Fünf beunruhigende Fragen an den digitalen Kapitalismus (Directors Cut) | ctrl+verlust

Für die Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung „Zu Politik und Zeitgeschichte“ (APuZ) habe ich meinen Vortrag über den digitalen Kapitalismus vom vom letzten Herbst verschriftlicht. Aus Platzmangel wurde er rund um die Hälfte zusammengekürzt, auch wenn die Grundaussage gut erhalten blieb. Dennoch erlaube ich mir hier nun die Directors Cut Version zu posten, für alle, die gerne noch ein paar mehr Argumente hören möchten, warum der digitale Kapitalismus vielleicht not so much ein Kapitalismus ist. Die APuZ kann man hier runterladen oder bestellen.

Kurz: Wachstum bedeutet nichts gutes in der digitalen Ökonomie. Der Nutzen von Wachstum ist negativ und mindert die Wohlfahrt der Gesellschaft. Diese Erkenntnis sollte unser ganzes politisch-ökonomisches Denken umstellen. Wir sollten also aufhören, Wachstum als Ziel zu setzen und wir sollten Politiker/innen ausbuhen, die uns Wachstum versprechen.“Digital Degrowth” wäre nicht wie die ökologische Degrowth-Bewegung eine Verzichts- und Selbstgeißelungs-Religion oder eine aus der Not heraus geforderte Zurückhaltung, sondern ein Programm von dem alle profitieren. „Lasst uns das Bruttoinlandsprodukt senken und so die Konsumentenrente hochdrehen, damit alle was davon haben!“

Quelle: Fünf beunruhigende Fragen an den digitalen Kapitalismus (Directors Cut) | ctrl+verlust

Rezo: Warum CDU?

Weil ich gerade über dieses schöne Projekt des Merkur gestolpert bin und dabei feststellte, dass auch mich das Rezo-Video immer noch nicht loslässt, wollte ich hier nur ein paar Gedanken dazu niederschreiben, die etwas zu lang für Twitter wären.

Erster Gedanke

Ich habe mich bei dem Video tatsächlich ertappt gefühlt. Nicht, dass ich in der CDU wäre oder gar nur je erwägt hätte, sie zu wählen. Aber der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoß war; „Hä? Wieso die CDU??

Hintergrund: Mein Twitterstream besteht zu ca. ein Drittel aus SPD-hate. Natürlich kritisere ich auch die CDU, aber die muss sich da schon ungefähr 10 mal so sehr ins Zeug legen, damit ich gegen sie was sage. Warum? Weil ich die CDU heimlich viel toller finde, als die SPD?

Eben nicht. Ich halte von der CDU rein gar nichts. Ich halte von ihr so wenig, dass ich noch nicht mal irgendwas von ihr erwarte. Klar, wenn sie rassitische Ausfälle hinlegt, oder wieder mal in irgendeinen Spendenskandal verwickelt ist, dann hau ich da auch drauf. Legalität und einen gewissen Grundkonsens menschlichen Anstands erwarte ich auch von der CDU – aber darüber hinaus? Kompetenz? Ehrlichkeit? Integrität? Gar eine gute Politik? No way!

Mit anderen Worten: Von Rezo fühlte ich mich in meinem Zynismus ertappt. Über die Dinge, über die er sich (zu recht) aufregt, habe ich mich schon lange aufgehört aufzuregen. Und ganz vor allem habe ich schon lange aufgehört, von der CDU ein Mindestmaß an politischer Kompetenz oder gar Integrität zu erwarten. Ich habe die CDU aufgegeben.

Zweiter Gedanke

Umso mehr muss einen die Reaktion der CDU auf das Video erschüttern. Rezos Video war – viel mehr als mein Genöle oder der Großteil der normalen Berichterstattung – ein echtes, ein ehrliches Gesprächsangebot. Rezo hat in seinem Video – auch das wäre zu thematisieren – die CDU tatsächlich ernst genommen. Er hat sie beim Wort genommen und gezeigt, wie sie an ihren eigenen Ansprüchen scheitert. Rezo war zu dieser Zeit nicht verloren für die CDU – das zeigt sein Video sehr klar. Und Anngret Kramp-Karrenbauer hat – wie man aus ihrer katasprophalen Pressekonferenz entnehmen kann – sich nicht mal die Mühe gemacht, das Video überhaupt anzusehen. Was für eine verrottete Arroganz; was für eine Bankrotterklärung!

