Usertracking-Phantomschmerzen

– „Herr Doktor. Ich habe so ein komisches Grimmen in meinem Clickstream.“
-„Das kann nicht sein. Der wurde Ihnen ja vor kurzem von Facebook und seinen Werbepartnern amputiert.“
– „Aber ich fühls doch!“
– „Das ist sicher der so genannte Usertracking-Phantomschmerz.“
– „Wird das irgendwann weggehen?“
– „Personenbeziehbare Daten jucken oft noch Jahre später nach. Personenbezogene manchmal sogar noch länger. Wie geht es ihrer IP-Adresse?“
– „Ganz normal.“
– „Sehen Sie! Das liegt daran, dass sie bereits in Amerika verpflanzt wurde. Der IP-Organhandel blüht!“
– „Aber ich nehm doch Cookies dagegen!“
– „Die helfen nicht. Ich verschreib Ihnen Lynx. Das sollte den rapiden Daten-Raubbau stoppen.“
– „Danke, Dr. Weichert!“

(Nach einem Twitter-Dialog mit @linuzifier, Idee basierend auf einem Genöle von Johnny)

Termine im September

Morgen, den 3. September werde ich mal wieder bei dradio.wissen sein. Wir sprechen über Demokratie in Zeiten des Internets.

* * *

am 9. September sitze ich auf der Konferenz der Böllstifung netz:regeln auf einem Podium mit dem Titel: „OPEN DEMOCRACY: Anonymität, Privacy, Digitale Intimität – Privatsphäre und Öffentlichkeit im Internet“.

(Und am nächsten Tag werde ich natürlich auf der „Freiheit statt Angst“ mitgehen.)

* * *

Am 16. September wird das Co:llabortory – so ne Art temporärer Think Tank von Google, bei dem ich eingebunden bin – seine Ergebnisse zu der Initiative „Privatheit und Öffentlichkeit“ präsentieren. Ich weiß noch gar nicht, ob ich da irgendwie aktiv was sagen werde. Da bin ich auf jeden Fall. Anmelden kann man sich hier.

* * *

Am 22. September werde ich bei der Business School Potsdam mit Leuten über das Internet diskutieren.

Positivismus

Ich bin immer so negativ. Immer beschwere ich mich. Klar, ich bin ein Blogger. Ein Netzmensch. Wenn wir den Mund aufmachen, haben wir was zu meckern.

Aber heute nicht. Heute will ich mich mit dem Positiven beschäftigen. Heute will ich loben, empfehlen und werben. (Und bevor jemand fragt: ja, ich weiß, dass „Positivismus“ etwas anderes heißt, als Dinge gut zu finden.)

1. Christian Stöcker hat ein Buch geschrieben. Nerd Attack! Ich hab es gelesen und bin sehr angetan. Es ist – egal was er sagt – ein Generationenbuch. Es ist schließlich auch die Langfassung von Stöckers großem SPON-Artikel „Generation C64„. Also mein Generationenbuch, also das meiner Generation. Ich hab das alles auch so, zumindest sehr ähnlich erlebt. Christan Stöcker ist etwas älter als ich, aber insgesamt passt das schon.

Das Buch ist eine kenntnisreich und klug aufgeschriebene Kulturgeschichte der Nerdkultur. Es werden beide Fäden, der Amerikanische und der Deutsche aufgenommen und parallel geführt, was Sinn macht, denn man kann wohl keine nationale Nerdkultur ohne Kalifornien erklären. Am besten ist das Buch, wenn es die beiden Kulturen anhand ihrer – im Detail doch sehr unterschiedlichen – Herkünfte vergleicht. Dort die libertäre Hippie-Kultur, hier die deutsche, eher technikkritische Linke. Dieser Unterschied erklärt vieles, bis heute. Leider traut sich Stöcker an dieser Stelle nicht weiter zu bohren, sondern belässt es bei der Feststellung. Dass der in traditionell linken Kreisen teils vor sich her getragene, regelrechte Technikhass – den Stöcker durchaus in einigen Anekdoten beschreibt – direkt in dem grassierenden Technikkonservativismus und dem selbstgerechten Elitengehabe des heutigen CCC mündet, hätte man hier schön herleiten können. Aber Stöcker gibt sich sanftmütig, sucht keinen Streit. Alle haben recht.

Dennoch ist das Buch eine Bereicherung. Es sind viele Geschichten detailreich geschildert, von denen man gehört hat und einige neue Infos konnte ich auch daraus ziehen. Vor allem ist es wirklich fluffig geschrieben. Ich hab es auf zwei Zugfahrten durchgelesen und war keine Minute gelangweilt.

Am hervorhebungswürdigsten ist aber die Tatsache, dass es dieses Buch überhaupt gibt. Ein Buch, das positiv auf Technik und Technikkultur schaut, eines dass das Internet offensiv gut findet, ist in der deutschen Buchlandschaft eine kleine Revolution.

Lasst die deutschen Verleger also wissen, dass für Internetgutfindeliteratur durchaus ein Markt existiert und kauft das Ding!

