Willkommen bei Krasse Links No 7. Sag mal besser alle Deine Termine ab, denn diese Woche geht es um Schmerz, Identität und moralische Klarheit. Es wird sehr unangenehm und wenn Du Dich gerade nicht danach fühlst, leg den Newsletter besser weg und komm vielleicht später wieder.
Anfang der Woche sorgte das photogeshopte Foto von Kate Middelton für einen selten gewordenen Moment, bei dem die über viele Netzwerke verstreute digitale Öffentlichkeit wieder einen Main Character bekam.
Charly Warzel hat im Atlantic den besten Take dazu:
„The royal-photo debacle is merely a microcosm of our current moment, where trust in both governing institutions and gatekeeping organizations such as the mainstream press is low.“
Im Anschluss an den letzten Newsletter setze ich einen drauf und sage: die Realität ist broken. Es sind nicht nur die Institutionen, denen wir misstrauen, sondern alle unsere Streams sind suspekt geworden. Unsere digitale Umwelt wirkt zunehmend feindlich. Fake, KI, Propaganda, Photoshop, Bots, Sockenpuppe, Spam, Scam, Phishing, Desinformation, FUD, Einflussoperation, Verschwörungstheorie … – das 21. Jahrhundert kennt 141 Worte für Schnee, Tendenz steigend. Das Zeitalter des Rauschens beginnt nicht deswegen, weil wir plötzlich besser Bilder fälschen können, sondern, weil kein Unterschied mehr einen Unterschied macht, so dass wir kollektiv den Glauben an das Signal verlieren.
In einem Kommentar zu dem letzten Newsletter callte Sascha Lobo meinen „Kulturpessismus“ out und ich denke, das ist fair?
Seit ich in das Internet reinschreibe, habe ich mich immer als Technikoptimist verstanden und die Art, wie sich das geändert hat, ist es wert, einmal aufgeschrieben zu werden.
Die Macht der Plattformen hat einiges von dem, was gerade passiert, als Möglichkeit vorgedacht. Das Buch basiert auf der Erkenntnis, dass Plattformen in erster Linie Infrastrukturen der Macht sind. Ihr Agieren ist grundlegend kolonialistisch und sie streben daher sowohl nach konsolidierter Souveränität wie nach technischer, zunehmend auch nach kultureller und stellenweise sogar nach politischer Hegemonie. Im Buch theoretisiere ich sogar recht überzeugend, wie das alles für uns nur schief gehen kann, lange bevor „Enshittification“ ein geflügeltes Wort wurde.
Und dennoch war das Buch noch awkwardly grenz-optimistisch geschrieben?
Solange die Ereignisse innerhalb der Parameter des Gewohnten bleiben, sieht man keinen Grund den eingespielten Erwartungen zu misstrauen – manchmal wider besseren Wissens. Bis dann doch etwas passiert und man merkt, dass echte Erkenntnis nur über Schmerz zu haben ist. Erst wenn auf den intellektuellen auch der emotionale Erkenntnisschritt folgt, ist tiefgreifende Veränderung möglich.
Elon Musks Umwandlung von Twitter zur Kulturkriegswaffe zwang mich, meine intellektuellen Gespinste als bittere Realität zu durchleben und ich muss sagen, die emotionale Dimension verschiebt die Perspektive noch mal enorm. Würde ich die Macht der Plattformen heute schreiben, würde ich inhaltlich wahrscheinlich gar nicht so viel verändern, aber es bekäme definitiv einen anderen Sound.
Technikoptimismus ist jedoch nicht nur eine Haltung, sondern zumindest bei mir auch eine diskursive Identität (und ein Businessmodell?) und wenn man so lange mit einer Identität unterwegs war, ist es schwer sie aufzugeben; insbesondere, wenn man für sich noch keine Alternativhaltung gefunden hat.
Ich bin noch nicht fertig mit der Suche, aber ein wertvoller Anstoß war dieser Videoessay von Lewis Waller über die deutsche Romantik und ihren Impact auf das westliche Denken. Die Romantik entwickelte sich zwar in Opposition zum Fortschrittsdenken, war aber bei genauerer Betrachtung nicht fortschrittsfeindlich oder gar antiaufklärerisch. Sie ließ den Fortschrittsdiskurs allerdings durch einige dialektische Loops hüpfen, um ihn wieder an menschliche Erfahrungsdimensionen zurückzubinden.
Ich weiß ja auch noch nicht, wo mich das alles noch hinführt, aber auf eine ähnliche Weise versuche ich in diesem Newsletter eine emotionale Aufrichtigkeit in mein Denken über Technologie zu bringen und ich schätze, eines der Ziele dabei ist, die abstrakten und gesichtslosen Wirkzusammenhänge der digitalen Transformation wieder dem moralischen Empfinden zugänglich zu machen. Und wenn dabei Kulturpessimismus rausfällt, dann hoffentlich immerhin ein politischer?
Als ich neulich über diesen Skeet stolperte, machte er mich sofort nachdenklich und ich musste mir eingestehen: ja, auch mich hat die Covidzeit emotional beschädigt.
Ich glaube, es war um den Jahreswechsel 20/21, als die Deltawelle fast 80.000 Menschen in Deutschland das Leben kostete, weil Politiker*innen von der Wirtschaftslobby gedrängt wurden, Eindämmungsmaßnahmen monatelang zu verzögern. Da ging viel in mir kaputt, was bis heute nicht wieder heile ist, aber die Wut hat auch etwas in Gang gesetzt.
Ich schätze, wenn man einmal an dem Punkt gekommen ist, strukturelle Gewalt mit einer ähnlichen Empörung zu koppeln, wie direkte Gewalt, findet man aus der Wut nicht mehr raus. Jedenfalls kann ich mich seitdem nicht mehr nicht aufregen, wenn Systeme horrende Gewalt produzieren und alle so tun, als wäre das das Normalste der Welt.
Jonathon Porritts Warnung, dass der Mainstream-Klimakonsens zum neuen „Denialism“ zu werden droht, hat mich auf dem falschen Fuß erwischt.
Wahrscheinlich habt ihr es auch schon mitbekommen, dass die Klimwakatastrophe viel schneller und intensiver von statten geht, als die Prognosen es vorhergesehen haben. El Niño spielt eine Rolle, klar, aber eine wachsende Menge an Klimawissenschaftler*innen ist gerade extrem besorgt und fühlt sich zunehmend entfremdet vom Mainstream-Klimadiskurs.
So grob hatte ich die Grundprinzipien des Klimawandels in den 1990ern begriffen, aber erst als sie ab Mitte der 2010er Jahre für mich tatsächlich spürbar wurden, traf mich die emotionale Wucht der Erkenntnis, vor allem in Form der Trauer über den Verlust des Ökosystems meiner Jugend. Klimadepression is a thing.
Ich denke in diesem Zusammenhang aber über Depression nicht als Pathologie nach, sondern als einen notwendigen aber schmerzhaften Umbauprozess am persönlichen World Model. Die jungen Menschen, die sich auf die Straße kleben, wollen sich damit nicht wichtig machen, sondern haben die existentielle Bedrohung auf einer emotionalen Ebene durchdrungen, vor der sich die meisten noch verschließen.
Wer mir jetzt vorwirft, Depression zu verharmlosen, dem entgegne ich, dass die Alternative dazu der eigentliche dunkle Pfad ist: Verdrängung. Immer neue Erklärungen, Beschwichtigungen, selektive Wahrnehmung, alternative Narrative zu mentalen Burgen aufrüsten und innerlich die Eisentore runter lassen. Intellektuell wie emotional. Ein Großteil des Verschwörungsglaubens ist hier zu hause, aber eben nicht nur.
Dieselbe Weggabelung von Depression und Verdrängung spaltet laut Jonathon Porritt nun den Mainstream-Klima-Diskurs und auch er merkt, dass er sich identitär distanzieren muss, um sich seine moralische Klarheit zu bewahren:
„And there goes my reputation as a “glass half-full sort of a guy”! I will, from herein on, be badged as a full-on “doomist”, a “prophet of apocalyptic despair”, an anarchist/communist/subversive seeking “to bring down capitalism” by “existentializing” (I kid you not!) the “perfectly manageable threat of climate change”. Guilty as charged.“
Ich fühle das sehr, aber bin noch nicht bereit für eine neue Klimadepression.
Tadzio Müller fordert uns auf, uns intellektuell und moralisch auf eine Zeit der Gewalt einzustellen. Als ich im ersten Newsletter andere Newsletter empfahl, vergas ich auf seine Friedliche Sabotage hinzuweisen. Tadzio ist Klimaaktivist und schreibt viel über Strategie, Klimadepression und vor allem Klimaverdrängung, bettet das ganze aber auch immer schlau in größere gesellschaftliche Kontexte ein. Ich teile z.B. seine These der Verdrängungsgesellschaft und dass sie ein wichtiger Motor im aktuellen Rechtsruck ist.
In diesem Post erweitert er den Horizont nochmal und stellt die Verdrängungsgesellschaft in den Kontext der Polykrise und die Polykrise in den Kontext des sich ankündigenden Endes der US-Hegemomnie und kommt zu dem nachvollziehbaren Schluss, dass die Zeiten nicht ruhiger werden. Tadzio will das aber nicht nur negativ sehen.
Wenn also Veränderung nicht ohne Konflikt und Polarisierung möglich ist, vielleicht könnt Ihr Euch, wissend, dass es Veränderung braucht, zu diesen Dynamiken weniger ablehnend, etwas positiver verhalten. Denn ich sage Euch: Konflikt, Polarisierung, ja, auch Gewalt, wird in Euren Leben schon sehr bald eine viel größere Rolle spielen, als Ihr gewohnt seid. Darauf solltet Ihr vorbereitet sein. Wenn schon nicht physisch – dann doch wenigsten intellektuell und moralisch.
Intellektuell habe ich mich schon vor vielen Jahren von den naiven Varianten des Pazifismus verabschiedet. Gewalt ist nicht etwas, aus dem man einfach ausopten kann, bzw. ja, doch kann man schon irgendwie und dann landet man halt in der Welt, in der wir jetzt leben. Die Gewalt kriecht dann durch die Hintertür wieder ein und malträtiert uns via Rechtsruck, Mietenwahnsinn, Proxykriege, Klimakatastrophe, SUVs, Privatverschuldung, Enshittyfication, Medienoligarchien und generatives Internetrauschen.
Da mich strukturelle Gewalt mittlerweile fast ebenso ankotzt wie direkte Gewalt fühle ich mich kind of moralisch gewappnet, aber ich denke, es ist safe davon auszugehen, dass hier der emotionale Erkenntnisschritt weitaus drastischer sein wird, als ich mir gerade vorstellen kann.
Natalie Wynn hat endlich mal wieder ein neues Video veröffentlicht und es täuscht vor, eine Apologie der Twilight-Saga zu sein, ist aber in Wirklichkeit eine Tiefenbohrung in das komplizierte Verhältnis von Sex und Gewalt. Damit ist nicht sexuelle Gewalt gemeint, auch wenn sie natürlich angesprochen wird, sondern es geht um eine psychoanalytische und kulturanthropolische Bestandsaufnahme der Struktur des Begehrens. Der Zweistunden-Essay zeigt unter anderem überraschende Verbindungen von „Schundliteratur“ und kulturellen Urerzählungen von Bibel bis Gilgamesch und versteigt sich in philosophische Betrachtungen über Leben und Tod, Gut und Böse. Wynn besteht darauf, dass erotische Erzählungen nicht als Vorbild für gelungene Beziehungen fungieren, sondern als narrative Erlaubnisstrukturen, anhand derer wir uns in Situationen imaginieren können, die uns gleichzeitig moralisch abstoßen, aber auch anturnen.
Ich hatte beim Schauen die ganze Zeit Angst, dass mir das Video unangenehm würde, aber das stellte sich nicht ein und hinterher fühlt ich mich sogar leichter als vorher. Vielleicht liegt das daran, dass in diesem Fall die intellektuelle Erkenntnis der emotionalen folgt? Bin gespannt, was das mit mir noch macht.
Am schwersten tat ich mich mit diesem Text des indischen Denkers Pankaj Mishra, „The Shoah after Gaza“, der seinen Finger ohne große Rechtfertigsgeste direkt in den Schmerzpunkt europäischer und vor allem deutscher Erinnerungskultur steckt und darin ungeniert herumpopelt. Im Grunde entfaltet er eine gut informierte Variante der Global South-Perspektive auf den Gaza-Krieg und eben auch auf die Shoah, die in Indien oder Südamerika einfach nicht dieselbe Semantik besitzt, wie bei uns. Mir ist nicht aufgefallen, dass er dabei in antisemitische Fallen tappt, und dennoch war ich geschockt, wie leichthändig er die politische Rezeptionsgeschichte der Shoah in den USA, Europa und Israel entfaltet und dabei die Idiosynkrasien, den Opportunismus und die kaltherzige Instrumentalisierung nicht auslässt. Natürlich wäre es absolut naiv zu glauben, dass ausgerechnet die Shoah, anders als alle anderen historischen Ereignisse, über den politischen Dingen steht, doch schon der Hinweis darauf lässt mich erschaudern. Aber ich verstehe auch, das das eine europäische, genauer: eine deutsche Perspektive ist.
Nichts von dem, was Mishra schreibt, relativiert den Holocaust, aber es verschiebt seine moralische Bedeutung für die Ereignisse von heute.
„Many of the protesters who fill the streets of their cities week after week have no immediate relation to the European past of the Shoah. They judge Israel by its actions in Gaza rather than its Shoah-sanctified demand for total and permanent security. Whether or not they know about the Shoah, they reject the crude social-Darwinist lesson Israel draws from it – the survival of one group of people at the expense of another. They are motivated by the simple wish to uphold the ideals that seemed so universally desirable after 1945: respect for freedom, tolerance for the otherness of beliefs and ways of life; solidarity with human suffering; and a sense of moral responsibility for the weak and persecuted. These men and women know that if there is any bumper sticker lesson to be drawn from the Shoah, it is ‘Never Again for Anyone’: the slogan of the brave young activists of Jewish Voice for Peace.“
Ich habe beim lesen aber auch gemerkt, dass ich immer noch nicht das postkoloniale Argument kaufe, dass die Shoah nur eine Weiterschreibung kolonialistischer Gewalt sei. Natürlich gibt es mit der „White Supremacy“ gemeinsame Vorfahren, doch ohne die Idee des Volkskörpers und der Notwendigkeit der Erhaltung oder Wiederherstellung seiner „Reinheit“, sowie die Besonderheit des Antisemitismus, der anders als andere Rassismen neben der Abwertung auch eine Angstkomponente kennt (Stichwort jüdische Weltverschwörung), scheint mir eine Analyse der Shoah nicht sinnvoll.
Davon abgesehen hat mir der Text sehr geholfen, von meiner europäischen Perspektive etwas weiter zu abstrahieren und zu verstehen, wie man von der Restwelt auf Gaza blickt. Der Text arbeitet noch in mir.
Der Youtuber Shaun hat in diesem Video seinen Erkenntnisprozess aufgearbeitet, der zu zu seiner Haltung im Nahostkonflikt geführt hat. Seine Haltung ist alleine schon dadurch deutlich gekennzeichnet, dass er sein Video nicht „Israel“, oder „Israel and Palistine“, sondern schlicht „Palistine“ genannt hat. Und, ja, sorry, ich bin diese Woche in ein Video-Essay-Rabbit-Hole gefallen.
Shaun macht viele gute Punkte, aber ich will zwei herausgreifen:
Erstens stellt er gleich zu Anfang fest, dass es zur Bewertung der aktuellen Lage in Gaza völlig unerheblich ist, wie viel Du zu dem Konflikt gelesen hast, auf welcher Seite Du stehst, was Deine Haltung zu Israel ist, welche Ereignisse vorher stattgefunden haben und wie Du sie bewertest. Wenn zigtausende unschuldige Zivilist*innen getötet werden – die meisten davon Frauen und Kinder – ist das falsch. Punkt. Nichts, absolut gar nichts, rechtfertigt diese Verbrechen. (Weil man das in Deutschland anscheinend dazusagen muss: wer die Kinder in Gaza mit ihren im Bombenfeuer umgekommenen Nazigroßeltern gleichsetzt, wird sofort geblockt.)
Ich stelle mir den schmerzhaftesten Teil der Depression wie ein Abnutzungskrieg gegen das eigene Ego vor, das sich in einem Gestrüpp aus Identitäten verschanzt hat. Erst wenn das Ego so weit zurückgebombt ist, dass ihm interne und externe Zuschreibungen egal geworden sind, entsteht wieder Raum für unverstelltes moralischen Empfinden. Dann wird plötzlich vieles ganz einfach, was sich vorher als kompliziert tarnte.
