Ich habe bekanntlich ein ambivalentes Verhältnis zur Nerdkultur. Ich bin seit über zehn Jahren ein Teil davon und gleichzeitig nicht. Ich bin fasziniert von dem, was sich da entwickelt hat, abgestoßen davon, was sich dort verfestigt hat und irritiert, wie das intern überhaupt nicht wahrgenommen wird. Am krassesten trifft mich diese Ambivalenz der Nerdkultur auf den Veranstaltungen des CCCs. Ich kenne keine großartigeren Veranstaltungen. Und doch finde ich immer wieder so vieles problematisch. Und so viel irritierend.
Die meisten Talks kann ich recht gut in die eine oder die andere Richtung einordnen und ich bin dazu übergegangen, die Talks, die mich abstoßen, einfach nicht mehr anzugucken. Das funktioniert meistens ganz gut. Aber nicht immer. Deswegen möchte ich hier einen Talk besprechen, der sowohl die faszinierenden, die abstoßenden und die irritierenden Aspekte der Nerdkultur vereint und deswegen als idealer Repräsentant ebendieser Kultur herhalten kann. Ich spreche von Joscha Bachs „Computational Meta-Psychology“.
An dieser Stelle sollte ich vielleicht erstmal betonen, dass ich ein Fan der KI-Talks von Joscha Bach bin. Ich verfolge sie seit dem 30c3 und auch wenn ich die Heruntersimplifizierei hier und da problematisch finde, sind seine Gedanken immer sehr anregend, seine Rhetorik unterhaltsam und die Inhalte lehrreich.
Das Faszinierende
Mit einer Selbstverständlichkeit bricht Joscha komplizierteste Sachverhalte – sogar philosophische Fragstellungen – herunter auf quasi informationstheoretische Probleme. Das kann man sicher kritisieren, ich finde das aber erstmal erfrischend.
In diesem Rahmen erklärt er anhand einiger neuronal-anatomischer Beobachtungen und informatischer Konzepte, wie sich im Gehirn die Vorstellung von der Welt formt. Angefangen von der Reizung des Sinnesapparates, über Signalverarbeitung und Strukturbildungen im mehrschichtigen neuronalen Netz, hin zu Musterbildungen und dem Entstehen abstrakter Konzepte im Gehirn und wie das alles mit aktuellen Erkenntnissen der KI-Forschung erklärbar ist. Besonders spannend finde ich die Vorstellung einer Art Signal-Ökonomie, in der die vielen, vielen Reize um die vergleichsweise knappen Verarbeitungskapazitäten konkurrieren. Gesteuert wird diese Ökonomie durch ein ausgefeiltes Feedbacksystem der bekannten Botenstoffe. So funktioniert also Lernen.
Und natürlich – wie es sich für einen Nerd gehört – überträgt Joscha das Erklärte auch gleich auf andere Systeme. Nämlich auf soziale.
Joscha sieht analog eine Ökonomie des sozialen Lernens am Werk. Das Individuum lernt vor allem durch die Gruppe, denn das sei schließlich effizienter, als alle Erfahrungen selbst zu machen. Die Signale der Gruppe, ob Wissen richtig oder falsch adaptiert wird, sind dementsprechend das entscheidende Feedback für den Lernprozess.
Doch dieses soziale Feedbacksystem sei leider fehlerbehaftet. Denn wenn die Gruppe den Lernerfolg belohnt oder bestraft, ist eben nicht „Wahr und Unwahr“ (true and false) die entscheidende Feedback-Bedingung, sondern „richtig und falsch“ (right and wrong). Das seien aber gar keine wahrheitsorientierten Kategorien, sondern sozial-normative. Belohnt würde also nicht die wahre Wahrheit, sondern nur die Wahrheit der Gruppe. Abweichung würde hingegen bestraft. Dieser Prozess führt zwangsläufig zur Konformität von Meinungen und Einstellungen.