Dritter Gedanke

Es war genau dieser entwaffenende Nicht-Zynismus Rezos, der das Video (und zwar völlig egal, welche medientheoretische Einordnung man hier treffen will) so erfolgreich gemacht hat. Seine Haltung war mit Sicherheit repräsentativ für einen Großteil der #FridaysForFuture- und Artikel13-Generation und war deswegen dort wahnsinnig erfolgreich, ABER: darüber hinaus hat es auch bei Leuten jenseits dieser Kohorten etwas aufgebrochen – so wie es bei mir etwas aufgebrochen hat. Es hat die Möglichkeit wieder ins Bewusstsein gerufen, dass man noch etwas erwarten kann – und sollte – von der Politik – und ja, sogar von der CDU. Es hat klar gemacht, dass der Zustand, in dem die Republik seit mindestens 10 Jahren vor sich her döst nicht normal ist und wir ihn nicht akzeptieren sollten.

Vierter Gedanke

Ich habe mir immer zum Ziel gesetzt, möglichst offen zu bleiben, zu lernen, mir intellektuelle Möglichkeiten nicht durch zunehmende Borniertheit im Alter zu verbauen. Ich musste an Rezo feststellen, dass mir das nicht gelungen ist. Egal, wie man sich anstrengt, man passt sich Erwartungen an, man hört auf zu träumen und zu fordern – mir ist das jedenfalls passiert. Ich bin zynisch und vielleicht sogar ein bisschen verbittert geworden. Aber ich arbeite wieder dran.

Und gottseidank kommt da ja eine Generation nach mir.

Politik und Open Source

Die Rolle von Open Source ist eine nicht ganz neue Arena in der politischen Diskussion um Digitalisierung, aber meines Erachtens eine entscheidende. Deswegen hatte ich vor einiger Zeit versucht, da neue Impulse zu setzen, die zumindest von manchen dankbar angenommen wurden. Unter anderem auch deswegen war ich zu einem spannenden Streitgespräch von T3N und irgendwie auch IBM eingeladen. Ich habe mein bestes gegeben, meinen Punkt verständlich zu machen und ein bisschen gegen Politik und Unternehmen zu pöbeln. Mit mir diskutieren Stephan Dörner, Saskia Esken, Peter Ganten und Stefan Pfeifer. Viel Spaß!

Analyse eines Schnellschußes

Ich habe gestern einen Fehler gemacht. Ich habe etwas gemacht, was ich anderen gerne vorwerfe. Ich habe aufgrund von unvollständigen Informationen geurteilt und ich glaube, ich habe dadurch Leuten unrecht getan.

Ich will meinen Fehler hier analysieren, nicht um ihn zu rechtfertigen, sondern um mich zu entschuldigen und als Lehrstück, wie man (also vor allem ich) solche Fehler in Zukunft vermeidet.

Zu dem Zeitpunkt, an dem ich den Tweet geschrieben hatte, stellte sich die Situation wie folgt dar: Das Strache-Video war herausgekommen und natürlich fand ich das erstmal prima. Man kann über die Wirkung solcher Enthüllungen streiten, aber erstmal ist es etwas Gutes, wenn sowas ans Licht kommt.

Verwundert war ich wie viele über den Zeitpunkt. Erst zwei Jahre nach der Aufnahme gelangt es an die Öffentlichkeit. Wer hatte es vorher? Wer hielt es zurück? Ist der Zeitpunkt der Veröffentlichung politisch bestimmt? Von wem? Mit welchem Ziel? Ich denke das sind relevante Fragen und ich bin sicher nicht der Einzige, der sie sich gestellt hat.

Dann wurde ich aufmerksam auf die Tweets über Jan Böhmermanns anscheinend über längere Zeit andauernde Eingeweihtheit in den Publikationsprozess. Böhmermann hat mitte April bereits als Scherz den gesamten Inhalt des Videos zusammengefasst, ohne dabei sein Wissen als solches zu markieren. Seine Worte ergeben erst in der Rückblende sinn. Zudem machte er in seiner Sendung am Vortag der Veröffentlichung eine Andeutung zur Veröffentlichung, die ebenfalls verwunderte.

All das kann zu recht stutzig machen. Aber aus diesen paar Informationen zog ich voreilige Schlüsse:

1) Ich zog daraus den Schluss, dass Böhmermann teil einer halböffentlichkeit sein müsse, ein exklusiver Kreis von Leuten, die sich seit geraumer Zeit und mindestens einen Monat über das Video austauschen.