Als Zweites nehme ich die philosophische Erzählung „The Ones Who Walk Away from Omelas“ mit. Die Geschichte von Ursula K. Le Guin spielt im fiktiven Ort Omelas, der in jeder Hinsicht als Paradies gelten kann. Allen geht es gut, alle sind gut drauf und das Leben ist eine einzige Party. Erst spät finden wir heraus, dass dieses Wunder darauf basiert, dass alles Leid auf einen einzelnen, kleinen Jungen abgeleitet wird, der allein und vernachlässigt im Kerker unter der Stadt gehalten wird. Alle wissen von dem Jungen, aber sein Leid wird verdrängt, weil das eigene Glück davon abhängt.
Doch einige beginnen, Omelas zu verlassen. Es sind nicht viele. Aber es werden mehr.
Ich mag diese Metapher sehr, weil sie die soziale Dimension des Moments einer moralischen Klarheit so auf den Punkt bringt: Es ist eine Art emotionale Immigration, ein Abschied von eigentlich liebgewordenen Menschen und von einem vertrauten, schönen Ort, der aufgehört hat, schön zu sein, seit man auch emotional durchdrungen hat, wie er funktioniert.
Wir leben alle in Omelas, genauer: in vielen Omelas‘ und sie zu verlassen ist fucking schwer. Ich zum Beispiel esse immer noch Fleisch (lass mich!). Gerade deswegen sollten wir es feiern, wenn es einigen von uns gelingt, das eine oder andere Omelas zu verlassen und wir sollten nachsichtig mit denen sein, die diesen Schritt noch vor sich haben.
Doch wohin soll man gehen? Das ist die Frage, die sich Elliot Sang in seinem – sorry again – Videoessay „Nowhere to Go: The Loss of Third Places“ stellt. Dritte Orte sind Räume, die neben dem Zuhause (erster Ort) und dem Arbeitsplatz (zweiter Ort) eine Form von kollektiver Heimat schaffen. Cafeehäuser, Stammkneipen, Vereinsheime und Jugendzentren sind solche Orte … bzw. waren solche Orte, bis die Gentrifizierung sie im großen Maßstab ausradiert hat.
Der Verlust der dritten Orte hat enorme Effekte auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und auf die Fähigkeit der Menschen, sich politisch zu organisieren. Aber am schlimmsten trifft es die Jugend. Die ausufernden Depressionen bei Jugendlichen werden oft mit Social Media in Beziehung gebracht, aber Sang zeigt, dass beides, sowohl excessive Social Media Nutzung, als auch Depression downstream vom Verlust der dritten Orte ist. Der Zynismus, den jungen Menschen erst ihre Räume zu nehmen und sie dann selbst für ihre Einsamkeit verantwortlich zu machen und im zweiten Schritt das Smartphone zu verbieten oder Tiktok zu sperren, macht mich einfach nur noch sprachlos.
Als ich mich in den letzten Monaten manchmal verloren fühlte, habe ich Zuflucht in den Serien meiner Jugend gesucht. Jerry Seinfelds Wohnung, das Central Perk Cafe bei Friends und die „Cheers“-Kneipe wurden zu meinen parasozialen dritten Orten, die mich mit der Vertrautheit der immer gleichen Gesichter, aber auch mit der Heimeligkeit ihrer 20. Jahrhundert-Semantik lockten.
Die letzte Serie in meiner Nostalgigkreihe war „The Indiana Jones Chronicles“, in der ein junger Indy durch die Anfänge des 20. Jahrunderts tapst und dabei in ein Weltereignis nach dem anderen stolpert, natürlich nicht ohne alle wichtigen Persönlichkeiten der Epoche kennenzulernen. Von Teddy Roosevelt zu Kafka, von Lawrence of Arabia zu Piccasso bis hin zu Charles de Gaulle und den Suffragetten kreuzen alle seinen Weg und in mir bildete sich eine Art Metafaszination, dass sich hier das 20. Jahrundert aus der Perspektive seines Endes selbst erzählt.
In der vorletzten Folge – Indy hat bereits im ersten Weltkrieg gekämpft (witziges Detail, dass die Spanische Grippe komplett ausgelassen wurde?) – lebt er in den wilden 20er Jahren in New York und hat drei Freundinnen gleichzeitig. Eine von ihnen, die Poetin Kate Rivers (ein ausgedachter Charakter), versucht ihn in einem Partygespräch davon zu überzeugen, dass jedes Jahrhundert einen eigenen Rhythmus hat und dass Poesie die Aufgabe habe, diesen einzufangen. So wie man die elisabethanische Kultur in der Poesie Shakespeares heraushören könne, kommen sie gemeinsam zu dem Schluss, dass sich das 20. Jahrhundert als „Automobile Age“ definiere und sein Rhythmus daher „throbbing, driving“ sein müsse.
Eine These die ich mag, aber von der ich nicht sicher bin, ob ich sie irgendwo abgekupfert habe, besagt dass ein Jahrhundert als kohärent empfundene, kulturelle Einheit erst ein transformatives, kollektives Erlebnis braucht, in dem die technischen und sozialen Veränderungen auch emotional eingepreist werden. Für das 20. Jahrhundert war das der erste Weltkrieg und Kate kann das neue Jahrhundert deswegen auf den Punkt bringen, weil sie ihn durchlebt hat.
Analog dazu fühle ich mich gerade, als ob mir zum ersten mal emotional bewusst wird, dass das 20. Jahrhundert tatsächlich vorbei ist. Und daran merke ich, dass ich tief im Inneren immer noch ein 20th Century Guy bin. Das 21. Jahrhundert lockte mich mit den blumigen Versprechen von endloser Kommunikation und der Demokratisierung der Öffentlichkeit aus meiner angestammten Semantik und transferierte mich ins Internet. Als „digital Immigrant“ bedeutet mein neuer Sinneswandel hinsichtlich des Technikoptimismus auch eine nachträgliche Entwurzelung. Das 20ste Jahrhundert fühlt sich seit kurzem wie ein fernes, jedoch vertrautes Land an, das ich vor langer Zeit zurückgelassen habe und zu dem es keine Rückkehr gibt.
Ich habe den Verdacht, dass ein ähnlich strukturierter Schmerz in allen AfD-Anhänger*innen steckt und ihre Sehnsucht nach dem „Normalen“ in Wirklichkeit eine diffuse Sehnsucht nach dem 20. Jahrhundert ist, dieses Omelas, das wir schon seit einiger Zeit dabei sind, zu verlassen. Diesen Verrat haben sie uns nie verziehen.
Meine persönliche Prognose ist, dass rückblickend der 30. November 2022 das 21. Jahrhundert eingeläutet haben wird. An dem Tag wurde ChatGPT vorgestellt und das markiert den Zeitpunkt, an dem die Digitalisierung begann, für alle in ihrer ganzen emotionalen Tiefe erlebbar zu werden. Es ist nicht so, als wäre die Welt nicht schon längst durchdigitalisiert, genauso wie ein Großteil der Maschinen, die im ersten Weltkrieg zum Einsatz kamen, bereits als Auto, Fabrik und Linienflug für die Leute im Alltag erlebbar waren. Doch so wie die Menschen ab 1914 mit ansehen mussten, wie sich ihr Maschinenpark in eine gigantische Mordmaschine verwandelte, erleben wir gerade die Umwidmung unserer kommunikativen Infrastruktur in digitale Waffen. Seien es die Hasskampagnen im Netz, DDoS- und Ransomware-Attacken, die immer mächtiger werdenden Überwachungssysteme, Einflussoperationen, die Umwandlung der Plattformen zu politischen Informationsgeschützen, der generative SEO-Krieg im Netz, KI-gesteuerter Bombenabwurf auf Gaza, die Entwicklung autonomer Drohnen in der Ukraine – alles wird gerade mit Künstlicher Intelligenz gesupercharged und das lässt das weiße Rauschen zu einem ohrenbetäubenden Krach anschwellen. Wir werden in den kommenden Jahren Formen, Arten und Ausmaße von digitaler Gewalt erleben, die uns heute nicht vorstellbar sind.
Was immer bei dem Schlamassel herauskommen wird: spätestens danach werden wir wissen, wie sich das 21. Jahrhundert anfühlt. Diesen Vibe dann in eine Poesie, besser noch in eine lebenswerte Zukunft zu übersetzen, wird Aufgabe der heute dauerdepressiven Tiktokjugend sein. Hoffentlich mit mehr Third Places und weniger Omelas?