* * *

2. Am 10. September findet mal wieder die Freiheit satt Angst Demo statt. Die einzige Demo, auf die ich regelmäßig gehe. Auch dieses mal bin ich wieder dabei. Auch wenn der Aufruf zur Demo von mal zu mal schriller wird, so dass ich mich frage, ob vielleicht doch der Titel „PANIK statt Angst“ angebrachter wäre, halte ich diese Demo weiterhin – wie schon auch letztes Jahr – für wichtig. Es ist das Signal an die Politiker, dass wir (und das ist in diesem Fall das Netz) uns einen Eingriff in unsere Freiheiten nicht gefallen lassen. „Freiheit statt Angst“ ist ein guter Titel und ich steh dazu. (Und ein bisschen demonstriere ich da auch, um einigen der Machern der Demo diesen ihren Titel selbst vor Augen zu halten. Wenn ihr mich sucht, ich bin der mit dem „Mehr Daten für alle!“ Plakat rumläuft.)

* * *

3. Als letztes eine Wahlempfehlung. Am 18. September wird in Berlin gewählt. Ich werde wieder die Piratenpartei wählen. Warum?

Weil ich sie für wichtig halte. Man kann darüber streiten, wer die besseren Rezepte hat, ob Wowi ein guter Bürgermeister ist, ob Künast glaubwürdig ist und ob die Piraten überhaupt personell und konzeptionell Politikfähig sind. Das kann man alles besprechen, aber es interessiert mich nur so peripher.

Die Welt ändert sich gerade massiv, schneller als jeder noch so steile Prophet vorhergesagt hat aber was ich sehe – durch alle Parteien hinweg – ist Ratlosigkeit. Tiefe Ratlosigkeit gegenüber den Problemen einer Welt, die aufgehört hat, nach den alten Theorien und Ideologien zu funktionieren. Das Wissen – ob links, ob rechts – wird gerade auf allen Ebenen entwertet.

Und die Piraten haben jetzt also die Lösung?

Nö. Aber sie haben den Mut für Experimente. Sie haben Mut, die Dinge – Politik, Wirtschaft, Soziales und im Zweifel sich selbst – immer neu zu überdenken und neu zu erfinden. Sie sind sich zum Beispiel nicht zu schade, um sich als Atomwaffentestgelände neuer politischer Konzepte wie Liquid Democracy zur Verfühung zu stellen, obwohl es ihre Partei beinahe zerrissen hätte.

Klar, kann man sich hinstellen und dann über die Naivität und Zerstrittenheit der Priaten lästern. Man kann aber auch den Mut und die mentale Offenheit bewundern und dankbar sein, dass da draußen Leute sind, die es einfach mal versuchen.

Ich jedenfalls bin das. Und deswegen halte ich die Piraten immer noch für das wichtigste politische Experiment in dieser Tage und will es gerne unterstützen.

Liebe Geisteswissenschaftler,

ich darf mich kurz vorstellen: ich bin einer von Euch. Ich habe Kulturwissenschaften studiert. Das ist ein Studienfach, das mich einmal querfeldein durch viele Eurer/unserer Disziplinen geführt hat. Ich liebte die Literaturwissenschaften, ich ging in der Philosophie voll auf, ich tauchte gerne in der Soziologie ab und befasste mich interessiert mit den Medienwissenschaften. Ehrlich, ich bin ein Fan der Geisteswissenschaft! Ich halte sie für wichtig, notwendig und gut. Und immer habe sie verteidigt, gegen die Stimmen, die sie als überflüssiges und schöngeistiges Geschwafel abtun wollten. Und gegen die Sparzwänge – die immer zuerst die Geisteswissenschaften betrafen (obwohl sie jeder Uni immer das geringste kosten) – habe ich stets protestiert.

Aber heute, da habe ich ein Problem mit Euch. Nicht als Fachbereich, Disziplin oder Feld als ganzes, sondern mit den einzelnen Vertretern. Ich habe ein Problem mit Euch, dem denkfaulen, behäbigen und selbstgerechten Personal, das bräsig in der Uni sitzt, Paper über über Themen schreibt, die keinen interessieren und die keiner liest, während die Welt sich rasant verändert. Eine Veränderung, die tragischer Weise nur aus einer Richtung kommt, in die Ihr Geisteswissenschaftler verpasst habt, zu gucken. Ich habe ein Problem mit Euch, die Ihr aus eitler Attitüde heraus das neue Feld des Geistes, der Kultur und des Menschen habt links liegen lassen und damit Euch selbst – Eure gesamte gesellschaftliche Relevanz – aufgegeben habt!

Ich habe ein Problem mir dir, Sozialwissenschaftler!
Hast Du schon Kooperationen mit Facebook, Google oder wenigstens StudiVZ gesucht, um an Daten heranzukommen, wie Menschen tatsächlich miteinander interagieren? Das, was Ihr all die jahrelang vor Euch hinfabuliert habt, harrt der empirischen Überprüfung. Die Daten sind da. Menschliche Interaktion ist heute messbar. Wann fangt Ihr an?
Oder interessiert Euch die Gesellschaft nicht mehr?