Soweit so gut. Bis hier kann ich mitgehen. Was Joscha hier beschreibt ist im wesentlichen nichts neues, aber gut heruntergebrochen. Die Wissenschafssoziologie befasst sich schon sehr lange mit den sozialen Prozessen, die rund um Wissensgenerierung und -weitergabe passieren. Foucault hatte bereits in den 60ern betont, dass die Beschaffenheit des Diskurses selbst bereits festlegt, was in ihm überhaupt gesagt werden kann und was nicht. Und Thomas Kuhn hat sehr schön beschrieben, wie das Wissensschaftssystem vor allem sozial aufgebrochen werden muss, um einer neuen Erkenntnis bahn zu brechen. All das passt sehr gut zu dem, was Joscha hier beschreibt. Es ist ein wichtiger Teil der selbstkritischen Auseinandersetzungen der Wissenschaft als sozialem System und es bleibt die Erkenntnis, dass Wahrheit immer auch sozial konstruiert ist.
Doch, halt, nein! Joscha behauptet nun, Nerds seien gegen diese sozial-normativen Feedbacksysteme immun. Nerds operieren ausschließlich im Modus Wahr/Unwahr (true/false). Das soziale Raster des richtig/falsch nähmen Nerds nur sehr bedingt wahr, sie seien in dieser Hinsicht gewissermaßen gestört. Joscha vergleicht die sozialnormativen Kategorien mit japanischen Papierwänden. Es seien eben nur Konventionen und Nerds haben nun mal den Defekt, die Konventionen zu missachten. Das sei auch der Grund, warum sie in der Gesellschaft eher unbeliebt sind, aber gleichzeitig wissenschaftlich begabt. Hinzu komme eine natürliche Affinität zur Logik der Computer, die eben im selben Spektrum operierten.
Das Abstoßende
Hier haben wir die Nerdideolgie in Reinform, von der ich so abgestoßen – zumindest ziemlich genervt bin. Ich will das kurz etwas aufdröseln:
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Natürlich steckt in Joschas Konzept von der sozialen Gestörtheit eine Koketterie, denn diese Gestörtheit lässt den Nerd ja unbeirrbar nach der wahren Wahrheit, statt der sozialen Wahrheit suchen. Die Gestörtheit ist also Basis seiner Genialität. Es ist in Wirklichkeit eine schmeichelhafte Geschichte, die Joscha erzählt. Es ist die Geschichte des Außenseiters und einsamen Genies, der gegen alle gesellschaftlichen Widerstände an seiner Wahrheit festhält. Der Nerd steht somit in der Tradition des Galileo Galilei. Nerdsein beinhaltet somit immer ein privilegiertes Verhältnis zur Wahrheit zu haben. Ist das nicht wunderbar?
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Voraussetzung für dieses privilegierte Wahrheitsverhältnis ist eine gewisse Assozialität. Das kommt quasi im Doppelpack. Das Desinteresse für soziale Normen und Gruppenwahrheiten ist ja erst das, was den Nerd zu seiner Wahrheitsliebe befähigt. Wer länger in der Nerdkultur verbracht hat, kennt diese Vorstellung gut, denn sie hat sich längst in Alltagshandlungen übersetzt. Arschlochverhalten wird geduldet, oft sogar ermutigt. Bei Kritik wird dann immer auf die Leistungen des Kritisierten verwiesen. „Guck mal, was er alles macht/kann“. Das Arschlochverhalten gehört eben dazu. Kann man nix machen.
Diese beiden Aspekte kann man gut und gerne als den Kern der Nerdideologie bezeichnen und es ist offensichtlich, dass sie auf lange Sicht toxisch ist. All die Probleme, die sich immer wieder um bestimmte Leute und im Vorfeld des Kongresses ranken, lassen sich direkt auf diese Ideologie und die sich daraus ergebenden Legitimationsstrategien zurückführen.
Aber die Nerdideologie ist nicht nur toxisch, sie ist schlicht falsch, um nicht zu sagen, hochgradig naiv.
Natürlich orientieren sich auch Nerds an sozialen-normativen Wahrheiten. Natürlich erschafft auch die Nerdkultur ihre Glaubensätze in einem sozialen Prozess. Natürlich hat die Nerdkultur ebenfalls ein sehr starkes, regulierendes Feedbacksystem für ihre sozialen Wahrheiten.
