In Douglas Adams Anhalter durch die Galaxis findet sich die Theorie, dass wenn jemand hinter die letzten Geheimnisse des Universums käme, es sich in dem Moment zusammenfalten und ein völlig neues Universum entstehen lassen würde. Eines das wahnwitzig viel komplexer ist als das alte. Es gibt zudem eine flankierende Theorie, dass das bereits geschehen sei.
Und genau so kommt mir unsere Welt vor. Aufgewachsen bin ich in der bipolaren Weltordnung. Der eiserne Vorhang trennte Ost von West, zwei Mächte, die sich gegenüber standen, beide bis zu den Zähnen mit Atomraketen bewaffnet. Machste Ärger, dann Apokalypse! Diese Welt war beängstigend, aber immerhin einfach und verständlich. Beide Akteure waren zudem rational agierende, auf den Werten der Aufklärung basierende Systeme, die daraus nur unterschiedliche Schlüsse gezogen hatten. Genau deswegen konnte sich der Konflikt auch spieltheoretisch so gut modellieren lassen. Am Ende entschieden die wirtschaftlichen Ressourcen, wer bei diesem Angstspiel den längeren Atem hatte.
Nachdem die 10 Jahre währende Technoparty, die wir heute als „die 90er“ bezeichnen, jäh von dem einstürzenden World Trade Center beendet wurde, kam der Begriff der „Multipolaren Weltordnung“ auf. Alles ist irgendwie total kompliziert geworden. Da gibt es China, recht friedlich, aber wirtschaftlich immer bedeutender und es hat Atomwaffen. Da bedrohen sich Indien und Pakistan mit Atomwaffen, als wollten sie den kalten Krieg in klein nachspielen. Israel und Iran haben auch (wahrscheinlich) Atomraketen und grimmen sich an. Dann haben wir die islamische Welt mit dem fortwährenden Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten. Daraus entspringen dann verschiedene Strömungen von islamistischen Terrorismus. Die USA sind irgendwie auf dem Abstieg, aber immer noch die dominierende Ordnungsmacht. (Obwohl es schon lange her ist, dass sie einen Konflikt gewonnen haben.) Europa ist wirtschaftlich mächtig, aber verzankt, militärisch aber nicht sehr bedeutungsvoll. Russland findet zurück zu alter Stärke, bemüht sich jedenfalls dazu, hat Europa ein wenig im Würgegriff, weil die von dem Erdgas abhängen. Überhaupt ist Energie ein wichtiges Thema. Nur weiter südlich geht es immer mehr um Wasser.
Kurz: es ist kompliziert.
Aber wenn man sich wie ich bemühte, zu verstehen, sich in den einen oder anderen Konflikt einlas, dann konnte man doch meist irgendeine – zumindest eine grobe – Position dazu finden. Israel muss sein Existenzrecht verteidigen, Terroristen gehört das Handwerk gelegt, dieser Diktator knechtet sein Volk, dort wird für Demokratie und Freiheit gekämpft und Pakistan unterstützt den islamistischen Terror. Natürlich war das immer vereinfacht, immer biased, immer an „westlichen Werten“ orientiert, subjektiv und oft verzerrend. Und meine Solidarität war auch nie bedingungslos. Ich sah beim Nahostkonflikt immer auch die andere Seite, ich habe die USA oft und deutlich kritisiert zb. für die Irakinvasion und mir war immer klar, dass es alles nicht so einfach ™ ist. Aber am Ende hatte ich doch eine Seite, auf die ich mich stellen konnte. Auch wenn ich das nicht herausposaunt habe, war ich zum Beispiel natürlich trotzdem gegen Sadam Hussein und hoffte insgeheim, dass die Amerikaner in der Region für Besserung sorgen. (Und hier sehe ich gleich tausend Schlaumeierkommentare auf mich zurollen, die schon immer alles besser wussten und viel objektiver waren und meine Haltung gar nicht nachvollziehen können. Ja, ich weiß, ihr seid furchtbar toll. Aber behaltet es für euch, ja?)
Aber das geht jetzt nicht mehr. Meine These ist: wir haben nicht mehr die multipolare Weltordnung, sondern die multibeschissene Weltordnung.
Also, was ist heute anders? Ich stehe immer ratloser vor den Konflikten in der Welt und halte alle Seiten für total beschissen. Und damit meine ich nicht so ein „die USA haben ein völkerrechtswidriegen Krieg mit falschen Argumenten begonnen„-beschissen, sondern mehr so ein „Hitler„-beschisssen. So „geht gar nicht“-beschissen. So „da ist absolut keinen Zentimeter, um mich irgendwie zu solidarisieren„-beschissen. Und das gilt fast immer und für fast alle Seiten eines jeden Konflikts.
Das erste mal ging es mir so nach dem arabischen Frühling. Wie habe ich mich gefreut, als das losging. Tunesien, dann Ägypten. Ein Freiheitskampf, mit dem ich mich identifizieren konnte. Der scheiß Mubarak muss weg! Und tatsächlich: Happy End. Alles super! Hach!
