nicht schlimmer werden zu lassen. Aber los werden wir die Überwachung nicht mehr.
  • Und deswegen werde ich nicht mit dir in den aussichtslosen Kampf ziehen, denn im Gegensatz zum Kampf gegen den Hunger, den Du als mal wieder unpassenden Vergleich anführst – der immer wieder einzelne Menschen vor dem Tod bewahrt – bringt dieser Kampf hier niemanden weiter. Im Gegenteil. Er lenkt uns ab von den Kämpfen, die nicht nur gewonnen werden können, sondern wo konkrete Freiheiten auf dem Spiel stehen: Ohne Netzneutralität werden wir die Meinungsgleichwertigkeit im Netz verlieren, die Vorratsdatenspeicherung bringt uns vielleicht wirklich das BKA ins Schlafzimmer, das Urheberrecht schränkt die Leute tagtäglich wirklich in ihren Freiheiten ein, bedroht sie nicht selten existentiell und aus Brüssel dräut noch viel schlimmeres Ungemach.

Viertens: Politik, Wirtschaft und Netzgemeinde sind also gekränkt, wie du schreibst – ich würde eher sagen: »verletzt«, denn ich will das gar nicht abstreiten. Und wie ich schrieb, werden sie immer wieder verletzt werden, solange sie mit den falschen Mitteln und den falschen Erwartungen gegen die falschen Gegner ziehen. Solange man nicht seine Strategien am neuen Spiel ausgerichtet hat, dessen erste und wichtigste Regel ist: »Man kann das Spiel nicht gegen den Kontrollverlust gewinnen.« Wer seine Strategie darauf aufbaut, den Kontrollverlust wieder eindämmen zu können, hat keine Strategie.

  • Die internationale Politik ist dem Überwachungsregime übermächtiger Geheimdienste schutzlos ausgeliefert? Geheime Absprachen funktionieren also nicht mehr? Hatten wir das nicht schon 2010, nach der Veröffentlichung der »diplomatic Cables« durch Wikileaks? Die Politik der Hinterzimmer ist vorbei! Wer sich in intransparente Verfahren begibt, ist denjenigen ausgeliefert, die sich die größten Informationsvorsprünge erschleichen können. Eine transparente Politik ist keine neue Forderung. Aber in der Zeit nach Snowden wird sie existentiell. Auch Politiker müssen transparenter werden. Ja, auch privat. Es darf nicht sein, dass Politiker durch Geheimdiensten erpressbar sind. Besser die Presse berichtet, als dass der GCHQ diese Information exklusiv hat. Ja, Politiker müssen Post-Privacy werden.
  • Die Wirtschaft wird ausspioniert? Geistiges Eigentum entwendet, internationale Ausschreibungen werden erschlichen? Dann funktionieren die Konzepte Geistiges Eigentum und internationale Ausschreibungen eben nicht mehr. Es ist ja nicht so, als sei das ein neues Problem. Die Musikbranche arbeitet sich seit fast 20 Jahren durch diesen Transformationsprozess. Die Zeitungsbranche ist mittendrin und die Buchbranche hat noch nicht ganz begriffen, dass sie ebenfalls ihre Strategien anpassen muss. Nun ist das Problem des Kontrollverlusts durch die NSA eben auch bei den Großen angekommen. Die Piraten sind diesmal nicht irgendwelche Kids mit DSL, sondern Boeing, Chrysler und Halliburton und ihr Bittorrentclient heißt NSA. Natürlich wird das zu Disruptionen führen. So lange, bis verstanden wurde, dass das Geheimhalten und Zurückhalten von Informationen, Technologien oder Verhandlungsspielräumen als Strategie nicht mehr funktioniert.
  • Auch die Netzgemeinde ist verletzt, das stimmt. Aber Du überträgst Deinen Fehler, die Überwachungsmöglichkeiten des Netzes nicht gesehen und thematisiert zu haben, auf die Netzszene. Das ist unfair. Keine gesellschaftliche Gruppe hat ausdauernder und deutlicher vor der Massenüberwachung durch digitale Technologien gewarnt. Natürlich gilt, dass das Ausmaß und die Ruchlosigkeit von niemandem korrekt eingeschätzt wurde, aber am korrektesten doch wohl von der Hacker- und Netzszene.