Ich kann sehr gut aus eigener Erfahrung sagen, wie heftig das Feedbacksystem zuschlägt, wenn man es wagt, die Gruppenmeinung zu bestimmten Themen herauszufordern. Ich würde sogar sagen, dass es nur wenige Communities gibt, die so wehrhaft ihren ideologischen Status Quo gegen abweichende Meinungen verteidigt. Aber vielleicht hat Joscha ein solches negatives Feedback noch nicht so zu spüren bekommen, weil seine Meinung allzu zu gut in die sozial akzeptierte Realitätskonstruktion passt?
Gespürt haben sollte er aber das positive Feedback, dass ihm zuteil wurde. Insbesondere seine Ausführungen zur Besonderheit des Nerds wurden mit heftigen Szenenapplaus beklatscht. Hier speist die Gruppe positives Feedback zurück zum Individuum, weil es seine Gruppenwahrheit bestätigt.
Das Irritierende
Ist das möglich? Ist Joscha wirklich nicht aufgefallen, dass er sich genau in der Situation befand, die er in dem Moment beschrieb? Die er allerdings so beschrieb, als könne sie ihm und seiner Gruppe gar nicht passieren? (Habermas nennt sowas einen „performativen Widerspruch“) Ist ihm gar nicht aufgefallen, wie er gerade der Mittelpunkt eines kollektiven, sozialen Konstruktionsprozesses ist? Hat er nicht gesehen, wie das eben noch von ihm beschriebene Feedbacksystem sofort ansprang und ihn belohnt hat?
Zu einem gewissen Grad liegt das natürlich in der Sache. Fast alle Literatur, die sich mit sozialen Konstruktionsprozessen von Realität auseinandersetzt, weist darauf hin, dass man gegenüber den eigenen Konstruktionsmechanismen einen blinden Fleck hat. Man kann sich nicht selbst beim Beobachten beobachten.
Ein etwas selbstkritischerer Beobachter, wird diesen Mangel aber mit einpreisen. Nicht aber Joscha. Stattdessen wird eben die Sonderstellung des Nerds behauptet. Und das ist vielleicht der Kern dessen, was mich an der Nerdkultur so irritiert: diese völlige Abwesenheit von kritischer Selbstreflexion.
Die Nerdkultur zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie alles kritisch reflektiert, außer sich selbst.
Und ich halte das für gefährlich. Denn mit einem hat Joscha recht: Den Nerds kommt eine besondere Rolle in der Gesellschaft zu. Sie haben in dem Maße an Relevanz gewonnen, wie der Computer immer wichtiger für das gesellschaftliche Funktionieren wurde. Nerds haben heute eine ganze Menge Macht, tun aber immer noch so, als seien sie dieselben Leute, die von Bullies mit dem Kopf in die Mülltonne gesteckt werden.
Im schlimmsten Fall entwickelt sich aus diesem ideologischen Exzeptionalismus bei gleichzeitig unreflektierter Machtpostion das, was ich neulich Fefesimus nannte. Eine Form von Nerd-Supremacy, in der der Nerd selbst zum Bully wird und das nicht mal merkt.
Das ist der Grund, warum ich Nerdpride ablehne. Ich wünsche mir vielmehr ein kritischen Umgang der Nerdkultur mit sich selbst. Mit ihrem Erbe, mit ihrer Ideologie, aber auch mit ihrem sozialen Hintergrund. (Siehe dazu z.B. den guten Artikel von Mina)
Ja, es gibt natürlich Bemühungen, vor allem im CCC, einige Strukturen aufzubrechen. Es gibt Bemühungen sich zu öffnen für neue Leute. Die tolle Keynote von Fatuma Musa Afrah ist ein gutes Beispiel. Und die Chaospat/innen haben eine Menge erreicht. Das ist eine wichtige Geste, aber ohne eine kritische Beschäftigung mit sich selbst – oder überhaupt mal das Zulassen von Kritik – bleibt sie nur Anstrich.
Joscha endete mit dem schönen Satz: „You are not a brain, you are a story that your brain tells itself“. Wenn die Nerds merkten, dass das auch für ihre eigene Identitätskonstruktion gilt, wäre das ein Anfang.