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Dies ist ein temporär stabiler Explainer über den Subjektentwurfs des Dividuums. Ich editiere hier immer mal wieder rum, nicht wundern.
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Das Dividuum ist ein Subjektentwurf, der sich als semantische Pfadalternative zum Individuum positioniert. Genauso wie das Individuum ist das Dividuum einzigartig, aber anders als das Individuum ist das Dividuum kein abgeschlossenes Ganzes, dass der Welt gegenüber steht, sondern ein Verkehrsknotenpunkt für Milliarden Netzwerke.
Die materielle Geschichte des Dividuums
Das Dividuum entstand aus Notwehr. Mein Argwohn gegen das Individuum trug ich schon länger mit mir rum und natürlich kannte ich bereits viel der philosophischen Kritik am Individuum, aber mit Kritik ist es ja nicht getan. Wenn man so tief in den Eingeweiden der westlichen Perspektive herumdoktort, hat man ein Problem: Alle möglichen Erzählungen, Konzepte, Begriffe und nicht zuletzt all unsere Selbsterzählungen, unsere Subjektivierungen sind Pfadabhängig vom Subjektentwurf des Individuums. Und ich will mich ja auch morgen noch, naja, subjektivieren. Deswegen war mir klar: ich brauche eine plausible Pfadalternative, die die pfadabängigen semantischen Verbindungen des Individuums übernimmt. Einen Bypass.
Ich hatte ein paar grobe Ideen eines vernetzten Subjektentwurfs und hatte zu diesem Zweck im Newsletters schon einiges an semantischer Infrastruktur zusammengesammelt und als ich die Pfadgelegenheit sah, verkündete ich in Krasse Links 27 meinen offiziellen Austritt aus der Kirche des Individualismus.
Ich hatte mir das lange überlegt, aber ausschlaggebend war letztendlich dieser Ted Talk von Deb Chachra über Rolle von Infrastrukturen in unserem Leben.
Ich kommentierte den Talk so:
Infrastrukturen sind das, was Deine „Agency“ überhaupt ermöglicht und damit auch Deine Fähigkeit, Dich als Individuum zu erleben.
Und als ich dann noch mit Ishay Landa im selben Newsletter verstand, wie der Transmissionsriemen zwischen Individualismus und Faschismus funktioniert, war für mich das Maß voll.
Okay, hier ist mein Deal: Ich habe aufgehört, ans Individuum zu glauben. Ja, es gibt Akteure, die Dinge anstoßen, aber wir alle navigieren nur innerhalb vordefinierter Strukturen. Wir können nur navigieren, weil uns zu jedem Zeitpunkt immer nur so und so viele Optionen zur Verfügung stehen, unsere Geschichte weiterzuerzählen. Wir sind also Opportunisten und alles was wir tun, ist mit den uns zur Verfügung stehenden semantischen Schablonen nach Pfadgelegenheiten Ausschau zu halten, um auf ihnen durchs Leben reiten.
Diese Gelegenheiten werden wiederum von Infrastrukturen bereitgestellt, materielle wie semantische und weil wir uns nun mal im Kapitalismus bewegen, ist eine besonders netzwerkzentrale Infrastruktur das Geld. Zugang zu dieser Ressource ermöglicht Zugang zu vielen anderen Ressourcen und damit Pfadgelegenheiten. Aber Eigentum/Geld/Preise sind nur ein Abstraktionslayer, den wir als Zugangsregime über einen Großteil unserer Infrastrukturen gelegt haben. Im Alltag erleben wir Normalos Geld deswegen als den entscheidenden Flaschenhals, der unsere individuelle Navigationsfähigkeit ermöglicht und begrenzt und damit das absteckt, was Lea Ypi neulich „horizontale Freiheit“ nannte.
Was Landa hier beschreibt, stelle ich mir konkret so vor: Leute, die vergleichsweise viele Pfadgelegenheiten vor sich zu haben gewohnt sind, also wir Mittelstandskids aus dem Westen, haben uns eingeredet, bzw, einreden lassen, dass wir Individuen sind. Das Framework des „Individuums“ erlaubt es uns auszublenden, dass sich unsere Freiheit aus den vielfältigen materiellen und semantischen Infrastrukturen speist, die unsere Vorfahren und andere Menschen um uns herum gebaut haben, bzw. bauen und maintainen. Statt also unsere Eingebundenheit in diese Strukturen anzuerkennen, reden wir uns seitdem ein, wir hätten unseren „Wohlstand“ „erarbeitet“ und wenn wir es materiell zu etwas gebracht haben, schließen wir daraus, dass wir besonders „intelligent“ sein müssen und damit auch individueller als andere Menschen.
Und dann schauen wir auf andere Menschen, deren Infrastrukturen ihnen deutlich weniger Pfadgelegenheiten bieten und unser Individualismus-Framing deutet diese mangelnde Agency dann als verminderte, oder gar abwesende Individualität, also ein Mangel an Intelligenz und/oder Zugehörigkeit zu einer „rückständigen Kultur“. Das ist der materielle Kern dessen, was Judith Buttler mit „Abjectification“ meint und es ist die Rutschbahn vom Liberalismus zum Faschismus, auf der gerade der gesamte Westen gleitet. Huiiii!
Den ersten Schritt, den man tun muss, um das Dividuum zu denken, ist vom Glauben abzufallen. Denn wir alle sind Gläubige in der Kirche des Individuums und man wird das mistige Ding nicht los, wenn man sich dessen nicht bewusst wird und aktiv Widerstand leistet.
Der zweite Schritt ist, die Pfadalternativen zu entwerfen. Im selben Newsletter sah ich den Fluchttunnel noch in Haraways „Cyborg“ und das ist immer noch metaphorisch richtig, aber aus formalen Gründen bin ich dann doch beim „Dividuum“ gelandet. Dennoch gilt, was ich hier über Cyborgs schreibe, auch für das Dividuum.
Cyborgs sind defizitäre, bedürftige Wesen, die auf ihre Infrastrukturen angewiesen sind, um und zu überleben. Und nur weil die Cyborg kein Individuum ist, heißt das nicht, dass sie ohne Agency wäre. Die Agency des Cyborgs speist sich nicht aus ihrer „Vernunft“ oder wie es heute heißt, „Intelligenz“, sondern aus den materiellen und semantischen Infrastrukturen, die ihr zur Verfügung stehen.