    Dennoch ist die Verletztheit spürbar. Besonders auf dem Chaos Communication Congress schwebte sie im Raum. Die Commmunity ist zusammengerückt. Trotz Besucherrekord war es der kuscheligste und heimeligste Kongress, auf dem ich bislang war. Auch die Talks, vor allem die über die Geheimdienste, waren getragen von einer aufbrausenden Emotionalität. Sie mündeten oft in Brandreden und pathetischen Selbstvergewisserungen. Die Hacker, so hatte ich den Eindruck, fühlen sich in ihrem ganzen Selbstverständnis angegriffen. Die Wunden liegen offen und werden einander vorsichtig geleckt.

    Das Eingeständnis der eigenen Hilflosigkeit steht aber noch aus. Die Erkenntnis wird vermutlich hart. So hart, wie sie glaubten, dass die Grundrechte seien. So hart wie man sich die »Informationelle Selbstbestimmung« vorstellte, dieses falsche Versprechen der deutschen Gesetzgebung. Diejenigen, die diese Rechte schützen sollten, sind diejenigen, die sie im Zweifel mit Füßen treten.

Fünftens und letztens: Die ganze Aktion stinkt! Schon die Vorabmeldung der FAZ macht klar, dass es hier nicht um einen Debattenbeitrag geht. Es geht um die Trophäe Sascha Lobo. »Schaut her. DER deutsche Internetguru höchstpersönlich hat die Seiten gewechselt. Hier sein Widerruf!« Du gestehst mir zu, dass sich mir bei dieser Aufführung des Gangs nach Canossa der Magen umdreht.

Es tut mir weh – ja, hier bin ich verletzt – Dich so zu sehen. Du warst mal ein Vorbild in vielerlei Hinsicht. Ein Rolemodel, ein Ideengeber und Vordenker. Ich habe Deine Autorität in Netzfragen immer wieder überall verteidigt. Aber jetzt ist Deine Emotionalität mit Dir durchgegangen und du hast Dich verrannt.

Mag sein, dass Dein Text ambivalent interpretierbar ist. Er hat aber auch nicht genügend Substanz, um sich gegen eine solche Instrumentalisierung zu wehren. Er verkommt zum Beiwerk und zum Stichwortgeber der Kampagne, mit der die FAZ ihre Agenda für ein durchreguliertes Schlandnet durchsetzen will. Und natürlich war Dir das als der absolute Medienprofi, der Du nun mal bist, auch absolut bewusst. Ein paar knallige Aussagen zum Vorabzitieren, der Rest wabert im Ungefähren.

Auch ich weiß nicht, was Du meinst, mit Deinen fabulösen Forderungen nach einem neuen Internetoptimismus. Erneuerungen von unhaltbaren Versprechen oder einen echten Neuanfang? Ich weiß nicht, was du meinst, wenn du von Dezentralisierung sprichst. Dezenztralisierung von was? Meinst Du die Renationalisiuerung des Netzes, wie Deine neuen Freunde oder wirkliche distributed Open Source-Lösungen? Welche? Und was willst Du damit erreichen?

Lieber Sascha, Du wirst in Zukunft konkreter werden müssen in Deinen Forderungen – auch damit ich sehen kann, ob wir überhaupt noch auf der selben Seite stehen.

Post-Privacy und Anti-Überwachung

Auf dem 30c habe ich einen Lightning Talk zum Überwachungsdiskurs nach Snowden gehalten: hier das Video:

Ich plädiere dafür, das Strafregime beim Kampf gegen Überwachung mehr in den Blick zu nehmen, statt immer nur den Aspekt der Beobachtung zu skandalisieren. An einer Stelle sage ich, das Strafregime sei viel entscheidender als z.B. die Verletzung der Privatsphäre. Leider konnte ich in der Kürze der Zeit den Punkt nicht richtig ausführen, sondern beließ es bei einem Beispiel. Aber mir scheint, dass dieser Aspekt einen weiteren zentralen Denkfehler beim heutigen Überwachungsdiskurs aufzeigt. Deswegen hier noch mal ausführlich.

Stellen wir uns kurz vor, die kühnsten Träume des heutigen Antiüberwachungsdiskurses bewahrheiteten sich:
Ein starker Datenschutz ist weltweit verankert. Weltdatenschützer Thilo Weichert verfügt über die Schlagkraft eines stehenden Heeres von einer Million Blauhelmen, um ihn durchzusetzen. Auch alle Geheimdienste aller Länder unterwerfen sich den strengen Datenschutzstandards.

Zudem ist Crypto auf einmal benutzbar. Es ist in jede erdenkliche Software integriert und kinderleicht zu bedienen. Es ist schwieriger nicht zu verschlüsseln, als zu verschlüsseln, deswegen ist für alle Kommunikation Verschlüsselung längst Standard. Auch die Implementierung ist sauber und die Mathematik hält noch mindestens 20 Jahre.

  • Auch in dieser Welt würde Trojanow an der Grenze der USA abgewiesen werden, für das was er öffentlich sagt.
  • Auch in dieser Welt würde ein »Osama« kein Sparkassenkonto erhalten, denn die Bank braucht nun mal den Namen für ein Konto.
  • Auch in dieser Welt gäbe es Racial Profiling. Hautfarbe ist halt nicht privat.
  • Auch in dieser Welt kommt man wegen falschem Namen auf die Noflyliste.
  • Auch in dieser Welt würden die britischen Touristen für den Scherz darüber, Marilyn Monroe auszugraben und Amerika zu zerstören, deportiert werden. Man kann der NSA ja nicht verbieten Twitter zu lesen.

Das sind alles Beispiele, die gerne von Überwachungsgegnern ins Spiel gebracht werden. Das Narrativ, dass es beim Kampf gegen Überwachung immer um die Privatsphäre ginge, hat sich so sehr in die Köpfe eingebrannt, dass ihre Protagonisten gar nicht merken, dass ihre Beispiele schon lange nichts mehr mit Privatsphäre zu tun haben.

Wir leben in einer Welt, in der eine Menge Informationen öffentlich sind, die früher privat waren oder vielleicht nur eine kleine Öffentlichkeit hatten. Und diese Dinge sind nicht aus Versehen öffentlich, sondern weil die Leute das so wollen, weil sie sich nicht verstecken wollen, für das, was sie sind. Politische Meinungen, derbe Scherze, sexuelle Präferenzen, Hautfarben, das sind Identitäten, die gelebt werden wollen. Auch öffentlich. Und das ist gut so. Und ja, auch dann sollten diese Menschen nicht deswegen diskriminiert werden.

Ist eine Diskriminierung wegen einer politischen Meinung, Herkunft oder sexuelle Präferenz weniger schlimm, wenn sie einem Tweet statt einer eMail entnommen wurde?

Die Überwachungsgegner haben von Post-Privacy lange nichts wissen wollen. Es darf nicht halt sein, was nicht sein darf. Störe meine Kreise nicht. Aber ein Antiüberwachungsdiskurs, der Post-Privacy nicht mitdenkt, wird höchstens ein paar Alunerds ein bisschen freier machen. Für den Rest gilt das Gegenteil. Wenn wir nur die Privatsphäre stärken (als ob das möglich wäre), würden wir die Leute dazu nötigen, ihre Informationen und Identitäten wieder ins Private zu verlagern, um nicht diskriminiert zu werden. Das wäre ebenso schlecht für Pluralismus und Demokratie, wie die Überwachung selbst. Ja, man könnte sagen: dann hat die Überwachung gewonnen.

Wenn wir nicht eine Welt als Ziel haben, wo Menschen auch öffentlich ihre Meinung sagen oder irgendwelche Attribute über sich veröffentlichen können, dann hat dieser ganze Kampf gegen die Überwachung keinen Wert.

Nicht nur, dass die Idee eines großen Comebacks der Privatsphäre illusorisch ist, nicht nur, dass die Privatsphärennarrative im Überwachungsdiskurs alle nicht mehr funktionieren, das, wofür die Überwachungsgegner kämpfen, wäre sogar ein gesellschaftlicher Rückschritt.

Wenn wir Überwachung bekämpfen wollen, müssen wir an die Strafregime ran. Wir müssen die Möglichkeit der Diskriminierung überall bekämpfen, wo wir sie finden. Gegen den Staat, gegen die Geheimdienste, gegen die Strukturen in der Gesellschaft und ja, manchmal gegen uns selbst. Das geht aber nicht mit Crypto und Datensparsamkeit, sondern mit Aufklärung, Vernetzung und Transparenz.

(Wer mein Buchprojekt unterstützen möchte, bei dem es unter anderem über dieses Thema geht, kann das noch bis Ende des Monats hier tun: http://www.startnext.de/ctrlverlust/)

What’s Next – Kunst nach der Krise

2013-12-14 21.16.33Gestern erschienen, heute schon in der Hand: Der Reader „What’s next? – Kunst nach der Krise“. Herausgegeben von Johannes M. Hedinger und Torsten Meyer. Was ein dicker Wälzer! Es versammelt Autoren wie Peter Sloterdijk, Bazon Brock, Hannah Arendt, Jospeh Beust, Holm Friebe, Dirk von Gehlen und Karl Marx! Und mich! HAHA!

Dazu gibt es eine Website, die eine Art queryologische Superstruktur zum Buch bildet. Alle Autoren und Texte finden sich in einer Datenbank mit einigen zusätzlichen Dokumenten und Informationen repräsentiert und sind on-, wie offine wechselseitig verlinkt. Eine interessante Art die Vorteile des Digitalen mit dem Analogen zu verbinden, finde ich.

Das Netz – Der Jahresrückblick von iRights

001_Titel_irights2013_opt-280x371-1Die Zeit der Jahresrückblicke beginnt und diesmal habe ich auch was beigesteuert. Bei iRights.info wurde heute der Jahresrückblick-Reader veröffentlicht mit Beiträgen von Sascha Lobo, Constanze Kurz, Dirk von Gehlen und vielen anderen. Natürlich geht es viel um den Snowdenschock. Mein Beitrag befasst sich mit der Krise der Netzszene, Gedanken, die ich unter anderem in diesem Blog über mehrere Wochen um die Bundestagswahl herum entwickelt habe. Statt nur das Jahr lasse ich die vergangene Legislaturperiode – angefangen von den Netzsperrenprotesten bis zu Snowden – Revue passieren; eine Zeit, die man wohl rückblickend als die Ära der Netzpolitik fassen wird. Ich stelle die Fragen, die jetzt dringend werden. Wie kann sich die Netzszene wieder an die Probleme der Menschen annähern? Wie kann man den Anti-Überwachungsdiskurs wieder in sinnvolle Bahnen lenken? Gut, ich gebe keine Antworten. Noch nicht. Aber ich hab’s auf dem Zettel.

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3 Termine für den Winter

November:

Am 30. November, also schon am SAMSTAG!! (Oh mein Gott! Jetzt aber schnell!) findet die Konferenz NETZKULTUR statt. Mit dabei sind meine Lieblingsnetzphilosophen Frank Schirrmacher und Rangar Yogeshwar, aber auch Juli Zeh und andere coole Leute. Und ich. Ich werde um 15:00 Uhr im Oberen Foyer ein bisschen was zu Kultur und Überwachung erzählen, also wie sich der Überwachungsdiskurs so kulturell entwickelt hat und wo er sich hin entwickelt. Eigentlich wird es mehr ein Gespräch werden, gemütliche Runde mit Fragen und allem. Das ganze wird bei den Berliner Festspielen, Schaperstraße 24 in Berlin stattfinden. Hier geht es zum Facebookevent, hier zur Website.

Dezember:

Am Samstag 14. Dezember wird das Buch „WHAT’S NEXT? Kunst nach der Krise“ vorgestellt, das viele künstlerische und theoretische Texte über die Zukunft der Kunst versammelt. Dafür habe ich auch einen Beitrag geschrieben und werde deswegen mit dabei sein (ohne aktive Rolle allerdings) – in der in der Denkerei (Oranienplatz 2) von 16:00 bis 19:00 Uhr. Hier geht es zur Website, auf der aber wohl erst ab Dezember wirklich was zu sehen ist.

Januar:

Am 23. Januar um 16:00 Uhr veranstaltet die Bonner Hochschulgruppe der Friedrich Ebert Stiftung in ihren Räumlichkeiten eine Prodiumsdiskussion unter dem Arbeitstitel „Privacy is an Illusion? – Snowden-Leaks und die Konsequenzen„, bei der ich ebenfalls mitdisktutieren werde. Ich kann nicht sagen, wie weit die Planung fortgeschritten ist, es kann sich also noch einiges ändern. Aber freihalten kann man sich den Termin ja schon mal.