Und dann: Die Muslimbruderschaft gewinnt die erste freie Wahl, schränkt gleich mal die Freiheiten ein. Scharia soll Gesetz werden und ich so: What the Fuck!?! Dafür habe ich nicht mitgefiebert! Die müssen weg!
Dann so: Ein militärischer Putsch metzelt die Muslimbrüder nieder. Ein riesiges Massaker an einer demokratisch legitimen Regierung. In der Blutlache wird dann die ägyptische Zukunft als säkularer Staat versprochen.
Ich so: ähhhhh … uff!
Alles Arschlöcher. Auf allen Seiten. Und zwar so sehr, dass eine Solidarität in keine Richtung möglich ist.
Es gibt seitdem eine Reihe Beispiele, wo es mir so erging. Wer ist zum Beispiel der Nichtbeschissene im Ukrainekonflikt? Klar, Russland ist der Aggressor, keine Frage ist Putin ein Arschloch. Aber will ich mich wirklich mit den Rechtsnationalen, die immer noch die ukrainischen Seite dominieren, solidarisieren? Geht das?
Und auch meine Israelsolidarität hält mich nicht davon ab, Netanyahu für einen durchgeknallten Irren zu halten, der schlimme Menschenrechtsverletzungen an großen Bevölkerungsteilen in Kauf nimmt, obwohl er aus einer Position der Stärke operiert. Netanyahu ist ein Arschloch. So, jetzt ist es raus. Natürlich kann ich mich aber auch nicht auf die Seite der antisemitischen Terrororganisation Hamas stellen, die alles dafür tut, um israelische Zivilist/innen zu töten. Faschistische Arschlöcher. Überall nur Arschlöcher!
Und nun zu Syrien. Syrien ist das Paradebeispiel für die multibeschissene Weltordnung. Schauen wir mal: Da haben wir als erstes mal Assad. Der scheint sich am Beispiel Mubarak erschrocken zu haben und ist sofort mit voller Härte gegen das sich gegen ihn auflehnende Volk losgeprescht. Angeblich hat er bereits 200.000 Menschen umgebracht. 200.000!! Was für ein riesen Arschloch!
Und auch wenn wir ständig von ISIS reden: Assad ist definitiv mit weitem Abstand der Schlächter Nr. 1 in der Region. Aber natürlich ist auch ISIS beschissen. Sogar wahnsinnig beschissen. Mit ihrer ganzen faschistischen Islamismusideologie, wie sie Frauen versklaven, wie sie Gewalt glorifizieren und wie sie tausende Menschen auslöschen, weil sie an das falsche glauben. Wenn sie könnten, würden sie die halbe Welt ins Gas schicken. Das sind knallharte Nazis, nur mit anderem kulturellem Background. Hinzu kommt, dass ich mich von denen persönlich bedroht fühlen muss, nach Paris.
Zu den anderen Gruppen weiß ich zu wenig, aber diese beiden Beschissenheitspole sind schon mal die beiden größten Kräfte in der Region und reichen für mein Argument vollkommen.
Bei Syrien kommt die Beschissenheit zweiter Ebene hinzu: Da ist zum Beispiel die Türkei, die statt ISIS zu bekämpfen unter diesem Deckmantel lieber die unliebsamen Kurden bombardiert. Was für ein Arschloch ist eigentlich Erdogan? Da ist Russland, das unter demselben Vorwand lieber die Oppositionsgruppen, die gegen Assad kämpfen, bombardiert. Die wollen Assad stützen, koste es was es wolle. Auch Arschlöcher, alle beide.
Relativ sicher bin ich mir allerdings, dass die NATO hier die einzigen nicht beschissenen sind. Also die, die zumindest das richtige wollen, die gegen ISIS sind und gehen Assad und sich das nicht leicht machen. (Klar: Die Fehler machen, die Dummes tun, die auch Eigeninteressen verfolgen, die ISIS mitverschuldet haben, die keine Frage weder „gut“, noch „rein“ sind, aber eben auch nicht beschissenen in dem Maße wie Assad und ISIS, Putin und Erdogan beschissen sind.)
Ganz und gar nicht sicher bin ich allerdings, ob es gut ist, sich mit Waffen in diese multibeschissene Weltordnung zu werfen. Denn was will man erreichen? Dass das eine Arschloch über das andere Arschloch siegt? Dass man alle Arschlöcher beseitigt? Geht das überhaupt? Und wenn ja: Dann muss man das ganze Land auf längere Zeit besetzen. Das grenzt wieder an Kolonialismus, würde jedenfalls so empfunden werden. Was dann wieder zu mehr Terrorismus führt, etc.
Ich fürchte, in der multibeschissenen Weltordnung kann man nichts richtig machen. Das ist alles ziemlich … beschissen.