Die Cyborg lebt in den Infrastrukturen und ist die Infrastruktur. Sie arbeitet an den Infrastrukturen, baut sie, betreibt sie, hält sie in Stand. Als höfliche Pfadopportunistin navigiert sie die Schmerzarchitektur zwischen Arbeit und Konsum und versucht mittels der ihr zugänglichen Infrastrukturen ihre Geschichte weiterzuerzählen. Diese Geschichte ist ein Pfad im Netzwerk, der von der Vergangenheit bis ins Jetzt und durch Pläne, Ziele und Projekte bis in die Zukunft weitererzählt wird.
Die Cyborg ist Dividualistin. Sie beobachtet nicht die Welt, sondern beobachtet wie andere die Welt beobachten. Sie surft auf diesen Beobachtungen, Worten, Bildern, Gesten und Geschichten und sortiert sich in ihnen ein. Gleichzeitig sendet jede ihrer Bezugnahmen einen Impuls durchs semantische Netzwerk, weil sie ja ihrerseits beim Schreiben, Sprechen, Denken beobachtet wird.
Es kann sich nur noch um Minuten handeln, bis die Cyborg begreift, dass sie die Infrastruktur ist und den Laden übernimmt.
Die dividuelle Subjekterfahrung habe ich in Krasse Links 26 so skizziert:
Und jetzt kann man, wenn man will, die Intention wieder reinlassen, aber nicht mehr als eine aus sich selbst heraus sprechende Stimme, die sagt „ich will“, sondern als Navigator, Surfer, oder Trommler.
Navigator, weil wir zu jedem Zeitpunkt immer an einem konkreten semantischen Ort im Raum stehen, wann immer wir handeln. Das heißt, wenn wir irgendwo hinwollen (etwas sagen oder denken), müssen wir Schritt für Schritt von dort nach da hin-navigieren und unsere Fähigkeit zu Sprechdenken besteht, wie bei der LLM, vor allem aus allerlei gemerkten Weganweisungen.
Man kann das auch Surfen, wenn man etwas firmer mit einer bestimmten Semantik ist. Dann verknüpft man die vorbeifliegenden Sinn-Ereignisse wie Wellen, auf denen man reitet. (yeah!)
Und zuletzt drücken wir auf „Play“ und nehmen die Zeit mit dazu und dann beginnt sich dieses Netzwerk langsam aber stetig auf uns zuzubewegen. Semantiken verschieben sich, verwandeln sich, werden größer oder kleiner, zentraler, peripherer, mutieren, streuen, sterben, etc. Und wir sehen immer neue Ereignisse eintreffen, die immer neue Narrative aufs Gleis setzen. Die Narrative wiederholen sich, referenzieren sich, zitieren sich und in stetiger Wiederholung und Bekräftigung werden sie erwartbar und strukturieren wie ein Beat unsere Zeit und geben uns Orientierung nach vorn.
So richtig eingeführt habe ich das Dividuum in Krasse Links No 28, in dem ich anlässlich meines Textes über KI und Semantik Derrida mit Haraway und Deleuze verbinde.
Wie schon Derrida sagte: Wir sprechen nicht, wir werden gesprochen. Das bedeutet nicht, dass man nicht auch neue Pfade finden kann, aber eben immer nur an den Rändern des bereits Gedachten und Gesagten. So wie die Nordpolexpiditionen erst machbar wurden, als die Infrastrukturen es erlaubten, so sind auch neue Gedankengänge nur als Verlängerung oder Abzweigung bereits existierender Routen denkbar. Es gibt kein Punkt außerhalb des Netzwerks.
Der Text selbst ist ein gutes Beispiel: Er basiert offensichtlich auf einer poststrukturalistischen Infrastruktur, aber wäre auch ohne Donna Haraway nicht denkbar. Mit ihrem „situierten Wissen“ stellte sie den Poststrukturalismus vom Kopf auf die Füße und ermöglicht, die richtige Perspektive aufs Netzwerk zu finden. Wenn Bedeutung stetiger Aufschub, aber dabei stets situiert ist, dann passiert Schreiben, Sprechen, Denken immer an einem ganz bestimmten Punkt eines ganz spezifischen Kontextes. An diesem je spezifischen „Hier und Jetzt“ gibt es immer nur eine überschaubare Zahl an plausiblen Pfadgelegenheiten, von denen man sich von einer zur nächsten stürzt. Wenn man dann die Zeit anstellt, bewegt sich der Punkt durchs Netzwerk und wird zur Linie, bzw. ein Pfad oder eine Route. Fertig ist die LLM, bzw. Sprechen und Denken.
„Die Individuen sind ›dividuell‹ geworden, und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder ›Banken‹.“ Schreibt Gilles Deleuze im „Postskriptum zu den Kontrollgesellschaften“ bereits Anfang der 1990er und verabschiedet damit Foucaults „Disziplinargesellschaft„, die sich noch auf die Zurichtung des Individuums und der Organisation von Masse konzentrierte. Aus dem Unteilbaren (lat. individuus) wird etwas per se Teilbares (lat. dividuus).
Das Navigieren in der Semantik – Schreiben, Sprechen, Denken – ist ein dividueller Akt. Man beobachtet nicht die Welt, sondern man beobachtet einander, wie man die Welt beobachtet. „Dividuell“ bedeutet also, sich selbst als Teil des Netzwerkes zu imaginieren, das Sprache, Denken und Öffentlichkeit und Infrastrukturen hervorbringt.
Es ist den Zitaten anzumerken und relevant zu verstehen, dass sich der Subjektentwurf des Dividuums parallel und in ständiger Korrespondenz mit der Enststehung der Semantiktheorie entwickelt hat. Das Dividuum ist ohne „semantische Pfadgelegenheiten“ nicht denkbar, bzw. es ist andersrum: Man kann das Individuum nur dann denken, wenn man Semantik nicht denkt und dann die Stimme in eigenen Kopf für ein unverbundenes „Res Cogitans“ hält, das als Agent einen Körper durch die Welt steuert, mit dem man sich dann fälschlicher Weise identifiziert. Und genau da ging und geht ja der ganze Schlamassel mit der Infrastrukturvergessenheit seit Descartes schon los, der uns gerade im Gesicht explodiert.
Klar, im Vergleich zum Individuum kann das Dividuum erstmal nicht viel. Das Dividuum hat keine Eigenschaften und „tut“ auch nichts, es ist halt ein Netzwerkknoten, der vollständig durch seine Verbindungen definiert ist. Und ausgerechnet durch Verbindungen, die nicht wirklich dem Dividuum gehören, sondern teil von Netzwerken sind, in deren Interaktion das Dividuum eingebunden ist und danach strebt sich darin temporär zu stabilisieren. Zu diesen Netzwerken gehören biologische Netzwerke, genetische Netzwerke, Bakterielle Netzwerke, Blutkreisläufte, Nährstoffkreisläufe, Klimakreisläufe, städtische Infrastrukturen, Gesetzesframeworks, Produktionskreisläufe, Lieferketten, die Sprachen, die ich spreche, Diskurse an denen ich teilnehme, die Geschichten die ich mir und anderen erzähle, mein Emailprovider, die Straßenbahn und die regelmäßigen Bedürfnisse meines Hundes.
Im Gegensatz zum Individuum, das in sich selbst ruht, hat das Dividuum einen ständigen Hang zur Instabilität. Das Dividuum ist immer im Flux, weil sich all die Verbindungen, aus denen es besteht, ständig verändern. Einerseits wechseln Dividuen ständig ihren Ort in der Welt, d.h. verlieren ständig Verbindungen und gewinnen neue. Andererseits verändern sich die Verbindungen selbst, weil sich die Welt verändert. Deswegen ist das Dividuum den Gezeiten und Turbulenzen seiner Netzwerke ausgeliefert und wird wie eine Boje im Wasser von den Wellenbewegungen im Netzwerk hin und hergeschüttelt. Das Resultat ist ein ständig instabiler Dividuums-Knoten, der die ganze Zeit damit beschäftigt ist, die veränderte Beziehung in einem Netzwerk, durch Veränderung von Beziehungen im anderen Netzwerk auszutarieren (dafür braucht es allerdings Pfadgelegenheiten).
Ohne seine Pfadgelegenheiten ist das Einzige, was das Dividuum „kann“, also „beeindruckt sein“ von der Welt. Aber genau in dieser strukturellen Berührbarkeit steckt der epistemische Wert des Dividuums: Im Sich-Verhalten des Divduums zur Welt verbrigt sich ein struktureller Spiegel der Gesellschaft. Man muss nur den Beat hinter dem Tanzmove erkennen.
Exkurs: Was ist Subjektivierung?
Jetzt rede ich die ganze Zeit von „Subjektivierung“ und sage gar nicht, was ich genau damit meine. Deswegen hier ein Explainer im Explainer: was ist Subjektivierung?
Die traditionellen Subjektivierungs-Theorien sind natürlich Individualistisch und damit unbrauchbar. Foucault und Buttler haben das Individuum aufgebrochen, aber sie sind für unsere Zwecke nicht radikal genug.
Deswegen schlage ich einen eigenen Entwurf vor: Die Relationale Subjektivierung.
Ganz grob betrachtet ist Relationale Subjektivierung die Art und Weise, wie wir uns selbst in dem Anderen und den Anderen in uns sehen, bzw. differenzieren (also eher von Levinas, Haraway inspiriert).
Diese „Art und Weise“ ist wiederum ganz grob das Set an pfadabhängigen Unterscheidungen, die ich zum Erkennen der Differenzen in der Wiederholungen des Anderen in mir verwende.
Beispiel: Wenn ich mich als „Individuum“ entwerfe, entwerfe ich alle anderen um mich herum auch als Individuum, aber eben als andere Individuen, jedes ein „unteilbares“ „Bewusstsein“ in einem Körper in der Welt. Außer die ohne Agency – das sind im besten Fall „tragische Fälle“, aber oft auch „Versager“ oder bei manchen Menschen sogar „Abschaum“, also grob das was Judith Buttler „Abjection“ nennt.
Aber auch abseits des Individuums verstehen wir Subjektivierung als die tägliche Praxis des mich im Anderen erkennen und differenzieren, nach einem bestimmten Schema von Unterscheidungen.
Aber das Schema von Unterscheidungen ist natürlich sozial konstruiert. Klar, durch Infrastrukturen der Disziplinierung, durch Diskurshoheiten, Gesetze, Normen, Rollen und ihre sozialen Hierarchien und Ausgrenzungen. Aber auch durch teils über tausende Generationen geerbt und verinnerlichte und nie hinterfragte Unterscheidungen. Aber unsere Unterscheidungen kommen auch aus Gesprächen auf der Arbeit oder beim Sport, Büchern oder Newslettern, die wir gelesen haben, News die wir mitbekommen haben oder über das neuste Tiktok-Meme. Oder wir sammeln unsere Unterscheidungen aus den Geschichten aus dem Kino, das aber auch nur dieselben Narrative immer wieder anders erzählt, von denen die meisten aus der Antike stammen. Da gibt es ehrlich gesagt auch gar nicht so viel Spielraum, denn um zu funktionieren, müssen Narrative anschlussfähig an bereits erwartete Narrative sein, so wie ein Satz anschlussfähig an den vorherigen Satz sein muss und ein Wort an das vorherige Wort.
Diese soziale Co-Produktion von Wirklichkeit und Subjekt kann man auch mit Federico Campagna als Worlding bezeichnen. Aus Krasse Links No 20
Im Zentrum seiner Theorie, oder wie er sagt: „Metaphysik“, steht das „Worlding“: Welt, aber als Verb. Worlding ist etwas, was wir konstant tun: wir bauen und aktualisieren unser Weltmodell. Aber dieses Weltmodell ist natürlich kein individuelles, sondern eine geteilte Semantik, ein Vibe, ein „Rhythmus“, wie er es auch nennt. Es gibt also Weisen des Worldings und sie bilden die unbewussten und unhinterfragten Axiome unseres Weltverständnisses oder wie ich immer sage: die Art, wie wir auf die Welt blicken.