Allgemein:

Zum Schluss: Ich hab mal einen abonnierbaren Googlekalender angelegt:  msprotermine -> XML – iCal – HTML

Anschluss und Ausschluss

Alice Schwarzer, so war gerade in der FAZ zu lesen, sei deswegen nach wie vor die zentrale Leitfigur des Feminismus in Deutschland, weil der Nachwuchs einfach nichts einstecken könne. Kaum bekämen die jungen Dinger neuen Feministinnen Gegenwind, zögen sie sich zurück. Alice mag dagegen zwar einen anachronistischen Feminismus vertreten, aber immerhin habe sie Sitzfleisch.

Ich mag dem Artikel nicht zustimmen, obwohl die anhaltende Dominanz von Schwarzer natürlich eine richtige Beobachtung ist. Ich habe dazu aber eine andere Erklärung:

Alice Schwarzer ist Teil einer strukturellen Gesamtheit, die man vielleicht am ehesten als „Altherren und (ein bisschen) -Damenclub der Medienelite“ nennen könnte. Das sind alte, bisweilen sehr alte Menschen (Babyboomer aufwärts), die sich bereits in den Zeiten der guten alten BRD rekrutierten und seitdem als Gesamtgefüge ein mittlerweile perfekt eingespieltes Kammerspiel darbieten, das man unvorsichtiger Weise mit „Diskurs“ verwechseln könnte.

Man sieht sie sich in Talkshows streiten, in Feuilletondebatten duellieren und die Parteien als Spitzenpolitiker an den Realitäten vorbei führen. Sie kennen sich untereinander, ihre Positionen und ihre jeweilige Rolle im Zirkus oft seit mehreren Jahrzehnten, weswegen die Choreographie so wunderschön ineinander greift. In dieser Struktur haben es Neuankömmlinge schwer. Vor allem, wenn ihre Thesen und Ansätze aus irgendwelchen Gründen aus dem Raster fallen. Und das Raster ist sehr eng in einem Spiel das aus rituellen Konfrontationen der immer gleichen Akteure und entlang der immer gleichen Demarkationslinien gespielt wird.

Wenn, wie zu der #Aufschrei-Zeit des häufigeren passiert, doch mal jemand Neues dazwischen sitzt, wirkt sie/er wie ein Fremdkörper. Die anderen Talkshowgäste wissen weder etwas gegen, noch wirklich für diese merkwürdigen, neuen Positionen zu sagen, die oft außerhalb der gewohnten Diskursformationen verlaufen, weswegen die Debatten schnell wieder in bekannteres Terrain zurückgeroutet werden: „Ist Brüderle nun ein notgeiler, alter Sack und wie schlimm ist das eigentlich?

Alice Schwarzers Feminsimus ist rückschrittlich. Sie hat all die Debatten um Intersektionalität, Consent Culture und Feminismus im Kontext des Kapitalismus schlicht nicht in den Ihren integriert und zieht ihre Konfliktlinien deswegen dort, wo von den Beteiligten längst eine viel differenziertere und aufgeklärtere Debatte geführt wird. Mit ihrer Unterkomplexität und Undifferenziertheit produziert sie ständig Ausschlüsse gegenüber Musliminnen, Sexarbeiterinnen, Fetischliebhaberinnen und anderen Menschen, deren Selbstbestimmung sie nicht anerkennt.

Schwarzer ist unterkomplex und undifferenziert und deswegen auch gleichzeitig total anschlussfähig. Ihr Feminismus ist einfacher, weniger erklärungsbedürftig und deswegen Talkshowtauglich. Zudem blickt ihre Art des Feminismus auf einige Jahrzehnte Aufkläungsarbeit (Talkshowauftritte) zurück und ist deswegen angekommen in der Gesellschaft. Ihre grundsätzlichen Thesen sind bekannt und anerkannt, was die (sowohl zustimmende als auch ablehenende) Anschlussfähigkeit zusätzlich erhöht. Jeder hat eine Position zu Schwarzers Feminismus.

Und dass trotz der Antiquertheit ihrer Ansätze auch die von ihr aufgemachten Konfliktlinien weiterhin anschlussfähig sind, liegt daran, dass sie Teil dieses sich ständig selbstbestätigenden Gesamtgefüges in den Medien ist. Da auch die anderen Talkshowgäste in der Mehrzahl aus der Zeit stammen, in denen diese Konfliktlinien relevant waren, können sie die idealen Counterparts spielen. Indem ihr Karasek und andere Altherrenwitzler gegenübergesetzt werden, können sie gemeinsam für die Kameras das alte Spiel der alten Feindbilder reproduzieren, als hätte sich die Welt die letzten 30 Jahre nicht weiter gedreht. Alles greift ineinander, Argument und Gegenargument, Zote und Beispiel. Und vor allem das Publikum verliert dabei nie den Anschluss, ist mal auf der einen, mal auf der anderen Seite aber niemals überfordert. Außer wenn da so ein junges Ding irgendwas von diesem „Twitter“ erzählt. Aber das geht ja schnell vorbei.