Oder Du, Literaturwissenschaftler!
Wieviele literarische Blogs hast Du eigentlich in deinem Feedreader? Du weißt nicht, was das ist? Shame on you! Du findest Blogs nicht literarisch? Wo ist dann Dein Aufsatz: „Blogs als Nichtliterarische Form„? Das fällt nicht in dein Aufgabengebiet? Warum, weil es im Internet steht?
Du hast Deinen Beruf verfehlt!

Zu Dir, Politikwissenschaftler,
hast Du Dich schon mal mit der Unternehmensstruktur des Googlekonzerns befasst? Kennst Du Dich aus, mit dem Plattformstreit? Verfolgst Du die aktuelle Evolution vom Dienst, zur Plattform, zum Markt, zum Ökosystem? Analysierst Du die Machtstrukturen, die hier entstehen? Die wirklichen, nicht die Vorurteile? Nein? Aber das ist Politik! Und in Zukunft noch viel mehr, als der Kindergarten zwischen Paris und Berlin. Im Internet werden die Weichen der Zukunft gestellt, dort verlagern sich Gesellschaft und damit Macht, Aushandlungsprozesse und die Normativität des Faktischen hin.
Wolltest du nicht Politik verstehen?

Was ist mit Dir, Philosoph?
Hier wartet ein unendliches Betätigungsfeld für Dich. Hier werden Sprechakte und ihre Wirkung erfahrbar. Hier entstehen neue Formen des gemeinsamen Denkens, vielleicht sogar neue Formen von Bewusstsein. Hier wird gerade neu definiert, was der Mensch ist. Ohne Dich! Warum müssen Journalisten, Techies, Ex-Hippies und Blogger Deinen Job übernehmen und die großen neuen Theorien, Utopien und Ethiken spinnen? Dein Rat wäre hier gefragt, aber Du schweigst, bringst lieber eine neuredigierte Auflage der gesammelten Werke von Feuerbach heraus?
Interessierst Du Dich denn nicht mehr für die Welt?

Das Internet ist das Medium, in das sich Gesellschaft, der Mensch, die Poesie, all das, womit sich die Geisteswissenschaftler beschäftigen, auslagert. Ein unfassbar spannender Prozess findet hier statt. Aber die Herrn Geisteswissenschaftler sitzen bräsig in ihren Ledersesseln und tun so, als ginge es sie nichts an. Warum sind noch nicht alle Geisteswissenschaftler hier, bloggen, twittern, schreiben, lesen und bringen den Diskurs voran?

Aber wisst Ihr was? Vielleicht braucht Euch ja doch keiner.

So einiges

Ich wurde von zweimal interviewt. Das witzige war, dass beide Interviews am selben Tag herauskamen. Das Goetheinstitut hat mich zu dem ganzen Komplex Kontrollverlust/Filtersouveränität befragt. Ich finde das ist recht gut geworden und ein ganz guter Einstieg in das Thema. Die Stuttgarter Zeitung wiederum wollte wissen, was ich über den Klarnamenzwang bei Google Plus und die Ideen von Herrn Friedrich halte.

* * *

Aber kommen wir zu der „Ich bin Keiner“-Eröffnung. Anstrengend war es. Aber auch erfolgreich. Gute Presse, überall. Und voll war es auch. Viel voller als wir dachten. Die Führungen, die wir für 15 Leute maximal konzipiert hatten, mussten alle 3 Male mit mehr als dem doppelten Ansturm fertig werden. Am Ende kapitulierten wir vor den Massen und ließen die Ausstellungräume offen bis in die Nacht.

Wir werden jedenfalls weiterhin dran arbeiten. Sowohl an dem KEINER-Mythos, als auch an der Performance und einige neue Wohnungen sind auch wieder frei geworden und stehen kurz vor der Transformation zum KEINER-Raum. Nächstes Wochenende geht es weiter mit den Führungen.

* * *

Aber was ganz anderes. Nachdem schon letztens mein Google-Account gehackt war und eine Spam-Mail an alle meine Kontakte damit versendet worden ist, war diesmal mein Apple-Konto dran. Abbuchungen über 146 Euro durch eine App namens „Texas Poker“. Ich weiß nicht, wie es dazu kommen konnte. Ich hab zwar mein Passwort sofort geändert, aber das Problem scheint wohl wo ganz anders zu liegen, wenn man diesem Eintrag hier glauben schenkt. Scheint ein bekanntes Problem zu sein und hat nicht wirklich was mit Passworten zu tun.

Ist auch alles halb so schlimm. Apple und auch Click&Buy haben beide schnell den Braten gerochen und ich habe bereits wieder eine Gutschrift über den Betrag. Aber nerviger Scheiß ist das schon, dieser Kontrollverlust am eigenen Leib. Aber vermutlich nichts gegenüber dem, was uns allen noch bevorsteht. Die große allgemeine Datenbankschmelze ist erst in er Mache.

