Ich weiß, ich soll mich nicht aufregen. Aber ich hasse es, wenn Leute sich über Themen ereifern, die sie ganz offensichtlich nicht kapiert haben. Aber ich will jetzt nicht rumbashen, das überlasse ich denen.
Wen ich meine? Christian Köllerer.
Versteht mich nicht falsch. Es ist nicht schlimm, wenn jemand etwas nicht versteht. Ich selber verstehe vieles nicht und stehe ganz offen dazu. Und auch gerade bei dem Thema „Dekonstruktion“, das Köllerer hier und hier und hier (via) versucht nieder zu schimpfen, habe ich persönlich viel mehr nicht verstanden, als ich bisher verstanden habe. Aber es geht. Ja es geht tatsächlich, man kann Dekonstruktion verstehen. (Wenn man davon absieht, dass man „Verstehen“ eigentlich ein Begriff ist, den man in der Dekonstruktion vermeiden sollte)
Und hier sind wir an einem wichtigen Punkt, der das Verständnis so schwer macht. Ich nenne es mal die Tücke des Begriffs. Um das zu erklären hole ich ein wenig weiter aus:
Dekonstruktion ist schwer zu verstehen, aber nicht weil sie so kompliziert wäre. Auch nicht weil sie eine logisch-theoretische Meisterleistung wäre, sondern weil sie die Sprache selbst –kritisch – als Thema hat. Weil das so ist, muss sie Begriffen misstrauen und kommt deshalb nicht umhin diesen teils auszuweichen, teils sie in Frage zustellen, teils ihren Sinn zu verschieben oder sie umzudeuten. Je nach dem. Anders als Köllerer behauptet, ist die Dekonstruktion deshalb auch keine „Theorie“ sondern eine Praxis.
Nun, warum sollte man Begriffen misstrauen? (Und, Somlu, das ist auch gleich eine Antwort auf deine Bitte, meine Entgegnung auf deinen Kommentar zu erklären – sorry, dass das so lange gedauert hat)
Begriffe sind nicht nur einfach „leere“ Worte, so wie Namen – anders als Goethe sagte – auch kein Schall und Rauch sind. Dass das die Philosophen alter Schule und auch die Analytiker von drüben auch wissen, ist mir klar. Es gibt deshalb auch das Konzept, dass man sagt, Worte haben eine „Bedeutung“. Saussure zum Beispiel, benannte diese Zweiteilung von Wirt und Bedeutung mit „Signifikat“ und „Signifikant“. Das ist nicht einfach nur eine billige Erkenntnis, sondern es ist großer und wichtiger Konsens unter allen Sprechenden, dass Worte eine Bedeutung haben, sonst – so könnte man meinen- würde Sprache ja auch nicht funktionieren.
Wenn die Dekonstruktion jetzt den Worten misstraut, misstraut sie dann ihren Bedeutungen? Ja und Nein. Denn hier wird’s kriminell: Die Dekonstruktion misstraut nämlich unter anderem und vor allem dem Begriff und dem Konzept der „Bedeutung“. Sie fragt also: „Was bedeutet Bedeutung“?
Das kann sie aber ja nun leider nicht fragen, wenn sie „Bedeutung“ gleichzeitig hinterfragen will. Man merkt, man braucht das Konzept der „Bedeutung“ wenn man „Bedeutung“ definieren will. Und auch wenn man andere Worte zu rate zieht, wie „Signifikat“, „Sinn“, „Idee“, „Inhalt der Rede“ etc, man entkommt dem Konzept der Bedeutung nicht. Bedeutung ist sozusagen unhinterfragbar, ein faktisches Dogma, ein logisches Dogma. Oder ein Dogma des Logos?
Und hier setzt die Dekonstruktion an: Wie ist das zu rechtfertigen? Keiner hat sie je gesehen, gerochen oder geschmeckt, niemand hat sie jemals gemessen oder sie irgendwie nachgewiesen. Wie kann man so ein Dogma unhinterfragt einfach so im Raum stehen lassen?
Dass so ein ketzerisches Aufrühren die Philosophie auf den Kopf stellt, braucht man wohl nicht weiter zu erläutern. Es ist nichts anderes als das Infragestellen des „Sinns“ an sich.
Nun hatte aber schon der gute Saussure festgestellt: Einen „Sinn“ in der Sprache gibt es nicht. Keinen natürlichen, jedenfalls. Die Buchstaben und Worte mit denen wir operieren, haben keinen Sinn an sich, sondern man hat sich auf einen „geeinigt“. Saussure nennt es auch den „Sprachvertrag“. Wenn aber Bedeutung also rein künstlich ist, eine reine Festlegung, dann hat man auch die Freiheit, die man benötigt „Bedeutungen“ untersuchen zu können und zwar in der Weise, indem man diesen „Vertrag“ selber untersucht. Anstatt also Bedeutungen einfach nur festzustellen und zu verifizieren (das tut die Hermeneutik), kann man das Zustandekommen des Vertrages selber untersuchen, denn jeder Vertrag hat eine Geschichte (eine unendliche, bei fast jedem Wort), warum er so und nicht anders zustande gekommen ist. Und diese Verträge also, so könnte man vereinfacht sagen, sind der Untersuchungsgegenstand der Dekonstruktion.
Diese Verträge enthalten, wie alle Verträge, seitenweise Kleingedrucktes, was schnell übersehen wird. Anstatt also diese Sprachverträge allzu vorschnell zu unterschreiben (und das tut man implizit, wenn man so Worte wie „Bedeutung“ unhinterfragt für sich übernimmt) sollte man vorsichtiger sein und sich dem Kleingedruckten zuwenden. Und wenn man das tut, erlebt man einige Überraschungen. Denn ein Wort „Bedeutung“ impliziert in seinem Kleingedruckten den ganzen Diskurs der abendländischen Philosophie, von der Antike bis heute. Von Platons Ideenlehre, über Descartes cartesianischem „Ich denke also bin ich“ bis hin zu Husserls Phänomenologie. Überall dort nämlich, bekommt man die klassische Zweiteilung des Zeichens serviert: Hier die frei schwebende, immaterielle Idee, dort das sie verkörpernde materielle Wort. Es ist wie ein Komplott.
Nun ist Derrida, dem Begründer der Dekonstruktion, etwas eher beiläufig zu nennendes aufgefallen: Diejenigen, die sich stets für diese Zweiteilung eingesetzt haben, haben eine gewisse, ja man könnte sagen, Affinität zum gesprochenen Wort, gegenüber der Schrift. Bei Platon ist das im Phaedros klar artikuliert, bei Roussau findet man das in seinen sprachtheoretischen Schriften ebenso und Saussure schließt einfach mal eben die Schrift aus dem Bereich der Linguistik komplett aus und reserviert sie nur für das gesprochene Wort. Es gibt dafür weitere Beispiele. Derrida versucht nun aufzuzeigen, wie sich diese Präferenz aus einem Denksystem zwangsläufig ergeben muss, dass unbedingt an Dingen festhalten will, die an so Worten wie „Bedeutung“, „Sinn“ usw festgeklammert sind. Denn um diese Begriffe zu denken, braucht man nämlich wiederum Worte wie „Geist“, „Bewusstsein“, und der gleichen. Und in verdächtiger Analogie, reproduzieren diese Begriffe Geist/Körper genau diese Zweiteilung zwischen Idee/Zeichen. Die eine Zweiteilung ist ohne die andere gar nicht zu denken. Der Vertrag basiert also auf einem anderen Vertag. Und Derrida zeigt weiter, dass dieser Vertrag „Geist/Körper“ wiederum auf anderen Verträgen beruht, und dass all diese Verträge sich gegenseitig rechtfertigen und stützen. Es ist eine ganze Mafia von Tarn- und Briefkastenfirmen, die wie russische Puppen ineinander geschachtelt ein Netz aus Seilschaften aufrechterhalten, das konstruiert wurde, um ein kohärentes Bild von etwas zu illusionieren, was es nie gegeben hat: Das Sein.
Das Sein ist ein Konstrukt. Das Sein hat es nie gegeben. Das Sein ist ein Mythos. Heidegger hat sich in diesem alles letztendlich begründenden Begriff verloren. Es ist der Begriff des Begründens selbst. Warum? Weil das eben so ist.
Das Sein ist der letzte Grund, es ist der Grund des Grundes und der Grund des Begründens. Geist ist Sein. Bewusstsein ist Sein. Idee ist Sein. Sprechen ist Sein. Deskartes murmelte „Ich denke, also bin ich“. Er meine vielleicht: „Ich bin hier, bei mir, ganz allein und ich kann zu mir sagen: „Ich denke, also bin ich““ was nichts anderes meint als: „Ich denke, also höre ich mich selber sprechen“. „Ich höre mich in dem Moment sprechen, in dem ich spreche, also bin ich ganz bei mir selbst.“ Was man wiederum übersetzen könnte mit: „Ich bin hier und keiner kann mich hören, nur ich mich. Keiner kann meine Existenz bezeugen, aber ich kann es, denn ich höre mich sprechen.“ Dieses Gefühl des Ganz-bei-sich-seins durch das Sprechen, das Sich-äußern ohne etwas zu materielles oder lesbares zu hinterlassen und die Selbstaffektion durch das Sich-sprechen-hören ist das absolute Gefühl der Gegenwart schlechthin. Es ist die Stimme, das Medium, das sich selbst auslöscht, das – scheinbar – keine Spuren hinterlässt. Wenn ich etwas zu jemandem Sage, dann ist das, ob ich will oder nicht, reproduzierbar. Es ist eine Quasischrift, weil es wiederholbar ist. Genauso, wie wenn ich etwas schreibe.
Wenn ich es hingegen nur zu mir sage, dann ist es nur bei mir, ich hinterlasse keine Spuren, ich bin ganz für mich selbst. Und nur dann. Nur das innere Sprechen kann mir das bieten.
Denn die Spur, wenn ich sie sehe, rieche, schmecke – meine Spur – ist immer ein Zeugnis der Vergangenheit. Es ist eine Hinterlassenschaft, eine Erbschaft, eine Gruft. Es ist Zeugnis einer Vergangeheit, eines der Vergänglichkeit, des Todes. Immer!
Ich kann in einer Spur niemals bei mir sein, denn es ist immer schon mein vergangenes Ego, was diese Spur hinterlassen hat. Ich bin, heißt also immer: Ich bin gegenwärtig. Ich habe eine Idee, heißt also, ich spreche nur zu mir, ohne eine Spur zu hinterlassen. Egal ob ich meine Zunge dabei bewege oder nicht. Das Sein (die Idee, die Bedeutung, der Geist, das Bewusstsein) kann außerhalb dieser absolut gesetzten Gegenwärtigkeit nicht gedacht werden!
Dass diese Gegenwärtigkeit natürlich Humbug ist, kann man leicht feststellen. Alles braucht seine Zeit. Egal ob der Schall, der von den Stimmbändern um Ohr Zeit braucht, egal ob es elektrische Signale in der Großhirnrinde sind, die von einem Neuron ins andere feuern. Alles muss einen Weg zurücklegen, alles braucht seine Zeit. Alles was man sieht, denkt, fühlt ist nicht gegenwärtig, sondern immer schon vergangen.
Damit wären wir an dem Punkt angelangt, wo wir den Sprachvertrag um das Wort „Bedeutung“ weit genug umrissen haben und sein Zustandekommen in etwa erklären können.
Nun ist das ja aber keine Widerlegung, könnte man hier einwenden.
Das ist sicher richtig. Aber anders gefragt: Wie kann man Idee, Geist, Intention, Bedeutung etc. widerlegen? Oder noch anders: Wie kann man sie beweisen? Es verhält sich genauso wie mit Gott oder jeglicher anderen Metaphysik: Man kann sie nicht widerlegen. Man kann sie aber auch nicht beweisen. Man kann aber erklären, wie die Menschen auf die Idee gekommen sein könnten, Gott zu erfinden. – Und man kann alternative Erklärungskonzepte anbieten, wie die Dinge, die früher durch Gott erklärt wurden, heute anders erklärbar sind:
Bei Derrida leisten das die Konzepte der Differenz und der Wiederholung. Es ist eigentlich gar nicht so schwer. In der Sprache gibt es nur Verschiedenheiten, sagte schon Saussure. Das heißt, dass Zeichen (Buchstabe, Laut, Wort, Satz, Name etc.), um Zeichen sein zu können, von einander unterscheidbar sein müssen. Klar soweit. Aber diese Unterscheidbarkeit geht noch weiter. Denn Zeichen stehen immer in Beziehungen zu anderen Zeichen und sie haben, je nach ihrer Stellung innnerhalb der anderen Zeichen (dem Text) nicht einfach nur eine Bedeutung sondern viele verscheidene. Sie bekommen von vorhergehenden Zeichen (ihrem Kontext) „einen mitgegeben“. Und ebenso von ihren Nachfolgern. Ein „ab“ ist etwas anderes als eine „ac“ ist was anderes als ein „aber“, ist was anderes als ein „aber ich denke, also bin ich“ und dennoch ist ein „a“ ein „a“ und ein „aber“ ein „aber“. Die Differenzialität geht immer über die Identität des Zeichens hinaus. Sie konterkariert es und schafft so neue Zeichen und Zeichenfolgen und webt so ein komplexes Geflecht aus reinen Bewegungen, von einem Zeichen zum anderen. Man kann sagen die „Bedeutung“ verschiebt sich immer zu. „Bedeutung“ wäre also nichts anderes, als eine in diesen Verscheibungen vorläufige Unterscheidung. Aber was sich hier ganz kompliziert anhört, ist nichts anderes als das Lesen. Das ist quasi Punkt eins.