* * *

Eine Zeitlang sah es so aus, als ob es die Piraten und andere Netzmenschen schaffen könnten, eine Schneise in diese eingeschleifte Struktur zu schlagen. Mit dem politischen Erfolg der Piraten sah man deren Repräsentanten als junge Vertreter ihrer Generation häufiger in den Talkshowsesseln sitzen und mit der zunehmenden Relevanz des Internets konnten beispielsweise Markus Beckedahl und Sascha Lobo oftmals den Interneterklärbären spielen und dabei netzpolitische Anliegen vermitteln.

Es deutet aber vieles darauf hin, dass dieser Vorstoß vorerst – zumindest gedämpft wurde. Und zwar ausgerechnet von der Späh-Affaire.

Das zum Wahlkampf immer wieder hervorgeholte Narrativ, dass die Affaire ja ein Elfmeter mit Rückenwind für die Piraten sei, die als die digitale Bürgerrechtspartei quasi der natürliche Ansprechpartner in diesen Angelegenheiten sei, muss angesichts des Wahlergebnis gründlich revidiert werden. Vielmehr ist das Gegenteil eingetreten.

In dieser lesenswerten Analyse zur Bundestagswahl der Bundeszentrale für politische Bildung wird das wirkliche Narrativ, das schließlich beim Wähler ankam, so ausgedrückt:

„Denn die Piraten sind nicht dafür angetreten, bürgerliche Freiheitsrechte im digitalen Zeitalter zu verteidigen, sondern dafür, die Gesellschaft weiter zu digitalisieren – und dies schien, nachdem die Unsicherheit jeglicher digitaler Daten bekannt geworden war, nicht das gewesen zu sein, was sich die Bürger gewünscht haben.“

Die Piraten mit ihrer offensiv zur Schau gestellten Affinität zum Digitalen wurden viel mehr als Teil des Problems angesehen. Die NSA-Affaire hat nicht den Wunsch nach Sachverstand und Kernkompetenz geweckt, sondern lediglich den Verdacht bestätigt, dass das alles Teufelszeug ist, das mit den Daten und dem Internet. Statt „das Digitale ist da, wie können wir es verantwortungsvoll nutzen?„, zu dessen Beantwortung die Piraten angetreten waren, fragten die Leute: „Ist digital nun gut oder böse?“ – eine Frage auf die die Piraten keine eindeutige Antwort geben.

Diese jungen Leute können das halt nicht mit dem „Einfach„. Und genau deswegen musste auch hier wieder die alte Garde ran. Schirrmacher und Yogeschwar sind deswegen die neuen Netzpolitik-Erklärbären, weil sie, bezogen auf die Fragestellung der Bevölkerung „Ist digital nun gut oder böse?“, deutlich anschlussfähiger sind.

Auch ihre Lösungsstrategien „Facebook verbieten!“ und Schlandnet sind ebenfalls viel besser vermittelbar, als das achselzuckende „Krypto ist wichtig und die Politik muss dringend irgendwie handeln“ der Piraten und Netzaktivisten. Und deswegen ist der Netzpolitikdiskurs der Netzgemeinde und den Piraten entglitten und hat Eingang gefunden in die Strukturen der etablierten Medienelelite. Netzpolitik wird nun endlich mit ungeahntem Erfolg in die Mitte der Gesellschaft getragen, nur halt nicht von uns. Dem Yogeschwar kann man so gut zuhören, er ist so klug und weiß auf alles eine Antwort, die mir in den Kram passt. Warum also nicht auch in Sachen Netzpolitik?

Anschlussfähigkeit roulez und das Fernsehen bestimmt, was das ist. Die Netzpolitikdebatte ist zu wichtig, als dass sie von uns medienunerfahrenen und fernsehuntauglichen Totaldifferenzierern geführt werden darf. Und so wie Schwarzer immer noch für alles, was es zum Feminismus zu sagen gibt, steht und ein 75jähriger Götz George eine neue Actionserie bekommt, wird der Netzpolitikdiskurs von nun an von altgedienten Fernseh- und Zeitungsmenschen bestimmt, die ja gleich gesagt haben, dass das alles ein Holzweg ist.