* * *

Ach, und dann wollte ich noch auf „subjot“ aufmerksam machen. Es ist nämlich die Erfüllung meiner Träume. Genauer: eine ziemlich konkrete Umsetzung meiner Channels statt Circles Ausführung auf CTRL-Verlust. Noch nicht 100% perfekt aber auf jeden Fall die richtige Richtung. Jetzt muss das nur noch so schick und intuitiv werden, wie Google plus und sich eine große Userbasis erstreiten. Ohne Publikum macht das alles keinen Spaß. Zumindest sollte man den Dienst im Auge behalten und ein bisschen damit rumspielen, um zu sehen, ob die Channelidee (hier „Subjects“ genannt) überhaupt eine brauchbare Lösung ist. Hab darüber auch gerade bei Twitkrit geschrieben.

* * *

PS: fast hätte ich es vergessen. Heute ist übrigens wieder Wir müssen reden – Folge 30. Diesmal wieder mit Gast. Also nehmt euch mal nichts vor für heut abend, ca. ab 21:00 Uhr.

ICH BIN KEINER

Uff. Hier ist es etwas ruhig geworden. Auch drüben bei ctrl-verlust. Das hat einen Grund. Nämlich den, dass wir mit dem Kunstprojekt in der Kastanienallee 64 in die heiße Phase eingetreten sind. Mit anderen Worten, die Ausstellungsveröffentlichung steht kurz bevor.

Am 13. August geht es los. 19:00 ist die erste Führung von ICH BIN KEINER. Und zwar Performative Führung. Und ich hab das Skript dazu geschrieben. Und für die Filme, die dort per QR-Code per Handy abrufbar sind auch. Eigentlich auch die ganze Geschichte.

Aber von Anfang an: Ingolf Keiner (ja, er heißt tatsächlich so) ist der Künstler, der dort zwei Wohnungen in sowas wie eine begehbare Psychonalyse verwandelt hat (Vorsicht: meine Deutung). Genau genommen: durchgeknallte Installationen, die alle irgendwie mit dem Grundthema „Public is the new Private“ zusammenhängen, was auch der Grund ist, warum ich gefragt wurde da mitzuarbeiten.

Nun ist das ganze eine Art Joint-Venture eines Künstlers mit einem Schauspieler – nämlich Johannes Brandrup – und so war das Konzept auch, dass es dazu Performances geben soll. Eine performative Führung, aber nicht nur das. Einige Video-Clips mit Hintergrundstaffage und einer ganzen Storylandschaft – eher ein richtiger Mythos – und einem ganzen Ideologischen Überbau und dazu Dialoge, Monologe, halt einige Skripte. Eine Art Stück das auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig spielt – bzw. erfahrbar ist.

Und … wie soll ich sagen. Ich bin da so reingerutscht. Ich habe bisher nur die Ideologie per Blog geliefert und ein paar Ideen usw. Eine multimediales, auch interaktives, performatives (oje, hört sich das alles 90er an…) Stück. Eines das in dem Haus, in dem Vorhof (der Trailer Lounge), via Smartphone und im Internet gleichzeitig spielt und erkundet werden kann. Also die Verschränkung von Öffentlicher, Privater und virtueller Sphäre. Was gleichzeitig irgendwie auch der Inhalt des Stücks ist.

Ich bin leider noch mittendrin zu schreiben und wir drehen hier auch noch reihenweise die Clips und auch an der Kunst muss noch einiges gemacht werden. Aber es nimmt so langsam Formen an und der Stresspegel steigt in’s Unermessliche.

Es würde uns natürlich freuen, wenn ihr da mal vorbei kommt. Es wird immer am Wochenende (Fr. und Sa.) drei Führungen geben: um 19:00, 20:00, 21:00 Uhr. Bis auf weiteres, denn das alles wird sich noch weiterentwickeln. Die Kunst wird noch auf weitere Wohnungen überspringen und auch an dem Stück wird sich noch einiges ändern. Und ich bin da jetzt irgendwie teil von.

@JoSchaefers

Wie so viele kannte ich Jörg-Olaf Schäfers nicht persönlich. Aber virtuell seit 2005 – per Blog. Ich followe ihm auf Twitter ungefähr so lange, wie ich dort unterwegs bin und wir haben mehr als einmal lebhaft gechattet. Aber auch wenn ich sein netzpolitisches Engagement las und bewunderte; ich mochte an ihm am liebsten seinen Humor (Hier zwei Twitkrits über ihn: [1], [2]).

Ich war einige Male kurz davor ihn kennenzulernen, was dann aber doch nie geklappt hat. Und jedes mal habe ich mich geärgert. Aber irgendwie hat das der Sympathie, die ich für ihn empfand, keinen Abbruch getan.

Er war ein alter Bekannter irgendwie. Einer, der als Beleg dafür gelten kann, wie nah man sich jemanden rein im virtuellen Raum fühlen kann. Und als ebensolcher Beweis wird er nun ein großes Loch in meine Timeline reißen. Ein sehr reales Loch. Nicht nur bei mir.

Ruhe in Frieden, Jörg.

Ein paar lose Gedanken zu Oslo

Als Osama bin Laden erschossen wurde, hatte ich das Gefühl, dass damit ein Aktendeckel zuging. Das erschien mir aber selbst etwas vorschnell und irgendwie auch nicht wirklich reflektiert, deswegen ließ ich es bleiben, darüber zu schreiben. Aber irgendwie fühlte es sich so an, als sei damit das Thema internationaler Terrorismus – und damit meine ich seine dominante, den Diskurs der Weltgesellschaft bestimmende Form – vorbei. Ich kann es nicht beschreiben, aber es war mir, als ob ein weiterer Anschlag irgendwie „unoriginell“, irgendwie unpassend, ineffektiv erscheinen würde.

Als nun Oslo passierte und die Spekulationen über einen möglichen islamistischen Hintergrund die Runde durch die Medien machte, dachte ich zuerst, dass diese Einschätzung vorschnell gewesen sei. Ja, ich gebe gerne zu, dass ich die Spekulation der Kommentatoren nicht so hinterfragt habe, wie ich es eigentlich müsste.

Aber andererseits wäre auf die tatsächlichen Hintergründe der Tat wohl keiner von uns gekommen. Es ist die komplette Antithese der westlichen Vorurteile. Und es ist wie in einem Film. Wie in „Seven“, wie Torsten Kleinz mir zurief. Wir erleben gerade eine völlig neue Dimension von Zeugenschaft. Als ob das alles für uns inszeniert worden ist. (Ist es ja auch.) Wir wissen binnen kurzer Zeit den Namen des Attentäters, seine Adresse schauen wir auf Google Streetview an und seine Bankkontoinformationen liegen uns offen. All das wurde innerhalb kürzester Zeit gecrowdsourced.

Und dann das Manifest. Ein so unglaubliches Dokument. Vollständig in englisch geschrieben, damit wir alle es im Original lesen können. Ein Text, der einen detaillierten Einblick in das Geisteswesen eines Mannes offenbart, den kein Drehbuchautor besser hätte entwerfen können. Wir lesen seinen Tagesablauf, wie er sich mit Freunden triff, wie er auf Partys diskutiert, seine Familie besucht und wie er neben dem heimlich an seinem Plan schraubt, viele unschuldige Menschen zu töten. 9 Jahre lang werkelte er im Geheimen. Wir bekommen seine Ideologie dargelegt und es ist so erschreckend, dass uns vieles sehr bekannt vorkommt. Das alles ist so verstörend nah, so lückenlos, so perfekt abgestimmt, so unglaublich real. Baudrillard würde sagen: Hyperreal. So real, dass man an seiner Realität beginnt zu zweifeln. (Was ich natürlich nicht wirklich tue)

Und dann die Gewissheit, dass das so vieles ändern wird. Wäre es tatsächlich ein islamistisches Attentat gewesen, wäre es schlimm gewesen. Die Rückkehr des Terrors. Aber so ist es mehr, ein Paradigmenwechsel. Nicht in der Art, wie der 11. September die Welt veränderte, sondern vielmehr so wie der Mord an Theo Van Gogh. Irgendwie stehen die beiden Taten in Korrespondenz zueinander.

Der Mord an Van Gogh hat die politische Debatte verschoben. Es war ebenfalls die Tat eine verrückten Einzeltäters, aber es führte dazu, dass eine ganze Gesellschaft ihre Haltung zur Toleranz vor allem dem Islam gegenüber überdachte. Sie führte auch zum Erstarken der Rechten in ganz Europa. Sie führte – oder verstärkte zumindest enorm – die Antiislamdebatte und die neue Rechte und sie führte somit eben auch zu Breivik.

Dabei weiß ich nicht, wie dieses Ereignis die Dabatte verändern wird. Reflexartig wendet man sich gegen die sogenannten „Islamkritiker“ und macht sie implizit mitverantwortlich für die Tat. Ich persönlich hatte schon einen Blogeintrag fertig, in dem ich die Debatte um die Islamfeindlichkeit hiermit für alle Zeiten für diskreditiert erklärte. Ich habe den Artikel, wie einige andere, doch nicht veröffentlicht. (In solchen Situationen ist es immer nicht schlecht ein paar Artikel erstmal für den Mülleimer zu produzieren.)

Aber begeht man damit nicht den selben Fehler wie nach dem Tod Theo Van Goghs? Wieso sollen wir – auch wir – Leute in Sippenhaft für die Tat eines Einzelnen nehmen? So wenig, wie ich Henryk M. Broder, Thilo Sarrazin, Leon de Winter, Ralph Giordano und den vielen anderen in ihren verqueren Analysen Recht gebe; es ist unfair ihr Schaffen in diesen Zusammenhang zu stellen. Es ist das selbe, wie Friedrich Nietzsches Werk als Bauanleitung des Nationalsozialismus zu interpretieren, oder die Scharia für den 11. September verantwortlich zu zeichnen oder Killerspiele für die Taten eines Robert Steinhäusers. Wir haben das kritisiert – zu Recht!

Natürlich kann und soll man den rassistischen Antiislamdiskurs kritisieren. Und gerne jetzt noch um so heftiger. Aber ich warne davor, ihn nun in einer Art linkem Rollback als illegitim zu diskreditieren. Ich warne davor, monokausal auf den Diskurs und seine Akteure einzuschlagen. Am Ende nämlich werden wir damit nur die Meinungsfreiheit beschädigen und jene bestätigen, die schon immer raunen, dass man bestimmte Dinge ja in diesem Land nicht sagen dürfe.

