Ich bin nicht gut mit Papier. Gibt man mir ein Stück Papier – wie zum Beispiel einen Abholschein – werde ich es mit Sicherheit verlieren. Schickt man mir Briefe, kommen sie auf einen Stapel. Die Stapel wachsen mit der Zeit. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann stapeln sie noch heute.
Doch halt. Ich habe einen Gegenspieler. Das Finanzamt. Die wollen immer so Dinge über meine Zettel wissen. Und jedes Jahr wollen die mehr über meine Zettel wissen, bzw. jedes Jahr hab ich einfach auch viel, viel mehr Zettel. Das ist eigentlich gut, denn Zettel bedeuten Geld. Aber mehr Zettel bedeuten auch und vor allem ausufernde Zettelstapel und ist doof bei einem Finanzamt, das alles über meine Zettel wissen will. Ein Teufelskreis!
Jedenfalls wurde der Druck immer größer, mich mit meinen Zetteln zu beschäftigen. Und auch wenn „alles auf einen Stapel legen“ eine ganze Weile funktioniert hat (ihr wärt erstaunt wie lange das gut geht!), wird das Hantieren mit dem Zettelstapel irgendwann ineffizient. Ab einer gewissen Stapelhöhe werden die geringen initialen Organisationskosten durch das „Auf-den-Stapel-legen“ durch später nachfolgende „Wo ist noch mal Zettel X, ich les den Stapel noch mal komplett durch“-Kosten weit überstiegen.
Es brauchte also eine zusätzliche Organisationsmaßnahme. Zu diesem Zweck besorgte ich mir letztes Jahr eine Technologie namens „Tacker“. Ein Tacker erhöht erstmal den Organisationsaufwand pro Zettel, aber reduziert auf längere Zeit die Mit-Zettel-Hantier-Kosten. Mit dem Tacker kann ich verschiedene zusammengehörige Stapel zusammentackern und so klar abgrenzbare Einheiten von Zetteln (die jetzt eine feste Ordnung haben) zusammenfassen, so, dass sie nicht mehr durcheinanderflattern können. Das reduzierte für mich die allgemeinen Organisationskosten wieder auf ein erträgliches Maß. Ich tackerte fröhlich vor mich hin und konnte von nun an mit definierten Zettel-Büscheln arbeiten, sie rumschicken und ablegen, ohne, dass sie durcheinanderflogen.
Eine Freundin, die sich mit Zettelmangement viel besser auskennt als ich, riet mir allerdings recht bald, vom Tacker Abstand zu nehmen und stattdessen eine Technologie namens Locher einzusetzen.
Locher haben erstmal einen gering höheren initialen Kosteneinsatz (Man muss etwas genauer sein beim Lochen als beim Tackern) und haben zudem den Nachteil, dass das Lochen ansich nicht als Organisationsmaßnahme ausreicht. Die Lochertechnologie hat nur einen Sinn, wenn man sie mit einer Komplementär-Technologie wie einer Mappe, einem Schnellhefter oder einer Akte verwendet. Damit steigen die Organisationskosten aber erstmal steil an. Ich brauche als Investition nicht nur den Locher, sondern auch die Mappe oder Akte. Dann muss ich für jeden Zettel zwei Schritte einleiten: 1. Lochen, 2. Wegheften. Das ist mehr als eine Verdoppelung der Organisationskosten pro Zettel! Hinzu kommen neue Organisationsstrukturen für Akten. Die brauchen auch einen Platz, müssen beschriftet werden, etc. (Ok theoretisch, momentan liegt nur ein unbeschrifteter Schnellhefter auf meinem … äh, Zettelstapel.)
Dann allerdings entfaltet das Lochen einige organisatorische Features, die in Sachen Komplexitätsmanagement recht mächtig sind. Die Zettel haben keine notwenige feste Ordnung, sondern man kann sie jederzeit umorganisieren (auf diesem Level bin ich aber noch nicht. Aber man will ja auch zukunftsfähig bleiben.) Außerdem kann man beinahe beliebig große Stapel zusammenfassen. Hinzu kommen Möglichkeiten der Organisation auf Sub-Ebene: Innerhalb von Akten kann man Sektionen anlegen. Ein Killerfeature für meine Steuererklärung! Auch praktisch ist, dass die einmal gelochten Zettel plötzlich mit anderen Akten und Heftern interoperabel sind. Die Löcher sind allgemein standardisiert und sind mit vielen Aktensystemen weltweit kompatibel, woraus sich – zumindest theoretisch – enorme Netzwerkeffekte ergeben. (Aber auch dieses Feature nutze ich bisher nur begrenzt. Ich habe nur einen einzigen Schnellhefter, in dem meine Steuer von 2014 drin ist.)
Ein weiterer Technologieschritt, der tatsächlich in viel größeren Organisationen gemacht wird, ist alle Zettel zu digitalisieren. Das erhöht die Organisationskosten zwar dramatisch (alle Zettel müssen eingescannt und per OCR maschinenlesbar gemacht werden. Es braucht eine entsprechende Datenbanktechnologie, die meist sehr teuer ist oder selbst programmiert werden muss. Es kommen Kosten für Administration und Hardware hinzu. Hinzu kommen zusätzliche Risiken, wie Datenverlust oder Hackerangriff.) Die Komplexitätsreduktion wäre aber genau so gewaltig. Ich könnte in allen Dokumenten volltext suchen, könnte Reportings machen, verschiedene statistische Auswertungen erstellen und mit intelligenten Skripten könnte ich sogar meine Steuererklärung über weite Teile automatisiseren.
