Awkwardness

Ich bin awkward. Nicht immer, immer seltener, aber viel öfter als mir lieb ist. Sowieso, denn das wäre nämlich nie. Awkwardness ist ein räudiges Gefühl. Ich denke, das teile ich mit vielen/den meisten/ fast allen(?). awkward sein macht keinen Spaß. Ich trete jemandem gegenüber und bin unsicher, wie ich mich der Person gegenüber verhalten soll. Ist alles gut zwischen uns, oder gibt es unadressierte Issues, gibt es Sympathie, offen oder verdeckt, erinnert sie sich überhaupt an mich? Seit Corona kennen wir zudem das awkwarde Spiel: Hand geben oder nicht, umarmen oder nicht? Wie ist die individuelle Risikotoleranz des Gegenübers, multipliziert mit dem Closeness-Faktor der Bekanntschaft oder so. Oder ich stehe einfach steif in der Ecke und schaue den anderen dabei zu, wie sie mit einer unheimlichen Leichtigkeit interagieren, reden und lachen. Und ich frage mich dann: Was ist bloß falsch mit mir? Warum kann ich nicht einfach in die Situation einrasten wie alle anderen?

Aber das ist kein Denken, sondern social Anxiety. Wenn man stattdessen ordentlich über das Problem der Awkwardness nachdenkt, kommt man nicht an der besten Definition vorbei, die ich irgendwo mal aufgeschnappt habe:

„Awkwardness ist wechselseitige Erwartungsunsicherheit“

(Ich kann nicht ausschließen, dass ich sie mir selbst ausgedacht habe, aber ich werde das Gefühl nicht los, das irgendwo gelesen zu haben …)

Das macht absolut Sinn, denn ich fühle ja tatsächlich eine zweifache Verunsicherung:

    1. Ich weiß nicht recht, was das Gegenüber von mir erwartet.
    2. Und gleichzeitig: ich weiß nicht recht, was ich vom Gegenüber erwarten kann.

Sozialität ist unglaublich komplex und nuanciert und die Tausend Verbindungen, in denen wir eingewoben sind, verändern ständig ihre Qualität. Den Freund, den man lange nicht gesehen hat, die Kollegin, die zwar nett ist, aber nie grüßt, der Bekannte, der zwar freundlich aber distanziert wirkt. Bei jeder Begegnung rattert ein Skript im Hirn, das die relative Nähe oder Ferne der Person einzuschätzen versucht, wie wohlgesonnen oder gar wie feindlich gesinnt sie mir gegenübersteht. Und – oh Gott – liest sie gar meinen Twitterfeed? Das kann schnell in einer Grübelspirale enden, die jegliche Lockerheit aus der Interaktion nimmt. Erwartungsunsicherheiten können kaskadieren, wie eine Massenkarambolage.

Bei genauerer Betrachtung habe ich dieses Gefühl aber nicht bei allen Leuten gleich stark. Es gibt Menschen, da spüre ich gar keine Awkwardness. Noch nie! Und es gibt Andere, bei denen habe ich das ständig und sie geht auch nie wirklich weg. Selbst wenn sich die Awkwardness über die Zeit der Interaktion verflüchtigt, kommt sie wieder, sobald wir uns wieder treffen.

Mit anderen Worten: Das Gegenüber ist in diesem Zusammenhang alles andere als egal. Meine erste These zur Awkwardness ist: Es gibt keine rein einseitige Awkwardness. Awkwardness basiert immer auch auf einer gewissen Gegenseitigkeit. Forsche ich weiter nach, stelle ich fest, dass meine Awkwardness einer Person gegenüber fast immer durch ihre eigene Awkwardness getriggert wird. Ich merke der Person an, dass sie awkward ist und sie wiederum scheint ebenfalls von meiner Awkwardness verunsichert zu werden. Und so awkwarden wir uns in der Awkwardness-Doppelhelix-Spirale direkt in die Hölle.

Awkwardness ist also keine individual-psychologoische Pathologie, sondern vielmehr eine soziale Situation, die sogar selbstverstärkend wirkt. Doch auch der Umkehrschluss ist wahr: die Leute, bei denen ich keine Awkwardness empfinde, sind mir gegenüber auch nicht awkward. Und ich bin ihnen gegenüber nicht awkward, weil sie durch eine gewisse Selbstsicherheit fähig sind, meine Erwartungen zu stabilisieren.

Es gibt tausend Gründe, warum Leute dazu in der Lage sind. Weil ich sie einfach seit Ewigkeiten kenne, weil wir eng befreundet sind oder einfach weil manche Leute eine gewisse Grundselbstsicherheit ausstrahlen, was eigentlich nur heißt, dass sie Erwartungsstabilität ausstrahlen, so als wüssten sie jederzeit genau, was zu tun und zu sagen ist und vor allem, wie sie dich einzuschätzen und mit dir umzugehen haben.

Ich mag diese Menschen oft. Sie sind unanstrengend im Umgang, weil sie alle meine eventuellen Unsicherheiten quasi absorbieren. Sie geben mir damit halt und ermutigen mich ebenfalls eine gewisse Sicherheit in die Situation zu legen. Und das ist ein schönes Gefühl, besonders dann, wenn man regelmäßig unter Awkwardness leidet und sich plötzlich ganz anders erlebt.

Ich glaube, jede*r von uns braucht Menschen, die einem eine gewisse Erwartugsstablität vermitteln. Ich nenne diese Leute meist Freunde. Je länger und je besser ich jemanden kenne, desto stabiler werden meine Erwartungen, desto geringer wird die Awkwardness. Deswegen schätze ich lange Freundschaften. Manchmal setzt der Zustand ein, dass meine Awkwardness so leise gedreht ist, dass ich sie in der Gegenwart mancher Freunde gar nicht mehr merke. Ich fühle dann, dass ich einfach sein darf wie ich bin, ohne ständig darüber nachzudenken, welchen Erwartungen an mich gestellt werden. Nicht, dass keine Erwartungen an mich gestellt werden. Das gibt es nicht. Es gibt keine sozialen Situationen ohne wechselseitige Erwartungen. Aber in Freundschaften kenne ich diese Erwartungen und es fällt mir leicht, ihnen zu entsprechen.

Erwartungssicherheit ist – wie ihre Abwesenheit, die Awkwardness – eine soziale Situation. Freunde geben mir die Ruhe der Erwartungssicherheit aber das gilt eben umgekehrt ebenso. Es kommt sogar vor, dass Freunde meine Erwartungsstabilität mehr suchen, als ich ihre. Das führt mich zu meiner zweiten These: Erwartungsstabilisierend zu sein ist (zumindest auch) eine sozial-funktionale Rolle. Das merkt man daran, dass sich die Rollen in diesem Spiel ständig ändern können. Man stützt sich gegenseitig und mal braucht der eine sie mehr als die andere.

Sehr deutlich habe das mal mit einer Exfreundin von mir erlebt. Wir waren lange zusammen und haben mehrere Reisen zusammen unternommen. Dabei haben wir immer alles möglichst spontan organisiert. Keine Hotels gebucht, einfach los und vor Ort was suchen. (Jaja, wir waren jung und dumm.) Und natürlich kam es immer wieder so, wie es kommen musste: wir rennen bis spät in der Stadt rum und werden von allen Hotels abgewiesen.

In solchen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren ist nicht leicht. Und irgendjemand kriegt dann immer irgendwer den Anfall. „Was für eine Scheiße, das wird nie was, wir müssen auf der Straße schlafen!“ Und die andere Person wird daraufhin immer den stabilisierenden Faktor spielen: „Das wird schon, das kriegen wir hin, komm, wir probieren es dort drüben nochmal.“ Das Interessanteste ist, dass wir uns in den Rollen immer wieder abwechselten. Mal war sie die verzweifelte, mal war ich es. Mal tröstete sie mich, mal ich sie. Schon damals dachte ich mir: Hm. Meine Zuversicht ist keine rein originär eigene Emotion, sondern (auch) die Adhoc-Übernahme einer sozialen Rolle. Es scheint dabei egal zu sein, wer die Rolle ausfüllt, Hauptsache, es gibt jemanden, der/die Erwartungsstabilität wiederherstellt.

