Krasse Links No 23.

Willkommen bei Krasse Links No. 23. Setzt eure Preise fest, heute versenken wir die Öffentlichkeit im Trommelfeuer des Marktes.


Vivian Jenna Wilson ist Elon Musks Trans-Tochter und nachdem er sie in einem Interview mit dem rechtsradikalen Pseudointellektuellen Jordan Peterson als den Hauptgrund für seine faschistische Wende benannt hatte und dabei offenbar allerlei Quatsch über sie verbreitete, fühlte sie sich gezwungen, in einem Thread zu antworten und das Ergebnis ist eine Verbrennung dritten Grades für Musk.

This entire thing is completely made up and there’s a reason for this. He doesn’t know what I was like as a child because he quite simply wasn’t there, and in the little time that he was I was relentlessly harassed for my femininity and queerness. Obviously he can’t say that, so I’ve been reduced to a happy little stereotype f*g-ing along to use at his discretion. I think that says alot about how he views queer people and children in general.

Es ist wahrscheinlich das erste Ereignis überhaupt, das aus Threads heraus in die weltweite Medienwelt diffundierte. Wenn ihr nach Anhaltspunkten sucht, dass Threads gegenüber X an Relevanz gewinnt, dann ignoriert die Nutzenden-Zahlen. Das hier der erste Hinweis.


Mich hatte das Trumpattentat und die daraus hervorgegangene Ikonographie kalt erwischt und ich war nicht der einzige. Axios zitierte einen ranghohen Demokraten, wie die Wahlkampfbemühungen unter einem enormen Motivationsverlust litten, seit Trump nach dem Attentat so gut wie unstoppbar erschien.

Jacob Birken nahm die Ingefangennahme der Öffentlichkeit durch das Bild zum Anlass, einen lesenswerten Essay in 54Books über die „wilde Ikonologie“ (Roland Meyer) zu veröffentlichen, in die wir uns alle haben treiben lassen.

Pragmatisch betrachtet wird der ‚ikonische‘ Status dieses Fotos nur dadurch belegt, dass es in der diesen Status behauptenden Presse immer wieder abgedruckt wird. Zynisch betrachtet handelt es sich um eine Machtdemonstration der Medien, gewissermaßen autopoietisch ein Ereignis zu schaffen, hinter das selbst das reale Attentat zurücktreten muss.

Bilder erhalten erst in der Auslegung ihre Bedeutung, weswegen die bildverliebte Journalistenschaft das Ereignis selbst schafft, über das sie berichtet. Birken macht sich aber auch die Mühe, die instrumentalisierbare Wirkung von Ikonographie zu erklären:

Der englische Schriftsteller Geoff Dyer fragt im New Statesman zurecht danach, wann die Bilder vom Attentat auf Trump zu entstehen begannen, wenn ihre Bedeutung durch den Nachhall Jahrzehnte oder Jahrhunderte ältere Bilder erzeugt wird. Diese Verdichtung von Vergangenheit und Zukunft ist strategisch. Indem Reichelt Vuccis Foto als ‚ikonisch‘ in die Reihe anderer US-amerikanischer, heroischer Flaggenbilder stellt, spekuliert er in mehrerlei Hinsicht auf die Wirkung dieser Bilder – zum einen darauf, dass die früheren Bilder US-amerikanischer Unbeugsamkeit auch im neuen wiedererkannt werden, zum anderen darauf, dass letzteres selbst auf gleiche Weise relevant bleibt. Vor dem Hintergrund des Wahlkampfs zieht es seine Bedeutung nicht aus dem überlebten Attentat, sondern aus dem vorausgesagten Wahlsieg – den dieses Foto in diesem Sinne zugleich symbolisch bezeugen wie performativ einleiten soll.

Jedes Bild versucht in seiner Komposition bekannte und bereits mit Bedeutung aufgeladene Bildelemente aufzugreifen (die Geste der gereckten Faust vor dem Hintergrund der Flagge, etc.) und sich so in Traditionen einzuschreiben, deren Geschichten wir alle kennen.

Der Mechanismus geht so, dass, wenn wir den Pfad einer alten Geschichte mit dem neuen Ereignis verbinden, wir sie bis zum unumgänglichen Wahlsieg Donald Trumps zu Ende erzählen können. Das Bild im Kontext des Attentats machte das Heldennarrativ von Trump plötzlich für viele plausibel und selbst wenn man – wie ich – es nicht plausibel fand, wurde doch plausibel, warum es für andere plausibel wurde.

Narrative versprechen, die Entropie der Zukunft zu entstören, indem sie die Gegenwart entlang von populären Pfaden weitererzählen. Narrative sind wie Beats, sie ordnen die Zeit und sind dabei sozial ansteckend. Man lernt den Rhythmus, übt ihn ein und führt ihn fort.

Und deswegen halte ich das, was Birken über die Ikonographie schreibt, auf die Mechanismen des Wahlkampfs im Allgemeinen anwendbar. Jede der beiden Seiten versucht eine überzeugende Geschichte zu erzählen, die sich in bekannte Narrative und etablierte Semantiken einschreibt, alles, um uns Pfade zum Sieg plausibel zu machen.

Das Attentat und das Bild dazu war ein Paukenschlag, der perfekt in den Beat der Republikaner hineinpasste und zudem in eine awkwarde Stille auf demokratischer Seite reinplatzte.

Und wir haben das alles fast schon wieder vergessen, weil die Demokraten mit einem noch größeren Paukenschlag – dem Bidenverzicht und der Harris-Kandidatur – einen neuen Beat gesetzt haben.

In einem anderen Zusammenhang hatte ich bereit über die mediale und die „vernetzte Öffentlichkeit“ reflektiert, doch mir wird immer klarer, dass Öffentlichkeit immer vernetzt ist.

Stellen wir uns 1000 Trommelnde vor, jeder trommelt seinen eigenen Beat: Ein großes Krachkonzert. Jeder hört den Beat seiner jeweiligen Nachbar*innen und wird unwillkürlich versuchen, sich zu synchronisieren. Es bilden sich kleinere und größere Beat-Cluster, die einen gemeinsamen Rhythmus gefunden haben. Und nach noch etwas mehr Zeit wird sich ein hegemonialer Beat herauskristallisieren, also das, was Bruce Sterling das „Major Consensus Narrative“ nennt. Nebenher gibt es viele ähnliche, aber abweichende Rhythmen und einige echt schräge Töne; doch der Hauptbeat übertönt alles.

Das hat natürlich auch damit zu tun, dass die 1000 Trommeln unterschiedlich groß sind. Nur die wenigsten verfügen über die Möglichkeit eines Paukenschlags. Die meisten trommeln auf ihren Bongos den Rhythmus der Pauken nach oder versuchen, durch einen besonders originellen oder geschmeidigen Beat viral zu gehen. Doch unter dem Strich wird der „Major Consensus Beat“ in 8 von 10 Fällen durch diejenigen mit den großen Trommeln vorgegeben.


JD Vance bekommt Feuer von allen Seiten und der Höhepunkt war die heißdiskutierte Frage, ob er nun mit seiner Couch geschlafen hat oder nicht? Die Geschichte wird in dem Newsletter von Brooke Binkowski unterhaltsam erzählt:

Irgendein X-User setzte das Gerücht in die Welt, dass Vance in „Hillbilly Elegy“ davon erzählt, wie er Sex mit einer Couch hatte, indem er zwei Couchkissen zusammenschob … was sich – „Confirmation Bias“-sei dank – sofort viral verbreitete.

Soweit so lustig, aber der eigentliche Turningpoint begann, als Associated Press dieses Gerücht in einem Fact-Check Artikel aufgriff und als falsch deklarierte, was viele Internetnutzende dazu animierte, nach Beweisen zu fragen, dass JD Vance NICHT mit einer Couch geschlafen hat. Wer es nicht wiedererkennt: es ist Donald Trumps gegen Obama gerichtete „Birther Kampagne“ all over again, nur diesmal humorvoll von links.

Aber so wohltuend es sich anfühlt, wenn Rechte mit ihren eigenen medialen Strategien geschlagen werden, so bleibt doch der Eindruck hängen, dass die mediale Öffentlichkeit eine Vulnerability in der Größe eines Scheunentors hat.

Der Hack ist einfach: Man muss einfach immer weiter trommeln!


Im Zuge des Trump-Attentats und dem Biden-Verzicht wurden Stimmen laut, die die Unvermeidbarkeit von X beschrien und The Atlantics‘ Charlie Warzel trommelte den Beat:

It’s still a rat’s nest of reckless speculation, angry partisans, and toxicity, but it’s also alive in a way that’s hard to quantify. Joe Biden’s shocking performance at the presidential debate in late June set my timeline ablaze in a way it hadn’t been since 2021. When a gunman shot at Donald Trump eight days ago, the platform did what it does best, offering a mix of conspiracy theorizing, up-to-the-second hard-news reporting, and, perhaps most crucial, a notion of communal spectating (which, despite the awfulness, is genuinely addictive). The past three weeks have been extraordinarily chaotic, full of the kind of infighting, violence, and spectacle that X was built to help document and even fuel. All of that culminated this afternoon when Biden announced that he was withdrawing from the presidential race with a series of posts on the platform. X has always been in the doomscrolling business, and business is booming.

Casey Newton will nicht ganz einstimmen und widerspricht im Platformer Newsletter:

The only force that explains why X felt vibrant on Monday is inertia: most people (and political reporters more than most) have no interest in mastering a new platform and rebuilding their audience there, no matter how many indignities X and its owner subject them to. It’s the sunk-cost social network.

Die Ironie steckt nun darin, dass selbst wenn Newton recht hat, auch Warzel recht hat. Jeder Plattform-LockIn ist eine tautologische Geschichte: Man kann nicht weg, weil andere nicht wegkönnen, die (unter anderem) wegen einem selbst nicht wegkönnen. Politische Journalist*innen und Politiker*innen halten sich auf X gegenseitig als Geisel.


Dieuwertje Luitse legt eine, wie sie es nennt, „evolutionary platform technographydes KI marktes vor. Dafür hat sie etliche Firmen-Blogposts, Marketing-Material und sonstige öffentliche Unternehmenskommunikation der großen Cloudanbieter ausgewertet und kann so die über die Zeit gewachsenen Pfade nachzeichnen, über die die Tech-Riesen ihren Griff um das KI-Thema umschlossen haben.

The evolutionary technographic analysis of AWS, Microsoft Azure, and Google Cloud’s AI infrastructures and services demonstrates that these major cloud providers operationalise infrastructural power in three substantial and complementary ways. First, the consistent vertical integration of AI infrastructures and services that are operated across the multi-layered stack of cloud architectures (Iaas, PaaS, and AIaas) shows that cloud providers attempt to exercise infrastructural power over entire AI systems and application development pipelines. This includes data storage and processing to model production, training, evaluation, deployment, and the integration of systems for the production of specific applications.


The American Prospect hat eine ganze Ausgabe über den Preismeachnismus online. Die Frage, wie Preise wirklich entstehen ist vor allem seit der Inflation ein wieder breiter diskutiertes Thema. Der neoklassischen Schule nach, wo Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen, werden Preise nicht „gesetzt“, sondern „entdeckt“ und wenn sie doch „gesetzt“ werden, dann hat ein böses Monopol seine Finger im Spiel.

Die Prospect-Artikel machen klar, dass Preissetzung zumindest heute etwas alltägliches ist und beschäftigen sich im Detail mit konkreten Strategien mächtiger Unternehmen, von Shrinkflation, Drip Pricing, Surge Pricing, Personalized Pricing bis Algorithmic Price-Fixing.

Today, everywhere consumers turn, whether they are shopping for groceries at the local Kroger or for plane tickets online, they are being gouged. Landlords are quietly utilizing new software to band together and raise rents. Uber has been accused of raising the price of rides when a customer’s phone battery is drained. Ticketmaster layers on additional fees as you move through the process of securing seats to your favorite artist’s upcoming show. Amazon’s secret pricing algorithm, code-named “Project Nessie,” was designed to identify products where it could raise prices, on the expectation that competitors would follow suit. Companies are forcing you into monthly subscriptions for a tube of toothpaste. Banks have crept up the price of credit, so customers who cannot afford price-gouging in their everyday transactions get a second round of price-gouging when they put purchases on credit. Expedia is using demographic and purchase history data to set hotel pricing for an audience of one: you.

Ich finde das alles sehr lesenswert und relevant, bleibe aber bei der „administered Price Theory“ von Frederick E. Lee, die sagt, dass alle Preise immer schon „gesetzt“ sind.

Hier die Grundlinien einer vernünftigen Preistheorie:

  1. Untergrenze des Preises für ein Gut sind immer die Reproduktionskosten, denn Unternehmen wollen als oberstes Ziel auch morgen noch existieren.
  2. Die Obergrenze des Preises ist durch die Betweenness-Zentralität des Anbieters innerhalb des Abhängigkeits-Netzwerkes bestimmt, also seine relative Macht seinen Kund*innen gegenüber, denn übersteigt der Preis die Möglichkeiten des Unternehmens, Schmerzen zu verursachen, finden die Kund*innen alternative Abhängigkeitspfade.
  3. Dazwischen spricht Lee von „Price Leadern“, also Unternehmen an dem sich Wettbewerber in ihrer Preisgestaltung orientieren. Und hier sind wir wieder bei den Drums.

„Märkte“ (wenn man sie überhaupt noch so nennen will) sind spezifische, netzwerklokale Anbieter-Öffentlichkeiten, die sich durch lokal dominante Price-Leader-Pauken koordinieren. Das eine Unternehmen bietet sein Produkt zu 30% günstiger an, weil es Marktanteile (Betweenness-Zentralität) wachsen lassen will. Ein anderes Unternehmen positioniert sich 30% über dem Marktführer, weil es das Premium-Segment bedient, etc.

Den Einfluss, den wir glauben als „Nachfrager“ zu haben, ist größtenteils eingebildet. Natürlich werden auch Wünsche in diesem Koordinations-Spiel berücksichtigt – solange sie in die eigene Strategie passen, denn, wie gesagt, Abhängigkeiten haben Breaking-Points – aber die grundsätzliche Marschrichtung wird wo anders festgelegt.

„Der Markt“, das sind ein paar hundert Oligarchenpauken, die der Gesellschaft den Beat vorgeben.


Matt Levine bespricht den Fall eines promminenten Short-Sellers (das ist, wenn man auf sinkende Kurse von Unternehmen wettet), Andrew Left, der jetzt von der SEC (die Börsenaufsicht) wegen „Marktmanipulation“ belangt wird. Left ist dadurch bekannt, medial aufsehenerregende Dossiers zu erstellen, die ein düsteres Bild von Unternehmen zeichnen und dann mit Short-Selling einen Reibach zu machen.

Ich will gar nicht groß auf die Details des Falles eingehen (obwohl lesenswert), denn das grundsätzliche Muster ist uns ja längt bekannt: Egal ob der Wert von Tesla, die Irren Meme-Stock Heinis, die ganze Crypto Blase und natürlich die endlose Kette an Pyramidensystemen, Multi Level Marketing Schemes, Kettenbriefe und die unzähligen Aktienhypes und Crashs verweisen immer auf einen einzigen Tatbestand:

Der „Wert“ von gehandelten „Assets“ wird durch Öffentlichkeitsmechanismen bestimmt.

Zentrale Handelsmärkte für Anlagegüter sind in Infrastruktur gegossene Ideologie. Anders als der Markt für bsw. Waschmaschinen sind Handelsplätze keine gewachsenen infrastrukturellen Gegebenheiten, sondern dem künstlich dem Idealbild des neoklassischen Marktes nachempfunden, alle Anbieter und alle Nachfrager kommen zusammen finden einen Preis. In der Theorie werden „Signale“ dadurch „verarbeitet“, dass sich alle Akteure gegenseitig versuchen „outzusmarten“, doch in der Praxis geht es meist darum, wer die größere Trommel hat.

Hier, wie ich glaube, dass der Aktienmarkt wirklich funktioniert: Unternehmen präsentieren sich der Öffentlichkeit als Projekte, die davon erzählen, wie sie ihre bereits vorweisbaren Infrastrukturen dazu leveragen werden, um noch mehr Abhängigkeiten zu schaffen oder zu konzentrieren. Mit anderen Worten: Am Aktienmarkt werden Geschichten gehandelt, also getrommelt.

Und natürlich gibt auch es hier die übermäßig großen Pauken, die den Beat vorgeben und eine wilde Schaar von kleinen bis mittelkleinen dazu improvisierenden Percussions. Wenn Goldman Sachs mit einem von den Erwartungen abweichenden Preis in ein Projekt reingeht, sortiert das die Karten neu und die Percussions passen ihren Beat an. Die Finanz-Oligarchie gibt mehr oder weniger die Shots vor, und alle anderen Wetten nur darauf, welche Geschichten sich ein paar ultrareiche Männer auf dem Golfplatz erzählen.

Insofern kann man das ganze Memestock-Gerede getrost beiseite legen, denn, turns out: Jede „Stock“ ist ein Memestock. It’s storys all the way down. Insofern ist an der Robinhood/Memestock-Selbsterzählung etwas dran: Die organisierten Kleinanleger-Trommler, die sich auf Reddit zusammengetan haben, mischten die Rich Mens Memes auf und schafften es, zumindest temporär, einen eigenen Beat zu setzen und durchzuhalten.

Doch im Gegensatz zu ihrer Selbsterzählung bilden sie damit keinen echten Wert ab, sondern legen offen, wie das System wirklich funktioniert.

