Willkommen zu Krasse Links No 28. Und nun tut Euren Memestocks infrastrukturelle Gewalt an, heute manifestiert der Ape die Choice Architecture im Dividuum.
Die Idee, man könne sich Dinge, die man will, einfach manifestieren, ist im Internet weit verbreitet und ich glaube, zu verstehen warum.
Hier wie „Manifestieren“ funktioniert:
- Wünsch Dir etwas und glaube daran, dass das Wünschen hilft.
- Halte die Augen offen, für die Pfadgelegenheit, die Dir „das Schicksal“ bereitstellt.
- Gewinn!
Das funktioniert manchmal, weil der zweite Punkt halt auch ohne den ersten Punkt ein guter Ratschlag ist und man kann durchaus argumentieren, dass Punkt eins die Motivation für Punkt zwei erhöht?
„Manifestieren ist Bullshit“ ist deswegen kein hinreichend gutes Gegenargument, aber ich finde, Hannah Jones hier hat ein besseres:
„If you beliefe in manifestation you should be legally required to explain it to a homeless person and make eye contact the whole time.“
Bei genauerer Betrachtung ist die Wahrscheinlichkeit, dass Manifestieren bei Dir funktioniert, direkt proportional zu Deiner Privilegiertheit, also der Summe der Infrastrukturen, die dir Pfadgelegenheiten zuschustern. Manifestieren ist in seiner performativen Infrastrukturverdrängung gewissermaßen nur eine zugespitzte Karrikatur des Individuums.
Für das Magazin „Human“ habe ich meine Theorie zu LLMs und Semantik aufgeschrieben und auch auf CTRL-Verlust gepostet (auch auf englisch).
Dass Sprache ein Regelsystem ist, zweifelt auf der orthographischen und grammatikalischen Ebene niemand an und die LLM zeigt eben, dass das auch für Bedeutungen und auch für alle Konzepte, Logiken, Methoden und Theorien gilt. Egal ob Grammatik, Algebra, Multistakeholder-Analyse oder Gedichtinterpretation: Alles das sind regelgeleitete Denkschablonen, Strukturen des Richtigen Sagens oder Fabriken wahrscheinlicher Sätze.
Wie schon Derrida sagte: Wir sprechen nicht, wir werden gesprochen. Das bedeutet nicht, dass man nicht auch neue Pfade finden kann, aber eben immer nur an den Rändern des bereits Gedachten und Gesagten. So wie die Nordpolexpiditionen erst machbar wurden, als die Infrastrukturen es erlaubten, so sind auch neue Gedankengänge nur als Verlängerung oder Abzweigung bereits existierender Routen denkbar. Es gibt kein Punkt außerhalb des Netzwerks.
Der Text selbst ist ein gutes Beispiel: Er basiert offensichtlich auf einer poststrukturalistischen Infrastruktur, aber wäre auch ohne Donna Haraway nicht denkbar. Mit ihrem „situierten Wissen“ stellte sie den Poststrukturalismus vom Kopf auf die Füße und ermöglicht, die richtige Perspektive aufs Netzwerk zu finden. Wenn Bedeutung stetiger Aufschub, aber dabei stets situiert ist, dann passiert Schreiben, Sprechen, Denken immer an einem ganz bestimmten Punkt eines ganz spezifischen Kontextes. An diesem je spezifischen „Hier und Jetzt“ gibt es immer nur eine überschaubare Zahl an plausiblen Pfadgelegenheiten, von denen man sich von einer zur nächsten stürzt. Wenn man dann die Zeit anstellt, bewegt sich der Punkt durchs Netzwerk und wird zur Linie, bzw. ein Pfad oder eine Route. Fertig ist die LLM, bzw. Sprechen und Denken.