Neulich sah ich nach vielen, vielen Jahren mal wieder den Film „Thelma und Louise“. Der Film hat diese interessante Rollendynamik zwischen den Protagonistinnen, die sich im Laufe des Films umkehrt. (VORSICHT SPOILERS!!) Thelma ist zuerst dieses etwas kopflose und unsichere Geschöpf, das ständig beschützt werden muss. Und Louise dagegen ist die Toughe und Abgebrühte, die immer weiß was zu tun ist. Aber irgendwann, als alle Pläne zerplatzen und der letzte Ausweg für Louise versperrt ist (das Geld für die Flucht nach Mexico ist weg) und sie, die bisher den ganzen Film zusammengehalten hat, in einem Anfuhr von Hoffnungslosigkeit zusammenbricht – da kehren sich schlagartig die Rollen um. Thelma nimmt ihre Freundin an die Hand, zieht sie aus ihrem Loch und verspricht, dass alles gut wird. Louis ist nicht überzeugt, lässt sich jedoch mitschleifen, bis Louise aus einer Tankstelle gerannt kommt, die sie gerade ausgeraubt hat.

These drei wäre also: Sobald zwei oder mehr Menschen zusammenkommen, muss irgendjemand die Rolle der Erwartungsstabilität übernehmen. Das kann einen richtigen Aushandlungscharakter bekommen. Ich glaube, dass es nicht nur mir so geht, aber wenn ich in einen Raum mit Menschen komme, dann suche ich sofort nach Erwartungsstablität. Ich scanne den Raum danach, wer sie mir geben kann. Und erst wenn ich sie gefunden habe – zum Beispiel in Form eines Bekannten oder zur Not in Form einer Bar, wo mich die Erwartungsstabilität der rein transaktionalen Beziehung mit dem Barkeeper rettet – habe ich überhaupt die Chance so richtig anzukommen.

Wenn ich jedoch keine Erwartungssicherheit vorfinde, kommt es vor, dass ich mich in bestimmten Fällen tatsächlich genötigt fühle, sie selbst herzustellen. Stellt euch einen Raum vor, in dem nur awkwarde Menschen einander verlegen anschweigen. Es ist klar, dass sich hier alle nach Erwartungsstabilität sehnen aber niemand sie im jeweils anderen findet. Bin ich in einem solchen Raum und fühle mich gerade fähig, eine gewisse Erwartungsstabilität zu simulieren, dann kommt es vor, dass ich plötzlich von awkward zu selbstbewusst schalte – zack, einfach so. Auch wenn ich sie zum Teil faken muss. It’s a dirty job, but someone’s got to do it.

Hat man der Gesamterwartung im Raum einen kleinen Schubs gegeben, dann ist die Chance nicht gering, dass das Eis bricht, das heißt die Erwartungen sich stabilisieren und die allgemeine Erwartungssicherheit des Raumes auf eine angenehmere Temperatur steigt.

Und in solchen sozialen Räumen ist die Erwartungssicherheit tatsächlich etwas wie die Temperatur. Meine vierte These ist: Erwartungsstabilität/Awkwardness ist nicht nur eine soziale Situation zwischen bestimmten Menschen, sondern kann auch eine Eigenschaft sozialer Räume sein. Sie ist dann gar nicht mehr einzelnen Beziehungen zuzuordnen, sondern schwebt in Raum zwischen den Leuten. Ich erlebe das oft in Bars, Clubs oder sogar auf Festivals. Es gibt so eine gewisse Gesamtstimmung sozialer Orte, eine Schwingung, ein Vibe. Diese Schwingung ist nichts anderes als eine allgemeine, aber lokal begrenzte Erwartungssicherheit. Hier nicht verstanden als bidirektionale Beziehung, sondern als eine Art Äther zwischen den Menschen, die dafür gar nicht direkt miteinander interagieren müssen. Solche Stimmungen sind entsprechend ansteckend. Wenn sich andere fallen lassen, dann kann auch ich mich leichter gehen lassen. Wenn man mal in einem Club war, nachdem die Leute zu einer Band oder einem DJ völlig ausgeflippt sind, dann kennt man das Gefühl. Ich habe mir sagen lassen, dass das auch beim Fußball eine Rolle spielt.

Auch das Gefühl in der Masse aufzugehen, ist nichts anderes als eine kollektiv induzierte Erwartungsstabilität, die bis in die individuelle Selbstvergessenheit gesteigert werden kann. Es kommt vor, dass ich mich nach diesem Gefühl sehne, obwohl mir dieses Eintauchen nur sehr selten gelingt.

Die Tatsache, dass wir alle immer und überall nach Erwartungsstabilität suchen ist für mich Grund genug für die fünfte, die wichtigste These überhaupt: Alle sind awkward. Nicht immer und nicht alle gleich stark, aber genug, dass wir alle uns immer mal wieder nach Erwartungsstabiltität sehnen. Erwartungsstabilität ist eine knappe und sehr nachgefragte Ressource, fast immer, fast überall. Und, abgeleitete These: Wir alle sind immer wieder in bestimmten Situationen damit beschäftigt, die Erwartungen unserer Mitmenschen zu stabilisieren und wir fühlen uns sogar oft dazu verpflichtet, als eine Art Dienst an der Gesellschaft.

Diese ständige Sehnsucht nach Erwartungsstabilität macht uns aber auch angreifbar und ausnutzbar. Der englische Ausdruck für Betrug, Con, kommt von confidence. Der Betrüger ist der „Confindence Man“ oder auch „Con man“. Selbstsicherheit ist eine soziale Waffe, zumindest kann man sie als eine solche verwenden. Menschen fallen so oft auf Betrüger rein, weil sie – wie ich und wahrscheinlich auch du – ständig nach Erwartungssicherheit suchen. Und wenn dann jemand, wie zum Beispiel Jordan Peterson daher kommt und genau diese Erwartungsstabilität ausstrahlt, ist es eventuell völlig egal, dass er nur inkohärentes Gebrabbel von sich gibt. Millionen Leute, vor allem unsichere, junge Männer, nehmen ihn deswegen sehr erst und feiern ihn als Intellektuellen.

Positiv betrachtet leistet Peterson einen Dienst an diesen Menschen, denn er hilft ihnen ja tatsächlich, ihre Erwartungen zu stabilisieren. „Bauch rein, Kreuz raus und räum dein Zimmer auf!“ Als verunsicherter Jugendlicher kann einen sowas tatsächlich stabilisieren. Autorität und Autoritarismus ist ein erwartungsstabilisierender Kurzschluss. Auf der anderen Seite ist dieses Geschenk natürlich vergiftet und in gewisser Hinsicht prekär, da die Erwartungssicherheit auf reduktionistischen, meist falschen und oft gefährlichen Ideologien basiert, die einen in der komplexen Welt nicht sehr weit tragen.

Es gibt tausende alltägliche Beispiele, in denen unsere Sehnsucht nach Erwartungsstabilität ausgenutzt wird. Die einfachsten sind die alltägliche Betrügereien und die schlimmsten enden im Faschismus. Der Führer, der vor der Menge steht und eine übermenschliche Erwartungssicherheit ausstrahlt, in der sich die Masse einhaken und so ihre Awkwardness kollektiv ablegen kann, ist die wahrscheinlich gefährlichste soziale Waffe, die es gibt.

Dabei ist die Vermittlung von Erwartungsstabilität ein soziales Geschenk. Doch sie kann auch Macht verleihen und diese Macht kann wiederum in Herrschaft ausarten. Ich glaube unter anderem auch deshalb, dass es Sinn macht, sie als Care-Arbeit zu betrachten. Sie ist ein Dienst, den wir unserer Gemeinschaft zu leisten vermögen und – das ist wichtig, den andere für uns leisten. Die Bilanz kann hier nie ganz ausgewogen sein, aber eine gewisse Demut und eine gewisses Verantwortungsbewusstsein sollte mit dem Herstellen von Erwartungsstabilität einher gehen. Dann hat sie etwas per se solidarisches, fast schon kommunistisches. Und das Tolle ist: je mehr man von ihr gibt, desto mehr bekommt man auch zurück.

Ich habe inzwischen aufgehört, mich zu fragen, was mit mir falsch ist, wenn ich mal wieder awkward bin. Ich frage eher: was verunsichert meinen Gegenüber oder was verunsichert mich an dieser Situation und was kann ich tun, um Erwartungsstabilität herzustellen. Es hilft mir dabei zu verstehen, dass die meisten Menschen ebenfalls awkward sind und zwar fast immer. Und dass wir in solchen sozialen Situationen irgendwie gemeinsam in einem Boot sitzen. Schon eine kurze, freundliche aber selbstbewusste Intervention kann eine awkwarde Situation schnell auflösen oder mindestens entschärfen. Das hört sich paradox an, aber seitdem ich Awkwardness erwarte, sind meine Erwartungen viel stabiler. Das hilft nicht nur mir, sondern auch allen anderen.