Man muss nur immer weiter trommeln: Hodl, Hodl, Hodl, buy the dip! Und achtet auf den Beat, den Beat! Diamond Hands! FOMO! Und der Beat, der Beat, der Beat! Do your Own research! Einfach immer weiter trommeln, FUD! FUD! FUD! Don’t trust, verify! Im Trommeln liegt die Wahrheit, we all gonna make it!, etc.


Donald Trump sprach bei einer großen Bitcoinkonferenz in Nashville und die Crypto-Bros sind jetzt endgültig mit MAGA alignt.

Adam Tooze hatte im Vorfeld dieses Alignment unter die Lupe genommen:

At a deep level, crypto ideology shares some elements with the current Republican mood. It is a cocktail mixed of arcane tech, strange futurism, libertarianism, phobic attitudes towards the state and a dark view of human nature. It does not make for a good mix with American liberalism. You might say that it belongs in the broad church of “weird” that clusters around the Republican party today.

Trump versprach, dass im Falle seines Sieges nicht nur die Regulierung cryptofreundlicher werde, sondern auch, dass der Staat eine eigene „Cryptoreserve“ halten würde. Die US-Bundesbehörden sitzen derzeit auf ca. 210.000 Bitcoins und der Preis würde sofort crashen, wenn diese Bitcoins auf den Markt träfen. Gleichzeitig erhofft man sich, dass das Beispiel Schule macht und alle Staaten anfangen, Cryptoreserven zu bilden.

Es ist wirklich erstaunlich, wie die unterschiedlichen Strukturelemte unserer Gesellschaft hier ineinandergreifen, so dass man nicht mehr weiß, was noch mediale Öffentlichkeit, „Markt“ oder politische Macht ist. Hier verschmilzt alles in eins. Die Cryptobros trommeln sich den Preise hoch und die Politik gefügig, welche sie nun unter Einsatz von Steuergeldern von Milliardären zu Multimilliardären befördern soll.

Bei der Aussicht auf den Staat als Beute synchronisieren Faschisten und Tech-Oligarchen ihren Beat. Aber anders als Tooze meint, steckt ganz Silicon Valley mit drin. Man darf sich durch das angebliche „Rebellentum“ der Cryptoszene nicht täuschen lassen: das ist ein materiell-semantischer Komplex; tief über die Pauken der Venture Capital-Szene verbunden.


Die deutsch-albanische Philosophin Lea Ypi hat der taz ein lesenswertes Interview gegeben.

In Albanien und den postkommunistischen Ländern ging die Unterdrückung vom Staat und der Partei aus. Das war eine vertikale Art von Unfreiheit. Die wurde in den 1990er Jahren durch eine horizontale Unfreiheit ersetzt, denn im Neoliberalismus ist das Leben der Menschen strukturell stark eingeschränkt. Wenn man seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann, weil man keine Arbeit hat oder prekär beschäftigt ist, dann lebt man in keiner freien Welt.

Ich mag die Bild von vertikaler und horizontaler Freiheit lieber als die Rede von positiver und negativer Freiheit. Was der Kapitalismus tut, ist einem Freiheit (als Abwesenheit von direktem Zwang) zu geben, den man nur im engen Korridor seiner finanziellen und zeitlichen Möglichkeiten ausnutzen kann.

Ypi plädiert für für einen „moralischen Sozialismus“, der aus den realsozialistischen Experimenten des 20. Jahrhunderts gelernt hat, doch ihre Mutter hat sie damit nicht überzeugt:

Und sie denkt, dass die Fähigkeit zur moralischen Freiheit, von der ich spreche, nicht existiert, dass wir nicht dazu in der Lage sind, moralisch frei zu handeln, sondern immer einen Herrscher brauchen. Im Kapitalismus ist das der Markt. Das ist für sie in Ordnung.

Der Markt hat im Kapitalismus die semantische Funktion, die im Feudalismus Gott inne hatte. Er legitimiert die gesellschaftliche Ordnung. Du bist reich oder arm, weil der Markt das bestimmt hat. Der Markt ist die Theologie einer sich für meritokratisch haltenden Gesellschaft, die nicht merkt, wie sie zum Beat der Oligarchen tanzt.


Der Philosoph Rainer Forst hat in der Zeit einen lesenwerten Essay über die Krise der progressiven Politik geschrieben. Zunächst wirft er der gesellschaftlichen Linken vor, auf die Agenda der rechten reinzufallen, wenn sie versucht dem Unsicherheitsgefühl der Menschen mit eigenen Sicherheits-Agenden begegnen zu wollen. Am Ende kommt man dann im kleinsten gemeinsamen Nenner gegen Rechts zusammen: die Verteidigung der Demokratie. Aber das ist eine Sackgasse.

Der Fehler liegt aber in der Auffassung, dass die Ordnung, die nun gefährdet ist, genau die Demokratie ist, die angestrebt werden sollte. Wer so in vermeintlich progressiver Absicht denkt, reproduziert unversehens einen Status-quo-Bias, der sich die Frage verbaut, woran denn die Demokratie krankte, die diese autoritären Aggressionen erst hervorgebracht hat.

Wer die Demokratie verteidigen will, darf nicht ihren Status-Quo verteidigen. Stattdessen muss man die grundlegenden Gerechtigkeitsfragen stellen und neue, demokratische Antworten darauf finden. Erst dann überzeugt die Demokratie wieder.

Im gesellschaftlichen Leben hieße wirkliche, an der Gerechtigkeit sich orientierende Sicherheit, unter Gleichen „ohne Angst verschieden“ (Adorno) sein zu können, und es hieße auch, in einer Gesellschaft zu leben, die gerade dort zu einer wirklichen Verbesserung der Lebensverhältnisse führt, wo die Ressourcen knapp sind und knapper zu werden drohen. Dann ist nicht „soziale Sicherheit“ der erste Imperativ, sondern eine transformative Politik der Gerechtigkeit, der bewusst ist, dass es keinen guten Grund dafür gibt, dass sich das Vermögen der einen beständig anreichert, während das Auskommen der anderen immer schwieriger wird. Eine Gesellschaft, in der dies nicht strukturell verändert wird, begibt sich auf einen Pfad jenseits der Gerechtigkeit. Dann verfallen die Rechtfertigungsverfahren einer Demokratie und münden in den egoistischen Kampf. Diese Rechtfertigungsleere ist das Grundübel von Gesellschaften, die seit Dekaden Ungleichheitsverhältnisse zugelassen haben, die nicht hinzunehmen sind.

OK, hier eine Idee für demokratisches Projizieren:

Der Staat soll einen Investitionsfond aufsetzen – riesig! So eine Billion Euro pro Jahr – und alle Wahlberechtigten dürfen einen Anteil davon verwalten. Das Geld landet in gemeinnützigen Projekten, die sich um das Geld bewerben. Es ist wie ein Finanzmarkt, nur dass das eingesetzte Geld keine Rendite jagt, sondern Lebensqualität und eine bessere Welt für alle.

Krasse Links No. 22

Willkommen bei Krasse Links No. 22. Ich bin quasi noch in der Sommerpause, deswegen entschuldigt die Unregelmäßigkeit. Doch jetzt entsichert Euer Interregnum, wir projizieren das Ende des Westens auf die Blockchain.


Biden ist raus und hat Kamala Harris endorsed. Das bedeutet, dass die Demokraten wieder eine Chance haben zu gewinnen und eine mindestens ebenso große, sich auf Jahrzehnte komplett zu zerlegen. Es wird spannend.


Die Wired hat einen beunruhigenden Artikel über den durch generative KI erhöhten Energiebedarf der Techbranche. Fast alle Tech-Riesen müssen ihre Klimaziele revidieren.

The technology’s energy needs for training and deployment are no longer generative AI’s dirty little secret, as expert after expert last year predicted surges in energy demand at data centers where companies work on AI applications. Almost as if on cue, Google recently stopped considering itself to be carbon neutral, and Microsoft may trample its sustainability goals underfoot in the ongoing race to build the biggest, bestest AI tools.


Bei der bekannten Venture Capitalistbude Sequoia bekommt man Zweifel an der Wirtschaftlichkeit des AI-Hypes.

In September 2023, I published AI’s $200B Question. The goal of the piece was to ask the question: “Where is all the revenue?”
At that time, I noticed a big gap between the revenue expectations implied by the AI infrastructure build-out, and actual revenue growth in the AI ecosystem, which is also a proxy for end-user value. I described this as a “$125B hole that needs to be filled for each year of CapEx at today’s levels.”
This week, Nvidia completed its ascent to become the most valuable company in the world. In the weeks leading up to this, I’ve received numerous requests for the updated math behind my analysis. Has AI’s $200B question been solved, or exacerbated?
If you run this analysis again today, here are the results you get: AI’s $200B question is now AI’s $600B question.