„Die Individuen sind ›dividuell‹ geworden, und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder ›Banken‹.“ Schreibt Gilles Deleuze im „Postskriptum zu den Kontrollgesellschaften“ bereits Anfang der 1990er und verabschiedet damit Foucaults „Disziplinargesellschaft„, die sich noch auf die Zurichtung des Individuums und der Organisation von Masse konzentrierte. Aus dem Unteilbaren (lat. individuus) wird etwas per se Teilbares (lat. dividuus).
Das Navigieren in der Semantik – Schreiben, Sprechen, Denken – ist ein dividueller Akt. Man beobachtet nicht die Welt, sondern man beobachtet einander, wie man die Welt beobachtet. „Dividuell“ bedeutet also, sich selbst als Teil des Netzwerkes zu imaginieren, das Sprache, Denken und Öffentlichkeit und Infrastrukturen hervorbringt.
Die Berliner Zeitung hatte letztes Jahr ein Portrait des Künstlers Martin Binder, der „Hostile Architecture“ oder wie sie auch genannt wird, „Anti-Homeless-Architekture“, thematisiert.
In seinen Videos zeigt Binder Metallpyramiden vor dem Berliner Ostbahnhof mit Spitzen, die es verhindern sollen, dass sich jemand hinsetzt. Er zeigt Sitzbänke am Alexanderplatz, die so abgerundet sind, dass längeres Sitzen unangenehm wird. Vor wenigen Wochen postete er ein Video von einer neonfarbenen, abgespacten Lichtinstallation im S-Bahnhof Savignyplatz.
„Dieses Objekt wurde unter einer Brücke platziert, die häufig zum Schlafen genutzt wurde, da sie einen trockenen und relativ geschützten Raum bietet“, schreibt Binder auf Englisch unter das Video. Das Licht sei installiert worden, um Menschen zu vertreiben, die draußen schlafen müssen. „Die 200.000 Euro, die es gekostet hat, hätten in die Bereitstellung tatsächlicher Alternativen für die Menschen gesteckt werden können.“
Infrastruktur ist nicht immer da, um Pfadgelegenheiten bereitzustellen, manchmal ist Infrastruktur extra so gebaut, dass sie manchen Pfadgelegenheiten nimmt. Das ist eine Form von Gewalt und wie verroht unsere Semantiken sind, sieht man daran, dass Designer*innen, die sich sowas ausdenken oder Politiker*innen, die sowas anordnen, mit Wohlstand und Ansehen versorgt werden, statt sie auf eine Stufe mit Nazischlägern zu stellen.
James Jani hat in einem einstündigen Videoessay die verrückte Geschichte hinter dem Memestock-Desaster rund um Bed Bath and Beyond (BBBY) dokumentiert.
Kurz zusammengefasst: Eine hardcore auf ein börsennotiertes Unternehmen eingeschworene Online-Community, die anhand von selbst perpetuierten Erzählungen koordinierte Finanzentscheidungen trifft, driftet immer weiter in einen sektenhaften Wahn ab. Soweit, so Game Stop. Doch all das ging bei BBBY auch nach dem endgültigen Bankrott des Unternehmens weiter und sogar heute hoffen überraschend viele darauf, dass ihre längst vaporisierten Aktien noch gerettet werden.
Ihre Erzählung besteht aus zwei Teilen:
- Märkte sind Effizient, weil sie Informationen verarbeiten und wenn man über eine unverarbeitete Information verfügt, dann kann man den Markt schlagen.
- Die unverarbeitete Information. Die ist ziemlich beliebig und ändert sich ständig, stützt sich aber auf die Annahme, dass es ein Superindividuum mit geheimen Spezialwissen gibt, ein Mann namens Ryan Cohen, der das Unternehmen mit einem noch zu enthüllenden „Move“ retten wird und damit auch ihr Geld.
Behauptung Nummer zwei zu debunken ist leicht, aber an Behauptung eins glauben nachwievor fast alle? Sie glauben daran, weil sie sich den „Markt“ als Informationssystem vorstellen, in dem derjenige gewinnt, der die besseren Informationen hat. Das ist ernstmal die Erzählung der Neoklassik, aber plausibel wird sie durch Phänomene wie „Insiderhandel“ und die Tatsache, dass manche in dem Spiel besser sind, als andere. Die müssen also über bessere Informationen oder mehr Intelligenz verfügen, sonst könnte ja jeder kommen!
Aber weil wir eben keine Individuen sind, die die Welt beobachten, sondern Dividuen, die einander beim Beobachten der Welt beobachten, ist der Finanzmarkt kein Informationssystem, sondern eine Séance. Ein paar tausend Trader beschwören Geschichten von Unternehmen und in einer wochentäglichen Zeremonie murmeln sie sich in einen ekstatischen Zustand, um ihre Geschichten vom „Markt“ (TM) segnen zu lassen. Sicher: die Realität trommelt über die Nachrichten immer wieder dazwischen und beeinflusst den Beat (schlägt auf die Stimmung der Trader und zwingt sie nicht kompletten Quatsch zu erzählen), aber eben auch nicht immer, wie man beim anhaltenden KI-Boom beobachten kann.
Die Trommeln bei dieser Séance – das muss man immer wieder betonen – sind unterschiedlich groß. Warren Buffet hat kein besseres Wissen oder eine überlegene Intelligenz, er hat einfach eine ziemlich große Pauke. Er kann damit den Beat enorm beeinflussen und alle anderen versuchen Finanz-Oligarchen wie Buffet hinterher zu trommeln. Die meisten wetten auf die Geschichten, die sich die Finanz-Oligarchen auf dem Golfplatz erzählen.
„Apes“ – so nennen sich sowohl die Meme-Stock-Irren, wie auch die Crypto-Irren – glauben offiziell an das „Indivuduum“, seine Intelligenz, an Warren Buffet und an die „effizienten Märkte“ als Aggregation „verteilter Intelligenz“. Sie hängen sogar meist einer besonders libertären Semantik an, die eine groteske Überhöhung des Individuums und seine ungezügelten „Freiheit“ in den Mittelpunkt von allem stellt.
Doch ihre dividuellen Handlungen verraten, dass sie längst wissen, wie der Hase wirklich läuft. Sie vernetzten sich, sie erschaffen gemeinsame Geschichten, Werte, Sprüche, Gags und Durchhalteparolen. Ganz. Besonders. Viele. Durchhalteparolen. Würden sie einmal ernst nehmen, was sie tun, statt den Bullshit, den sie glauben, wären sie nur einen Schritt davon entfernt, es zu raffen.
In Fast Company veröffentlichte Marietje Schaake einen Auszug aus ihrem Buch „The Tech Coup„, in dem sie die immer stärkere Abhängigkeit der USA aber auch anderer Staaten durch die Tech-Unternehmen beschreibt.
Google, Maxar, Microsoft, and SpaceX and Clearview have few, if any, legal mandates according to international law. They are private, not public, actors. The rules that surround companies cover reporting revenue, accounting costs, and filing taxes—not when or how they should act in military confrontations. Yet companies like these exude sovereign power in new ways. They have monopolies on key insights and data analytics and make decisions about affairs that were once the exclusive domain of states, while these companies are not subject to comparable checks and balances. Moreover, companies that operate at a global scale often chafe against geographic borders. Even when governments want to exert control over such companies, which happens far less frequently than it should, they face a variety of constraints.
Im Cyberspace sind die Plattformunternehmen nicht nur Akteure, sondern sind, bzw. besitzen das Schlachtfeld. Ein Befund, dem ich bereits in die „Die Macht der Plattformen“ ausführlich Raum gegeben habe, aber die Lage hat sich seit 2021 enorm zugespitzt.
By reserving room for flexibility and opening the door to private companies in cyberwar, democracies have ceded both their sovereignty and their commitment to the rule of law. From building platforms for conducting elections, to curating public access to information in app stores, to interfering in the front lines of war to decide who does and doesn’t get internet access, these companies and their leaders share or have even overtaken the responsibilities of the democratic state.
Yet there are no elections for consumers to share thoughts on corporate policy; CEOs cannot be voted in (or out) by the public; C-SPAN doesn’t cover these companies’ internal deliberative processes. The decisions that they make in the public interest are locked behind the fortress of private-sector protections. And unless democracies begin to claw back their power from such companies, they will continue to experience the erosion of their sovereign power.
Und jetzt kommt KI dazu. What could possibly go wrong?
Gabriel Yoran schreibt bei Krautreporter seine immer lesenswerte Kolumne von der „Verkrempelung der Welt“, quasi eine Dokureihe über Glitches in der spätkapitalistischen Matrix. In seiner vorletzten Kolumne geht er der Frage nach, warum es in anderen Ländern oft so überlegene Produkte gibt, die man in Deutschen Supermarktregalen nirgends finden kann und mutmaßt:
Meine unangenehme Vermutung ist die: Unternehmen machen Produkte gerade so gut, wie es die Akzeptanzkultur in der jeweiligen Produktkategorie im jeweiligen Absatzmarkt erfordert.
In der Erzählung vom effizienten Markt müsste ein besseres Produkt zum vergleichbaren oder gar besseren Preis sich „am Markt durchsetzen“, doch weil „der Markt“ drei Oligarchen im Trenchcoat sind, ist es nun mal ihre erstaunlich sichtbare Hand, die das Sortiment bestimmt.
Wenn wir unter „Markt“ all die Orte und die Situationen summieren, in denen wir mit Kaufgelegenheiten in Berührung kommen, dann besteht „der Markt“ erstmal aus all den materiellen Infrastrukturen, die diese Begegnung ermöglichen. Von Verteilcentern, Lieferketten, Logistikunternehmen, Zwischenkäufer, Werbung und PR-Agenturen, etc. Schon hier entwickeln sich die ersten Netzwerkzentralitäten und spitzen das Angebot ihrer Interessenlage entsprechend zu.
Das Interface dieses „Marktes“, also das, womit wir tatsächlich interagieren: die optimierten Standorte der Discounter, die optimierten Supermarktregale, und die optimierten Dark Patterns des Amazon Such-Algorithmus kann man mit Cas Sunstein et.al. „Choice Architectures“ nennen. Weil die Leute, die „den Markt“ tatsächlich betreiben, den ganzen Bullshit vom nutzenmaximierenden Homo Oekonomicus eh nie geglaubt haben, werden diese Architekturen immer schon auf dividuelle Pfadopportunist*innen optimiert.
Probiert mal eine wild wachsende Tomate und ihr werdet überrascht sein, wie intensiv und köstlich Tomaten eigentlich schmecken. Wenn man sich durch diese „rote Pille“ aus der Matrix erwecken lässt, erscheint hinter dem Schleier der Choice Architectures eine Maschine, die darauf konfiguriert ist, uns möglichst billig bei Laune zu halten.
Man muss Scott Galloway nicht mögen, aber manchmal plaudert er ganz unterhaltsam Wahrheiten über den Kapitalismus aus.
„The biggest myth in marketing is that choice is a good thing. Choice is a tax. Consumers don’t want more choice, they wanna be more confident in the choices presented.“
Temu, Shine, Ali Express und Co sind der nächste Schritt: auch die „Choice Architectures“ sind am verschwinden, die KI übernimmt.
Die hoch geschätzte Eva von Redecker hat in einem Essay für den Guardian ihre Gedanken zu den Wahlen in Ostdeutschland aufgeschrieben und beschreibt unter anderem ein bekanntes Routingproblem.
The core remedy that the AfD promises is control in another realm: an entitlement to treat racialised others like disposable objects. They promote white supremacy and ethnic homogeneity. At least some of the AfD sympathisers I have been in conversation with argue, in stark contrast to the party’s economic neoliberalism, that they would like to see the state crack down on the super-rich and address social inequality. But they consider this so unlikely, so out of reach, that another demonstration of sovereignty takes precedence: Germany for the Germans.
Ich will AfD-Wähler*innen nicht verteidigen, aber wenn die Route Richtung gerechte Gesellschaft so unplausibel geworden ist, wie es derzeit aussieht und der Rest der Parteienlandschaft nur ein zynisches „Weiterso“ propagiert, ist es zumindest eine unglückliche Fügung, dass die AfD derzeit das Monopol auf Notausgang hat.
David Remnick war bei Ezra Klein und beschreibt die Situation im Westjordanland so:
„The last time you were in the West Bank, when you go to it, when you drive around it. Just visually, what do you see if you were taken by someone on a 20 minute trip from Jerusalem to one of the more established, bigger settlements outside the green line in the West Bank, and you were inclined to believe it, you might think, well, what’s so bad here. But if you take a much more varied ride. And you go to Janine and to Nablus and you go to the outskirts, villages of Ramallah, and you see how. There is an architecture of isolation and oppression that has been building and building and building over the decades in the West Bank.“
Visuell wird man meist mit solch einer Karte konfrontiert, aber die ist halt hoch irreführend.
(Karte via BBC von 2020)
Die Draufsicht aufs Westjordanland ist irreführend, weil die einzig gültige Weise auf ein Netzwerk zu schauen ist, aus einem Punkt im Netzwerk heraus zu schauen. Es geht nicht um die Quadratmeter, die die israelischen Siedlungen einnehmen, es geht um die Netzwerkzentralitäten, die sie schaffen. Es geht um Mauern, gesperrte Straßen und Checkpoints. Es geht um Flaschenhälse, die Routen und damit horizontale Freiheit für Palästinenser verunmöglichen. Es geht um infrastrukturelle Gewalt.
Ich werde manchmal in Diskussionen gefragt, warum ich die Palästinenser immer als Opfer hinstelle und ob ich ihnen gar keine Agency zugestehe. Doch doch, ich gestehe ihnen Agency zu, aber tut das Israel?
Wenn Agency die Summe der Pfadgelegenheiten ist, die Dir Deine Infrastruktur zur Verfügung stellt, dann ist die „architecture of isolation and oppression“ im Westjordanland und der halbautomatisierte (und mittlerweile kaputtgebombte) Hühnerkäfig Gaza eine „Choice Architecture“ mit nur zwei plausiblen Routen: In Unfreiheit leben oder im Aufstand sterben.
Joe Pinsker hat vor längerer Zeit im Atlantic das Buch von Krishnendu Ray: The Ethnic Restaurateur besprochen, indem dieser unter anderem der Frage nachgeht, warum bestimmte Einwanderergruppen in den USA unterschiedlich hoch- oder niedrigpreisige Restaurants hervorgebracht haben. In den USA galt Italienisch lange Zeit als Billigessen, während die teuren Restaurants vor allem französische Küche servierten. Das hat sich inzwischen angeglichen, aber immer noch gilt chinesische Küche als billig und Japanische als hochpreisig.
This hierarchy, which privileges paninis over tortas, is almost completely shaped by a simple rule: The more capital or military power a nation wields and the richer its emigrants are, the more likely its cuisine will command high menu prices.
Wert und Preis sind Semantiken, die von allerlei geteilten Wertvorstellungen beeinflusst sind und so ist es auch nicht überraschend, dass die Agency Hierarchie aus dem letzten Newsletter sich auch in den Restaurantpreisen reflektiert. Als Teil des Semantikraums bilden die Preise Gestirnskonstellationen, in der sich der Wert des einen Dings, am Wert des anderen Dings orientiert. Es ist ein Netz aus Erwartungen und auch hier bestimmt die größe der Trommel den Beat.
Freakonomics hatte einmal eine Folge zur Matratzenbubble. Mitte der 2010er sprossen überall im Land die Matratzen-Stores aus den Boden und alle Podcasts waren mit Matratzenwerbung zugequasselt und die einfache Erklärung ist, dass man mit Matratzen 50 bis 100 Protent oder sogar mehr Marge machen konnte und wahrscheinlich immer noch kann?
Völlig egal wie geil die verbaute Technologie ist, die Dinger zu produzieren ist spottbillig, aber in den Erzählungen der Kundschaft kann man für guten Schlaf halt einfach nicht genug Geld ausgeben! Und so kostet einunddieselbe Matratze manchmal von 200 bis 1000 Dollar je nachdem unter welchem „Brand“ sie firmiert.
Oligarchen bestimmen die Preise natürlich nicht beliebig. Bei unterschiedlichen Produkten ist es unterschiedlich schwierig, solche Erzählungen aufs Gleis zu trommeln, egal wieviel Geld man in PR und Marketing steckt.
Außerdem gibt es durchaus einen regulierenden Faktor: Die beiden Netzwerke der Preise und Werte sind zwar eng verwoben und beeinflussen sich wechselseitig, aber sie sind durch unterschiedliche Schmerzen an der Realität geeicht.
- Das Netzwerk der Werte setzt alle Dinge ins Verhältnis zum Schmerz ihres Fehlens, das heißt zu den Netzwerkzentralitäten im Abhängigkeitsgefüge unserer Pläne (Nutzwert).
- Das Netzwerk des Preises setzt alles ins Geld-Verhältnis, also am Ende des Tages zum Schmerz der verlorenen Lebenszeit, die man auf der Arbeit verbracht hat (Tauschwert).
Kapitalismus ist eine Schmerzarchitektur, die Dich ständig vor die Frage stellt, welchen der beiden Schmerzen Du eher auszuhalten bereit bist.
Ich liebte diesen Gag, aber wenn man einmal das Indivuduum aus der Gleichung gestrichen hat, dann ist das nicht mehr lustig, sondern eine ziemlich akkurate Darstellung der Ideologie in ihrer ganzen inhärenten Blödheit.
Aber ich seh schon. Ihr seid noch nicht überzeugt. Mit Dividuum, Pfadopportunist, Navigator, Surfer, Trommer mögt ihr Euch nicht so identifizieren?
Wie wäre es mit „Cyborg“?
Also Cyborg im Donna Harawayschen Sinne: Cyborgs sind defizitäre, bedürftige Wesen, die auf ihre Infrastrukturen angewiesen sind, um und zu überleben. Und nur weil die Cyborg kein Individuum ist, heißt das nicht, dass sie ohne Agency wäre. Die Agency des Cyborgs speist sich nicht aus ihrer „Vernunft“ oder wie es heute heißt, „Intelligenz“, sondern aus den materiellen und semantischen Infrastrukturen, die ihr zur Verfügung stehen.
Die Cyborg lebt in den Infrastrukturen und ist die Infrastruktur. Sie arbeitet an den Infrastrukturen, baut sie, betreibt sie, hält sie in Stand. Als höfliche Pfadopportunistin navigiert sie die Schmerzarchitektur zwischen Arbeit und Konsum und versucht mittels der ihr zugänglichen Infrastrukturen ihre Geschichte weiterzuerzählen. Diese Geschichte ist ein Pfad im Netzwerk, der von der Vergangenheit bis ins Jetzt und durch Pläne, Ziele und Projekte bis in die Zukunft weitererzählt wird.
Die Cyborg ist Dividualistin. Sie beobachtet nicht die Welt, sondern beobachtet wie andere die Welt beobachten. Sie surft auf diesen Beobachtungen, Worten, Bildern, Gesten und Geschichten und sortiert sich in ihnen ein. Gleichzeitig sendet jede ihrer Bezugnahmen einen Impuls durchs semantische Netzwerk, weil sie ja ihrerseits beim Schreiben, Sprechen, Denken beobachtet wird.
Es kann sich nur noch um Minuten handeln, bis die Cyborg begreift, dass sie die Infrastruktur ist und den Laden übernimmt.