Derrida ergänzt hierzu: Um als Zeichen zu fungieren, müssen die Zeichen wiederholt werden können, und sie müssen wiederholt werden, um als Zeichen identifiziert werden zu können. Zeichen sind Zeichen in und durch ihren Gebrauch. Der Sprachvertrag, so könnte man sagen, ist kein einmalig festgelegtes Schriftstück, sondern er muss jedes Mal von neuem von den Sprechenden (und Schreibenden) neu ratifiziert werden. (Sprache ist performativ, jedesmal aufs neue)
Aber in dieser Wiederholung ist es wichtig, dass die Weiderholung eben nie eine „reine“ Wiederholung ist. Die Wiederholung ist immer verunreinigt, denn sie steht ja jedes Mal in einem anderen Kontext. Immer ist etwas vorher gesagt oder geschrieben, getan worden, etwas anderes, als beim vorherigen Mal. Das Zeichen bekommt so eine „andere“ Identität (Es ist etwas anderes, zu sagen „ich bin nicht schuld“, wenn ich es mit einem Messer in der Hand tue, als wenn ich es später vor Gericht wiederhole) und dennoch konstituiert sich gerade in dieser Differenz des Zeichens „Ich bin nicht schuld“ mit sich selbst seine Identität. Identität als Identifizierbarkeit. Dieses Paradox (oder in der Philosophie: „Aporie“) ist unhintergehbar. Nur indem ich ein Zeichen in anderem Kontext gebrauche, indem ich es auch anders gebrauche (anders ausspreche, anders ausschreibe) wird das Zeichen identifizierbar, also es selbst. Es ist es selbst, indem es niemals es selbst ist.
Das ist eigentlich alles. Mehr braucht es nicht, um das Phänomen der „Bedeutung“ anders zu erklären, indem man auf das Wort „Bedeutung“ verzichtet. „Bedeutung“ ist obsolet, weil man die Dinge besser erklären kann, schlüssiger vielleicht.
Nun ist auch das kein Beweis. Aber vielleicht gibt es keinen Beweis. Jedenfalls nicht außerhalb der Systeme, die nur mit „Sinn“, „Bewusstsein“, „Gegenwart“ und „Sein“ sich rechtfertigen können. Also genauso wenig wie „Bedeutung“. Ich kann daran glauben, genauso wenig und genauso so viel wie an die „Idee“, oder an „Gott“. Diese Entscheidung nimmt einem kein endgültiger Beweis ab, denn es gibt ihn nicht. Man muss schon selber entscheiden, man muss den Vertrag – irgendeinen Vertrag – ratifizieren, um sprechen zu können. Derrida hat sich entschieden die Verträge vorher genau zu prüfen. Das ist sein gutes Recht und unser aller Recht, welches wir nur allzu selten in Anspruch nehmen. Derrida muss dafür oft auf die allgemeingültigen Verträge verzichten. Das macht ihn bisweilen schwer zu lesen, birgt aber eine gewisse Originalität, die ich sehr schätze. Und, ich gebe zu, die ich teilweise ratifiziert habe, indem ich meine Signatur unter diesen Vertrag gesetzt habe. Ich habe meine Signatur gesetzt, indem ich Derrida wiederhole und zwar anders wiederhole. In einer anderen Situation, mit einem anderen Wissen, mit anderen Worten und mit anderen Beispielen als er es tut. Aber gerade dadurch steuere ich meinen Beitrag dazu bei, das Zeichen „Dekonstruktion“ – vielleicht nicht verstehbar – aber identifizierbar zu machen.