Aber seien wir ehrlich: bis sich ein solcher Schritt lohnt, müsste das Komplexitätsniveau meiner Zettel aber noch mal um einige Orders of Magnitude steigen. Was keiner von uns wollen kann. Oder eine neue Technologie würde die Einscan- und Datenhaltungskosten radikal reduzieren. Was alle von uns wollen.
Worauf ich aber eigentlich hinaus will: der lose Zettelstapel hat mir jahrelang gute Dienste geleistet und die Organisationskosten waren lange auf sehr geringem Maß. Mit zunehmender Komplexität der Menge und Anforderungen begannen die Organisationskosten allerdings dramatisch anzusteigen. Ein Tacker hat sich ab einem gewissen Komplexitätsnivau als heilsam erwiesen, aber eben nicht vorher und nur bis zu einem bestimmten Punkt. Eigentlich hätte ich aber mit dem Tacker noch eine ganze Zeit lang weiter machen können, aber meine erste „richtige“ Steuererklärung hat mich vorschnell zu der Technologie „Lochen + Aktenhaltung“ getrieben. Eine Technologie, die wahnsinnig viel höhere Kosten verursacht, aber auch ein wahnwitzig höheres Maß an Komplexität bewältigen kann, das heißt viel, viel „mächtiger“ ist. Mehr Macht, als ich derzeit brauche zwar, aber eben auch so viel wie nötig.
Das heißt, es gibt verschiedene „beste“ Technologien für unterschiedliche Komplexitätsniveaus. Die Organisationstruktur folgt der Organisationstechnologie, folgt dem Sweetspot von Organisationskosten und Komplexitätsbewältigung. Ich nenne die Bereiche, in denen ein Komplexitätsniveau im Zusammenhang mit einer Organisationstechnologie einen Sweetspot bildet der Einfachheit halber mal ein „Realm„. Realms sind stabile Zustände – eine Art Kosten-Anforderungs-Homöstase für Technologien – die sich einpendeln, wenn eine Technologie gerade billig und gleichzeitig mächtig genug ist, um eine gegebene Komplexität effizient zu managen. Ein Realm reicht von „Meine alte Organisationstechnologie reicht gerade nicht mehr aus, ich brauche eine Neue“ bis zu ihrem Gegenpart bei der nächst höheren Organisationsstufe/-Technologie (Iteration). Ich bin also gerade über die Schwelle gestiegen, die das Tacker-Realms vom Locher-Realm trennt und stehe nun etwas ratlos und überfordert am Beginn des Locher-Realms und kann die Weite kaum überblicken.
Ich schreibe das hier auf, weil ich verstehen will, wie Organisation funktioniert. In meinem Buch habe ich die derzeitige Transition von der Institution hin zur Plattform mit dem Verhältnis von Netzwerkeffekten und Organisationskosten begründet. Die Digitalisierung und das Internet haben die Organistationskosten für Sozialität und Kommunikation so weit gesenkt, dass die Netzwerkeffekte in einem viel, viel höherem Maße abgeschöpft werden können. (Vorher gab es auch Netzwerkeffekte, aber ihr Nutzen wurde bei steigender Gruppengrößen und höherer Entfernung der Teilnehmer schnell von den steigenden Kosten aufgefressen. Das Internet hat das geändert.)
Wir sehen in der IT-Technologie ständig solche Transitionen. Wenn die Grafikberechnung vom Prozessor auf einen eigenen Chipsatz ausgelagert wird, dann wieder zurück in den Prozessor wandert, um dann als Chipsatz wieder externalisiert zu werden. Wenn die frühen Computer Timesharingsysteme waren, dann vom Trend zum Heimcomputer eingeholt werden, der dann aber wieder vernetzt wird und sich wieder ein hierarchisches Server/Client-Verhältnis einfügt, bishin zu dem was wir heute Cloudcomputing nennen. Oder nehmen wir das Internet selbst. Von einer ziemlich dezentralen Struktur von heterogen betriebenen Servern hin zu den großen Plattformen und ihren Datencentern, die alle Dienste und User bündeln und konzentrieren. All diese Entwicklungen antworten auf bestimmte Trends in Sachen Organisationskosten, Komplexitätsniveaus und natürlich bestimmten technischen Innovationen. Der Timesharing-Computer hatte ein bestimmtes Realm, der PC hatte eins und die Cloud hat eines. Die Grafikkarte scheint sogar mehrere (gehabt) zu haben.
Ich denke, dass ähnliche Realms eben auch in der Geschichte der gesellschaftlichen Organisation stecken. Vom Stamm zum Dorf, zur Stadt, zum Fürstentum, zum Königreich, zum Nationalstaat, zur Plattform. Ein bisschen geht Dirk Baeckers Theorie zur Nächsten Gesellschaft in diese Richtung, legt aber meines Erachtens zu wenig Fokus auf die ökonomischen Wirkkräfte die dahinter Stecken. Medientechnologien spielen für die gesellschaftliche Organisationsform vor allem deswegen eine Rolle, weil sie auf die Organisationskosten Einfluss nehmen.
Eine Vorstellung davon, wie agil und organisch ich mir diese Transitionsprozesse aus der Markoebene betrachtet vorstelle, bekommt man ein bisschen, wenn man sich anschaut wie sich sogenannte Ferrofluids (Magnetische Flüssigkeiten) in unterschiedlich starken Magnetfeldern organisieren – und bei veränderten Magnetkräften reorganisieren. Sie stabilisieren sich immer wieder in verschiedenen Stadien, also das, was ich Realms nenne.