Ist es nicht vielmehr Zeit, als Gesellschaft anzuerkennen, dass man sich nicht vor Verrückten schützen kann? Dass es nichts hilft, Diskurse zu verbieten, Weltanschauungen verantwortlich zu machen, Flugpassagiere ihre Schuhe ausziehen zu lassen und alles mit Kameras vollzustellen? Wir Menschen sind viele. Da sind immer ein, zwei durchgeknallte Exemplare dabei. Vor denen kann sich sich eine Gesellschaft nicht schützen.

Wenn wir ehrlich sind, werden wir niemals einen Mohammed Atta oder einen Breivik verhindern können. Denn ein Mohammed Atta oder einen Breivik wird immer etwas oder jemand anderes sein, als wir in dem Moment erwarten. Breivik war ein schwarzer Schwan. Es gibt nichts, was die Norweger hätten tun können. Wer was anderes behauptet, ist ein Terrorexperte – ein Experte für weiße Schwäne.

Wir werden damit leben müssen, dass die Welt kein sicherer Ort ist und es wäre klug sich einzugestehen, dass man bestimmte Dinge nicht verstehen kann.

London und die nächste Woche

Gerade schau ich mir London an. Ob ihr’s glaubt oder nicht: ich bin das erste mal hier. Es scheint sich besonders Mühe zu geben, allen seinen Clichés zu entsprechen, jedenfalls was Wetter und die Qualität des Essens entspricht. Ansonsten überrascht mich auch sonst recht wenig. Jedenfalls positiv.

Auf der Negativseite gibt’s allerdings ein paar Dinge:
1. Die Frauen tragen hier rücksichtslos und völlig unabhängig von ihrer Figur viel zu enge Kleidung. Alles quillt und spannt. Neben ihnen selbst leidet vor allem das ästhetische Empfinden ihrer Mitmenschen.
2. Es gibt zwar hier viele Späti-Kiosk-ähnliche Shops. DIE VERKAUFEN ABER KEIN BIER!!!
3. Mein mobiles Internet von T-Mobile, das ich mir hier geholt habe, ist zensiert. Unter anderem wir.muessenreden.de. Ein Jugendschutzfilter, der per default alles was er nicht kennt wegblockt. Die Briten haben sie doch nicht alle! (Man kann das irgendwie wegmachen, indem man irgendwelche ID zur Identifizierung irgendwo hinschickt, vermutlich nur für Engländer) Sowas macht mich echt wütend. Zensur ist etwas, das gar nicht geht. Ich spreche jedem Land ab, ein freies Land zu sein, dass das Internet zensiert. Aus welchen Gründen auch immer!

Aber eigentlich wollte ich noch ganz andere Dinge erzählen. Ich bin hier nämlich voll am orgarn dran. Irgendwie ist dieses Es ergeben sich Dinge„-Leben auch nicht immer so selbstbestimmt, denn die „Dinge“ halten sich ja auch nicht an Urlaubsplanung. Zum bespiel Geburtstage. Die kommen immer voll unerwartet hereingebrochen wie schwarze Schwäne.

So wie Dienstag da habe zum Beispiel ICH Geburtstag! Ich werde in der Trailer Lounge feiern. Ihr seid herzlich eingeladen, wenn ihr euer Fleisch selbst mitbringt. Platz und Grills wird’s wohl genug geben. So ab 16:00 wird nämlich gegrillt. Bier gibt’s an der Bar. Hoffentlich ist das Wetter gut.

Dann werden Max und ich Donnerstag, den 14. Juli (voraussichtlich) wohl wieder einen „Wir müssen reden“ machen. Völlig egal, ob man das in England hören kann oder nicht. So ca 21:00 könnte es wohl wieder einen Livestream geben.

Am Samstag den 16. Juli werde ich bei dradio.wissen morgens um 11:00 im c’t Online-Talk sitzen. Und zwar mit Don Dahlmann, Anne Roth und Jürgen Kuri moderiert. Es wird um Social Networks gehen: vermutlich aufgehangen an G+, aber auch Diaspora, Facebook etc. Ich freu mich vor allem auf die Sendung, weil ich endlich mal den von mir sehr geschätzten Jürgen Kuri persönlich kennen lerne.

Und gleich am Montag, den 18. Juli – ja, uff – um ca. 18:30 (wird bestimmt keinen Livestream geben) werde ich an der Uni-Tübingen einen Vortrag über den Kontrollverlust halten. Mein erster Reentry in den akademischen Diskurs, quasi. Das Seminar ist im Bereich Medienwissenschaften angesiedelt. Bin gespannt wie meine Thesen bei den Studenten ankommen. Danach werd ich mal nach Stuttgart rein, meine Schwester besuchen.

So, das werden die nächsten Tage. Nicht mit dabei die anderen nichtoffiziellen Termine. Ganz schön viel Holz und deswegen muss ich von hier jetzt so viele Mails hin und her schreiben. Aber morgen geht’s erstmal auf das 1234-Festival in Shoreditch. Bin gespannt. Kenne keine einzige Band.

PS: Was ich noch vergas. Ich bin eigentlich voll damit beschäftigt die Welt zu retten. Vor Außerirdischen nämlich. Die greifen in unterschiedlich starken Wellen an und wollen meine Cores klauen und ich muss mich mit Towern verteidigen. Ja, ich gebe es zu, ich bin voll addicted. In Defense Grid aus dem OSX-App-Store. Arrghh, das kostet so viel Zeit!

Und nochmal Archäologie

Ich war das Wochende bis Montag bei meinen Eltern. Mein Vater hatte Geburtstag und so war eine jener Gelegenheiten an denen „man sich blicken lässt“. Aber diesmal hatte ich mir selbst noch einen Auftrag erteilt: Archäologie.

Es ist wirklich viele Jahre her, vermutlich mehr als zehn, dass ich einen Blick in die Fotoalben meiner Kindheit geworfen hab. Ich bin kein besonders nostalgischer Typ und so ist die Vergangenheit für mich vor allem eins: vorbei.

Aber letztens ging ein Link auf Twitter rum, der meine Begristerung weckte, wie die von vielen anderen. In diesem Blog werden Fotos von Fotos gesammelt, die vor dem Hintergrund ihrer jetzigen Realität fotografiert wurden. Und irgendwie machte es die Vergangenheit – und vor allem das Vergangensein der Vergangenheit – greifbar und damit interessant.

Und als ich nun zuhause war, habe ich meine alten Fotoalben durchgeblättert und nach ähnlichen Gelegenheiten gesucht. Ich bin ich nicht so der gute Fotograf, aber ich glaube, der Effekt kommt trotzdem rüber.

Der Baum ist gewachsen, wie man sieht, aber die Struktur stimmt noch. Das da war mein Spielplatz. Mitten auf dem Acker, eine winzig kleines Wäldchen. Wir haben Lagerfeuer gemacht und Kartoffeln darüber gegart. Jetzt ist vieles zugewuchert, was vorher frei war.

Ich hatte in der Streetview-Debatte immer wieder auf das Projekt von Fritten hingewiesen, der etwas sehr ähnliches tut. Fotos von damals sammeln und in den Kontext mit dem Heute stellen. Es ist eine ganz besondere Form der Archäologie und eine Form des Erinnerns, die mir sehr nah ist, theoretisch wie emotional. Und die irgendwie Zeitgemäß ist.

Durch den Cut, den die Konfrontation des selben mit seinem Vergangenem erzeugt, wird eben nicht, wie es in der klassischen Geschichtsschreibung getan wird, eine rationale Kontinuität erzeugt und eine Geschichte erzählt, sondern die nackte Andersheit zwischen den Zeiten deutlich gemacht. Es ist so, wie wenn man einen Bekannten nach langer Zeit wieder trifft und er einem sagt, dass man ja dünner oder dicker geworden ist. Das bekommt man aus seinem direkten Umfeld meist nicht zu hören, weil das zu nahe dran ist, als dass es die Veränderung beobachten könnte.

Das Geschichtsbild, das hier zum Ausdruck kommt, gleicht dem Foucaults, der die Brüche und Diskontinuitäten zwischen den Geschichts- und Diskursformationen hervorhebt. Nicht der lineare Übergang, sondern Zack – und alles ist anders. Bei Foucault sind es die Diskurse, die sich schlagartig wandeln. Auf einmal werden Dinge aussagbar, die vorher irgendwie nicht möglich waren zu sagen. Nicht in erster Linie, weil es durch Repression unterdrückt war, sondern weil das gesamte Weltbild ein anderes war. Die gesamte Konfiguration dessen, was gedacht und gesagt werden konnte.

Manchmal, wenn ich an das Weltbild meiner jungen Jahre zurückzuerinnern versuche, erlebe ich die selbe Fremdheit. Ja, ich glaube, ich habe zumindest einmal (vielleicht auch mehrmals) eine Diskursformation verlassen und bin in einer andere eingetreten. Nicht bewusst und nicht so, dass ich diese Formationen heute beschreiben könnte. Ich habe aber das Gefühl, dass ich in dieses Archiv hereingehen könnte, es archäologisch wie Foucault analysieren und den Riss beschreiben könnte, wenn ich mühe gäbe. Aber erinnern ist immer so anstrengend.

Abbo war unser erster Hund. Er war auf Fotos immer ein schwarzer Fleck und ist schon sehr lange tot. Das Meta-Foto hier war eine Herausforderung, weil an der Position an der das Original aufgenommen wurde, heute ein großer Busch steht, in den ich mich fast reinzwängen musste.

Doch da ist noch etwas anderes, an dieser Form der Erinnerung. Etwas das gleichzeitig hinter Foucault zurückbleibt und über ihn hinausgeht. Es ist ihre unwissenschaftliche Unbekümmertheit, ihre Beiläufigkeit und Zufälligkeit. Es ist nicht die Fraktur der Geschichte, die da beschrieben wird, wie sie Foucualt beschrieb (am liebsten anhand des diskursiven Wandels um das 17. Jahrhundert herum). Was wir auf den Fotos sehen ist eben keine intendierte Ausarbeitung einer Diskontinuität. Sie scheint da hindurch, das schon. Aber die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Gegenwarten ist beliebig. Irgendein „Jetzt“ wird mit irgendeinem späteren „Jetzt“ in Beziehung gesetzt.

Wo Foucaults Analyse den Bruch anhand der Dokumente vergleicht und so die unterschiedlichen Diskursformationen identifiziert, sagen diese Bilder nur: guck mal, wie anders. Sie enthalten sich quasi einer Wertung und einer Interpretation.

Der ehemalige Weggefährte aber auch Kritiker Foucaults Jaques Derrida hat das Archiv und die Archäologie in „dem Archiv verschrieben“ neu und anders gedeutet: „Wenn wir wissen wollen, was das Archiv bedeutet haben wird, so werden wir es nur in zukünftigen Zeiten wissen.

Wenn es so ist, dass Foucault Diskursformationen ausgemacht hat, in denen bestimmte Aussagen getätigt werden können und andere nicht (so seine Definition des „Archivs“ in Archäologie des Wissens), was versetzt ihn dann „heute“ in die Lage, diese neuen Fragen an die Geschichte zu stellen, die er stellt? Und noch viel wichtiger: welche kann er heute noch nicht stellen?

Es ist nicht so, dass Foucault diese Schwierigkeit nicht bewusst gewesen wäre. Doch eine Antwort hat er auf diese Frage nicht gefunden. Jedenfalls keine befriedigende, denn schließlich hätte das grundsätzliche Infragestellen der eigenen Perspektive seine Arbeit relativiert. Sie wäre, wie die Fotos hier, eine Momentaufnahme einer zeitgenössischen Geschichtsinterpretation und offen für jede neue diskursive Verschiebung. Auch über Foucault hinaus.

Es ist so, als ob ein zukünftiges Ich diese Fotos hier noch einmal nehmen kann und dann noch einmal die Originalstätten aufsuchen und eine dritte Zeitebene hinzufügen kann. Oder sogar jemand anderes. Oder jemand tut damit etwas völlig neues damit. Oder derjenige befragt meine Perspektive auf die Geschichte. Ohne Zweifel: das geht.

Ich habe dieses Fahrrad bekommen, als ich in die 7te Klasse kam und habe es sehr lange gefahren. Sogar noch fast die gesamte Unizeit. Es wurde nie geklaut, weil es so auffällig war. Die beiden Tannen vor dem Haus sind inzwischen Verweihnachtsbaumt worden.

Vielleicht werden wir eines Tages müde lächeln, über meine 2D-Archäologie. Vielleicht braucht es in ein paar Jahren ja nur ein paar alte Fotos aus unterschiedlichen Perspektiven und der Computer kann daraus ein 3D-Modell zimmern. Wer weiß schon, welche Archäologie morgen möglich sein wird? Oder wie man denken wird über das vergangene Heute oder über die Vergangenheit ansich? Oder über das heutige Denken der Vergangenheit?

Diese merkwürdige Konfiguration der Zukunft, die alles, all die Arbeit, all die Archäologie, all die Erinnerung offen wie ein Scheunentor macht – offen für Neubearbeitung, Neuinterpretation, etc – habe ich bekanntlich „Kontrollverlust“ genannt. Foucault – im Gegensatz zu Derrida – scheint der Kontrollverlust nicht geheuer gewesen zu sein. Und ja, ich gebe gerne zu, dass die Idee des Kontrollverlusts auf einer Derrida-Engine läuft.

Derrida, der seinen Blick weg von der Geschichte, auf den Blick des Historikers – oder den Foucualts – lenkt, hat eine Sache gesehen: dass ein Geschichtsbild mehr über denjenigen aussagt, der das Geschichtsbild anfertigt, als über die Geschichte selbst. Dementsprechend kann es nie um die „richtige“ Interpretation von Geschichte gehen, egal, wie man sein Geschichtsbild transformiert. Es kann immer nur um das zukünftige Gesichtsbild gehen.

Was wird X gewesen sein?“ ist Derridas immer und überall gestellte Frage. Es ist natürlich keine Frage, die man in einem empirischen oder gar formal korrekten Sinne beantworten kann. Die Befragung des Heute aus der Zukunft verschiebt die Betrachtung von der Epistemologie hin zur Politik. Ich habe das hier letztens versucht durchzuexerzieren. Ich glaube, aus diesem Denkansatz lässt sich noch eine ganze Menge herausholen. Vielleicht eine neue, zeitgemäße Linke Position?

PS: All diese Gedanken gären schon seit vielen Jahren in mir. Es ist meine bislang nicht vollendete Dosktorabeit. So langsam komme ich an dem Punkt, meine Gedanken entsprechend formulieren zu können. Vielleicht gibt es ja noch Hoffnung? Wer es genauer wissen will, lese das Exposé meiner Diss dazu.