Wordling ist semantisch, d.h. wir haben uns unser Worlding in den seltensten Fällen ausgesucht, sondern haben es zum Großteil geerbt und auch ansonsten kreieren wir es zusammen: wir „worlden“ gemeinsam, miteinander, aber immer wieder auch gegeneinander, wobei man sich das „Worlden“ wie einen Beat vorstellen kann, den alle um einen herum tanzen, ein Vibe in dem man fühlt, und machmal auch der Beat, den „die anderen nicht haben“.
Ein Resultat dieses gemeinsamen und wechselseitigen konkurrierenden Worldings nennen wir auch „Wirklichkeit“ und ich muss in diesen Zeiten nicht extra darauf hinweisen, wie schief das gehen kann.
Das andere Resultat des Wordings ist eine bestimmte „Perspektive“, bzw. die semantische Seite unserer Perspektive. Perspektive ist ja zunächst einmal der materielle Ort in der Welt, von dem ich sehe und spreche und ist somit vor allem geprägt, durch die mir zur Verfügung stehenden Infrastrukturen und den Abhängigkeiten, die sich daraus ergeben.
Doch die semantische Seite der Perspektive funktioniert über das „Worlding im Anderen“ – als Navigation der eigenen Erwartungen an mich selbst im Raum der Erwartungserwartungen der anderen.
Die semantische Perspektive ist von der materiellen Perspektive nicht unabhängig. Je nach den Infrastrukturen, die ich gewohnt bin, zur Verfügung zu haben, kann ich mir andere Subjektentwürfe plausibel machen oder auch nicht.
Beispiel: In Krasse Links No 31 hatte ich einmal die materielle Geschichte des Subjektentwurfs des Individuums umrissen:
Das Individuum erblickte das Licht der Welt in den europäischen Salons der besseren Gesellschaft des späten 18. Jahrhunderts, als die Oberschicht wechselseitig an sich feststellte, wie schwerelos das Leben ist, wenn man Hausangestellte hat. Genau genommen haben sie den letzten Teil ausgeblendet, genau so wie die Tatsache, dass sich die Agency ihres Hauspersonals auf Arbeiten oder Hungern beschränkte und ihnen also das Individuum gar nicht plausibel war.
Das Virus sprang schnell über zu den Sklavenhaltern in den USA und perkulierte entlang der sprießenden Infrastrukturen der Industriellen Revolution immer weiter in die Gesellschaft hinein (überall wo Lebensstandards einen bestimmten Schwellenwert an Pfadgelegenheiten erreichten), bis das Individuum so ab 1900 zum Mainstream wurde. Mit Strom, fließend Wasser, Telefon und Auto wurde das Individuum zum Lebensgefühl des 20. Jahrhunderts und zum Grundbaustein der Metaphysik des Westens.
Der Subjektentwurf des „Individuums“ kann überhaupt erst plausibel werden, wenn einen die Welt mit einen bestimmten Threshold an Pfadgelegenheiten ausstattet. Descartes Hauspersonal jedenfalls war dieses Worlding sicher nicht plausibel.
Das heißt, man muss sich bestimmte Subjektentwürfe leisten können und viele Subjektivierungs-Pfade stehen aus bestimmten Perspektiven überhaupt nicht zur Verfügung oder sind nicht plausibel. Der Subjektentwurf des „Superindivuums“ zum Beispiel wird erst ab Milliardär plausibel, aber auch die ganzen anderen materiellen Statusgames dazwischen könnt ich mir eh nicht leisten (außer son bisschen Applehardware, ok).
(Werbehinweis: Einer der Vorteile des Dividuums ist, dass es sehr „affordable“ ist. Sogar die Amöbe könnte sich das Dividuum leisten, würde sie subjektivieren.)
Ja, man kann aus Subjektentwürfen ausopten, und das ist, was wir hier machen, aber auf einer tieferen Ebene, was das Projekt früher oder später extrem schwierig machen dürfte.
Denn Subjektentwürfe sind auch Macht. Simone de Bauvoire machte darauf aufmerksam, dass die Subjektentwürfe „Frau“ und „Mann“ soziale Konstruktionen sind, die die gesellschaftliche Funktion haben, das Patriarchat am Ruder zu halten. Auch Foucault kannte die Macht der Subjektentwürfe aus schmerzhafter Erfahrung und schrieb sein Werk nicht zufällig zu einer Zeit, als sich neue Subjektivierung-Pfade Bahn brachen und die hegemoniale Weisen des Worldings und der Subjektivierung aus dem Takt brachten. Buttler und die Intersektionalist*innen haben die Subjektivierung weiter ausdifferenziert, indem sie sie aus den „Kategorien“ befreit haben und sie stattdessen als vieldimensionale Erfahrungslandschaft dachten. Das Dividuum baut auf dieser Tradition auf.
(Werbehinweis: Das Dividuum ist beliebig erweiter-/ausdifferenzierbar und macht alle Dimensionen des Lebens darstellbar..)
Doch zurück zur Perspektive:
Perspektive ist die Art, wie wir auf die Welt schauen.
Perspektive ist die Art, wie wir uns selbst in der Welt erzählen und uns ständig in Bestätigung und Differenz zum Anderen verorten. Sie ist damit eine Aktualisierung der materiell möglichen und semantisch plausiblen Subjektivierungs-Pfade durch die Konstellationen der materiellen und semantischen Infrastrukturen in einem Moment.
Subjektvierung ist das Anwenden und gleichzeitige Einüben der eigenen Perspektive an und anhand des Anderen.
Subjektivierung ist deswegen nicht nur narrative Selbst-, sondern immer auch Welt-Reproduktion. Das Dividuums-Subjekt ist weder Ursprung noch Endpunkt von irgendwas, sondern nur die sich ständig aktualisierende Form einer Dividuum-Welt-Relation, die sich im gemeinsamen und wechselseitigen Worlding stabilisiert.
Deswegen reicht es auch nicht das Dividuum zu „verstehen“ oder zu „denken“. Zumindest, wenn man wie ich aus der Individuums-Perspektive kommt, muss man das Dividuum als alternativen Subjektivierungspfad erst mühsam einüben und ich bin da auch erst am Anfang, tbh. Aber diese andere Perspektive ist real und die ganzen Beobachtungen, die ich hier teile, wurden erst durch diese Perspektive möglich.
