„Du hast das doch prima gemacht.“ Das sagt Angela Merkel zu dem weinenden Flüchtlingsmädchen Reem. Diese hatte zuvor davon berichtet, dass sie von Abschiebung bedroht sei und die Kanzlerin gefragt, warum sie nicht die selben Zukunftsaussichten haben darf, wie ihre Freund/innen und Klassenkamerad/innen. Diese Reaktion erzählt Bände über die Bundeskanzlerin.
Erst als der Moderator interveniert: „Ich glaube nicht, Frau Bundeskanzlerin, dass es da ums Prima-machen geht.„, erkennt Merkel ihren Fehler und reagiert gereizt: „Das weiß ich, dass das eine belastende Situation ist.“ Sie insistiert darauf, das Mädchen trotzdem streicheln zu wollen, weil sie es doch so schwer habe und „… weil du ganz toll aber dargestellt hast – für viele, viele andere – in welche Situation man kommen kann.„
Merkel wird wegen diesem Auftritt Empathielosingkeit unterstellt. Ich würde das etwas modifizieren. Merkel zeigt durchaus Empathie – aber eine fehlgeleitete Empathie. Ihre Empathie ist Ausweis eines Disconnects, der sehr viel über Merkel und ihr funktionieren in ihrer Umwelt aussagt.
Zunächst: in Merkels Welt – zwischen Koalitionsstreits, Außenpolitik und Medienauftritten – gibt es sowas wie existentielle Bedrohungen schlicht nicht. Das ist etwas, wozu sie sich überhaupt nicht emotional verbinden kann. Kein Anschluss unter dieser Nummer. Und doch ist da ein empathischer Reflex auf das weinende Mädchen und Merkel meint, ihm nachgeben zu müssen.
Dieser Reflex aber interpretiert Reems Kummer zunächst falsch. Die größte Angst, die die Bundeskanzlerin kennt, ist die des öffentlichen Fauxpas. Etwas in der Öffentlichkeit tun oder zu sagen, was die Medien gegen sie benutzen können, was sie dann Wählerstimmen kostet und also Machtverlust bedeutet – das ist Merkels schlimmster Alptraum. Und den projiziert sie intuitiv auf das weinende Flüchtlingsmädchen. „Du hast das doch prima gemacht.“ Selbst, nachdem sie ihren Fehler erkennt, glaubt sie noch, dass ein Lob ihres Auftritts Reem trösten könne. Wahrscheinlich, weil es für sie selbst ein Trost wäre, immerhin eine gute Performance abgeliefert zu haben.
Dass das Reem in keiner Weise trösten kann, ist allen auf der Welt klar, die nur ein wenig im Leben stehen, die sich Struktur aufgebaut haben, Freunde, Familie, etc. Die ganze Welt kann die Angst verstehen, das alles zu verlieren. Nur Merkel nicht. Sie kennt nur eine Angst: Machtverlust.
Die genaue Wortwahl ist hier spannend: Reem habe doch „gut dargestellt“, mit anderen Worten: ihre Darstellung des traurigen Flüchtlingskindes war sehr glaubhaft und politisch hoch wirksam, findet Merkel. Reem habe das stellvertretend „für viele, viele andere“ gut rübergebracht.
Damit spiegelt sie ihr Verständnis ihres eigenen Jobs auf das Mädchen: Repräsentanz. Merkel muss repräsentieren, die Deutschen, den Staat und hier – das unmenschliche System der Flüchtlingspolitik. Und so glaubt Merkel ganz natürlich, dass es eben der Job ihres Gegenübers sei, die andere Seite zu „repräsentieren“. Es ist ein bisschen so, als ob Merkel Reem zu verstehen geben wollte: „Hey, wir sind doch beide Profis. Du hast das Flüchtlingsmädchen repräsentiert, ich das System. Das heißt ja aber nicht, dass wir Feinde sein müssen.„
Vermutlich laufen so die Verhandlungen mit Griechenland, mit Gabriel und mit der Opposition ab. Politiker/innen spielen Rollen, sie repräsentieren Interessen. Und so repräsentieren alle ihren Teil und es wird hart gestritten. Danach können sie aber menschlich ja dennoch wieder normal miteinander umgehen. „Guter Auftritt, Sigmar!„, wird sie Gabriel vielleicht hier und da nach einer Parlamentsdebatte auf die Schulter geklopft haben. Vielleicht hat sie sogar mal Tsipras genau so den Kopf gestreichelt, wie sie jetzt das weinende Kind trösten möchte. „Du hast verloren, wir sparen jetzt dein Land kaputt, aber deine Argumente waren echt ziemlich gut!„
Das Problem ist, dass das ganze in der realen Welt nicht funktioniert. In der realen Welt „repräsentieren“ die Menschen nicht nur Interessen und Lebenslagen, sondern sie sind diese Menschen und sie leben dieses Leben. Nicht für andere, sondern für sich selbst.
Auch spannend: „… in welche Situation man kommen kann.“ Tja, da ist das arme Mädchen eben „in eine Situation gekommen„, in die „man“ nun mal „kommen kann„. Das stimmt schon mal nicht. Jemand mit deutschem Pass, kann nicht in diese „Situation kommen„. Und überhaupt, ist Reem ja nicht in diese Situation „gekommen„, sondern genau das System, das Merkel repräsentiert, hat sie in diese Situation gebracht. Vor dem Mädchen steht die Verursacherin (oder zumindest ihre höchste Repräsentantin) und bedauert, in welche Situation sie „gekommen“ sei. Das ist nicht mehr anders als zynisch zu nennen.
Fazit
In den Fehlleistungen von Merkels Bürgerdialog zeigt sich, dass sie völlig die menschliche Bodenhaftung verloren hat, dass sie vollkommen verschluckt worden ist von dem System, dass sie repräsentiert und in dem sie seit Jahren agiert. Sie ist außer Stande noch außerhalb der Kategorien des politischen Theaters zu funktionieren oder zu denken. Wie soll so eine Frau, die sich so sehr von den Lebensrealitäten der Menschen entfernt hat, diese Menschen noch regieren?
Machen wir uns nichts vor, die meisten von uns leben nicht schlecht damit. Aber ich denke es wird klar, dass Reem und die vielen Flüchtlinge in Deutschland und vor den Toren Europas, die Homosexuellen und – nicht zu vergessen – der Großteil der Griechen – direkte Opfer dieses menschlich-emotionalen Disconnects von Merkel sind.
Hier nochmal das Video: