Der Hype und das Phänomen

Es ist sehr schwierig zwischen Hype und Nicht-Hype zu unterscheiden. Gerade im Internet. Oft braust ein Thema von null auf 100 in Höhe, mal wird vor Überhypeung gewarnt, ein anderes köchelt vor sich hin, kocht plötzlich über und trotzdem redet keiner darüber.

Alle fragen sich: Was ist ein Hype? Oder was ist der Hype im Hype? Selbst die hartnäckigsten Web2.0 Gegner können nicht umhin da etwas… zu spüren, was jenseits des Hypes liegt.
Und selbst die hartnäckigsten Befürworter können nicht umhin, einen oder mehrere Hypes zu wittern.
Alle sind sich also einig: Es gibt Hype. Und es gibt da … etwas anderes.

Arbeiten wir uns an zwei sehr konkreten Beispielen ab, bei denen der Vorwurf des Hypes immer wieder in der Luft liegt: Myspace und Second Life.

Die beiden Beispiele könnten unterschiedlicher nicht sein. Ich skizziere sie kurz:

Myspace ist eine jenseits aller Vorstellungskraft schlecht gemachte Communityplattform. Sie ist strafbar unbedarft programmiert, strotzt vor Bugs, ist extrem Benutzerunfreundlich und grottenhäßlich designed, dazu immer schlecht erreichbar und sieht insgesamt aus, wie ein Computer-AG Schulprojekt. Man kann dort Benutzerprofile anlegen und sie wegen eines Bugs im System auch selber – in gewissen Grenzen – durch HTML und CSS-Injections designen, was meist zu noch hässlicheren Seiten führt, als sie standardmäßig vorgegeben werden. Dafür kann man Videos und Bilder hochladen, MP3s einhängen und ein Blog führen (was, glaube ich, so ziemlich keiner macht). Man kann sich eine Freundesliste anlegen, mit Leuten, die der Profilpage dann mit graphischen Kommentaren den geschmacklichen Gnadenstoß versetzen. „Freunde“ bedeuten aber auf Myspace grundsätzlich nichts, oder nur die Geltungssucht des Profilbetreibers, der meist alles added, was ihm unter den Mousezeiger kommt.

Second Life ist eine 3DWelt, eine zweite Welt im Internet, in der man seinen Avatar durch die Gegend steuert und dabei umglaubliche Handlunsgsfreiheit genießt. Es ist ein ambitioniertes Projekt, alles abbilden zu wollen (Orte, Leben, Handlungen, Kommunikation), was es im „Meatspace“ auch gibt. Nur eben ohne Beschränkungen. Es ist recht leicht sich mit der Steuerung und dem Interagieren mit Leuten und Dingen zurechtzufinden, und die Idee des Streamings von 3D Daten ist tatsächlich revolutionär. Es ist aufwendig designed, sehr durchdacht und funktioniert erstaunlich gut. Es ist nebenbei die Erfüllung des Traumes der „Virtual Reality“, jenem Schlagwort der 90er – und dem „Cyberspace“, der feuchte Traum aller Sciencefictionfantasien von Lem bis Gibson. So, nicht anders, hat man sich das vorgestellt, mit dem „virtuellen Raum“, der eine Alternative bietet zum Hier und Jetzt, ein neues Land der unbegrenzten Möglichkeiten. In Second Life kann man leben, lieben, sprechen, tanzen, grinsen, Dinge bauen, Dinge verkaufen und… natürlich fliegen! Nach und nach werden alle möglichen Datenformate eingebunden, Videostreams, Audiochat, etc. Dem Wachstum steht nichts entgegen.

Schaut man sich die Berichterstattung an, ist es ganz klar und folgerichtig was da passiert.

Myspace? Was ist das? Aber Myspace wuchs derweil mit rasanten Zuwachsraten. Erst als Myspace so groß war, dass man es nicht mehr ignorieren _konnte_ wurden die Medien aufmerksam. Und erst als Rupert Mudoch es für 580 Mio Dollar kaufte, war allen schlagartig klar, da war etwas hinter ihrem Rücken im Gange, was sie nicht verstanden. Es gab Berichte, immer mal wieder, das Thema war präsent, aber dennoch konnte Myspace immer wieder überraschen. Dass es jetzt zum globalen Ballungsort der Musikscene weltweit (und immer mehr der Krerativ-Scene insgesamt) wurde, ist immer noch nicht allen klar. Die Macht von Myspace ist so gewaltig, dass man kaum ein Künstler sich noch erlauben kann, dort nicht präsent zu sein. Myspace ist kein Karriereanschubser mehr. Es ist eine unabdingbare Notwendigkeit für die Karriere, egal auf welchem Höhenstand der eigene Stern gerade steht. Die Community, so viel ist sicher, wird die Macht über die Charts erlangen, früher oder später.

Second Life hingegen war von Anfang an ein Liebling der Medien. Second Life sei das neue Internet, war überall zu hören. Second Life werde alles Dagewesene in den Schatten stellen. Second Life ist die Zukunft des Internets, des Lebens und überhaupt von allem.
Die Medienvertreter überschlugen sich praktisch mit den Lobhudeleien, den Zukunftsprognosen und den Erwartungen.
Man kann dort Leute treffen, die man sonst nie treffen würde„, „man kann dort mit den anderen kommunizieren und Freundschaften knüpfen“ überschlugen sich die Kommentatoren, nichtahnend, dass die Leute das im Internet seit jeher machen. Ohne 3D drumrum.

Nichtsdestotrotz zögerte kaum ein Medienunternehmen gleich eine eigene Dependance in Second Life zu errichten, um präsent zu sein, wenn die von ihnen prophezeiten Userströhme eintreffen werden. Jetzt sind sie alle da. Alle großen Namen. Und warten. Sie warten immer noch.
Zwar hat es das weltweite volle-Breitseite-Medienberichterstattungs-Stahlgewitter, das viele Monate bis heute anhält, geschafft, die registrierten Nutzer auf über 6 Millionen zu treiben, dennoch sind nie mehr als zwischen 15 und 38.000 User online. Die meisten sind Neugiere, die meist nicht wiederkommen.
Ein mickriger Provinzzwerg gegen Myspace, das mit weit über 100 Millionen Usern und mehreren hunderttausend Neuregistrierungen täglich eine enorme Aktivität verzeichnen kann.

Wie kann man diesen Zusammenhang greiflich machen? Wie kann man diese Diskrepanz und diese Fehlurteile in Worte fassen. Vielleicht mit einer Differenzierung:

Myspace ist ein Phänomen. Im Grunde gibt es nichts, was seinen Erfolg und seine Macht rechtfertigen würde.

Second Life, was immer es auch kann – soviel darf man wohl heute sagen – ist ein reiner Hype.

Es gibt einen Unterschied zwischen einem Phänomen und einem Hype. Das Phänomen ist unberechenbar. Es bricht sich seinen Weg bahn, weil es etwas anbietet, was die anderen nicht anbieten. Den Un-Raum für Kontingenz. Es gab dem Zufall statt, einem Zufall, der sich im Nachhinein als Notwendigkeit herauskristallisieren wird.

Es brauchte so etwas wie Myspace. Aber nicht mal die Gründer und Architekten dachten im Traum daran, was das sein könnte. Sie kannten Myspace schließlich auch gar nicht, als sie es sich ausdachten. Sie kannten es auch nicht, als sie es launchten. Myspace ist nicht von ihnen, sondern von ihnen ist nur das Haus in dem sich ein Bedürfnis als Ereignis Bahn brach, das man heute „Myspace“ nennt.

Second Life schien sehr evident und sogar wortwörtlich genau das zu tun. Ein Haus zu bauen für ein Bedürfnis, das wir alle kennen: ein zweites Leben. Der Erfolg schien für viele vorbestimmt., gerade weil die Metapher hier so greifbar erschien. So plastisch.

Aber das Internet braucht keinen Körper. Das Internet brauch keinen „Raum“. Das Internet braucht nichtmal schön aussehen. Das Internet will im Gegenteil den Raum auflösen, dort, wo er er überflüssig ist. Es will den Taubenzüchter zum Taubenzüchter bringen, den Fan zum Popstar, den Spinner zur Verschwörungstheorie. Das Internet ist eine zweite Welt, aber nicht als Abklatsch der ersten Welt, sondern als etwas anderes. Etwas ganz anderes. Als einen Sturz, einen Fall, einen Zufall der jeder Vorraussagbarkeit entgeht, aber – im Nachhinein – die absolute Notwendigkeit dargestellt haben wird. Etwas was sich dort ereignet, wo die Wege kurz sind und die Schranken hackbar. Dann kristallisiert sich – vielleicht – etwas heraus, was ich beschlossen habe „Phänomen“ zu nennen und es dem Hype gegenüberzustellen.

Das Ende der Popkultur

Die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner war die Aufgabe der Popkultur. Die Kunst, und viele hielten Kunst im Kontext der Popkultur lange für unmöglich, die Kunst der Popper bestand darin, den gemeinsamen Nenner noch in den kleinen und kleinsten Details der Umwelt aufzuspüren, um ihn als respektvolle und/oder ironische Referenz ans Tageslicht zu zerren. Die Popkultur war somit auf der stetigen Suche nach sich selbst, in vielfachen Varianten mit sich selbst verschlungen, wieder und wieder. Ein monolithisches Knäul aus gemeinsamen Nennern und deren Retorten.

Das ist jetzt vorbei.

Es wird keinen gemeinsamen Nenner mehr geben. Keinen generationenübergreifenden. Nicht mal einen generationenumfassenden. Nicht mal einen regionalen. Es wird überhaupt gar keinen „gemeinsamen Nenner“ mehr geben, nicht mal als geflügeltes Wort. Der gemeinsame Nenner wird so was von tod gewesen sein.

Denn der gemeinsame Nenner ist das Produkt eines bestimmten medientechnologischen Einschnitts. Er wurde produziert in den Fabriken und Presswerken, in den Funkstationen und Mediamärkten. Warum? Die Antwort heißt: Economy of scale.

Economy of scale ist ein ökomomischer Begriff für die Beschreibung des betriebswirtschaftlichen Phänomens, dass die Stückkosten eines Gutes proportional zu seiner Produktionsmenge schrumpfen. Wenn ich ein Stück eines Produktes produziere, kostet mich das 10 Euro. Bei 100 nur noch 5, bei 1000 einer und so weiter.
Dieses eiserner Gesetz der Ökonomie ist die Mutter der Charts. Welche wiederum, die Mutter der Popkutur ist. Die Charts SIND unser Gemeinsamer Nenner. (natürlich nicht nur die Musikcharts, auch die Bildungscharts, die Newscharts, die Bestsellerliste bei Büchern, etc.)
Sie geben die Basis ab, auf der die ganze Popkultur (und die Popkultur war immer schon viel mehr als nur „die Popkultur“) gegründet ist. Die Popkultur ist das Resultat eines ökonomischen Kalküls. Eines Kostenzwangs. Einer betriebswirtschaftlichen Bilanz. Einer Rationalisierung.

Heute verlassen wir die Arena der Massenproduktion nach und nach. Massenproduktion wird es sicherlich noch lange geben, aber sie wird ihre Dominanz verlieren. Denn es ist und wird immer mehr möglich, massenhaft Individualprodukte herzustellen. Wir erleben das im Internet, alle möglichen kulturellen Güter betreffend, wir werden es auch im materiellen Bereich erleben. Und dann wird alles anders.

Denn es bewegt sich etwas. Ein schlafender Riese erwacht. Long Tail. Der Rattenschwanz an unausrottbarer Individualiät, speziellem Geschmack und heimlich gehegter Vorlieben. Man hatte ihn eigentlich schon vergessen. Man hat ihn abgeschoben mit Begriffen wie „Freak“, „Nische“ oder „Hobby“. Jetzt zuckt er kräftig und man kann sich sicher sein, er wird sich erheben. Und wenn er sich erhebt wird die kulturelle Welt erbeben. Denn, Massenkonsum ist vor allem ein struktureller Zwang, der von der Massenproduktion auferlegt war. Und dessen werden sich die Leute gewahr, sobald sie in Kontakt treten mit Dingen, die sie WIRKLICH interessieren. Der Rattenschwanz wird sich also nicht nur erheben, er wird auch zunehmend größer. Viel größer. (Zur Zeit kann man ihn Anhand der Verkaufszahlen bei iTunes auf etwa 40% beziffern. Das ist noch lange nicht das Ende. Ich würde auf 80 bis 90% wetten. (Der Witz, wenn es so weit ist, ist POP selber nur eine Nische und somit Teil des long tail. Also doch … 100%?))

Wenn jetzt aber niemand Teil einer großen Verwertergemeinschaft mehr sein wird, wenn die kulturelle Segmentierung so weit und so tief um sich greift, dass sie Gemeinsamkeiten nur noch handverlesen stiftet, dann wird die Popkultur vor Referenzlosigkeit schlicht verhungern.

Ich werde, glaub ich, keine Träne vergießen, wenn es so weit ist.