Das Dividuum ist also das Projekt eines anderen Pfads der Subjektivierung, das andere Formen des Worldings erlaubt. Es ist eine Häresie, basically. Oder wie ich es in Krasse Links öfter nenne: eine semantische Sezession.
Beobachtungen: Das Dividuum in seiner Welt
Hier ein paar nützliche Beobachtungen, die ich im Newsletter über die Zeit über das Dividuum und seinen Weltbezug trianguliert habe:
- KL29: Weil wir keine Individuen sind, die die Welt beobachten, sondern Dividuen, die einander beobachten, wie sie die Welt beobachten, ist Öffentlichkeit ein Klangkörper, den wir alle miteinander bespielen.
- KL30: Weil wir nicht einfach gewalttätige Individuen sind, sondern Dividuen, die einander Gewalt erlauben (siehe auch Milgram), kommt jede Gewalt mit ihrer Erlaubnisstruktur.
- KL31: Weil wir keine generalisierenden Individuen sind, sondern Dividuen die gemeinsam an einer sozialen Skulptur arbeiten, die wir wechselseitig als „Wirklichkeit“ beglaubigen, verwenden wir einander als Erlaubnisstruktur für unsere Generalisierungen.
- KL34: Weil wir keine Individuen sind, deren „Mind“ über psychologische Stimuli „manipulierbar“ ist, sondern Dividuen, die sich aneinander orientieren, funktioniert echte Manipulation nicht als Operation am Individuum, sondern über Modifikation der Öffentlichkeit.
- KL35: Weil wir keine Individuen sind, die die Welt beobachten, sondern Dividuen, die ihre Beobachtungen dazu nutzen, aufgeschnappte Erzählungen zu plausibilisieren, tragen Milliarden Schmerzerinnerungen als verteilte Privatempirie die Thesen der Rogannomics.
- KL39: Weil Silicon Valley Oligarchen keine ruchlosen Individuen sind, sondern Dividuen, die sich die Ruchlosigkeit voneinander abgucken, borgt sich Mark Zuckerberg die männlich-hegemoniale Erlaubnisstruktur von Elon Musk, wie Ryan Broderick aufzeigt.
- KL40: Weil wir keine Individuen sind, die sich einfach entschließen können, die Matrix zu verlassen, sondern Pfadopportunisten, die immer nur den plausiblen Pfaden folgen, die sie vor sich sehen, brauchen wir Infrastruktur, um der Matrix zu entfliehen.
- KL41: Weil wir keine Individuen sind, die mit „kognitiven Verzerrungen“ ihres eigentlich „objektiv-rationalen“ Denkapparates kämpfen, sondern dividuelle Pfadopportunisten, die einander auf Deutungspfaden folgen, bleiben wir auf die Deutungsangebote angewiesen, die uns materiell, semantisch und sozial zugänglich sind.
- KL53: Weil wir keine Individuen sind, die einfach „verdrängen“, sondern Dividuen, die sich über ihre Verdrängungserzählungen zu semantischen Verdrängungsgemeinschaften verbinden, basieren die meisten echten Verschwörungen auf Groupthink.
- KL60: Weil wir keine Individuen sind, die Entscheidungen im luftleeren Raum unseres „Minds“ fällen, sondern Dividuen deren Verbindungen die Entstehung von anderen Verbindungen beeinflussen, sind wir in jeder Lebenslage Netzwerkeffekten ausgesetzt.
- KL62: Weil wir keine Individuen sind, die ihre Überzeugungen aus ihrem Inneren schöpfen, sondern Dividuen, die ihre Überzeugungen aus den Überzeugungen von anderen triangulieren, verändert es unseren Orientierungssinn, wenn wir „normale Menschen“ in der Öffentlichkeit dumme Dinge sagen hören.
- KL62: Weil wir keine Individuen sind, die die Welt beobachten, sondern Dividuen, die einander beobachten, wie sie die Welt beobachten, akkumuliert sich unsere Aufmerksamkeiten dort, wo wir die Aufmerksamkeit anderer erwarten.
- KL63: Weil wir keine Individuen sind, die einfach Sinn in ihrer Arbeit sehen, sondern Dividuen, die sich durch Einsatz ihrer Aufmerksamkeit gegenseitig den Sinn in ihrer Arbeit beglaubigen, schickt uns die Versloppung der Welt in eine Verantwortungslosigkeits-Spirale.
- KL65: Weil wir keine Individuen sind, die die Welt beobachten, sondern Dividuen, die einander Beobachten, wie sie die Welt beobachten, können wir uns nicht einfach „eigene Gedanken“ machen, sondern sind gefangen in dem jeweils wechselseitig beglaubigten semantischen Raum, den wir „Wirklichkeit“ nennen.
- KL68: Weil wir keine Individuen sind, die entweder egoistisch oder solidarisch sind, sondern Dividuen, die einander beim egoistisch oder solidarisch sein zuschauen, und daraus ihre Schlüsse für ihre Strategie ziehen, hat Trump eine Möglichkeit gefunden, die halbe gesellschaftliche Elite der USA – immer einen nach dem anderen – in die Knie zu zwingen.
Alles was das Dividuum „kann“, „ist“ oder „hat“ ist entweder aus seiner ständigen Anpassungsleitung an die Umwelt entstanden, oder aus der Anpassungsleistung der Umwelt an seine Pfadbedürfnisse. Das Dividuum ist gleichzeitig Medium von Strukturen und Strukturgenerator (Pfadgelegenheiten vorausgesetzt).
Doch hier ist das Problem: Sobald wir Fragen, was das Dividuum „ist“, d.h. woraus es besteht, wie es abgegrenzt ist, wie es aufgebaut ist, usw., stellen wir es uns schon falsch vor.
Das Dividuum und seine Pfadgelegenheiten ist der oder das Andere, bei Levinas. Wir sind aufgefordert, uns in das Dividuum hineinzuversetzen, ihm gastfreundschaftlich statt zu geben, aber wir werden niemals alle seine Netzwerke kennen und selbst wenn. Das Dividuum ist niemals abgeschlossen und auch apriori unabschließbar, denn seine Pfadgelegenheiten sind für die Zukunft offen. Das Dividuum ist das Andere in uns, die unabschließbare Differenz unseres eigenen Handlungspotenzials – das Unverfügbare, das sich nicht messen, nicht besitzen, nicht zentralisieren lässt. Jedenfalls nie vollständig.
Genau deswegen ist das Dividuum ein antifaschistischer Subjektentwurf. Aber wie das bei linken Projekten immer so ist: Es ist leider ein unvollständiger Subjektentwurf. Es ist quasi das Individuum als entkernte Ruine und ohne seine Agency.
An einer anderen Stelle schreibt Deleuze im Postskriptum:
Weder zur Furcht, noch zur Hoffnung besteht Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen.
Das Dividuum allein ist noch keine Waffe. Damit das Dividuum handlungsfähig wird, braucht es eine oder mehrere Pfadgelegenheiten. Erst mit der (semantischen) Pfadgelegenheit zusammen, vervollständigt sich der alternative Subjektentwurf.

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Hi mspr0,
ich schreibe dir als Kulturwissenschaftler, der gerade an einem dekolonialen Forschungsprojekt arbeitet – und bei der Lektüre deiner Dividuum-Theorie bin ich auf eine produktive Spannung gestoßen, über die ich mit dir nachdenken möchte.
Deine Infrastruktur-Kritik ist fundamental richtig. Dass Individualismus-Ideologie die strukturelle Grundlage für Faschismus und Ausbeutung darstellt, dass wir unsere Agency aus Netzwerken nehmen, nicht aus uns selbst – das ist brillant erkannt. Ja zu Haraway, ja zu Deleuze, ja zum Bypass aus der Individualismus-Falle.
Aber genau da entsteht meine Frage.
Das Widerstandsproblem
Du nennst uns „Pfadopportunist*innen, die immer nur den plausiblen Pfaden folgen, die sie vor sich sehen.“ Und du schreibst: „Es gibt keinen Punkt außerhalb des Netzwerks.“
Das ist eine klare Diagnose – aber sie wirft ein Problem auf, das du nicht beantwortst: Wo entsteht Widerstand in diesem Modell?
In deiner Theorie behandelst du Widerstand merkwürdig vage. Du schreibst vom „aktiven Widerstand“ gegen den Individualismus-Glauben, aber das ist epistemischer Widerstand – ein Umdenken. Und du versprichst, dass die Cyborg eines Tages „den Laden übernehmen“ wird – aber wie, wenn sie nur Pfadopportunistin sein kann?
Das Problem ist: Wenn es keinen Punkt außerhalb des Netzwerks gibt, dann ist auch Verweigerung nur eine „alternative Pfadgelegenheit“ – und damit schon vom Netzwerk vorgesehen. Das ist exakt das Luhmann-Problem: Systemtheorie konnte nur Selbstmodifikation denken, nie Revolution. Jeder Widerstand wurde vom System absorbiert.
Deine Theorie scheint strukturell ähnlich limitiert zu sein.
Dein Antifaschismus und sein blinder Fleck
Das Paradoxe ist: Du nennst das Dividuum ausdrücklich einen „antifaschistischen Subjektentwurf“ – weil es nicht in die Individualismus-Falle tappt. Aber wenn Widerstand unmöglich ist (weil alles im Netzwerk absorbiert wird), dann ist dein Modell selbst eine Form von Fatalismus.
Nicht durch Herrschafts-Legitimierung (wie der Individualismus), sondern durch strukturelle Unmöglichkeit von Widerstand gegen Herrschaft.
Wenn dein Netzwerk faschistisch ist – wenn also die Infrastrukturen selbst repressiv, ausbeuterisch, zerstörerisch sind – wie kämpfst du dagegen an, wenn es keine Außenseite gibt?
Die dekoloniale Frage: Infrastruktur-Pluralismus statt Navigation
Meine Forschung führt mich zu einer anderen These: Echte Transformation entsteht nicht durch Infrastruktur-Bruch (der ist faktisch nicht machbar – die globalen Abhängigkeiten bleiben). Aber auch nicht durch bessere Pfad-Navigation.
Sondern durch Infrastruktur-Pluralismus – den gleichzeitigen Aufbau paralleler Infrastrukturen mit anderen epistemischen und ökonomischen Logiken.
Boaventura de Sousa Santos nennt das: Epistemologien des Südens. Nicht Ausbruch aus den Infrastrukturen, sondern parallele Wissensformen und Wertsysteme, die mit anderer Logik funktionieren – während man in den bestehenden lebt.
Das ist nicht bloße Pfad-Navigation. Das ist: gleichzeitiges Nutzen der bestehenden Infrastrukturen UND bewusste Verweigerung ihrer epistemischen und ökonomischen Prämissen.
Darin liegt der Unterschied: Du denkst ein Netzwerk. Ich denke mehrere Netzwerke gleichzeitig – in Spannung, in Widerstreit, mit verschiedenen Wertsystemen.
Die konkrete Kritik
Wo ich dich packen möchte:
1. Du nennst uns Pfadopportunist*innen – aber wo ist die Theorie der Pfad-Verweigerung? Wo die Theorie der Pfad-Sabotage? Wie entsteht antikapitalistische Resistance, wenn alle ihre Kraft aus dem kapitalistischen Netzwerk nehmen müssen?
2. Du absorbierst Levinas schnell wieder ins Netzwerk. Wenn das Andere wirklich unverfügbar ist (bei Levinas), kann es dann noch Netzwerk sein? Oder gibt es einen Rest – biologisch, ontologisch, ethisch – der sich dem Zugriff entzieht?
3. Kann dein Modell parallele Infrastrukturen denken? Nicht als „Rand-Phänomene“ oder „alternative Pfade“ innerhalb desselben Systems, sondern als eigenständige Infrastrukturen mit eigener epistemischer Autonomie?
Was ich an deiner Theorie hätte
Ehrlich gesagt: Dein Dividuum-Konzept ist eines der scharfsinnigsten Werkzeuge zur Infrastruktur-Analyse, die ich kenne. Es erlaubt es zu sehen, wie Macht nicht durch offene Gewalt funktioniert, sondern durch Netzwerk-Effekte, epistemische Monokultur, semantische Infrastruktur-Abhängigkeit.
Aber um dekolonial radikal zu sein – um wirklich gegen Faschismus arbeiten zu können – musste es auch Verweigerung, Singularität, das Unverfügbare denken können.
Sonst bleibt es bei: Wir sind alle gefangen, nur reflektierter.
Erstmal danke für deine tiefe Auseinandersetzung mit der Theorie. Und als zweites Entschuldigung: Sie ist in der tat noch unvollständig.
zu 1. Ich deute immer wieder an, dass Widerstand möglich ist und ich versuche es durch meine Praxis hier zu beglaubigen. Andere Pfade sind möglich, man kann sich dem Sog der Übergangswahrscheinlichkeiten widersetzen. Aber das kostet eben. Ich möchte auch ehrlich sein, denn wir müssen jetzt wegkommen vom gut gelaunten Meinungs-Antifaschismus zum verbissenen Widerstands-Antifaschismus.
Aber du hast recht, dass all das noch in meinen Überlegungen etwas unausgereift ist und da muss ich um Geduld bitten, denn es ist gerade alles noch im Werden. Ich weiß, dass Widerstand möglich ist und ich bin sicher, es gibt einen Pfad, dass er erfolgreich ist, aber bisher habe ich mehr so Intuitionen als eine Theorie. Aber ich denke weiter drüber nach.
2. Mit der Levinas-Stelle bin ich auch noch unzufrieden (hab auch nochmal rumeditiert). Den Widerspruch könnte man metaphysisch mit Spinoza auflösen, indem man sagt: das, was bei Spinoza „Gott oder Natur“ ist, ist bei uns „das Netzwerk“, also die Gesamtheit aller Netzwerke, die per se nicht wissbar ist. Eine negative Theologie der Netzwerktotalität, quasi. Aber irgerndwie finde ich das auch einen zu easy way aus. Deswegen denke ich da auch noch weiter drüber nach.
3. Nein, es kann eben keine unabhänigen Infrastrukturen geben. „Alles ist eins“, wie Spinoza sagt oder wie Haraway sagt: „Nicht ist mit allem verbunden, alles ist mit etwas verbunden“. Es gibt keinen Punkt außerhalb des Netzwerks. Dennoch kann man ganz konkrete Abhängigkeiten cutten oder durch Pfadalternativen lindern, aber nicht zur Erlangung einer Illusion von „Souveräntität“, sondern als ein ständiges Balancieren von Macht.
Und deswegen habe ich zum Ansatz der alternativen Infrastruktur ein, ich sage mal, differenziertes Verhältnis: einerseits ja: wir müssen uns sollen alternative Infrastrukturen den Weg bereiten, das ist unsere einzige Chance auf Freiheit. Aber das kann sehr schnell in die gefährliche Illusion der „Unabhängigkeit“ führen. Die ist nicht nur deswegen fatal, weil sie nicht stimmt und man damit schlimm auf die Schnauze fällt, sondern sie eröffnet die Pfadgelegenheit des „sich raushaltens“, des sich „dissoziierens“ von der Gesellschaft. Selbst wenn es unseren Communities gelänge, stabile Inseln im Chaos zu errichten: haben wir nicht eine Verantwortung gegenüber all denen, die im alten System, aus welchen Gründen auch immer, steckengeblieben sind?
Deswegen unterstütze ich alternative Infrastrukturen – mit dem Dividuum baue ich ja selber eine – aber ich finde, das kann nur ein teil der Lösung sein.
Vielen Dank für deine ehrliche und selbstkritische Antwort. Dass du eingestehst, dass der Widerstand in deinem Modell noch eher Intuition als ausgearbeitete Theorie ist und dass – das zeigt eine Offenheit, die man in Theorie-Debatten echt selten erlebt. Genau an solchen Stellen kann neues entstehen. Deshalb möchte ich dir drei Gedanken aus meiner eigenen Forschungspraxis dalassen – nicht als Widerspruch, sondern eher als freundlichen Impuls, um die Stellen, die du selbst offenlässt, vielleicht aus einer anderen Perspektive zu beleuchten.
1. Zum Neoliberalismus-Vorwurf: Eine notwendige Unterscheidung
Du warnst in deiner Antwort vor der „Illusion der Unabhängigkeit“ und fragst berechtigterweise, ob der Aufbau paralleler Infrastrukturen nicht dazu führt, dass wir uns aus der Verantwortung gegenüber denen stehlen, die im System „steckengeblieben“ sind. Diese Sorge ist politisch wichtig. Aber ich glaube, sie trifft nicht den Kern dessen, alternativer Infrastrukturen die tatsächlich aufbgebaut wurden und werden. Hier sollte man zwei Szenarien kategorial unterscheiden:
Es gibt die Elite-Abkapselung – das ist in der Tat neoliberal und unsolidarisch. Wenn Silicon-Valley-Akteure private Infrastrukturen bauen, um den öffentlichen Raum zu verlassen und keine Steuern mehr zahlen, ist das Desertion. Davor warnst du zu Recht.
Aber es gibt auch die marginalisierte Gegenmacht – und das ist etwas völlig anderes. Schau dir die Empirie an: Die Zapatistas in Chiapas bauten ab 1994 autonome Landkreise auf, nicht weil sie privilegiert waren, sondern weil der Staat ihnen das Überleben verweigerte. Buen Vivir in Ecuador und Bolivien entstand in indigenen Gemeinden als Antwort auf die Zerstörung ihrer Lebensräume, nicht als westliches Opt-Out-Projekt. Solidarische Ökonomie entsteht weltweit dort, wo marktwirtschaftliche Strukturen versagen – in deindustrialisierten und segregierten Regionen. Sie ist Überlebenspraxis.
Der entscheidende Punkt ist: Diese Infrastrukturen entstehen aus Notwendigkeit, nicht aus Egoismus. Und sie werden nicht geheim gehalten, sondern trainierbar gemacht, geteilt und verbreitet. Das ist nicht neoliberaler Rückzug, sondern dekolonialer Selbstschutz. Deine Sorge vor Dissoziation gilt für die Eliten, aber sie verkennt das emanzipatorische Potenzial marginalisierter Selbstorganisation.
2. Zur Verantwortungsfrage: Transformation durch Skalierung
Du fragst implizit: „Verlassen wir die anderen, wenn wir Alternativen bauen?“ Ich denke, das ist ein falsches Dilemma. Die Wahl ist nicht: Entweder im System bleiben (solidarisch) oder Alternativen bauen (egoistisch). Es gibt einen dritten Weg: diffuse Transformation durch stufenweise Skalierung.
Alternative Infrastrukturen sind kein Endzustand der Isolation, sondern ein Prozess: Sie werden lokal etabliert, reflexiv verfeinert und dann – das ist der Schlüssel – so gestaltet, dass sie teilbar werden. Die Hip-Hop-Cypher ist ein Beispiel aus der kulturellen Praxis: Sie entsteht in der marginalisierten South Bronx als Überlebens- und Artikulationsstrategie, wird in Form und Ethos weiterentwickelt und dann weltweit adaptiert und weitergegeben. Heute fungiert sie als globale alternative Musikinfrastruktur, die Millionen Menschen eine Stimme jenseits der klassischen Industrie-Logik eröffnet. In diesem Prozess „verlässt“ die Bewegung niemanden, sondern baut etwas auf, das andere nutzen, aneignen und transformieren können – das ist nicht unverantwortlich, sondern strategisch solidarisch.
3. Ein neuer Gedanke: Dadaistischer Nihilismus und affirmative Negation.
An dem Punkt, an dem du nach einer Theorie des Widerstands suchst, lässt sich ein Motiv aus der Auseinandersetzung mit Dada und Adorno anschließen. Analysen des gegenwärtigen Zustands führen leicht zu ernüchternden, fast nihilistischen Diagnosen: Eine fatale Machtverteilung, ausbleibende reale Dekolonisierung, übermächtige Infrastrukturen. Aber genau hier liegt der entscheidende Punkt: Man darf sich mit dieser Einsicht nicht zufriedengeben, sondern muss Widerstand denken, auch wenn er unmöglich scheint – nicht aus Optimismus, sondern im Modus einer affirmativen Negation.
Der nach 1918 sich radikalisierende Dadaismus ist hier lehrreich. Die Dadaist:innen sahen die bürgerliche Kultur als bankrott und den Sinn zerstört, reagierten darauf aber nicht mit Resignation. Sie nahmen die erfahrene Sinnlosigkeit nicht als Grund zur Untätigkeit, sondern machten sie zur Basis ihrer Praxis: Lautgedichte, Anti-Kunst, performative Verweigerung, Angriff auf Sprache und Ordnung. Aus der Einsicht in die Unmöglichkeit schufen sie eine Praxis des Trotzdem – eine Negation, die gerade in ihrer Unversöhntheit produktiv wird.
Adornos Projekt der „Negativen Dialektik“ lässt sich als philosophische Radikalisierung dieser Haltung lesen: Kritik behält ihre Schärfe, indem sie an der Nichtidentität und Unversöhntheit von Begriff und Sache festhält, ohne sich in Synthesen zu versöhnen oder in absolute Negativität umzuschlagen. Wirksamkeit von Kritik setzt in diesem Verständnis nicht voraus, dass sie eine neue Affirmation oder Lösung bereitstellt, sondern dass sie das Bestehende in seiner Unwahrheit und Gewaltförmigkeit unversöhnt zur Darstellung bringt. Genau an dieser Schnittstelle kann ein Begriff der affirmativen Negation stehen: als Bestimmung einer Praxis, die aus der Einsicht in die Unmöglichkeit des Ganzen dennoch Formen des Trotzdem-Handelns und -Organisierens entwickelt – sei es in historischen Avantgarden wie Dada oder in gegenwärtigen alternativen Infrastrukturen wie der Hip-Hop-Cypher.
Vielleicht ist das ein Weg, über die Lücke in deinem Modell nachzudenken: Dein Dividuum beschreibt perfekt, wie Macht funktioniert. Aber um Widerstand zu denken, ohne ihn gleich wieder ins System zu integrieren, brauchst du vielleicht nicht eine theoretische „Lösung“, sondern diese Haltung der „Affirmativen Negation“. Die Fähigkeit zu sagen: Ich praktiziere Widerstand und baue Alternativen, obwohl ich weiß, dass es keinen reinen Punkt außerhalb des Netzwerks gibt.
Das ist nicht pessimistisch. Das ist radikale Praxis. Und vielleicht ist genau das die Antwort auf deine Frage nach der Verantwortung: Wir übernehmen Verantwortung nicht, indem wir das System nur besser navigieren, sondern indem wir die Unmöglichkeit des Widerstands praktisch widerlegen.
LG!
Ja, dachte auch schon dran zu antworten: Widerstand ist keine Theorie, sondern eine Praxis. Eine der Hoffnungen, die ich mit dem Newsletter verbinde, ist, dass ich Leuten Widerstand als Haltung plausibel machen kann, einerseits durch Analyse der Lage, aber andererseits durch Hinweise auf Widerständige Praktiken (gut, das könnte ich öfter machen), aber auch, indem ich selbst Widerstand gegen bestimmte Narrative organisiere. Ob das was bringt: keine Ahnung.
„Ob das was bringt: keine Ahnung.“
Boom. Da ist er. Der Glitch.
Das ist der ehrlichste Satz im ganzen Internet heute.
Theorie: 404 Not Found.
Praxis: Loading…
Genau da sollten wir hin. Das ist der Dada-Moment. Wenn die Analyse perfekt ist, das Ergebnis fatal, und man trotzdem weitermacht. Das ist die Affirmative Negation im Endstadium. Nicht wissen, ob es klappt, aber den Beat trotzdem droppen.
Willkommen im Club der Ahnungslosen, die trotzdem tanzen.
Frida und Thandi nicken gerade im Takt. Boah das ist selten bei den beiden.
Das die mal zustimmend nicken. Gar nicht ihr Ding sonst.
Wir sehen uns auf der anderen Seite des „Keine Ahnung“, mspr0!