Es ist passiert. Der Griff nach der Macht durch die Silicon Valley Tech-Faschisten materialisierte sich letzte Woche im Viezepräsidentschafts-Ticket von J.D. Vance. Die New York Times hat zusammengetragen, wie es dazu kam:

Mr. Vance “was very much a friend of the Thiel network going back years,” said Crystal McKellar, a venture capitalist who worked with Mr. Vance at Mithril Capital. “It seemed like Peter saw something really special in him and wanted to encourage it.”

Mr. Musk also encouraged Mr. Trump to choose Mr. Vance in private communications recently. On Monday, Mr. Musk called Mr. Vance’s selection an “excellent decision.”

Mr. Vance has relied on Mr. Sacks, whom he called “one of my closest confidants” in politics at a gala this spring. After that event, Mr. Vance introduced Mr. Sacks to Mr. Trump’s oldest son, Donald Trump Jr.

J.D. Vance trat während des Wahlkampfes in 2016 in Erscheinung, weil sein Buch „Hillbilly Elegy“ eine Antwort auf die überraschende Stärke von Donald Trump zu haben schien. Vance erzählt dort von den zerfallenen Kleinstädten im mittleren Westen, weißer Armut und den Frust, der sich in der „white working class“ aufgestaut hatte. Das Buch wurde rauf und runterbesprochen und war wochenlang Bestseller und machte Vance zunächst zu einem Star der demokratischen Seite, auch wenn seine Analyse von Kulturchauvinismus nur so tropft.

Aber die Wahrheit ist: Vance war und ist Peter Thiels Junge. Peter Thiel und er lernten sich bereits zu Vances Unizeiten in 2011 kennen und gleich nach dem Studium half Thiel Vance in Silicon Valley Fuß zu fassen und investierte 2019 zusammen mit Marc Andrreesen und Eric Schmidt in sein Venture. Auch seinen Einstieg in die Politik 2021 als Senator finanzierte Thiel, unter anderem zusammen mit Robert Mercer. Vance verdankt Thiel … alles.

In einem lesenswerten, aber etwas mit Vorsicht zu genießenden Stück in der Vanity Fair wurde Vance, zusammen mit dem anderen politischen Projekt Thiels, Blake Masters, portraitiert.

Die Reportage versucht auch das intellektuelle Millieu einzufangen, in dem sich Vance bewegt. In den USA hat sich seit Trump I eine verstreute Szene von sich intellektuell gebenden Rechtsradikalen mit Schwerpunkt in New York Downtown gebildet, die – ähnlich wie die Identitären in Europa – versuchen, rechte Edgyness als das neue Schwarz zu verkaufen. Etwas Mode, Literatur und konservative Werte, inklusive Kulturkampf gegen Wokeistan und dazu das selbstzufriedene Grinsen, wenn man Menschen mit der eigenen Grausamkeit schockiert. Selbstredend wird die gesamte Szene von Peter Thiel finanziert, Lesungen, Festivals, Podcasts, alle streben dort nach den „Thielbucks“, wie es im Stück mehrfach heißt.

Die eigentliche, intellektuelle Ikone der Szene ist Curtis Yarvin, ein ehemaliger Silicon Valley Entrepreneur, in dessen Startup – ihr werdet es raten – Peter Thiel investiert hat und ein so guter Freund von ihm geworden ist, dass sie sogar die 2016 Election Night zusammen verbracht haben.

Ich habe Yarvin etwa seit 2015/16 auf dem Radar, damals galt er als einer der relevanten Stichwortgeber der umtriebigen „Alt-Right“-Internet-Szene. Von ihm stammt der Ausdruck „red pilled“, sowie die Idee der „Cathedral“, wie er die liberalen Semantik-Produktionsstätten von Harvard bis New York Times abfällig nennt. Seine persönliche Ideologie nennt er selbst „neo-reaktionär“ („Konservativismus ist für Loser“) und zieht eine ordentliche Machtakkumulation bei einem einzigen Herrscher der Demokratie vor. Damit ist er sich bekanntlich mit Peter Thiel einig und liefert die rechtfertigenden Semantiken für Oligarchen mit Thron-Ambitionen.

Dass der Monarchismus einfach ein zu Ende gedachter Libertarismus ist, war ja vielen bereits klar und ebenfalls klar, ist, warum Milliardäre darauf abfahren, aber irgendwie steht das alles ziemlich in Spannung zu Vance‘ Image als Arbeiter-Class-Hero. Als Senator setzt er sich durchaus für eine Stärkung der Gewerkschaften ein, will den freien Markt – insbesondere den Außenhandel – beschränken und sogar sozialstaatliches Engagement ausbauen. Vance zitiert neben Yarvin und Thiel auch noch ein paar sozialreformerische Einflüsse. Ich hege leise Zweifel daran, dass eine von den brutalsten aller Tech-Oligarchen gesponserte Vizepräsidentschaft zu einer arbeiterfreundlichen Politik führen wird, aber natürlich darf man nicht dem Fehler verfallen, Rechtsradikale auf ihre Konsistenz hin abzuklopfen. Ihnen geht es in erster Linie um Macht und erst an zweiter Stelle um noch mehr Macht.

So wirklich düster wird es zum Ende des Vanity-Fair-Stücks, als der Reporter von einem Gespräch unter Zweien erzählt, dessen Inhalt erstaunlich nahe dran an dem ist, was Vance auch in einem Podcast gesagt hat, den der Artikel ausgiebig zitiert:

Vance described two possibilities that many on the New Right imagine—that our system will either fall apart naturally, or that a great leader will assume semi-dictatorial powers.

“So there’s this guy Curtis Yarvin, who has written about some of these things,” Vance said. Murphy chortled knowingly. “So one [option] is to basically accept that this entire thing is going to fall in on itself,” Vance went on. “And so the task of conservatives right now is to preserve as much as can be preserved,” waiting for the “inevitable collapse” of the current order.

He said he thought this was pessimistic. “I tend to think that we should seize the institutions of the left,” he said. “And turn them against the left. We need like a de-Baathification program, a de-woke-ification program.”

“I think Trump is going to run again in 2024,” he said. “I think that what Trump should do, if I was giving him one piece of advice: Fire every single midlevel bureaucrat, every civil servant in the administrative state, replace them with our people.”

“And when the courts stop you,” he went on, “stand before the country, and say—” he quoted Andrew Jackson, giving a challenge to the entire constitutional order—“the chief justice has made his ruling. Now let him enforce it.”

This is a description, essentially, of a coup.

“We are in a late republican period,” Vance said later, evoking the common New Right view of America as Rome awaiting its Caesar. “If we’re going to push back against it, we’re going to have to get pretty wild, and pretty far out there, and go in directions that a lot of conservatives right now are uncomfortable with.”

Trump hat sich – da sind sich alle einig – Vance nicht ausgesucht, weil der zusätzliche Wählerstimmen einbringt. Vance ist ein Convenience Vize, mit dem sich Trump zum einen die Unterstützung der Silicon Valley Milliardärsklasse sichert und zum anderen ist es dabei sicher hilfreich, dass Vance „in for the Coup“ ist.

Der Artikel ist, wie gesagt, schon zwei Jahre alt und inzwischen gehört Vance zu den schärfsten rechtsradikalen Hardcore-Trumpern im Parlament: Für den nationalen Abtreibungsbann, gegen Emigration, gegen Ukrainehilfe und natürlich trägt auch er die Lüge der angeblich „gestohlenen Wahl“ vor sich her und will die Terror-Douchebags vom 6. Januar begnadigen.

Ein paar Fragezeichen gibt es noch: Thiel hatte sich nach seinem Endorsement bei der letzten Wahl nun gegen Trump ausgesprochen und sich aus der politischen Arena zurückgezogen und bisher gibt es meines Wissens kein Statement von im zu Vances Vizeticket und auch von Yarvin habe ich noch nichts gehört. Yarvin hatte erst kürzlich überraschend Joe Biden endorsed, aber wer weiß, aus dem wievielten Ironie-Layer das entsprungen ist und so warte ich wie alle gespannt auf seinen nächsten Newsletter.

Zuletzt kann man sich das alles noch mal von Rachel Maddow zusammenfassen lassen:


Max Read fragt sich, ob die Siegesgewisseheit im Trump-Lager nicht etwas verfrüht ist und ob das mediale Momentum seit dem Attentat Realität ist, oder nur auf X existiert:

But it’s also a dangerous place to assess sentiment (or “vibes”) not just because it’s a very skewed sample of the population but because Twitter is only vibe shifts. It is the most volatile social network more or less by design and function; on Twitter, it is always already so over, and we are always already so back. It was only six days ago that the former president of the U.S. was nearly assassinated and the conventional wisdom on the website was that he’d cruise to re-election; that entire episode is about 36 hours away from near-total deletion from the platform’s collective memory as a new set of vibes arrives. To borrow a cliché, vibes on Twitter are like weather in [wherever you grew up and heard this joke first]: If you don’t like them, just wait a few minutes.

Insbesondere, da noch fast drei Monate Wahlkampf bevorstehen. In Deutschland machen wir auch kaum länger Wahlkampf und in so einer langen Zeit kann noch so viel passieren. Ich kann mir außerdem nicht vorstellen, dass es die Republikaner schaffen, ihr Momentum über drei Monate zu halten?

Andererseits will ich auch in diesem Newsletter noch einmal die Gefahr herausstellen, die von X ausgeht: Ja, seit dem Tod von Twitter hat X viel an Einfluss verloren, aber der Dienst ist immer noch überproportional mächtig. Keine der alternativen Plattformen hat es geschafft, eine Öffentlichkeit herzustellen, die den Namen verdient. Ein Großteil derjenigen, die an den Semantiken arbeiten (Journalist*innen, Forscher*innen, Influencer*innen, Expert*innen, Politiker*innen, Aktivist*innen, etc.) sind nachwievor auf X und lassen sich dort von Elon Musk das Hirn auf rechts frittieren. Und ja, vielleicht hat Max Read recht und dort ändert sich der Vibe um Donald Trump nochmal, aber Musk wird dann alle Hebel in Bewegung setzen, das zu verhindern.


Andreesson & Horowitz stecken ihr Geld nicht nur in Trump und Vance, sondern vor allem in direktes Crypto-Lobbying. Molly White hat eine extra Website aufgesetzt, FollowtheCrypto, die den Crypto-Lobbying-Einfluss trackt. Hier ihr Blogpost dazu.

In fact, the cryptocurrency industry has spent more on 2024 elections than the entire energy sector put together. These industries, all worth hundreds of billions or trillions of dollars, are being outspent by an industry that, even by generous estimates, is worth less than $20 billion.


Andreessen & Horowitz haben im Zuge ihrer zunehemenden politischen Einflussnahme eine „Little Tech Agenda“ als Blogpost veröffentlicht, die von David Karpf gekonnt auseinander genommen wird.

The “Little Tech Agenda” has nothing to do with innovation or technology. It’s just a VC wish list. The investor class isn’t clever enough to invest in companies that turn a profit by bringing useful products to market anymore. They need special treatment from the government for their bad investments to pay off. And they’re more than willing to spend in order to get it.


Im letzten Newsletter schrieb ich noch davon, dass ich mich mit Adam Tooze gedanklich verbunden fühle und da beginnt er prompt eine an meine Gedanken hoch anschlussfähige dreiteilige Reflexion zu „Hegemonie“. Im ersten Teil stellt er seine Theorie der Project-Power vor.

Hierarchy and inequality have structural preconditions, but they are produced and reproduced through clashing, rivalrous and unequal projects. Structures of power and inequality are the result not simply of inherited, given structures, but of repeated success and failures in a churning melee of projects and counter-projects.

Tooze fasst „Projekte“ allerdings weit:

  • Large-scale construction projects – building cities, mega-towers, damns, tunnels etc.
  • Launching a war and/or conducting military operations.
  • The calculations of revolutionary or counterrevolutionary politics.
  • Programs of large-scale economic development, whether public or private.
  • Constructing a network of international alliances.

Und so denkt Tooze auch die US-Hegemonie als ein Projekt, das an seinen Kulminationspunkt gelangt ist:

Far from entering an “end of history” in which the history-making force of project-power is displaced by the humming efficiency of an established and unquestionable machine endlessly reproducing its own unalterable truth, we face the reverse scenario: The culmination and interaction of projects of growth, political power and self-empowerment, on a scale never before seen, is generating a massive and escalating disequilibrium.

Ich denke ja Wirtschaft als Netzwerk von Abhängigkeiten und Infrastrukturen (NAI), die sich wechselseitig erschaffen und in dieser Symbiogenese ist Project-Power der Modus, in dem dieses „sich-Erschaffen“ passiert.

Was Tooze hier leider etwas unterbelichtet lässt, ist die Tatsache, dass Projekte nie aus dem Nichts heraus entstehen, sondern immer schon in Kontinuitäten eingebunden sind, die sie reproduzieren sollen. Projekte können zwar durchaus disruptiv sein, doch man muss sie auch als das jeweilige Sich-Weitererzählen Materiell-Semantischer Komplexe (MSK) verstehen.

Es ist nicht überraschend, dass Infrastrukturen eigene Semantiken ausbilden, alleine schon wegen all dem technischen und wissenschaftlichen Knowhow, das es braucht, um die Infrastruktur herzustellen, zu warten und zu erweitern. Aber wie sowohl die Ressource Dependence Theory, als auch die post-Keynsianische politische Ökonomie von Frederick E. Lee (aus dem letzten Newsletter) überzeugend darlegt, ist das erste Ziel jeder Organisation, sich selbst zu erhalten, was eben bedeutet, sich selbst weiterzuerzählen.

Und das wäre sogar für mich die definitorische Linie, die ich für Materiell-Semantische Komplexe ziehen würde: ein MSK ist 1) eine materielle Infrastruktur, die 2.) eine Selbsterzählung hat, die sie 3) in Form von Projekten fortschreibt. MSKs reichen folglich von der Katholischen Kirche über Familienhaushalte zu Staaten, Fußballvereinen, der Nato, Plattformen, Unternehmen, oder „den Westen“.


Im zweiten Teil der Hegemonie-Serie kritisiert Tooze den unreflektierten Gebrauch von Gramscis „Interregnum„-Begriffs. Besser bekannt ist das betreffende Gramsci-Zitat in der phantasievollen Interpretation von Slavoj Žižek:

“The old world is dying and the new world struggles to be born. Now is the time of monsters.”

In Wirklichkeit lautet es aber:

„The crisis consists precisely in the fact that the old is dying and the new cannot be born, in this interregnum a great variety of morbid symptoms appear.“

Wobei Interregnum ein alter Name für den Zustand zwischen zwei Herrschaftsphasen ist. Jedenfalls bekenne ich mich Schuldig, sowohl für einen älteren Artikel, als auch für das Plattformbuch, aber mir selbst war gar nicht klar, welch Schindluder mit dem Konzept getrieben wird. Tooze kritisiert vor allem das schlichte Aufblasen dieses Zitates zu einem historistischen Framework, bei der nach jeder stabilen Herrschaftsphase das Chaos einer Interregnums-Phase wartet, wie in folgender Grafik suggeriert wird.

Tooze verweist zurecht auf den spezifischen Blick, mit dem Gramsci auf die Geschichte schaut, der eben ein marxistisch-teleologischer Blick ist, also auf die konkrete Zukunft eines imaginierten Endes des Kapitalismus hin ausgerichtet ist. Lässt man diesen Blick weg, wird Herrschaft durch die Rede vom Interregnum zum Selbstzweck.

Praktischer Weise taucht Tooze tief in die Analyse des Wechsels von britischer Kolonialordnung zur US-Hegemonie ein, insistiert aber, dass die US-Hegemonie eben keine Antwort auf ein Interregnum war und dass diese Hegemonie in ihrer wirtschaftlichen Power und in der Neuartigkeit ihrer Herrschaftsinstrumente den Anspruch erheben, kann als eigenständige Entwicklung betrachtet zu werden.

When the US finally did manage to marshall its power for the consolidation of the Cold War bloc after 1945, it was a kind of power that no state had ever exercised before. It would be a unique high point and it would depend on a continuing, on-going scrambling effort at innovation. The most commonly cited example of successful American hegemony, the Marshall Plan was not Plan A for the postwar world, it was not even Plan C, it was Plan D. And it would have been unthinkable without the no less unprecedented form of state power represented by Stalin’s Soviet Union.

Tooze hat recht, die Idee des Interregnum zu hinterfragen, doch ich sehe den Übergang vom britischen Empire zur US-Hegemonie eher als einen Staffeltausch, denn als die Ablösung eines Weltreiches durch ein anderes. Beide sind „Projekte“ des Westens, dessen Erzählung im europäischen Kolonialismus beginnt und die globale Ordnung seit dem 2. Weltkrieg ist eben der Stand des aktuellen Projekts.

Auch Tooze sieht ja, dass sich dieses Projekt dem Ende zuneigt und wir alle haben ein nachvollziehbares Bedürfnis dem Scheißevulkan, zu dem unser Newsstream geworden ist, einen Namen und ein Konzept zu geben, das Hoffnung darauf macht, dass das irgendwann mal aufhört?

Mein Vorschlag: Ungleichzeitigkeit. Der Begriff der Ungleichzeitigkeit stammt von Ernst Bloch und er versuchte – ähnlich wie Gramsci – die „morbiden Symptome“ seiner Zeit, nämlich den Faschismus zu erklären. Bloch sah die Ungleichzeitigkeit darin, dass Deutschland als hochentwickelte Industrienation noch um ’33 den Semantiken einer traditionellen Agrargesellschaft verhaftet war. Der Faschismus wusste diese Dissonanz auszunutzen.

Blochs Beispiel legt leider die Idee einer linearen Fortschrittsentwicklung nah, von der wir bereits gelernt haben, dass sie ein schwer belastetes kolonioniales Erbe ist. Doch im Kontext der MSKs kann kann man das Konzept der Ungleichzeitigkeit ganz leicht aus dieser Struktur befreien.

Ähnlich wie das gegenseitige sich Hervorbringen von Abhängigkeiten und Infrastrukturen, bringen auch Infrastrukturen und Semantiken einander hervor. Die materiellen Praktiken zur Erschaffung und Betrieb von Infrastrukturen machen Erzählungen notwendig, die dann zukünftige Projekte beeinflussen, etc.

Doch weil der Prozess der materiell-semantischen Symbiogenese eben nicht linear verläuft, entstehen immer wieder Ungleichzeitigkeiten, kleine, große, riesige. Man kann Ungleichzeitigkeiten für unsere Betrachtung als materiell-semantische Dissonanz verstehen, also als ein Auseinanderklaffen von materieller Realität und der sie beschreibenden Semantiken.

Ein Beispiel ist das Internet: Neue Infrastrukturen veränderten unsere Modi der Kommunikation, aber gedanklich leben wir nachwievor in der Gutenberggalaxis. Auch Semantiken haben Netzwerkeffekte und LockIn. Wandel findet zwar statt, aber langsam und der äußert sich z.B. in Reibungsereignissen zwischen den materiellen Infrastrukturen, die unsere Leben umgestalten und den inadäquaten Versuchen, sie zu beschreiben, geschweige denn, zu regulieren.

Auf den Westen bezogen bedeutet das, dass sein relativer, materieller Rückzug auf der Weltbühne auf eine Bevölkerung trifft, die ihr Privileg, sich über andere stellen zu dürfen, als den Pokal eines meritokratischen Wettbewerbs der Völker im „Zivilisiersein“ betrachtet. Eine Welt- und Zivilordnung, in der die weißen europäischstämmigen diesen Pokal nicht im Abo haben, wird für sie als nicht weiter unterstützenswert betrachtet, weswegen Menschen wie Vance und Trump oder auch die AfD mit ihrer alles aufkündigenden Rhetorik so erfolgreich sind.

Faschismus ist aus dieser Sicht ein „Doubling Down“ auf die Widersprüche eines überkommenen Systems. Ja, die Welt ist ungerecht, let’s keep it that way.

Wenn die Semantiken also nicht mehr zu den Materiellen Realitäten passen, dann müssen wir nur die Semantiken in die den Zustand des 20. Jahrhunderts zurückdrehen, dann wird materiell wieder alles in Ordnung kommen.

Was es stattdessen braucht – und das sollte aus dieser Analyse klar geworden sein – sind neue Semantiken. Es braucht neue Weisen der Weltbeschreibung, ein neues Worlding, vielleicht auch neue Institutionen des Worldings, die uns wieder in die Lage versetzten, politisch über Projekte zu streiten.

Krasse Links No 21

Willkommen zurück bei Krasse Links No 21. Meine Erschöpfung ist zwar nicht völlig überwunden, aber ich kann doch den ganzen Quatsch unmöglich so stehen lassen? Also programmiert Euch das Netzwerk auf den Duden, heute beerdigen wir den KI-Hype.


Trotz Spanien! Deutschland atmet auf!

Konkret soll die Schuldenbremse für den Haushalt 2025 nicht ausgesetzt werden. Der Bund will im kommenden Jahr 44 Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen – und mit dieser Kreditaufnahme bei einem Haushalts-Gesamtvolumen von 481 Milliarden Euro die Vorgaben der Schuldenbremse einhalten, sagte Lindner.

Wenn man sich einmal von den Quatscherzählungen von „Haushaltsdisziplin“ und der „schwäbischen Hausfrau“ gelöst hat und verstanden hat, dass die Schuldenbremse wirtschaftspolitisch das Gegenteil von Sinn macht und selbst den Unternehmen schadet, dann stellt sich natürlich die Frage, warum sie immer noch so erbittert verteidigt wird.

Meine in Deutschland offenbar unpopuläre These dazu ist, dass die Schuldenbremse ein strukturelles Unterdrückungsinstrument gegen die Bevölkerung ist. Durch die pauschale Verhinderung von öffentlichen Investitionen hat die herrschende Klasse ein Default-Veto gegen die Demokratie eingelegt und es mit Verfassungsrang ausgestattet, das sie aber bei Bedarf (Polizei, Rüstung, Subventionen, Steuersenkung, Krisenstablilisation, etc.) durch ihre Statthalter bypassen lassen kann. Was sind schon ein paar Milliarden Euro Verlust gegen so einen Hebel?


Nachdem Murati neulich ja bereits zugegeben hatte, dass OpenAI keine fortschrittlichere Variante ihrer LLMs in ihren Labs testet, hat sie vorletzte Woche nochmal nachgelegt und die Medien haben davon natürlich den Bullshitclaim vom „PhD-Level-GPT“ in ihre Headlines gehoben und die eigentliche Sensationsmeldung übersehen:

„Murati nods her head, and then clarifies that it’d be in a year and a half. If that’s true, GPT-5 may not come out until late 2025 or early 2026.“

Laut OpenAI endete das Training von GPT-4 im August 2022, es ist also jetzt schon zwei Jahre alt. Seitdem hat jeder Tech-Konzern von Rang zig Milliarden von Dollar an Ressourcen mobilisiert, um OpenAI vom Thron zu stoßen, doch weder Gemini 1.5, Claude 3, oder LLamA 3 konnten GPT-4 überholen, sondern strandeten auf demselben Plateau. Und jetzt sagt die CTO im Grunde, dass sie nicht nur nichts haben, sondern nicht mal einen Plan wie es weitergeht?

Inzwischen haben sogar Fanboys den Braten gerochen, die sonst eng am Hype-Train gekettet waren und jetzt called auch noch Goldman Sachs Bullshit. Noch letztes Jahr zitierte ich ihren Bericht, in dem von einem Drittel Ki-betroffener Jobs und 7% globales GDP-Wachstum die Rede war. Ein Jahr später hört sich das anders an:

The promise of generative AI technology to transform companies, industries, and societies continues to be touted, leading tech giants, other companies, and utilities to spend an estimated ~$1tn on capex in coming years, including significant investments in data centers, chips, other AI infrastructure, and the power grid. But this spending has little to show for it so far beyond reports of efficiency gains among developers.

Einer der interviewten Experten vom MIT geht jetzt höchstens noch von 1 % GDP-Wachstum aus:

If only 23% of exposed tasks are cost effective to automate within the next ten years, this suggests that only 4.6% of all tasks will be impacted by AI. Combining this figure with the 27% average labor cost savings estimates from Noy and Zhang’s and Brynjolfsson et al.’s studies implies that total factor productivity effects within the next decade should be no more than 0.66%—and an even lower 0.53% when adjusting for the complexity of hard-to-learn tasks. And that figure roughly translates into a 0.9% GDP impact over the decade.

Ich bin so weit zu sagen: KI ist ein Scam. Nicht so ein offensichtlicher Scam wie die Crypto-Pyramidensysteme, sondern ein Scam auf Ebene des Erwartungsmanagements und ich bin mir sicher, dass der Scam seit ca. 2 – 4 Jahren läuft.

Hier, was ich glaube, das passiert ist: 2018 oder so stolperte OpenAI über Googles Paper „Attention is all you need“ (das machte am Anfang keinen großen Splash, da ging es ja eigentlich um maschinelle Übersetzung) und sie stellten fest, dass das Ding mit immer mehr Daten in seinen Fähigkeiten skaliert. 2019 veröffentlichten sie GPT-2 und 2020 dann GPT-3 und provten ihren Case, aber ab da müssen sie bereits auf „deminishing Returns“ gestoßen sein und meine These ist, dass sie die nächste Skalierungsstufe deswegen nur GPT-3.5, statt GPT-4 tauften und seitdem nach anderen Wegen der Optimierung suchen.

Die GPT-4-Specs sind bekanntlich geheim, aber laut hartnäckigen Gerüchten basiert GPT-4 bereits auf einem Trick, nämlich dem Mixture of Experts-Ansatz, wo bei Eingabe des Prompts entschieden wird, an welche speziell dafür optimierte „Experten-GPT“ die Anfrage weitergeleitet wird.

Mit der Veröffentlichung von ChatGPT im November 2022 startete dann unerwartet der Goldrausch und im Überschwang ihres Selbstbewusstseins schoben sie GPT-4 im April 2023 gleich hinterher und vertrauten auf ihre nicht vorhandene Genialität, um das Plateau-Problem schon irgendwie zu beheben.

Und seitdem rudern sie. Ich glaube einer der versuchten Ansätze war tatsächlich die Multimodalität, die sie mit der Hoffnung verbanden, dass sich durch die Verknüpfung der sprachlichen mit den bildlichen Referenzen die Lücken im „World Model“ der LLMs vervollständigen, aber ich bin mir mittlerweile sicher, dass die Idee des World Models – gleich neben ihrer Quatsch-Idee von der linearen Intelligenz-Hierarchie – eine der zentralen Denkfallen ist, in die sie getappt sind und nicht mehr rausfinden.

Zumindest kann man festhalten, dass Multimodalität zwar neue Features, aber keine Verbesserung der Kognition unlocked hat und ich nehme an, dass auch die Q* Idee kläglich gescheitert ist und jetzt stehen sie mit leeren Händen mitten im selbst ausgelösten Hype und wissen nicht, wie sie ihren Investoren beibringen sollen, dass sie ihre Billion Dollar vielleicht nie mehr wiedersehen werden.



Der Google KI-Forscher Francois Chollet war im Tech-Bro Podcast von Dwarkesh Patel und es war trotzdem interessant. Chollet scheint einer der wenigen seriösen KI-Menschen im Silicon Valley zu sein und im Gespräch dekonstruiert er gekonnt die „Intelligenz“-Unterstellungen gegenüber LLMs, insbesondere den Mythos eines „Weltmodells“.

Zusammen mit einem Kollegen hat Chollet die ARC-Benchmark geschaffen, an der sich LLMs die Zähne ausbeißen und das liegt daran, dass die Fragen zwar simpel sind aber sich nicht mithilfe der memorisierten Trainingsdaten lösen lassen. Chollet zufolge ist das der Beweis, dass LLMs eben nicht „denken“, sondern immer nur gelernte Strukturen zu reproduzieren im Stande sind und also ja, doch schon irgendwie stochastische Papageien sind … aber auf ziemlich viel Speed?

Doch was passiert dann genau, wenn LLMs erfolgreich hoch abstrakte Konzepte wie Deduktion, Syllogismus, Multistakeholderanalyse oder Gedichtinterpretation anwenden? Chollet spricht davon, dass LLMs diese Konzepte als „Programme“ vorhalten und flexibel „anwenden“ können. Das darf man sich natürlich nicht „literally“ vorstellen, nicht wie geschriebener und maschinenlesbarer Code, aber schon als im Lernprozess hängengebliebene und zur Anwendwendbarkeit hinreichend abstrahierte und so für das LLM dann regelhaft abarbeitbare semantische Operationen. Und so wird vorstellbar, dass die LLM die genannten Konzepte mit den entsprechenden Kontext-Parametern bestückt und ihre Semantikpfade regelhaft abarbeitet und so einen erwartungsgemäßen Output generiert. Statt einem „Worldmodel“ scheint die LLM also eine riesige Bibliothek von Semantik-Programmen vorzuhalten?

Aber, again, machen wir Menschen das so viel anders? Laufen nicht auch wir regelgeleitete Semantikpfade ab, wenn wir Theorien oder Methoden anwenden? Und ist nicht auch der „westlichen Blick“, den ich hier immer so gern dekonstruiere, so ein Programm? Sind nicht auch die Narrative der „Scaling Laws“ und des „World Models“ solche Programme, die zu regelgeleiteten, aber trotzdem falschen Schlüssen führen?

Ich sage das nicht, um die menschlichen kognitiven Fähigkeiten abzuwerten oder dem Menschen die Agency zu nehmen, ganz im Gegenteil. Eröffnet es nicht vielmehr neue Pfade der Freiheit, die eigene Programmiertheit zu interrupten und neue Programme zu entwerfen?


Auch der lesenswerte Newsletter SnakeOil-AI hatte neulich die Scaling Laws beerdigt, aber hier wollte ich auf die aktuelle Ausgabe aufmerksam machen, denn neben dem großen Versprechen um AGI und der „Intelligenzexplosion“ basiert der Hype auch auf einem zweiten, nicht ganz so großen, aber dennoch zentralen Versprechen: Agents.

Ich hatte schon mal über Agents geschrieben und war zumindest vorsichtig optimistisch, dass spätestens mit GPT-5 (LOL!) sowas denkbar wird, aber das hat sich ja fürs erste erledigt. Sayash Kapoor und Arvind Narayanan fassen die Herausforderungen wie folgt zusammen:

One major research challenge is reliability — LLMs are already capable enough to do many tasks that people want an assistant to handle, but not reliable enough that they can be successful products. To appreciate why, think of a flight-booking agent that needs to make dozens of calls to LLMs. If each of those went wrong independently with a probability of, say, just 2%, the overall system would be so unreliable as to be completely useless (this partly explains some of the product failures we’ve seen).

Die beiden advertisen ihr Paper, das bessere Kriterien zur Evaluation von Agententwicklung anbietet, aber meiner Meinung nach reicht der Ausschnitt, um das Thema erstmal auf die lange Bank zu schieben.

Womit wir bei Apple wären, die den derzeit ernstzunehmendsten Versuch unternehmen, agent-artige Features aus den bereits verfügbaren LLMfähigkeiten rauszupressen und ich denke, es ist kein Zufall, dass selbst das vergleichsweise bescheiden angekündigte „Apple Intelligence“ bis heute Vaporware geblieben ist. Meine Wette: will never ship?

Generative KI ist immer dann erstaunlich gut, wenn man an den Output keine konkreten Erwartungen stellt, aber je genauer man sie etwas „so und genau so“ machen lassen will, desto unmöglicher stellt sich das Unterfangen heraus. LLMs verhalten sich dann weniger wie „smart Highschooler“ im Sekretärs-Ferienjob, sondern mehr wie Heisenbergs Photonen, die ihren Aufenthaltsort verweigern, je genauer man ihre Geschwindigkeit misst.

Aber wenn AGI abgesagt ist und automatisierte Agents ebenfalls nicht in Sicht sind … was bleibt dann noch?


Ach ja, „Stuff“ produzieren.

„GenAI-powered political image cultivation and advocacy without appropriate disclosure, for example, undermines public trust by making it difficult to distinguish between genuine and manufactured portrayals. Likewise, the mass production of low quality, spam-like and nefarious synthetic content risks increasing people’s skepticism towards digital information altogether and overloading users with verification tasks. If unaddressed, this contamination of publicly accessible data with AI-generated content could potentially impede information retrieval and distort collective understanding of socio-political reality or scientific consensus. For example, we are already seeing cases of liar’s dividend, where high profile individuals are able to explain away unfavorable evidence as AI-generated, shifting the burden of proof in costly and inefficient ways.“

Das „Zeitalter des Rauschens“ schön beschrieben, ausgerechnet in einem Paper von Google?


Auf Strage Matters hat John Michael Colón einen ellenlangen Longread über die Politische Ökonomie von Frederic S. Lee veröffentlicht. Lee ist bereits seit 2014 tot, aber sein Werk scheint wirklich eine enorme Fundgrube zu sein. Lee stellte der neoklassischen Schule nicht nur ein besseres Modell entgegen, sondern unterfütterte es mit einem großen Korpus an empirischer Forschung.

Die Arbeit von Lee wird im Text episch ausgebreitet und nebenbei auch die vielen Kleinkriege behandelt, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an den Universitäten geführt wurden. Turns out: so wie auch der Kapitalismus gewaltsam eingeführt wurde, wurde auch die Hegemonie der neoklassische Ökonomie mit koordinierten Kampagnen und schmutzigen Tricks gegen die heterodoxen Schulen durchgepeitscht. Ihr wisst schon, market place of Ideas und so.

Eine der zentralen Streitfragen in der Ökonomie kreist um die Frage, wie Preise entstehen. Marx sah im Preis den Tauschwert abgebildet, der wiederum die in der Ware enthalte Arbeitsleistung repräsentiere. Die klassischen Ökonom*innen sehen dagegen den Preis als Ergebnis des dynamischen Sich-Verhaltens von Nachfrage und Angebot. Angebot ist klar, aber die Nachfragekurve definiert sich dabei als der aufaddierte „Marginalnutzen“ den Konsument*innen aus der Ware ziehen, wobei „Marginalnutzen“ die Tatsache abbilden soll, dass das dritte Eis in Folge weniger Spaß macht, als das erste, usw.

Diese unnötig komplizierten (und nebenbei empirisch unüberprüfbaren) Theorien entkräftete Lee, indem er einfach mal nachgefragt hat. Im direkten Widerspruch zum neoklassischen Modell, bei dem der Preis jederzeit in der Aushandlung ist und den Anbietern als definitives Signal gilt, an dem sie ihre Preisgestaltung orientieren, werden Preise in der Realwelt von Menschen gesetzt und haben eine enorme Stabilität gegenüber Änderungen von Angebot und Nachfrage. Unternehmen interessieren sich bei der Preisgestaltung recht wenig für Marginalnutzen und Nachfragekurve und nichtmal primär für Gewinn, sondern richten ihr Handeln im wesentlichen darauf aus, auch morgen noch zu existieren, weswegen die Kostendeckung natürlich Front and Center jeder Preisgestaltung ist. Und selbst bei Überlegungen, welche Marge man noch draufschlägt, sind selten Gewinnmaximierungsfragen, sondern meist strategische Überlegungen relevant. Will ich den Marktanteil vergrößern, was will ich meinen Kund*innen oder meinen Investoren signalisieren? Wann macht es Sinn sich auf einen Preiskampf einzulassen? (Überraschung: so gut wie nie).

Das Ergebnis ist Lees „Administered Prices Theory“ und die zusätzliche Beobachtung, dass Preise zwar schon auch der Kommunikation dienen, aber der Kommunikation zwischen Konkurrierenden Unternehmen. In der Realität schält sich nämlich immer ein oder zwei „Price-Leader“ heraus, an dem sich alle anderen Unternehmen orientieren.

„there is absolutely no regular relationship between variations in demand, supply, and price. Prices simply aren’t functioning as they are supposed to according to marginalist theory—changing when demand shifts, signaling what and how much agents must now buy or produce—because they have completely different purposes instead. The price mechanism that’s supposed to allocate resources in the economy isn’t distorted by imperfections, it isn’t the ideal from which reality diverges—it simply does not exist.“


Hier kann man dem Markt beim Regeln zuschauen.

Hunderttausende Menschen suchen bundesweit händeringend eine Wohnung – und finden keine. Dabei stehen fast zwei Millionen Wohnungen leer, wie eine aktuelle Statistik zeigt.


Die politische Ökonomin Cecilia Rikap hat ein furioses Paper über die politische Ökonomie von KI verfasst, das mir von seinem ganzen Ansatz her voll aus dem Herzen spricht. Sie analysiert dabei, wie sich die großen Tech-Giganten Kontrolle, Einfluss und Marktmacht über den KI-Markt sichern und zwar indem sie die KI-„Startups“ (mir widerstrebt das Wort in dem Kontext) von ihrem Kapital und ihren Cloudinfrastrukturen abhängig machen.

„In short, acquisitions are not the only way for large tech companies to access start-ups’ intangibles and talent while keeping potential rivals at bay. A more hidden yet prevalent form of domination involves the use of corporate venture capital to get preferential access to capabilities, knowledge and information and a chance to steer start-ups’ research and development.“

Macht ist ja normalerweise latent, aber der Coup bei OpenAI machte sie plötzlich ziemlich handfest: nachdem das Board Sam Altman gefeuert hatte, ließ er sich von Microsoft anstellen, die bereits die Cloudinfrastruktur von OpenAI kontrollierte, und drohte, auch die restlichen Mitarbeiter*innen abzuwerben. Das Board merkte schnell, dass alle relevanten Abhängigkeiten auf Seiten Altmans lagen und ihre rechtlich verbriefte Entscheidungsgewalt das Papier nicht wert war, auf dem sie stand.

Dass sich die Macht im KI-Markt im Infrastrukur-Layer konzentriert, hatte ja bereits Nick Srnicek beobachtet, aber Rikap arbeitet diese Vorherrschaft bis in die verfolgten Abhängigkeitsstrategien heraus.

No single existing institution or organisation can afford to produce LLMs or other advanced AI models without relying on technologies controlled by Amazon, Microsoft or Google which could be extended to include AI GPUs from Nvidia, though the three cloud giants are also designing their own AI semiconductors.

Ok, hier ein einfaches politische Ökonomie-Modell:

Ökonomie besteht aus einem multidimensionalen Netzwerk von unterschiedlichen Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Akteuren, wobei die unterschiedlichen Arten der Abhängigkeiten (repräsentiert durch Dimensionen) nicht auf materielle Abhängigkeiten beschränkt sind. In der Ökonomie sind alle Abhängigkeiten relevant, familiäre, soziale, semantische und emotionale Abhängigkeiten und eben auch nicht nur diejenigen, die entlang von kommerziellen Transaktionen bedient werden, sondern auch die, die durch öffentliche Daseinsvorsorge oder freiwilliger, privater Fürsorge (Care) adressiert sind (umgerechnet geschätzte 11 Billionen Dollar).

Die Kehrseite der Abhängigkeit ist Macht. Macht ist in diesem Framework schlicht Betweenness-Zentralität im Abhängigkeitsnetzwerk. Mächtig sind die, von denen viele abhängig und die selbst von möglichst wenigen abhängig sind. Alle Geldflüsse repräsentieren diese Macht, ohne sie aber 1:1 abzubilden (Macht muss immer auch latent bleiben). Alle Einkommen in diesem Modell sind „Renten“, denn sie basieren auf dieser Machtposition.

Doch wie kommt man an Macht?

Entlang des Netzwerks der Abhängigkeiten existiert ein zweites Netzwerk: das Netzwerk der Infrastrukturen, das sich in einem cooevolutionären Prozess mit dem Abhängigkeitsnetzwerk entwickelt hat: Abhängigkeiten erfordern Infrastrukturen, Infrastrukturen kreieren neue Abhängigkeiten, etc.

Infrastrukturen sind, weil sie Abhängigkeiten bedienen, erzeugen, konzentrieren oder managen, gleichzeitig die wichtigsten Instrumente zur Erlangung und Absicherung von Macht in der Gesellschaft. Auch wenn ich Marx Werttheorie nicht teile, sehe ich seinen wichtigsten Beitrag in der Erkenntnis, dass die Gesellschaft grob dadurch stratifiziert ist, dass ein paar wenige die Infrastrukturen kontrollieren und alle anderen Teil der Infrastruktur sind.

Für die Besitzer der Infrastruktur ist der Kapitalismus tatsächlich eine Art mehrdimensionales Netzwerk-Monopoly, bei dem sie durch geschicktes Platzieren von Infrastruktur alte Abhängigkeiten konzentrieren oder neue Abhängigkeiten generieren können, was dann ihrer relativen Betweenness-Zentralität zu Gute kommt.

Konstruktionen wie Fabriken, globale Supply-Chains, Plattformen und nun eben KI sind dabei sich immer wieder neu ergebende Infrastruktur-Strategien, bzw. Infrastrukturen sind „materielle Programme“ if you will. Auch sie bearbeiten regelgeleitet die vorgefundenen Netzwerkstrukturen, nur eben die des Abhängigkeitsnetzwerkes.

Und dass diejenigen, die die privaten Infrastrukturen kontrollieren, sich durch die Schuldenbremse jetzt auch noch Kontrolle über die öffentlichen Infrastrukturen gesichert haben, wird jetzt nochmal deutlicher zum Problem?


Adam Tooze war bei Jung und Naiv und ich habe dabei mal wieder gemerkt, wie wichtig er für mich als Orientierungspunkt geworden ist. So genau kannte ich seine Haltung zu Israel/Palestina z.B. gar nicht, aber ich finde mich bei ihm zu 99% wieder.

Im letzten Teil, der Zuschauer-Fragerunde, etwa bei 2:38, geht es um seine „Methode“ und Tooze erzählt sehr persönlich und nahbar davon, wie er vor ca. 10 Jahren eine andere Arbeitspraxis etablierte, die er mit dem „Management eines Flusses“ vergleicht und wie ihm auch der Newsletter eine Form dafür gab.

Sie kommen dann im Gespräch darauf, dass sich eine Akkumulation von Wissensbeständen wie die kritische Masse in der Atomphysik verselbstständigen kann und dann wie von selbst neue Erkenntnisse produziert. Man schreibt nicht, man „wird geschrieben“ und ein Teil der Arbeit besteht darin, zu entscheiden, welchen Einflüssen man sich aussetzt und der andere, sie wie ein DJ zu „remixen“.

Ich habe mich da vollkommen wiedergefunden und ich glaube, die gleichzeitige arbeitsstrukturelle und inhaltliche Nähe sind kein Zufall. Klar, es wäre leicht zu sagen, dass ich mir Stil und Haltungen von Tooze abgekupfert habe und sicher ist da etwas dran, aber aus meiner Perspektive ist es eher so, dass sowohl Tooze als auch ich (und sicher tausende andere) einem noch tiefer liegendem Rhythmus folgen, einem geteilten epistemischen „Programm“. Donna Haraway hat dieses Programm am besten auf den Punkt gebracht:

„Niemand lebt überall; jeder lebt irgendwo. Nichts ist mit allem verbunden; alles ist mit etwas verbunden.“

Daraus ergibt sich eine in das Netzwerk eingebettete und verletzliche Beobachterperspektive, die stetig versucht, einen plausiblen Semantik-Pfad entlang der hereinbrechenden Welt zu navigieren. Und vielleicht könnte das ja die Grundlage der Metaphysik des nächsten Worldings werden?