* * *

Der implizite Vorwurf an die Netzgemeinde, sie sei abgehoben (was ja nichts anderes als mangelnde Anschlussfähigkeit meint) ist aber durchaus berechtigt. Das gilt nicht nur dem Fernsehen, sondern auch den jungen Bewegungen im Netz selbst gegenüber. Der Trend der Digital Natives, sich weniger durch kluge Wortbeiträge, als durch fotografische Selbtdarstellungen („Seflie„) zu profilieren, wird aus unserer Filterbubble gerne herablassend belächelt. Mit #Shelfie poppte nun ein Twitter-Mem mit ironischer Referenz dazu auf, das aber dazu aufforderte statt des eigenen Gesichts, das eigene Bücherregal (englisch: „shelf“) zu präsentieren. Diese klare Abgrenzungsbewegung gegen das Gebaren der jungen Nutzer ist ohne Frage snobistisch und bis ins peinliche Bildungsbürgerlich. Oder auch „klassistisch„, wie miinaaa und schließlich antiprodukt einwarfen.

Klassismus bezeichnet eine dem Sexismus und Rassismus nicht unähnliche Struktur der tagtäglichen Reproduktion von Vorurteilen und gesellschaftlichen Machtungleichgewichten durch Abgrenzung der jeweils Privilegierten. Das Diskriminierungsmerkmal ist hier nur die Klasse, also die sozioökonomischen Umstände der eigenen Herkunft. Von den Privilegierten wird eine symbolische Grenze oder eine Grenze anhand von Symbolen gezogen, die ausdrücken sollen, dass man sich als etwas besseres betrachtet, als der ungewaschene und geistlose Pöbel auf der anderen Seite. Eine solche Abgrenzungsbewegung und damit Ausschluss ist bei #shelfie ohne Frage zu unterstellen. Jedoch drängt sich bei dem Vorwurf sofort auch ein Re-Entry auf: ist der „Klassismusvorwurf“ nicht ebenfalls eine bildungsbürgerliche Abgrenzungsbewegung?

Eine Information ist immer dann anschlussfähig, wenn man bereits das Wissen hat, an das die Information sich knüpfen kann. Das muss kein „richtiges“ Wissen sein, auch Rassismus ist ein Wissen das Anschlussfähigkeit gewährleistet – für Rassismen. Wissen ist sehr unterschiedlich verteilt und diese Ungleichverteilung führt in der Massenkommnunikation immer auch zu Ausschlüssen. Dass die Piraten nicht mit ihrer Expertise in Netzfragen gehör finden, liegt daran, dass ihre Fragestellung ein Wissen und eine Akzeptanz des Netzes vorraussetzen, das in der Breite der Bevölkerung schlicht nicht vorhanden ist. Dass die neuen femistische Bewegungen sich so schwer gegen Schwarzer durchsetzen können, liegt daran, dass sie ihr Wissen über Diskriminierung und deren strukturelle Ursachen auf ein Niveau gehoben haben, bei dem die meisten Leute nicht mehr mitkommen. Und wenn der Klassismusvorwurf fällt, fällt er nicht – nicht mal in unserer Filterblase – nur auf bourdieugeschulte Ohren. Auf einmal finden sich Leute mit einem Vorwurf konfrontiert, den sie gar nicht verstehen, nicht verstehen können, weil ihnen das Vorwissen fehlt. So produziert der Klassismusvorwurf paradoxer Weise selbst Ausschlüsse. Er besagt implizit (und sicher ohne es zu wollen): „Ich hab da ne Theorie mehr gelesen als Du und kann Dir deswegen das Fachwort Deiner moralischen Verfehlung an den Kopf werfen und wenn Du das nicht kapierst, dann lies das halt nach!

Eine unauflösbare Aporie der Theorie des Ausschlusses ist, dass je ausgefeilter und weiter entwickelt sie ist, sie selbst dazu neigt, auszuschließen. Das macht sie nicht falsch oder weniger legitim. Sie muss aber den Akt ihrer eigenen Ausschlussbewegung stets mitreflektieren, wenn sich sich nicht in Selbstgerechtigkeit ergehen will.