2) Ich zog außerdem den Schluss, dass es sich um eine journalistische Halböffentlichkeit handeln muss, denn es waren Journalisten, die das Video letztendlich veröffentlichen. Und auch wenn man darüber debattieren kann, ob Böhmermann selbst als Journalist gelten kann, darf man davon ausgehen, dass er sich viel im journalistischen Milieu bewegt, dort gut vernetzt ist.

3) Ich zog also folgenden vorschnellen Schluss: Eine exklusive, eingeschworene (nienmand leakt) Halböffentlichkeit aus Journalist/innen hält über mindestens vier Wochen (wahrscheinlich deutlich länger) ein Video zurück, um es zu einem bestimmten Zeitpunkt zu veröffentlichen. Dieser Zeitpunkt schien die Europawahl zu sein. Weil: Biggest Impact.

Ich fand meine Schlussfolgerung in dem moment selbst so weitreichend, dass ich vorsichtshalber formulierte: „der eindruck, dass journalisten eine verschworene kaste sei, die informationen beliebig zurückhält oder plaziert, ist hier schwer widerlegbar.“

Im Laufe des Abends bekam ich zusätzliche Informationen, die meinen Eindrücken widersprachen. Ich erfuhr über den Publikationsprozess durch die SZ. Ich erfuhr, dass Böhmermann einfach auch einer von denen war, dem die Quelle das Material angeboten hat. UPDATE: Herrje. informationen veralten so schnell dieser Tage. Zumindest der Vorwurf einer exklusiven, journalistischen Halböffentlichkeit scheint doch noch nicht ausgeräumt zu sein, laut Spiegel Online. Ach, ach.

Es gibt immer noch Fragen und einige Dinge wirken immer noch … merkwürdig. Auch kann man darüber diskutieren, ob Böhmermann irgendjemandem außer seinem Ego mit diesen Halb-Leaks (hihi, ich weiß was, was ihr nicht wisst) einen Gefallen getan hat.

Aber egal, wie sich die Sache nun konkret abgespielt hat: Ich hatte unrecht. Ich habe den Fehler gemacht, unvollständige Informationen zu einem Narrativ zusammenzuspinnen, das mir schlüssig erschien. Und ich habe den Fehler gemacht, diese Interpretation statt sie mir nur zu denken, gleich herumposaunt zu haben.

Ich bin damit einigen Journalisten auf die Füße getreten und habe den Journalismus als Ganzes zu unrecht in ein fahles Licht gestellt. Dafür möchte ich hier um Entschuldigung bitten.

Die Tweets mit den Fehlinterpretationen habe ich gelöscht, damit sie sich nicht weiter verbreiten.(Ich kam erst jetzt dazu, da ich das ganze WE auf einem Blockseminar war)

Claiming Common Spaces II

Mein Text: „Die Geschichte der Digitalisierung in fünf Phasen“ wurde von Forum Freies Theater in einer gekürzten und einer in Englische übersetzen Version als PDF veröffentlicht.

Das hat allerdings auch den Grund, dass ich am 25. Mai dort im Rahmen der Veranstaltung „Claiming Common Spaces II“ über Commons spreche werde. Wer in Düsseldorf ist, bitte vorbeikommen.

There is no English word for “Digitalisierung”. Instead, one speaks of “technology”, “artificial intelligence” or “innovation”, also addressing different topics and various de- bates each time. In Germany, the term em- braces all those processes of structural ad- aptation that the introduction of digital technology into our everyday lives entails.
Link: https://produktionshaeuser.de/wp-content/uploads/2019/04/CCSII_Magazin.pdf?x68854

(2) re:publica 2019 – Twitterlesung – YouTube

Dank @HappySchnitzel gab es dieses Jahr wieder eine Twitterlesung auf der re:publica. Ich war dabei, @HappySchnitzel – aufgrund von Krankheit – leider nicht. Es war trotzdem schön, mit der alten Band wieder aufzutreten und ein paar alte Hits haben wir auch gespielt.

Das Video findet ihr hier.

Passend zum Motto „too long, didn’t read“ lesen Tina Pickhardt, Sue Reindke, Michael Seemann, Dirk Baranek, Björn Grau und einige bisher geheime „Influencer“ wieder Tweets vor. Geeignet für alle, die zu faul zum Selbstlesen sind oder in einer großen Gruppe nachdenken, lachen und weinen wollen; hier ist für alle was dabei.

Wikipedia: Das Wissen der Welt, demokratisch

Die NZZ greift meine Wikipedia-Analyse auf. Lesenswerter Text.

Der Kulturwissenschafter Michael Seemann verwies kürzlich auf die seit 2007 stark gewachsene Bedeutung von Social-Media-Plattformen wie Facebook oder Twitter. Auf ihnen sei es einfacher, sein Wissen mit einem Publikum zu teilen, und zwar jenseits von langwierigen, auf Belegen basierenden und eher anonymen Editionsprozessen: «Auf sehr nachvollziehbare Art ist das sehr viel attraktiver, als sich mit Wikipedia-Admins rumzuschlagen.»

Quelle: Wikipedia: Das Wissen der Welt, demokratisch

Handyvideos: Die Allzweckwaffe der Generation Instagram | PROFIL.at

Ich habe Edith Meinhart von Profil ein paar Fragen zu „digitalen Selbstverteidigung“ gegeben, wenn also Menschen (oft Minderheiten) sich gegen Ungerechtigkeiten oder Gewalt durch Dokumentation per Smartphone wehren. Ich finde, wir müssen über legitime Formen der Selbstverteidigung sprechen, die uns die digitalem Technologien ermöglicht haben.

Bewegte Bilder sind die Allzweckwaffe der Generation Instagram. Geht es nach Buchautor Seemann, haben wir keine andere Wahl, als das „neue Spiel“ der Digitalisierung mitzuspielen, mit allen Gefahren, die darin lauern, und mit allen nötigen Abwägungen. Die Plattform wird zum Ordnungsprinzip. Buchstäblich jeder kann auf Knopfdruck Öffentlichkeit herstellen, der Christchurch-Attentäter, der in einer Moschee Gläubige niedermetzelt, ebenso wie die junge Muslimin, die auf der Straße verbal attackiert wird.

Quelle: Handyvideos: Die Allzweckwaffe der Generation Instagram | PROFIL.at

Ist die digitale Gesellschaft noch zu retten? Ein Gastbeitrag von Michael Seemann – Wikimedia Deutschland Blog

Ein letztes Mal Wikipedia. Ich habe für die Wikimedia meine Wikipedia-Kritik sehr viel ausführlicher zu einem Essay über die Zukunft der Digitalen Gesellschaft ausgebaut. Ich versuche da nicht nur positiv, sondern auch konstruktiv in die Debatte einzugreifen.

Stattdessen sind wir die Algorithmen. Immer dann, wenn wir unsere Meinung in die Welt posaunen, stoßen wir einen Sortiervorgang an. Leute wenden sich ab, Leute wenden sich zu. Die Freiheit der Konnektivität und die große Transparenz, die das Internet bietet, macht es für alle Leicht, den eigenen Stamm zu finden. Und ist der gefunden, werden die kognitiven Algorithmen in Gang gesetzt – uralt verdrahtete „Wir gegen Die“-Schemata, die unser Werturteil und sogar unsere Wahrnehmung bestimmen.

Quelle: Ist die digitale Gesellschaft noch zu retten? Ein Gastbeitrag von Michael Seemann – Wikimedia Deutschland Blog

Online-Lexikon: Wikipedia steckt in der Krise – Kultur-Nachrichten – Augsburger Allgemeine

Nochmal Wikipedia. Diesmal nicht ich selbst, aber die Augsburger Allgemeine nimmt meine Argumentation auf und unterfüttert sie mit einigen Zahlen und Expertenmeinungen.

Warum? Der Umgangston bei Wikipedia, sagt Michael Seemann, schrecke potenzielle Autoren ab, er wird als ruppig und unfreundlich bezeichnet. Sogar als toxisch. Der Kulturwissenschaftler sieht in dieser Krise „ein Sinnbild der Krise der digitalen Gesellschaft und damit der Gesellschaft im Ganzen“. Ist das Online-Lexikon doch das Vorzeigeprojekt einer positiven Version der digitalen Gesellschaft. In der Menschen zusammenarbeiten, anstatt zu konkurrieren. Das eigene Wissen belegen, gegenüber anderen verteidigen

Quelle: Online-Lexikon: Wikipedia steckt in der Krise – Kultur-Nachrichten – Augsburger Allgemeine