* * *

Informationen erzeugen immer beides: Anschlussfähigkeit und Ausschlüsse und da wir in einer Welt leben, in der die Informationen sich in einem so rasanten Tempo vermehren, werden die Anschluss-/Ausschlussbwegungen noch für viele weitere Konflikte sorgen. Ich habe das vor einiger Zeit in meinem Vortrag „Why we fight (each other)“ (Video) zu fassen versucht. Eine der Thesen war, dass die Post-Privacy (hier verstanden als der Trend, traditionell eher private Information nun öffentlich zu verhandeln) eine der Triebherde der ständigen Streitereien im Netz sind. Ich bediene mich hierfür einer These von Clay Shirky, dass verbesserte Medientechnologien, statt den erhofften Weltfrieden zu bringen, stets „more Ideas to disagree with“ gebracht hätten, also Gründe sich zu streiten. Und es sind ja nicht nur Ideen, sondern auch Verhaltensweisen, Alltagsrassismen, unsolidarisches Tun oder schlicht dumme Sprüche, „to disagree with„. Durch die stärkere Vernetzung und der Referenzierbarkeit jeder einzelnen dieser kommunikativen Handlungen brodelt es nur noch so vor Ein-, An- und Ausschlüssen und den jeweiligen Aufgeregtheiten darüber und den Aufgeregtheiten über die Aufgeregtheiten und so weiter.

Sanczny jedenfalls fühlt sich bei der Post-Privacy als realer Praxis immer stärker ausgeschlossen. Denn all die Handlungen, die unreflektiert dokumentiert und veröffentlicht werden zeugen oft – nicht nur bei den eigenen Bücherregalmetern – von den jeweiligen Privilegien ihrer Uploader. Das gilt nicht nur für das gefahrlose Öffentlichmachen der Informaltionen selbst (ein alter und berechtigter Vorwurf an die Post-Privacy), sondern auch für das dargestellte selbst: der eigene Urlaub, das eigene tolle Sozialleben, mein Haus, mein Auto, meine heteronormative Beziehung. Und Flausch. Auch die zunehemend öffentlich ausgelebte Zuneigung untereinander produziert soziale Ausschlüsse. Es gibt Menschen, die von vielen Zuneigung bekommen und welche die gar keine bekommen. Einsamkeit verschlimmert sich bisweilen in dieser Aufmerksamkeitsökonomie, weil sich die Diskrepanzen deutlicher darstellen, einem sogar aufgedrängt werden. Die neue Transparenz erhöht den Sozialdarwinismus am Liebesmarkt.

Aber sollen Inhaber gut gehender Privilegien nun aus Solidarität auf Öffentlichkeit verzichten? (Siehe Knutschdiskussion). Kann Unsichtbarmachung von Ungleichheit überhaupt eine Lösung für irgendwas sein?

Vermutlich werden die Ausschlussbewegungen auch in Zukunft noch zu viel Reibereien führen und vermutlich wird man Filtersouveränität – auch wenn sie, wie Sanczny zurecht einwirft, niemals einen perfekten Schutz bieten wird – durch immer weitere Saturierung und Rückzug in die eigene Filterblase herstellen. Wir werden uns Anhand anhaltender Ein- und Ausschlussbewegungen immer weiter differenzieren und spezialisieren, denn wir brauchen ein Umfeld das wahlweise weiß, was Klassismus ist oder wahlweise lieber mit Büchern statt mit Makeup prahlt (oder andersrum), wo man flauscht oder es ein Flauschverbot gibt, wo man das Netz ablehnt oder nur die NSA darin – kurz: wo wir uns verstanden fühlen und uns nicht ständig erklären müssen, sondern nur jedes zweite Mal.

All das wird unser aller Talkshowfähigkeit nicht gerade zu gute kommen, aber dann sind wir eben viele einzelne Parallelwelten, so wie die Talkshowwelt ja selbst eine ist. Und so leben wir nebeneinander her und versuchen verzweifelt uns gegeneinander abzugrenzen oder zu ignorieren, die Clashes werden nicht aufhören, aber seltener und unsere Shitstorms werden ausgesuchter (hoffentlich).

Eine Utopie? Nö. Aber vielleicht funktionabel.

Jung & Naiv

Tilo Jung hat mich zu Privatsphäre und Kontrollverlust befragt. Für mich die Herausforderung das mal so allgemeinverständlich wie möglich zu formulieren: