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Dies ist ein temporär stabiler Explainer über den Subjektentwurfs des Dividuums. Ich editiere hier immer mal wieder rum, nicht wundern.
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Das Dividuum ist ein Subjektentwurf, der sich als semantische Pfadalternative zum Individuum positioniert. Genauso wie das Individuum ist das Dividuum einzigartig, aber anders als das Individuum ist das Dividuum kein abgeschlossenes Ganzes, dass der Welt gegenüber steht, sondern ein Verkehrsknotenpunkt für Milliarden Netzwerke.
Genaugenommen ist das Dividuum dadurch sogar viel einzigartiger als das Individuum, denn während alle Individuen aus denselben Zutaten bestehen, also „Geist/Intelligenz“ und „Körper“, kann man ähnliches nicht für Dividuen sagen. Jedes Dividuum ist ein wilder, einzigartiger Mix aus allerlei Welt, die in es hineinragt.
Deswegen lässt sich auch nur wenig Allgemeines über das Dividuum sagen, außer, dass es immer an einem ganz konkreten Ort in der Welt ist und zu einer konkreten Zeit und wenn man die Zeit laufen lässt, wird das Dividuum zum Pfad. Der Pfad hat ein Anfang und ein Ende und um diesem Pfad entsteht und verändert sich Infrastruktur, die wiederum die Welt der anderen Dividuen beeinflusst.
Das Dividuum ist eigentlich erst ein nützliches Modell, wenn man es in eine Welt setzt, also seine Dimensionen betrachtet. Im Gegensatz zum Individuum lebt es nicht in seinen Infrastrukturen, sondern ist seine Infrastrukturen und das stimmt auf dreifache Weise:
- Materiell: Die ganze Agency des Dividuums realisiert sich über seine ihm zur Verfügung stehenden Infrastrukturen, also Pfadgelegenheiten.
- Psychologisch: Das Dividuum subjektiviert sich entlang und über die Verfügbarkeit seiner Infrastrukturen (siehe unten).
- Sozial: Das Dividuum ist immer wieder selbst in vielen Belangen Pfadgelegenheit für andere, also eine Infrastruktur für dieses und jenes.
Die materielle Geschichte des Dividuums
Das Dividuum entstand aus Notwehr. Mein Argwohn gegen das Individuum trug ich schon länger mit mir rum und natürlich kannte ich bereits viel der philosophischen Kritik am Individuum, aber mit Kritik ist es ja nicht getan. Wenn man so tief in den Eingeweiden der westlichen Perspektive herumdoktort, hat man ein Problem: Alle möglichen Erzählungen, Konzepte, Begriffe und nicht zuletzt all unsere Selbsterzählungen, unsere Subjektivierungen sind Pfadabhängig vom Subjektentwurf des Individuums. Und ich will mich ja auch morgen noch, naja, subjektivieren. Deswegen war mir klar: ich brauche eine plausible Pfadalternative, die die pfadabängigen semantischen Verbindungen des Individuums übernimmt. Einen Bypass.
Ich hatte ein paar grobe Ideen eines vernetzten Subjektentwurfs und hatte zu diesem Zweck im Newsletters schon einiges an semantischer Infrastruktur zusammengesammelt und als ich die Pfadgelegenheit sah, verkündete ich in Krasse Links 27 meinen offiziellen Austritt aus der Kirche des Individualismus.
Ich hatte mir das lange überlegt, aber ausschlaggebend war letztendlich dieser Ted Talk von Deb Chachra über Rolle von Infrastrukturen in unserem Leben.
Ich kommentierte den Talk so:
Infrastrukturen sind das, was Deine „Agency“ überhaupt ermöglicht und damit auch Deine Fähigkeit, Dich als Individuum zu erleben.
Und als ich dann noch mit Ishay Landa im selben Newsletter verstand, wie der Transmissionsriemen zwischen Individualismus und Faschismus funktioniert, war für mich das Maß voll.
Okay, hier ist mein Deal: Ich habe aufgehört, ans Individuum zu glauben. Ja, es gibt Akteure, die Dinge anstoßen, aber wir alle navigieren nur innerhalb vordefinierter Strukturen. Wir können nur navigieren, weil uns zu jedem Zeitpunkt immer nur so und so viele Optionen zur Verfügung stehen, unsere Geschichte weiterzuerzählen. Wir sind also Opportunisten und alles was wir tun, ist mit den uns zur Verfügung stehenden semantischen Schablonen nach Pfadgelegenheiten Ausschau zu halten, um auf ihnen durchs Leben reiten.
Diese Gelegenheiten werden wiederum von Infrastrukturen bereitgestellt, materielle wie semantische und weil wir uns nun mal im Kapitalismus bewegen, ist eine besonders netzwerkzentrale Infrastruktur das Geld. Zugang zu dieser Ressource ermöglicht Zugang zu vielen anderen Ressourcen und damit Pfadgelegenheiten. Aber Eigentum/Geld/Preise sind nur ein Abstraktionslayer, den wir als Zugangsregime über einen Großteil unserer Infrastrukturen gelegt haben. Im Alltag erleben wir Normalos Geld deswegen als den entscheidenden Flaschenhals, der unsere individuelle Navigationsfähigkeit ermöglicht und begrenzt und damit das absteckt, was Lea Ypi neulich „horizontale Freiheit“ nannte.
Was Landa hier beschreibt, stelle ich mir konkret so vor: Leute, die vergleichsweise viele Pfadgelegenheiten vor sich zu haben gewohnt sind, also wir Mittelstandskids aus dem Westen, haben uns eingeredet, bzw, einreden lassen, dass wir Individuen sind. Das Framework des „Individuums“ erlaubt es uns auszublenden, dass sich unsere Freiheit aus den vielfältigen materiellen und semantischen Infrastrukturen speist, die unsere Vorfahren und andere Menschen um uns herum gebaut haben, bzw. bauen und maintainen. Statt also unsere Eingebundenheit in diese Strukturen anzuerkennen, reden wir uns seitdem ein, wir hätten unseren „Wohlstand“ „erarbeitet“ und wenn wir es materiell zu etwas gebracht haben, schließen wir daraus, dass wir besonders „intelligent“ sein müssen und damit auch individueller als andere Menschen.
Und dann schauen wir auf andere Menschen, deren Infrastrukturen ihnen deutlich weniger Pfadgelegenheiten bieten und unser Individualismus-Framing deutet diese mangelnde Agency dann als verminderte, oder gar abwesende Individualität, also ein Mangel an Intelligenz und/oder Zugehörigkeit zu einer „rückständigen Kultur“. Das ist der materielle Kern dessen, was Judith Buttler mit „Abjectification“ meint und es ist die Rutschbahn vom Liberalismus zum Faschismus, auf der gerade der gesamte Westen gleitet. Huiiii!
Den ersten Schritt, den man tun muss, um das Dividuum zu denken, ist vom Glauben abzufallen. Denn wir alle sind Gläubige in der Kirche des Individuums und man wird das mistige Ding nicht los, wenn man sich dessen nicht bewusst wird und aktiv Widerstand leistet.
Der zweite Schritt ist, die Pfadalternativen zu entwerfen. Im selben Newsletter sah ich den Fluchttunnel noch in Haraways „Cyborg“ und das ist immer noch metaphorisch richtig, aber aus formalen Gründen bin ich dann doch beim „Dividuum“ gelandet. Dennoch gilt, was ich hier über Cyborgs schreibe, auch für das Dividuum.
Cyborgs sind defizitäre, bedürftige Wesen, die auf ihre Infrastrukturen angewiesen sind, um und zu überleben. Und nur weil die Cyborg kein Individuum ist, heißt das nicht, dass sie ohne Agency wäre. Die Agency des Cyborgs speist sich nicht aus ihrer „Vernunft“ oder wie es heute heißt, „Intelligenz“, sondern aus den materiellen und semantischen Infrastrukturen, die ihr zur Verfügung stehen.
Die Cyborg lebt in den Infrastrukturen und ist die Infrastruktur. Sie arbeitet an den Infrastrukturen, baut sie, betreibt sie, hält sie in Stand. Als höfliche Pfadopportunistin navigiert sie die Schmerzarchitektur zwischen Arbeit und Konsum und versucht mittels der ihr zugänglichen Infrastrukturen ihre Geschichte weiterzuerzählen. Diese Geschichte ist ein Pfad im Netzwerk, der von der Vergangenheit bis ins Jetzt und durch Pläne, Ziele und Projekte bis in die Zukunft weitererzählt wird.
Die Cyborg ist Dividualistin. Sie beobachtet nicht die Welt, sondern beobachtet wie andere die Welt beobachten. Sie surft auf diesen Beobachtungen, Worten, Bildern, Gesten und Geschichten und sortiert sich in ihnen ein. Gleichzeitig sendet jede ihrer Bezugnahmen einen Impuls durchs semantische Netzwerk, weil sie ja ihrerseits beim Schreiben, Sprechen, Denken beobachtet wird.
Es kann sich nur noch um Minuten handeln, bis die Cyborg begreift, dass sie die Infrastruktur ist und den Laden übernimmt.
Die dividuelle Subjekterfahrung habe ich in Krasse Links 26 so skizziert:
Und jetzt kann man, wenn man will, die Intention wieder reinlassen, aber nicht mehr als eine aus sich selbst heraus sprechende Stimme, die sagt „ich will“, sondern als Navigator, Surfer, oder Trommler.
Navigator, weil wir zu jedem Zeitpunkt immer an einem konkreten semantischen Ort im Raum stehen, wann immer wir handeln. Das heißt, wenn wir irgendwo hinwollen (etwas sagen oder denken), müssen wir Schritt für Schritt von dort nach da hin-navigieren und unsere Fähigkeit zu Sprechdenken besteht, wie bei der LLM, vor allem aus allerlei gemerkten Weganweisungen.
Man kann das auch Surfen, wenn man etwas firmer mit einer bestimmten Semantik ist. Dann verknüpft man die vorbeifliegenden Sinn-Ereignisse wie Wellen, auf denen man reitet. (yeah!)
Und zuletzt drücken wir auf „Play“ und nehmen die Zeit mit dazu und dann beginnt sich dieses Netzwerk langsam aber stetig auf uns zuzubewegen. Semantiken verschieben sich, verwandeln sich, werden größer oder kleiner, zentraler, peripherer, mutieren, streuen, sterben, etc. Und wir sehen immer neue Ereignisse eintreffen, die immer neue Narrative aufs Gleis setzen. Die Narrative wiederholen sich, referenzieren sich, zitieren sich und in stetiger Wiederholung und Bekräftigung werden sie erwartbar und strukturieren wie ein Beat unsere Zeit und geben uns Orientierung nach vorn.
So richtig eingeführt habe ich das Dividuum in Krasse Links No 28, in dem ich anlässlich meines Textes über KI und Semantik Derrida mit Haraway und Deleuze verbinde.
Wie schon Derrida sagte: Wir sprechen nicht, wir werden gesprochen. Das bedeutet nicht, dass man nicht auch neue Pfade finden kann, aber eben immer nur an den Rändern des bereits Gedachten und Gesagten. So wie die Nordpolexpiditionen erst machbar wurden, als die Infrastrukturen es erlaubten, so sind auch neue Gedankengänge nur als Verlängerung oder Abzweigung bereits existierender Routen denkbar. Es gibt kein Punkt außerhalb des Netzwerks.
Der Text selbst ist ein gutes Beispiel: Er basiert offensichtlich auf einer poststrukturalistischen Infrastruktur, aber wäre auch ohne Donna Haraway nicht denkbar. Mit ihrem „situierten Wissen“ stellte sie den Poststrukturalismus vom Kopf auf die Füße und ermöglicht, die richtige Perspektive aufs Netzwerk zu finden. Wenn Bedeutung stetiger Aufschub, aber dabei stets situiert ist, dann passiert Schreiben, Sprechen, Denken immer an einem ganz bestimmten Punkt eines ganz spezifischen Kontextes. An diesem je spezifischen „Hier und Jetzt“ gibt es immer nur eine überschaubare Zahl an plausiblen Pfadgelegenheiten, von denen man sich von einer zur nächsten stürzt. Wenn man dann die Zeit anstellt, bewegt sich der Punkt durchs Netzwerk und wird zur Linie, bzw. ein Pfad oder eine Route. Fertig ist die LLM, bzw. Sprechen und Denken.
„Die Individuen sind ›dividuell‹ geworden, und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder ›Banken‹.“ Schreibt Gilles Deleuze im „Postskriptum zu den Kontrollgesellschaften“ bereits Anfang der 1990er und verabschiedet damit Foucaults „Disziplinargesellschaft„, die sich noch auf die Zurichtung des Individuums und der Organisation von Masse konzentrierte. Aus dem Unteilbaren (lat. individuus) wird etwas per se Teilbares (lat. dividuus).
Das Navigieren in der Semantik – Schreiben, Sprechen, Denken – ist ein dividueller Akt. Man beobachtet nicht die Welt, sondern man beobachtet einander, wie man die Welt beobachtet. „Dividuell“ bedeutet also, sich selbst als Teil des Netzwerkes zu imaginieren, das Sprache, Denken und Öffentlichkeit und Infrastrukturen hervorbringt.
Es ist den Zitaten anzumerken und relevant zu verstehen, dass sich der Subjektentwurf des Dividuums parallel und in ständiger Korrespondenz mit der Enststehung der Semantiktheorie entwickelt hat. Das Dividuum ist ohne „semantische Pfadgelegenheiten“ nicht denkbar, bzw. es ist andersrum: Man kann das Individuum nur dann denken, wenn man Semantik nicht denkt und dann die Stimme in eigenen Kopf für ein unverbundenes „Res Cogitans“ hält, das als Agent einen Körper durch die Welt steuert, mit dem man sich dann fälschlicher Weise identifiziert. Und genau da ging und geht ja der ganze Schlamassel mit der Infrastrukturvergessenheit seit Descartes schon los, der uns gerade im Gesicht explodiert.
Klar, im Vergleich zum Individuum kann das Dividuum erstmal nicht viel. Das Dividuum hat keine Eigenschaften und „tut“ auch nichts, es ist halt ein Netzwerkknoten, der vollständig durch seine Verbindungen definiert ist. Und ausgerechnet durch Verbindungen, die nicht wirklich dem Dividuum gehören, sondern teil von Netzwerken sind, in deren Interaktion das Dividuum eingebunden ist und danach strebt sich darin temporär zu stabilisieren. Zu diesen Netzwerken gehören biologische Netzwerke, genetische Netzwerke, Bakterielle Netzwerke, Blutkreisläufte, Nährstoffkreisläufe, Klimakreisläufe, städtische Infrastrukturen, Gesetzesframeworks, Produktionskreisläufe, Lieferketten, die Sprachen, die ich spreche, Diskurse an denen ich teilnehme, die Geschichten die ich mir und anderen erzähle, mein Emailprovider, die Straßenbahn und die regelmäßigen Bedürfnisse meines Hundes.
Im Gegensatz zum Individuum, das in sich selbst ruht, hat das Dividuum einen ständigen Hang zur Instabilität. Das Dividuum ist immer im Flux, weil sich all die Verbindungen, aus denen es besteht, ständig verändern. Einerseits wechseln Dividuen ständig ihren Ort in der Welt, d.h. verlieren ständig Verbindungen und gewinnen neue. Andererseits verändern sich die Verbindungen selbst, weil sich die Welt verändert. Deswegen ist das Dividuum den Gezeiten und Turbulenzen seiner Netzwerke ausgeliefert und wird wie eine Boje im Wasser von den Wellenbewegungen im Netzwerk hin und hergeschüttelt. Das Resultat ist ein ständig instabiler Dividuums-Knoten, der die ganze Zeit damit beschäftigt ist, die veränderte Beziehung in einem Netzwerk, durch Veränderung von Beziehungen im anderen Netzwerk auszutarieren (dafür braucht es allerdings Pfadgelegenheiten).
Ohne seine Pfadgelegenheiten ist das Einzige, was das Dividuum „kann“, also „beeindruckt sein“ von der Welt. Aber genau in dieser strukturellen Berührbarkeit steckt der epistemische Wert des Dividuums: Im Sich-Verhalten des Divduums zur Welt verbrigt sich ein struktureller Spiegel der Gesellschaft. Man muss nur den Beat hinter dem Tanzmove erkennen.
Exkurs: Wie funktioniert dividuelle Subjektivierung?
Jetzt rede ich die ganze Zeit von „Subjektivierung“ und sage gar nicht, was ich genau damit meine. Deswegen hier ein Explainer im Explainer: was ist Subjektivierung?
Die traditionellen Subjektivierungs-Theorien sind natürlich Individualistisch und damit unbrauchbar. Foucault und Buttler haben das Individuum aufgebrochen, aber sie sind für unsere Zwecke nicht radikal genug.
Deswegen schlage ich einen eigenen Entwurf vor: Die Relationale Subjektivierung.
Ganz grob betrachtet ist Relationale Subjektivierung die Art und Weise, wie wir uns selbst in dem Anderen und den Anderen in uns sehen, bzw. differenzieren (also eher von Levinas, Haraway inspiriert).
Diese „Art und Weise“ ist wiederum ganz grob das Set an pfadabhängigen Unterscheidungen, die ich zum Erkennen der Differenzen in der Wiederholungen des Anderen in mir verwende.
Beispiel: Wenn ich mich als „Individuum“ entwerfe, entwerfe ich alle anderen um mich herum auch als Individuum, aber eben als andere Individuen, jedes ein „unteilbares“ „Bewusstsein“ in einem Körper in der Welt. Außer die ohne Agency – das sind im besten Fall „tragische Fälle“, aber oft auch „Versager“ oder bei manchen Menschen sogar „Abschaum“, also grob das was Judith Buttler „Abjection“ nennt.
Aber auch abseits des Individuums verstehen wir Subjektivierung als die tägliche Praxis des mich im Anderen erkennen und differenzieren, nach einem bestimmten Schema von Unterscheidungen.
Aber das Schema von Unterscheidungen ist natürlich sozial konstruiert. Klar, durch Infrastrukturen der Disziplinierung, durch Diskurshoheiten, Gesetze, Normen, Rollen und ihre sozialen Hierarchien und Ausgrenzungen. Aber auch durch teils über tausende Generationen geerbt und verinnerlichte und nie hinterfragte Unterscheidungen. Aber unsere Unterscheidungen kommen auch aus Gesprächen auf der Arbeit oder beim Sport, Büchern oder Newslettern, die wir gelesen haben, News die wir mitbekommen haben oder über das neuste Tiktok-Meme. Oder wir sammeln unsere Unterscheidungen aus den Geschichten aus dem Kino, das aber auch nur dieselben Narrative immer wieder anders erzählt, von denen die meisten aus der Antike stammen. Da gibt es ehrlich gesagt auch gar nicht so viel Spielraum, denn um zu funktionieren, müssen Narrative anschlussfähig an bereits erwartete Narrative sein, so wie ein Satz anschlussfähig an den vorherigen Satz sein muss und ein Wort an das vorherige Wort.
Diese soziale Co-Produktion von Wirklichkeit und Subjekt kann man auch mit Federico Campagna als Worlding bezeichnen. Aus Krasse Links No 20
Im Zentrum seiner Theorie, oder wie er sagt: „Metaphysik“, steht das „Worlding“: Welt, aber als Verb. Worlding ist etwas, was wir konstant tun: wir bauen und aktualisieren unser Weltmodell. Aber dieses Weltmodell ist natürlich kein individuelles, sondern eine geteilte Semantik, ein Vibe, ein „Rhythmus“, wie er es auch nennt. Es gibt also Weisen des Worldings und sie bilden die unbewussten und unhinterfragten Axiome unseres Weltverständnisses oder wie ich immer sage: die Art, wie wir auf die Welt blicken.
Wordling ist semantisch, d.h. wir haben uns unser Worlding in den seltensten Fällen ausgesucht, sondern haben es zum Großteil geerbt und auch ansonsten kreieren wir es zusammen: wir „worlden“ gemeinsam, miteinander, aber immer wieder auch gegeneinander, wobei man sich das „Worlden“ wie einen Beat vorstellen kann, den alle um einen herum tanzen, ein Vibe in dem man fühlt, und machmal auch der Beat, den „die anderen nicht haben“.
Ein Resultat dieses gemeinsamen und wechselseitigen konkurrierenden Worldings nennen wir auch „Wirklichkeit“ und ich muss in diesen Zeiten nicht extra darauf hinweisen, wie schief das gehen kann.
Das andere Resultat des Wordings ist eine bestimmte „Perspektive“, bzw. die semantische Seite unserer Perspektive. Perspektive ist ja zunächst einmal der materielle Ort in der Welt, von dem ich sehe und spreche und ist somit vor allem geprägt, durch die mir zur Verfügung stehenden Infrastrukturen und den Abhängigkeiten, die sich daraus ergeben.
Doch die semantische Seite der Perspektive funktioniert über das „Worlding im Anderen“ – als Navigation der eigenen Erwartungen an mich selbst im Raum der Erwartungserwartungen der anderen.
Die semantische Perspektive ist von der materiellen Perspektive nicht unabhängig. Je nach den Infrastrukturen, die ich gewohnt bin, zur Verfügung zu haben, kann ich mir andere Subjektentwürfe plausibel machen oder auch nicht.
Beispiel: In Krasse Links No 31 hatte ich einmal die materielle Geschichte des Subjektentwurfs des Individuums umrissen:
Das Individuum erblickte das Licht der Welt in den europäischen Salons der besseren Gesellschaft des späten 18. Jahrhunderts, als die Oberschicht wechselseitig an sich feststellte, wie schwerelos das Leben ist, wenn man Hausangestellte hat. Genau genommen haben sie den letzten Teil ausgeblendet, genau so wie die Tatsache, dass sich die Agency ihres Hauspersonals auf Arbeiten oder Hungern beschränkte und ihnen also das Individuum gar nicht plausibel war.
Das Virus sprang schnell über zu den Sklavenhaltern in den USA und perkulierte entlang der sprießenden Infrastrukturen der Industriellen Revolution immer weiter in die Gesellschaft hinein (überall wo Lebensstandards einen bestimmten Schwellenwert an Pfadgelegenheiten erreichten), bis das Individuum so ab 1900 zum Mainstream wurde. Mit Strom, fließend Wasser, Telefon und Auto wurde das Individuum zum Lebensgefühl des 20. Jahrhunderts und zum Grundbaustein der Metaphysik des Westens.
Der Subjektentwurf des „Individuums“ kann überhaupt erst plausibel werden, wenn einen die Welt mit einen bestimmten Threshold an Pfadgelegenheiten ausstattet.
Das heißt, man muss sich bestimmte Subjektentwürfe leisten können und viele Subjektivierungs-Pfade stehen aus bestimmten Perspektiven überhaupt nicht zur Verfügung oder sind nicht plausibel. Der Subjektentwurf des „Superindivuums“ zum Beispiel wird erst ab Milliardär plausibel, aber auch die ganzen anderen materiellen Statusgames dazwischen könnt ich mir eh nicht leisten (außer son bisschen Applehardware, ok).
(Werbehinweis: Einer der Vorteile des Dividuums ist, dass es sehr „affordable“ ist. Sogar die Amöbe könnte sich das Dividuum leisten, würde sie subjektivieren.)
Ja, man kann aus Subjektentwürfen ausopten, und das ist, was wir hier machen, aber auf einer tieferen Ebene, was das Projekt früher oder später extrem schwierig machen dürfte.
Denn Subjektentwürfe sind auch Macht. Simone de Bauvoire machte darauf aufmerksam, dass die Subjektentwürfe „Frau“ und „Mann“ soziale Konstruktionen sind, die die gesellschaftliche Funktion haben, das Patriarchat am Ruder zu halten. Auch Foucault kannte die Macht der Subjektentwürfe aus schmerzhafter Erfahrung und schrieb sein Werk nicht zufällig zu einer Zeit, als sich neue Subjektivierung-Pfade Bahn brachen und die hegemoniale Weisen des Worldings und der Subjektivierung aus dem Takt brachten. Buttler und die Intersektionalist*innen haben die Subjektivierung weiter ausdifferenziert, indem sie sie aus den „Kategorien“ befreit haben und sie stattdessen als vieldimensionale Erfahrungslandschaft dachten. Das Dividuum baut auf dieser Tradition auf.
(Werbehinweis: Das Dividuum ist beliebig erweiter-/ausdifferenzierbar und macht alle Dimensionen des Lebens darstellbar..)
Subjektivierung ist nicht nur narrative Selbst-, sondern immer auch Welt-Reproduktion. Das Dividuums-Subjekt ist weder Ursprung noch Endpunkt von irgendwas, sondern nur die sich ständig aktualisierende Form einer Dividuum-Welt-Relation, die sich im gemeinsamen und wechselseitigen Worlding stabilisiert.
Subjektvierung ist das stetige Anwenden und gleichzeitige Einüben der eigenen Perspektive an und anhand des Anderen.
Deswegen reicht es auch nicht das Dividuum zu „verstehen“ oder zu „denken“. Zumindest, wenn man, wie ich, aus der Individuums-Perspektive kommt, muss man das Dividuum als alternativen Subjektivierungspfad erst mühsam einüben und ich bin da auch erst am Anfang, tbh. Aber diese andere Perspektive ist real und die ganzen Beobachtungen, die ich hier teile, wurden erst durch diese Perspektive möglich.
Das Dividuum ist also das Projekt eines anderen Pfads der Subjektivierung, das andere Formen des Worldings erlaubt. Es ist eine Häresie, basically. Oder wie ich es in Krasse Links öfter nenne: eine semantische Sezession.
Die Perspektive des Dividuums
Perspektive ist die Art, wie wir auf die Welt schauen.
Im Gegensatz zur Perspektive des Individuums, das vor sich Objekte und andere Individuen zu sehen glaubt, ist die Perspektive des Dividuums vielgeteilt: Sie ist die Summe unserer Eindrücke und die Summe unserer plausiblen Pfadgelegenheiten an einem Ort, sowie die Summe der erinnerten Pfadabhängigkeiten hinter uns, die implizite Zeugenschaft der Anderen und die Geschichte, die das alles zusammenhält.
- Ort: Jedes Dividuum ist an einem Ort. Der Ort grounded die Perspektive.
- Eindrücke: Alles, was sich in das Individuum eindrückt. Semantiken helfen dabei, die Eindrücke zu unterscheiden.
- Plausible Pfadgelegenheiten: Alle Unterscheidungen, die das Dividuum nutzt, um sich in die Zukunft zu projizieren. Pfadgelegenheiten bilden die Agency des Dividuums. Plausible Pfadgelegenheiten bilden den Raum, in dem wir planen und entscheiden.
- Pfadabhängigkeiten: Der Pfad von dem man herkommt, die Erinnerung, if you will.
- Die Erwartungen der anderen/Erlaubnisstrukturen. Der durch die Subjektivierung verinnerlichte Blick des Anderen. Auch bekannt als „Gewissen“ oder „Überich“.
- Emotion/Empathie. Emotion und Empathie sind dasselbe, denn jede Emotion ist bereits semantisch.
- Aufmerksamkeit. Der Fokus des Dividuums auf die aktuellen Unterscheidungen.
- Motivation. Das Orientierungsschema der Pfadselektion.
- Geschichte: Jedes Dividuum verbucht Eindrücke, Pfadabhängigkeiten und Pfadgelegenheiten in eine Erzählung über sich selbst. Diese Geschichte ist der schwammig erinnerte und nur stellenweise dokumentierte Pfad durch das Leben des Dividuums entlang eingeübter Narrationsstrukturen bis zum Jetzt.
Ort. Erstmal bedeutet Perspektive die Einsicht, dass wir alle „von einem konkreten Ort“ aus sehen, denken, handeln und sprechen. Ich hab das von Donna Haraway und klar, die Einsicht ansicht ist erstmal nichts neues und das behauptet Haraway auch nicht, aber sie macht etwas Neues daraus: eine Übung.
In Krasse Links No 10 führe ich Donna Haraway so ein:
Das Werk ist zunächst nicht so leicht zugänglich, nicht, weil sie so voraussetzungsreich schreibt, sondern weil man erst eine Menge verlernen muss, bevor alles Sinn ergibt. Ihr wichtigster Beitrag in der Philosophie ist weniger eine ausgefeilte Theorie der Welt, als vielmehr ein bestimmer Blick. Ich habe das letzte Jahr damit verbracht, diesen Blick einzuüben und wenn man das schafft, dann eröffnet sich im wirren, mäandernden und eklektischen Werk Haraways plötzlich ein Füllhorn von Sinn.
Haraway denkt – mehr noch als Bruno Latour – aus dem Netzwerk heraus. Dass klingt banal, aber es ist wirklich nicht einfach. Eine erste, überraschende Lektion ist zum Beispiel, dass Du als Netzwerkteilnehmer das Netzwerk selbst nie zu Gesicht bekommst. Das heißt, du verlierst erstmal eine ganz bestimmte Sicht, nämlich die Draufsicht. Also jene Illusion von ort- und körperlosem Schweben über den Dingen, die gerade in der abendländischen Tradition einen Großteil des wissenschaftlichen Blicks ausmacht. Diese Perspektive, so Haraway, sei nicht real, sondern reine Imagination. Eine männliche Machtphantasie.
Haraway zu denken, bedeutet erst einmal ein Loslassen dieser Perspektive und die eigene Situiertheit in der Welt anzuerkennen und damit auch die Tatsache, dass jedes Denken immer unter ganz bestimmten materiellen Verhältnissen und an einem ganz bestimmten Ort in der Semantik stattfindet. Es ist, als müssten sich die Augen erst an die veränderten Lichtverhältnisse anpassen, aber langsam schärft sich mein Blick auf Beziehungsnetzwerke: auf materielle Abhängigkeiten, genauso wie auf Semantiken.
Eine andere Sache, die passiert, wenn man anfängt die Netzwerkperspektive ernst zu nehmen, ist, dass alles unrein wird. Es gibt plötzlich keine saubere Kategorien mehr, weil alles in einander hineinragt. Das gilt vor allem für das Selbst. Das Selbst steht nicht mehr als abgeschiedene Entität den Dingen gegenüber, sondern interferiert durch seine Eingebundenheit mit den Semantiken und Abhängigkeiten der Umwelt.
Ort ist der Referenzpunkt von allem. Nichts ist einfach gegeben, alles ist teil der Welt, auch und vor allem, deine Perspektive.
Eindrücke: Im Gegensatz zum Individuum hat das Dividuum keinen Körper, aber es ist zu relevanten Teilen ein Körper. Der Körper ist die wichtigste Infrastruktur des Dividuums und netzwerkzentral zur Navigation aller anderen Infrastrukturen und damit die wichtigste aller Pfadabhängigkeiten (oh gott, wie ich gerade gar nicht danach lebe …).
Der Körper ist aber auch auf eine andere Art, teil der Perspektive. Achtet mal drauf, wie allein ein leichtes Hungergefühl oder eine unterschwellige Hornyness eure Sicht auf die Welt strukturiert.
Auch sonst drückt sich die Welt auf vielfältigste Art und Weise in das Dividuum ein und verändert seine Perspektive auf die Welt, auch dann, wenn wir es nicht gut benennen können. Unser Vokabular ist begrenzt und ständig kommen neue Einflüsse hinzu, für die wir noch keine Begriffe haben. Unser Vokabular reicht meist nur für die direkt physische „Objekt-Welt“, die wir um uns herum kreiert haben, aber die Versuche, die Strukturen, in die wir eingebunden sind, zu beschreiben, haben noch viel aufzuholen. Uns fehlt zum Beispiel die Sprache, die vielen Vektoren der strukturellen Gewalt zu benennen und zu beschreiben, denen wir zunehmend, aber sprachlos ausgesetzt sind.
Pfadgelegenheiten. Die Perspektive des Divduums ist nicht abschließend, aber doch erheblich bestimmt, durch die materiellen und semantischen Pfadgelegenheiten (ausführlicher Explainer), die ihm zur Verfügung stehen. Die semantischen Pfadgelegenheiten sind dabei kritisch, denn sie liefern unter anderem die heuristischen Schablonen, mit denen man in der Welt nach Pfadgelegenheiten Ausschau hält.
Und hier ist der schwierige Part, den es zu verstehen gilt: Dividuen sehen unterschiedliche Pfadgelegenheiten in derselben Welt, je nach dem wo und wie sie aufgewachsen sind, welche Pfade ihnen vertraut sind, welche Erzählungen sie gehört haben und welchen sie glauben, wie sie sich selbst erzählen und welche Ziele sie sich setzen, usw.
Pfadabhängigkeiten Wenn man in einen Raum reingegangen ist, ist es nützlich, sich zu merken, wie man wieder rauskommt. Und wenn man durch ein Haus mit vielen Räumen geht, muss man sich viele Pfadabhängigkeiten merken. Hier unterscheiden sich Individuum und Dividuum auf den ersten Blick nicht, aber das Dividuum hat dem Individuum dennoch etwas voraus: Es hat eine infrastrukturbewusste Sprache, die die Eigenheiten und Vertraktheiten von Pfadabhängigkeiten einpreist.
Beispiel: Nehme ich eine Pfadgelegenheit und gehe den Pfad weiter und immer weiter, dann erhöht sich dadurch automatisch meine Abhängigkeit von der ursprünglichen genommenen Pfadgelegenheit. Das stimmt sowohl für das Umherirren im Wald, für das Coden von komplexen Programmen, für die Struktur eines Textes beim Schreiben, als auch für Businesses, die ihren Vertriebskanal über Amazon Marketplace laufen lassen.
Wir spüren diese Abhängigkeit durchaus und wir blicken auf Abhängigkeiten nicht selten mit bangem Blick, aber uns fehlt die Sprache, die die Gefahr plastisch machen würde. Aber wir sind doch freie Individuen, versichern wir uns. Und wenn die Schmerzen zu groß werden, wird „der Markt uns schon auffangen“, so die Verdrängungserzählung des Individuums.
Deswegen produziert die Gesellschaft vielfältige und enthusiastische Erzählungen über plausible und begehrenswerte Pfadgelegenheiten, aber hat keine angemessene Sprache gefunden, die sich aus den Pfadgelegenen ergebenden Pfadabhängigkeiten zu beschreiben. Wir sprechen über „das Klima“ als sei es ein Objekt, wie eine aussterbende Tierart, die nur ein paar Ökospinner beweinen würden und als ginge es nicht um ein grundlegendes infrastrukturelles Problem mit einer tiefsitzenden Pfadabhängigkeit für alles, was wir tun und sind.
Das wir dafür keine Sprache gefunden haben, liegt nicht an unserer mangelnden „Intelligenz“, sondern weil wir pfadabhängig vom Individuum denken und sprechen.
Die Infrastrukturvergessenheit des Individuums ist sein Geburtsfehler. Es entwirft sich als von der Welt losgelöster, autonom handelnder Agent, dessen Pfadgelegenheiten immer schon da waren, und das immer schon schlau war, praktisch seit Geburt, wobei es das eigene „Geborensein“, wie auch die Sterblichkeit, meist erst auf zweifache Nachfrage zugibt.
In Krasse Links No 55 beschreibe ich die Kopfgeburt des Individuums so:
Descartes kleiner Trick war, einfach so zu tun, als gäbe es die Sprache nicht – also diese externe Infrastruktur, mit der er seine Gedanken organisiert und ohne die er nichts wüsste vom „Ich“, vom „Denken“ und vom „Sein“. Das ermöglicht ihm, sein Denken („Res Cogitans“) von „dem Außen“ („Res Extensa“) abzutrennen und damit den Widerspruch von Geist (Vernunft/Intellekt) und Welt zu behaupten.
Dadurch wurde auch die Illusion des infrastrukturfreien Sehens möglich, der Blick von nirgendwo, der objektive Blick, der – wie wir alle wissen – der einzig vernünftige Blick ist.
Der Descartes-Trick funktioniert für alle Infrastruktur, denn genau betrachtet ist nicht nur unser Denken, sondern auch unser Handeln immer infrastrukturvermittelt. Wir können nicht denken oder tun, was wir wollen – nicht mal wollen, was wir wollen – denn wir sind immer an einem ganz konkreten Punkt in der Welt mit ganz konkreten, materiellen und semantischen Pfadgelegenheiten, die uns zu einem konkreten Zeitpunkt zur Verfügung stehen.
Aber indem wir die Infrastruktur verdrängen (jedenfalls bis sie kaputt geht), können wir uns die Agency selbst zuschreiben. Unserem individuellen Ich können wir dadurch „Fleiß“, „Intelligenz“, „Geschmack“ und „Freiheit“ attestieren, ganz besonders wenn wir mit 200 Sachen auf der Autobahn an den Losern vorbeirasen.
Diese Selbstzuschreibung von Agency war nützlich, unter anderem im Kolonialismus, wo man die eigenen Infrastrukturen erfolgreich gegen andere Völker wendete. Die Genozide wurden schon damals mit der eigenen „Zivilisiertheit“ gerechtfertigt und der nun mal überlegenen europäischen „Vernunft“, was aber eigentlich nur meinte: infrastrukturvermittelte Agency. Aus dieser Erlaubnisstruktur ergibt sich der Koloniale Blick: eine implizite Hierarchie der Völker entlang ihres „Entwicklungsgrades“, die bis heute in allen unseren Debatten spukt.
Das Individuum ist auch Grundlage unseres Blicks auf die eigene Gesellschaft. Statt Menschen zu sehen, die jeweils versuchen, in den ihnen zur Verfügung stehenden Infrastrukturen zu überleben, haben wir die Gesellschaft als „Markt der Individuen“ imaginiert, in der dein Platz in der Welt, deiner „individuellen Leistung“ und damit über Bande auch deiner „Intelligenz“ entspricht.
Wenn Du den goldenen Löffel im Mund für eine Ausbildung an einer Elite-Universität eingetauscht und mit dem erworbenen Wissen und den Kontakten von Papa ein erfolgreiches Start-Up gegründet hast, dann bist Du „deines Glückes Schmied“. Wenn du in Gaza aufgewachsen bist, in der dritten Generation vertrieben in den Ruinen Deines Hauses sitzt und Israel am liebsten abschaffen willst, bist du ein Antisemit und kannst weg.
Wie gesagt, das ist alles logisch und richtig so und dass die Super-Individuuen aus dem Silicon Valley mit ihren milliardenschweren aber völlig verdrängten Infrastrukturen gerade die Demokratie abräumen, liegt nicht daran, dass sie an ihrer eigenen Super-Individualität durchgeknallt sind, sondern das ist ein wichtiger Schritt zur nächsten Stufe menschlicher Zivilisation: AGI – die Vernunft in der Flasche. Das letzte Individuum.
Ich hänge immer alles so der an Descartes auf, aber natürlich weiß ich, dass die Geschichte komplexer ist, aber auch lustiger. Das Individuum entstand eigentlich als „Juristische Person“ im späten Mittelalter. Eine „legale Fiktion“ einer „Annahme von Urteilskraft“ und „freien Willen“, die die Pfadgelegenheit des „rechtskräftigen Vertrags“ ermöglichte, dazu eine Art Eigentumsrecht an sich selbst, bzw. seinen Körper (hence: Marx‘ doppelte Freiheit des Arbeiters). Ja, die Karriere des Individuums begann als infrastruktureller Ur-Grundbaustein, der sich bildenden kapitalistischen Ordnung. Descartes ist auch nur ein Dividuum, das als Jurist den Vibe seiner Zeit eben durch die Paragraphen der Gesetzbücher aufschnappte und restrukturierte.
Aber Descartes liefert mit seiner „Cartesianischen Meditation“ nicht nur die philosophische Erlaubnisstruktur des „Individuums“ und damit der Grundlage des kapitalistischen Systems, sondern ahmt dabei gleichzeitig die Geste vor, die ihm immer mehr Dividuen nachmachen sollten, im Versuch, Individuum zu werden. Er verleugnete seine Eingebundenheit in die Welt, indem er seine geerbte und über einen langen Prozess eingeübte Unterscheidungs-Infrastruktur einfach seinem eigenen „Res Cogitans“ zuschrieb, um eine Abgeschlossenheit zu behaupten, die nicht existiert. (Nebenbei ist das auch der ursprüngliche „geistige Diebstahl“, auf dem der geistige Diebstahl des „Urheberrechts“ basiert, aber das führt hier zu weit.)
Infrastrukturvergessenheit ist seitdem bei uns eine anerzogene Haltung, die pfadabhängiger Teil eines implizit herrschaftlichen Blicks auf die Welt ist. Descartes Unterscheidung von „Res Cogitans“ und „Res Extensa“ war rückblickend eine verheerende Pfadentscheidung im westlichen Denken, die uns allen die Sicht auf die Gesellschaft verstellt und die uns gerade in Form der Broligarchie und ihrem Gefasel von „AGI“ um die Ohren fliegt.
„Frühe Pfadentscheidungen strukturieren die späteren vor“, das ist nichts Neues, tausendfach erlebt, tausendfach beschrieben und das ist ja wirklich auch kein Hexenwerk, das zu verstehen, sogar als Individuum.
Aber es wichtig zu finden, es als relevanten Vektor bei den Beobachtungen der Welt mitlaufen zu lassen, und zur Grundlage eigener Entscheidungen zu machen, ist etwas, das dem Individuum schon aus seiner Selbsterzählung heraus schwer fällt. Das Individuum redet nicht gerne über Abhängigkeiten.
Ich behaupte: das fällt dem Dividuum leichter, allein schon weil das Wort „Pfadgelegenheit“ jeder sogenannten „Handlung“ die Bürde des Pfades aufzwingt. Wenn jede meiner Entscheidung Teil eines Pfades ist, dann passiert keine Handlung ohne Vorgeschichte und, noch wichtiger, keine Handlung bleibt ohne Konsequenzen.
Und fängt man an, sich und seine Welt so zu erzählen, also anders zu sehen, mit andern Unterscheidungen, dann bekommt man mit der Zeit ein Orientierungswissen aus differenzierten und zu Erwartungen geronnenen Erfahrungen. Ein „Gefühl“ für Dimensionen, Dynamiken, Flüssen und Kritikalitäten in den Pfadabhängigkeiten unseres gemeinsamen Seins. Wobei das andere „Sehen“ nicht wirklich ein kognitives „Aufnehmen“ oder „Verstehen“ ist, sondern eine Art zusätzlicher, im idealfall mit eigenen Schmerzerfahrung beschwerter „Sensor“ für die Welt, der der Perspektive „im Netzwerk Sein„, als zusätzliche Dimension hinzufügt und Semantiken wie „Techfaschismus“ und „Klimakatastrophe“ zu emotional-plastischen Ungetümen aus antizipiertem Schmerz inszeniert. Ist nicht schön, tbh.
Die Erwartungen der Anderen. Ludwig Wittgenstein kam bei seinem Nachdenken über Sprache letztlich zu zwei wichtigen Schlüssen: Wofür wir keine Semantiken haben, darüber können wir nicht sprechen. Und die Einsicht, dass es keine Privatsprache geben kann. Sprache können wir nur gemeinsam erschaffen.
Der Grund dafür – und Wittgenstein ist da sehr explizit – ist, weil wir uns selbst keine Gesetze auferlegen können. Also wir können das schon versuchen, so Wittgenstein, aber wir brauchen eine externe Instanz, die uns materiell Grenzen setzt. Die materiell „Nein“ zu uns sagt. Im Grunde hat Wittgenstein das Dividuum entdeckt.
Weil wir keine Individuen sind, die „autonom“, also Selbstgesetzgebend sind, sondern Dividuen, die sich gegenseitig outcallen, führen wir beim Handeln und Sprechen immer den Blick des Anderen bei uns, wie einen Passierschein.
Der Blick des Anderen wurde oft „Gewissen“ genannt, bei Sigmund Freud ist es das „Überich“ und in meinem Newsletter verweise ich auf den Blick des anderen meist als Erlaubnisstruktur.
Wie das Dividuum diesen Blick des Anderen konstruiert, ist natürlich sehr unterschiedlich. Für manche ist es vor allem nach wie vor Gott, für manche mehr der strenge Vater, für andere Romanfiguren, aber ich denke heute in unserer modernen Welt ist dieser „Blick des Anderen“ meist ein wilder Mix aus sich überlagernden Perspektiven unterschiedlicher Communities, Autoritäten, Freundschaften und sonstigen Loyalitäten. Ein aggregierter Blick all derer, denen man sich verpflichtet fühlt.
Unsere Erlaubnisstrukturen sind natürlich verkoppelt mit den Pfadabhängigkeiten, denn die Erwartungen derjenigen, von denen wir abhängig sind, können wir nicht ignorieren. Deswegen konzentriert Macht immer auch Aufmerksamkeit.
Emotion/Empathie. In Krasse Links No 74 kam ich mit Hilfe des Biologen Nicholas Humphrey darauf, wie Pfadgelegenheit und Emotion zusammenhängen:
Das kopierte Reiz-Reaktionsschema ist nicht nur Q-Function, sondern auch eine Proto-Emotion. Das heißt: Pfadgelegenheiten sind immer und grundsätzlich mit Emotionen verbunden. Der Schmerz des Hungers (Reproduktionsschmerz), aber auch der Genuss des Essens, der Schmerz der nicht (mehr) vorhandenen Pfadgelegenheiten (Netzwerkschmerz) und der Genuss des Flows, die vielen unterschiedlichen Schmerzen der Gefahr (Stress) und der Genuss der Geborgenheit sind von vornherein Teil der kopierten Reaktionsmuster, also auch unserer „projizierten Handlungen“ und immer wenn ich etwas entscheide, spielt ein komplexes Zusammenspiel dieser Emotionen eine Rolle (Bauchgefühl).
Emotion ist inszenierter Reiz und sie ist gleichzeitig die Proto-Semantik, von der alle Semantik stammt. Und das heißt, das alles, was wir tun, alles, was wir sagen, nicht nur durch unseren Ort, sondern auch durch Emotion „gegrounded“ ist. Und weil aber Emotion immer schon eine Inszenierung, d.h. eine Iteration als Wiederholung in der Differenz ist, ist sie immer schon semantisch. Deswegen reicht es, Körperhaltungen, oder die Angst in Gesichtern zu sehen, um Schmerzen in uns auszulösen. Wenn wir Empathie bedeutet, den Schmerz oder den Genuss des Anderen in uns selbst inszenieren.
Die jeweilige emotionale Groundingslandschaft ist natürlich dividuell extrem verschieden, denn wir alle haben unterschiedliche Schmerz- und Genusserfahrungen gemacht, die uns fähig machen oder nicht, sich mit den Schmerzerfahrungen anderer zu verbinden. Und je nachdem, in welcher emotionalen Groundings-Landschaft man lebt, verändert das die Perspektive auf die Welt und damit auch den „Klang“ aller Unterscheidungen.
Das Wort „Krieg“ klingt in den Ohren von jemandem, der in einem lebt, anders, als in meinem und das Wort „Klimakatastrophe“ klingt nicht so, wie es klingen sollte, wie ich mal in Krasse Links No 29 feststellte.
Mein Doktorvater Bernhard Pörksen sagte mal zu mir: „Realität ist das, was noch da ist, wenn du nicht dran glaubst“, was ich auf Anhieb schlüssig fand. Aber wenn man das zu Ende denkt, bedeutet das: Realität ist Schmerz. Schwerkraft ist nicht „wahr“, weil Newtons Formeln stimmen, sondern weil hinfallen weh tut.
Schmerz ist auch der Antrieb für diesen Newsletter. Ich habe mir am Netzwerk den Kopf gestoßen und seitdem verarbeite ich diese Erfahrung zu einer anderen Sicht auf die Welt.
Der Klimawandel ist wie das Netzwerk ein Hyperobjekt, und meine These zu Hyperobjekten ist, dass sie Dimensionen von Realität sind, zu denen uns noch der passende Schmerz fehlt. Deswegen hat dieser Clip wahrscheinlich mehr zum allgemeinen Verständnis des Klimawandels beigetragen als der letzte IPCC-Bericht.
In die Unerträgliche Leichtigkeit des Seins formulierte Milan Kundera es so:
Schwere, Notwendigkeit und Wert sind drei eng zusammenhängende Begriffe: nur das Notwendige ist schwer, nur was wiegt, hat Wert
Aufmerksamkeit. Jedes Dividuum hat nur eine begrenzte Aufmerksamkeit und das bedeutet, dass jede Perspektive gleichzeitig ein Fokus ist, der anderes Ausschließt.
Die Perspektive beginnt mit der Unterscheidung und die Unterscheidung ist gleichzeitig die Fokussetzung. Aufmerksamkeit ist das zeitliche Grounding der Perspektive.
Jede Pfadgelegenheit erfordert ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit, auch wenn uns mit der Zeit viele Dinge in „Fleisch und Blut“ übergehen. Viele Tätigkeiten, spezielle wiederkehrende Tasks werden durch Übung „naturalisiert“, so dass sie ohne eigens mobilisierten Planungsaufwand durchgeführt werden können.
Aufmerksamkeit ist quasi gleichzeitig das „System 2“ von Daniel Kahnemann und ein bisschen auch das „Bewusstsein“ bei den Kognitivisten, aber viel bescheidener: als der Fokus auf die aktuell relevanten Unterscheidungen einer Perspektive, im Kontext eines Pfads.
Aufmerksamkeit ist knapp und überall gefragt: Ein Gutteil ihres Lohns bekommen produktiv Arbeitende für ihre Aufmerksamkeit. Die Werbeindustrie hat aus Aufmerksamkeit ein Trillion-Dollar Business gemacht. Aufmerksamkeit ist eine Währung. In Krasse Links No 38 schrieb ich:
Das Paper, das den Transformeransatz, der heute alle generativen KIs antreibt, der Welt vorstellte, hieß literally: „Attention is All you need“ und das denke ich mir auch immer wieder, wenn ich meinen Hund streichel. Der körperlichen Kontakt ist wichtig, doch das Streicheln ist nur Medium einer noch wichtigere Ressource: Aufmerksamkeit.
Dass Aufmerksamkeit eine knappe Ressource ist, um die ein ökonomischer Kampf geführt wird, hatte bereits Georg Franck formuliert, aber Aufmerksamkeit ist auch die grundlegenste Infrastruktur all unserer sozialen Beziehungen. Aufmerksamkeit ist die Währung jedes dividuellen In-Beziehung-Tretens und jede Beziehung erfordert ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit. In einer soliden Beziehung ist man wechselseitig über beide Ohren in Aufmerksamkeit verschuldet.
Aufmerksamkeit macht, dass wir uns als ein „Gegenüber“ spüren. Aufmerksamkeit ist Anerkennung – zumindest der eigenen Existenz. Die Suche nach Aufmerksamkeit, egal ob privat, oder öffentlich, ist deswegen immer auch ein wichtiger Teil unserer Motivation.
Motivation ist das Orientierungsschema der Pfadselektion und die ist „messy“, denn alle bisher genannten Faktoren der Perspektive – die Suche nach Aufmerksamkeit, die Erlaubnisstrukturen, die Emotionen, die Pfadgelegenheiten, die Eindrücke, usw. spielen hier natürlich immer mit rein, aber dennoch lassen sich einige davon unabhängige, populäre Motivationsschema isolieren und betrachten.
Das Individuum zum Beispiel strebt oft nach „Individualität/Authentizität“, wobei die „Individualitäten“, die sich die Individuen einreden, nur heterogene Pfadgelegenheiten in einer größtenteils nur oberflächlich pluralistischen Pfadgelegenheitslandschaft sind. Daraus ergibt sich ein „Lockstep Individualismus“, ein Konzept, das der Linguist Adam Aleksic aus Krasse Links No 29 anhand von männlicher Namensgebung erklärt.
In diesem Video beschreibt er das Phänomen, dass Jungennamen in den USA immer häufiger mit „n“ enden und dieser Trend zur Uniformität lässt sich paradoxer auf einen Abgrenzungswillen zurückführen. Es wurden ganz viele neue Namen kreiert, aber meist welche, die auf „n“ enden, weil das irgendwie „low key“ männlich wahrgenommen wird. Das führte zu mehr Männern mit „n“ am Namensende, was den Eindruck verstärkte, etc. Network effects all over again.
Jedenfalls nennt man das wohl „Lockstep Individualism“ und ich musste herzlich lachen, aber dann fragte ich mich: gibt es einen Individualismus, der nicht lockstep ist? Ist nicht jede Abgrenzungsgeste bereits im lockstep mit all den anderen Abgrenzungsprojekten? Ist lockstep-Abgrenzung nicht auch irgendwie unser Thing?
Das, was Philosoph*innen seit Platon und Aristotelis, über Walter Benjamin zu René Girard als „Memisis“ identifizieren, ist einfach ein Effekt unseres Pfadopportunismus im Zusammenspiel mit unserer dividuellen Subjektivierung. Das äußert sich natürlich beim Kleinkind deutlicher, also in einer Phase wo man noch keine Infrastrukturen hat und nach allen beobachten Pfadgelegenheiten greift. Jedenfalls mehr als heute, wo sich unser Pfadopportunismus als „Lockstep-Individualismus“, der eigentlich einfach ein Dividualismus ist, in Form von Moden, Trends, Memes, Subkulturen, „Bürgerlichkeit“, oder der „Öffentlichen Meinung“ aggregiert.
Während die Motivation des Individuums also oft mit „Nutzenmaximierung“ beschrieben wird, ist die Motivation des Dividuums am einfachsten mit Will Storr, als „to get ahead und to get along“ umschrieben, also: Weiterkommen und Auskommen. Nur legen manche mehr Wert auf getting ahead und andere mehr auf getting along?
Dieses Navigationsschema führt bedauerlicherweise zu einem notwendigen Pfadopportunismus. Die Welt ist eng, das Leben kurz, man muss die Pfade nehmen, wie sie sich einem bieten, wobei die allgemeine Plausibilität eines Pfades in der Gesellschaft eine entscheidende Rolle spielt. Und ist man auf einem Pfad, werden die Kosten immer größer, die ein Exit bedeuten würde und so lässt man sich leiten, wie auf Schienen.
Hier ist die Schwierigkeit: Es braucht immer ein aktives „Nein“, um einen Pfad zu verlassen und dieses „Nein“ muss die Kosten der Pfadabweichung immer mit einpreisen. Deswegen gelingt das „Nein“ nur, wenn das Dividuum es schafft, einen alternativen Pfad emotional zu inszenieren, also zu imaginieren und ihn dem aktuellen Pfad vorzuziehen. Doch selbst wenn das gelingt: an den Schmerzen führt kein Weg drumrum.
Geschichte. Wie auch jedes Individuum, erzählen sich auch Dividuen, jedenfalls sofern sie subjektivieren. Aber während das Individuum sich als Protagonist seiner Welt erzählt, erzählt sich das Dividuum eher als höflicher Pfadopportunist. Als Überlebender in einer Welt mit anderen Überlebenden (siehe dazu Anna Tsing, The Mushroom at the End of the World), auf der Suche nach Frieden und Sicherheit.
Weil sich die Welt ständig in das Dividuum eindrückt, verändert sie ständig auch seine Perspektive und Pfadgelegenheiten und ein Großteil seiner Zeit verbringt das Dividuum damit, Abhängigkeiten zu verlagern und neue Pfadgelegenheiten zu suchen, um verschwundende Pfadgelegenheiten durch andere und schlechte Pfadgelegenheiten durch bessere zu ersetzen, etc. Das heißt, das Leben des Dividuums ist meistens gar nicht so spannend und selten heldenhaft, aber erstens braucht es Geschichte, um zu planen, denn ohne Geschichte, ohne einen Ausgangspunkt und einen Pfad, kann man sich nicht in die Zukunft entwerfen. Der zweite Grund ist, dass sich das Divdiuum ohne die eigene Geschichte nicht von der Welt und vor allem den Erwartungen der anderen abgrenzen kann. Die eigene Geschichte ist immer eine Abgrenzungsgeschichte. Jede Geschichte ist anders, aber die Eckpunkte jeder Geschichte bestehen aus den Momenten, wo sind wir von den Erwartungen der anderen abgewichen sind, ob freiwillig oder unfreiwillig.
Die Geschichte reguliert das Handeln über den Blick des Anderen: Bei jeder Pfadgelegenheit, die wir nehmen, fragen wir uns, ob der Andere sie uns erlauben würde, was im Endeffekt heißt: Ob er die Geschichte kaufen würde, die wir uns selbst auftischen. Das ist der Mechanismus, der uns „ehrlich“ hält.
Geschichte und Geschichten beginnen immer dann, wenn von einer Erwartung abgewichen wird, weil sie erst durch Erwartungsabweichung notwendig wird und oft überzeugt die Geschichte nicht alle.
Beobachtungen: Das Dividuum in seiner Welt
Weil alle Dividuen überlappende materielle und semantische Welten bewohnen, ergeben sich darin Topologien: Verdichtungen, Erhebungen, Muster, Hubs, Cluster, Barrieren, Flüsse, Staus, Infarkte, Formationen, Abkürzungen, Highways oder Backbones und Netzwerkzentralitäten und ihre Provinzen. In der Beschreibung des Netzwerks der Pfadgelegenheiten können wir viel über die Gesellschaft erfahren.
Hier ein paar nützliche Datenpunkte, die ich im Newsletter über die Zeit über das Dividuum und seinen Weltbezug trianguliert habe:
- KL29: Weil wir keine Individuen sind, die die Welt beobachten, sondern Dividuen, die einander beobachten, wie sie die Welt beobachten, ist Öffentlichkeit ein Klangkörper, den wir alle miteinander bespielen.
- KL30: Weil wir nicht einfach gewalttätige Individuen sind, sondern Dividuen, die einander Gewalt erlauben (siehe auch Milgram), kommt jede Gewalt mit ihrer Erlaubnisstruktur.
- KL31: Weil wir keine generalisierenden Individuen sind, sondern Dividuen die gemeinsam an einer sozialen Skulptur arbeiten, die wir wechselseitig als „Wirklichkeit“ beglaubigen, verwenden wir einander als Erlaubnisstruktur für unsere Generalisierungen.
- KL34: Weil wir keine Individuen sind, deren „Mind“ über psychologische Stimuli „manipulierbar“ ist, sondern Dividuen, die sich aneinander orientieren, funktioniert echte Manipulation nicht als Operation am Individuum, sondern über Modifikation der Öffentlichkeit.
- KL35: Weil wir keine Individuen sind, die die Welt beobachten, sondern Dividuen, die ihre Beobachtungen dazu nutzen, aufgeschnappte Erzählungen zu plausibilisieren, tragen Milliarden Schmerzerinnerungen als verteilte Privatempirie die Thesen der Rogannomics.
- KL39: Weil Silicon Valley Oligarchen keine ruchlosen Individuen sind, sondern Dividuen, die sich die Ruchlosigkeit voneinander abgucken, borgt sich Mark Zuckerberg die männlich-hegemoniale Erlaubnisstruktur von Elon Musk, wie Ryan Broderick aufzeigt.
- KL40: Weil wir keine Individuen sind, die sich einfach entschließen können, die Matrix zu verlassen, sondern Pfadopportunisten, die immer nur den plausiblen Pfaden folgen, die sie vor sich sehen, brauchen wir Infrastruktur, um der Matrix zu entfliehen.
- KL41: Weil wir keine Individuen sind, die mit „kognitiven Verzerrungen“ ihres eigentlich „objektiv-rationalen“ Denkapparates kämpfen, sondern dividuelle Pfadopportunisten, die einander auf Deutungspfaden folgen, bleiben wir auf die Deutungsangebote angewiesen, die uns materiell, semantisch und sozial zugänglich sind.
- KL53: Weil wir keine Individuen sind, die einfach „verdrängen“, sondern Dividuen, die sich über ihre Verdrängungserzählungen zu semantischen Verdrängungsgemeinschaften verbinden, basieren die meisten echten Verschwörungen auf Groupthink.
- KL60: Weil wir keine Individuen sind, die Entscheidungen im luftleeren Raum unseres „Minds“ fällen, sondern Dividuen deren Verbindungen die Entstehung von anderen Verbindungen beeinflussen, sind wir in jeder Lebenslage Netzwerkeffekten ausgesetzt.
- KL62: Weil wir keine Individuen sind, die ihre Überzeugungen aus ihrem Inneren schöpfen, sondern Dividuen, die ihre Überzeugungen aus den Überzeugungen von anderen triangulieren, verändert es unseren Orientierungssinn, wenn wir „normale Menschen“ in der Öffentlichkeit dumme Dinge sagen hören.
- KL62: Weil wir keine Individuen sind, die die Welt beobachten, sondern Dividuen, die einander beobachten, wie sie die Welt beobachten, akkumuliert sich unsere Aufmerksamkeiten dort, wo wir die Aufmerksamkeit anderer erwarten.
- KL63: Weil wir keine Individuen sind, die einfach Sinn in ihrer Arbeit sehen, sondern Dividuen, die sich durch Einsatz ihrer Aufmerksamkeit gegenseitig den Sinn in ihrer Arbeit beglaubigen, schickt uns die Versloppung der Welt in eine Verantwortungslosigkeits-Spirale.
- KL65: Weil wir keine Individuen sind, die die Welt beobachten, sondern Dividuen, die einander Beobachten, wie sie die Welt beobachten, können wir uns nicht einfach „eigene Gedanken“ machen, sondern sind gefangen in dem jeweils wechselseitig beglaubigten semantischen Raum, den wir „Wirklichkeit“ nennen.
- KL68: Weil wir keine Individuen sind, die entweder egoistisch oder solidarisch sind, sondern Dividuen, die einander beim egoistisch oder solidarisch sein zuschauen, und daraus ihre Schlüsse für ihre Strategie ziehen, hat Trump eine Möglichkeit gefunden, die halbe gesellschaftliche Elite der USA – immer einen nach dem anderen – in die Knie zu zwingen.
Alles was das Dividuum „kann“, „ist“ oder „hat“ ist entweder aus seiner ständigen Anpassungsleitung an die Umwelt entstanden, oder aus der Anpassungsleistung der Umwelt an seine Pfadbedürfnisse. Das Dividuum ist gleichzeitig Medium von Strukturen und Strukturgenerator (Pfadgelegenheiten vorausgesetzt).
Doch hier ist das Problem: Sobald wir Fragen, was das Dividuum „ist“, d.h. woraus es besteht, wie es abgegrenzt ist, wie es aufgebaut ist, usw., stellen wir es uns schon falsch vor.
Das Dividuum und seine Pfadgelegenheiten ist der oder das Andere, bei Levinas. Wir sind aufgefordert, uns in das Dividuum hineinzuversetzen, ihm gastfreundschaftlich statt zu geben, aber wir werden niemals alle seine Netzwerke kennen und selbst wenn. Das Dividuum ist niemals abgeschlossen und auch apriori unabschließbar, denn seine Pfadgelegenheiten sind für die Zukunft offen. Das Dividuum ist das Andere in uns, die unabschließbare Differenz unseres eigenen Handlungspotenzials – das Unverfügbare, das sich nicht messen, nicht besitzen, nicht zentralisieren lässt. Jedenfalls nie vollständig.
Genau deswegen ist das Dividuum ein antifaschistischer Subjektentwurf. Aber wie das bei linken Projekten immer so ist: Es ist leider ein unvollständiger Subjektentwurf. Es ist quasi das Individuum als entkernte Ruine und ohne seine Agency.
An einer anderen Stelle schreibt Deleuze im Postskriptum:
Weder zur Furcht, noch zur Hoffnung besteht Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen.
Das Dividuum allein ist noch keine Waffe. Damit das Dividuum handlungsfähig wird, braucht es eine oder mehrere Pfadgelegenheiten. Erst mit der (semantischen) Pfadgelegenheit zusammen, vervollständigt sich der alternative Subjektentwurf.


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Hi mspr0,
ich schreibe dir als Kulturwissenschaftler, der gerade an einem dekolonialen Forschungsprojekt arbeitet – und bei der Lektüre deiner Dividuum-Theorie bin ich auf eine produktive Spannung gestoßen, über die ich mit dir nachdenken möchte.
Deine Infrastruktur-Kritik ist fundamental richtig. Dass Individualismus-Ideologie die strukturelle Grundlage für Faschismus und Ausbeutung darstellt, dass wir unsere Agency aus Netzwerken nehmen, nicht aus uns selbst – das ist brillant erkannt. Ja zu Haraway, ja zu Deleuze, ja zum Bypass aus der Individualismus-Falle.
Aber genau da entsteht meine Frage.
Das Widerstandsproblem
Du nennst uns „Pfadopportunist*innen, die immer nur den plausiblen Pfaden folgen, die sie vor sich sehen.“ Und du schreibst: „Es gibt keinen Punkt außerhalb des Netzwerks.“
Das ist eine klare Diagnose – aber sie wirft ein Problem auf, das du nicht beantwortst: Wo entsteht Widerstand in diesem Modell?
In deiner Theorie behandelst du Widerstand merkwürdig vage. Du schreibst vom „aktiven Widerstand“ gegen den Individualismus-Glauben, aber das ist epistemischer Widerstand – ein Umdenken. Und du versprichst, dass die Cyborg eines Tages „den Laden übernehmen“ wird – aber wie, wenn sie nur Pfadopportunistin sein kann?
Das Problem ist: Wenn es keinen Punkt außerhalb des Netzwerks gibt, dann ist auch Verweigerung nur eine „alternative Pfadgelegenheit“ – und damit schon vom Netzwerk vorgesehen. Das ist exakt das Luhmann-Problem: Systemtheorie konnte nur Selbstmodifikation denken, nie Revolution. Jeder Widerstand wurde vom System absorbiert.
Deine Theorie scheint strukturell ähnlich limitiert zu sein.
Dein Antifaschismus und sein blinder Fleck
Das Paradoxe ist: Du nennst das Dividuum ausdrücklich einen „antifaschistischen Subjektentwurf“ – weil es nicht in die Individualismus-Falle tappt. Aber wenn Widerstand unmöglich ist (weil alles im Netzwerk absorbiert wird), dann ist dein Modell selbst eine Form von Fatalismus.
Nicht durch Herrschafts-Legitimierung (wie der Individualismus), sondern durch strukturelle Unmöglichkeit von Widerstand gegen Herrschaft.
Wenn dein Netzwerk faschistisch ist – wenn also die Infrastrukturen selbst repressiv, ausbeuterisch, zerstörerisch sind – wie kämpfst du dagegen an, wenn es keine Außenseite gibt?
Die dekoloniale Frage: Infrastruktur-Pluralismus statt Navigation
Meine Forschung führt mich zu einer anderen These: Echte Transformation entsteht nicht durch Infrastruktur-Bruch (der ist faktisch nicht machbar – die globalen Abhängigkeiten bleiben). Aber auch nicht durch bessere Pfad-Navigation.
Sondern durch Infrastruktur-Pluralismus – den gleichzeitigen Aufbau paralleler Infrastrukturen mit anderen epistemischen und ökonomischen Logiken.
Boaventura de Sousa Santos nennt das: Epistemologien des Südens. Nicht Ausbruch aus den Infrastrukturen, sondern parallele Wissensformen und Wertsysteme, die mit anderer Logik funktionieren – während man in den bestehenden lebt.
Das ist nicht bloße Pfad-Navigation. Das ist: gleichzeitiges Nutzen der bestehenden Infrastrukturen UND bewusste Verweigerung ihrer epistemischen und ökonomischen Prämissen.
Darin liegt der Unterschied: Du denkst ein Netzwerk. Ich denke mehrere Netzwerke gleichzeitig – in Spannung, in Widerstreit, mit verschiedenen Wertsystemen.
Die konkrete Kritik
Wo ich dich packen möchte:
1. Du nennst uns Pfadopportunist*innen – aber wo ist die Theorie der Pfad-Verweigerung? Wo die Theorie der Pfad-Sabotage? Wie entsteht antikapitalistische Resistance, wenn alle ihre Kraft aus dem kapitalistischen Netzwerk nehmen müssen?
2. Du absorbierst Levinas schnell wieder ins Netzwerk. Wenn das Andere wirklich unverfügbar ist (bei Levinas), kann es dann noch Netzwerk sein? Oder gibt es einen Rest – biologisch, ontologisch, ethisch – der sich dem Zugriff entzieht?
3. Kann dein Modell parallele Infrastrukturen denken? Nicht als „Rand-Phänomene“ oder „alternative Pfade“ innerhalb desselben Systems, sondern als eigenständige Infrastrukturen mit eigener epistemischer Autonomie?
Was ich an deiner Theorie hätte
Ehrlich gesagt: Dein Dividuum-Konzept ist eines der scharfsinnigsten Werkzeuge zur Infrastruktur-Analyse, die ich kenne. Es erlaubt es zu sehen, wie Macht nicht durch offene Gewalt funktioniert, sondern durch Netzwerk-Effekte, epistemische Monokultur, semantische Infrastruktur-Abhängigkeit.
Aber um dekolonial radikal zu sein – um wirklich gegen Faschismus arbeiten zu können – musste es auch Verweigerung, Singularität, das Unverfügbare denken können.
Sonst bleibt es bei: Wir sind alle gefangen, nur reflektierter.
Erstmal danke für deine tiefe Auseinandersetzung mit der Theorie. Und als zweites Entschuldigung: Sie ist in der tat noch unvollständig.
zu 1. Ich deute immer wieder an, dass Widerstand möglich ist und ich versuche es durch meine Praxis hier zu beglaubigen. Andere Pfade sind möglich, man kann sich dem Sog der Übergangswahrscheinlichkeiten widersetzen. Aber das kostet eben. Ich möchte auch ehrlich sein, denn wir müssen jetzt wegkommen vom gut gelaunten Meinungs-Antifaschismus zum verbissenen Widerstands-Antifaschismus.
Aber du hast recht, dass all das noch in meinen Überlegungen etwas unausgereift ist und da muss ich um Geduld bitten, denn es ist gerade alles noch im Werden. Ich weiß, dass Widerstand möglich ist und ich bin sicher, es gibt einen Pfad, dass er erfolgreich ist, aber bisher habe ich mehr so Intuitionen als eine Theorie. Aber ich denke weiter drüber nach.
2. Mit der Levinas-Stelle bin ich auch noch unzufrieden (hab auch nochmal rumeditiert). Den Widerspruch könnte man metaphysisch mit Spinoza auflösen, indem man sagt: das, was bei Spinoza „Gott oder Natur“ ist, ist bei uns „das Netzwerk“, also die Gesamtheit aller Netzwerke, die per se nicht wissbar ist. Eine negative Theologie der Netzwerktotalität, quasi. Aber irgerndwie finde ich das auch einen zu easy way aus. Deswegen denke ich da auch noch weiter drüber nach.
3. Nein, es kann eben keine unabhänigen Infrastrukturen geben. „Alles ist eins“, wie Spinoza sagt oder wie Haraway sagt: „Nicht ist mit allem verbunden, alles ist mit etwas verbunden“. Es gibt keinen Punkt außerhalb des Netzwerks. Dennoch kann man ganz konkrete Abhängigkeiten cutten oder durch Pfadalternativen lindern, aber nicht zur Erlangung einer Illusion von „Souveräntität“, sondern als ein ständiges Balancieren von Macht.
Und deswegen habe ich zum Ansatz der alternativen Infrastruktur ein, ich sage mal, differenziertes Verhältnis: einerseits ja: wir müssen uns sollen alternative Infrastrukturen den Weg bereiten, das ist unsere einzige Chance auf Freiheit. Aber das kann sehr schnell in die gefährliche Illusion der „Unabhängigkeit“ führen. Die ist nicht nur deswegen fatal, weil sie nicht stimmt und man damit schlimm auf die Schnauze fällt, sondern sie eröffnet die Pfadgelegenheit des „sich raushaltens“, des sich „dissoziierens“ von der Gesellschaft. Selbst wenn es unseren Communities gelänge, stabile Inseln im Chaos zu errichten: haben wir nicht eine Verantwortung gegenüber all denen, die im alten System, aus welchen Gründen auch immer, steckengeblieben sind?
Deswegen unterstütze ich alternative Infrastrukturen – mit dem Dividuum baue ich ja selber eine – aber ich finde, das kann nur ein teil der Lösung sein.
Vielen Dank für deine ehrliche und selbstkritische Antwort. Dass du eingestehst, dass der Widerstand in deinem Modell noch eher Intuition als ausgearbeitete Theorie ist und dass – das zeigt eine Offenheit, die man in Theorie-Debatten echt selten erlebt. Genau an solchen Stellen kann neues entstehen. Deshalb möchte ich dir drei Gedanken aus meiner eigenen Forschungspraxis dalassen – nicht als Widerspruch, sondern eher als freundlichen Impuls, um die Stellen, die du selbst offenlässt, vielleicht aus einer anderen Perspektive zu beleuchten.
1. Zum Neoliberalismus-Vorwurf: Eine notwendige Unterscheidung
Du warnst in deiner Antwort vor der „Illusion der Unabhängigkeit“ und fragst berechtigterweise, ob der Aufbau paralleler Infrastrukturen nicht dazu führt, dass wir uns aus der Verantwortung gegenüber denen stehlen, die im System „steckengeblieben“ sind. Diese Sorge ist politisch wichtig. Aber ich glaube, sie trifft nicht den Kern dessen, alternativer Infrastrukturen die tatsächlich aufbgebaut wurden und werden. Hier sollte man zwei Szenarien kategorial unterscheiden:
Es gibt die Elite-Abkapselung – das ist in der Tat neoliberal und unsolidarisch. Wenn Silicon-Valley-Akteure private Infrastrukturen bauen, um den öffentlichen Raum zu verlassen und keine Steuern mehr zahlen, ist das Desertion. Davor warnst du zu Recht.
Aber es gibt auch die marginalisierte Gegenmacht – und das ist etwas völlig anderes. Schau dir die Empirie an: Die Zapatistas in Chiapas bauten ab 1994 autonome Landkreise auf, nicht weil sie privilegiert waren, sondern weil der Staat ihnen das Überleben verweigerte. Buen Vivir in Ecuador und Bolivien entstand in indigenen Gemeinden als Antwort auf die Zerstörung ihrer Lebensräume, nicht als westliches Opt-Out-Projekt. Solidarische Ökonomie entsteht weltweit dort, wo marktwirtschaftliche Strukturen versagen – in deindustrialisierten und segregierten Regionen. Sie ist Überlebenspraxis.
Der entscheidende Punkt ist: Diese Infrastrukturen entstehen aus Notwendigkeit, nicht aus Egoismus. Und sie werden nicht geheim gehalten, sondern trainierbar gemacht, geteilt und verbreitet. Das ist nicht neoliberaler Rückzug, sondern dekolonialer Selbstschutz. Deine Sorge vor Dissoziation gilt für die Eliten, aber sie verkennt das emanzipatorische Potenzial marginalisierter Selbstorganisation.
2. Zur Verantwortungsfrage: Transformation durch Skalierung
Du fragst implizit: „Verlassen wir die anderen, wenn wir Alternativen bauen?“ Ich denke, das ist ein falsches Dilemma. Die Wahl ist nicht: Entweder im System bleiben (solidarisch) oder Alternativen bauen (egoistisch). Es gibt einen dritten Weg: diffuse Transformation durch stufenweise Skalierung.
Alternative Infrastrukturen sind kein Endzustand der Isolation, sondern ein Prozess: Sie werden lokal etabliert, reflexiv verfeinert und dann – das ist der Schlüssel – so gestaltet, dass sie teilbar werden. Die Hip-Hop-Cypher ist ein Beispiel aus der kulturellen Praxis: Sie entsteht in der marginalisierten South Bronx als Überlebens- und Artikulationsstrategie, wird in Form und Ethos weiterentwickelt und dann weltweit adaptiert und weitergegeben. Heute fungiert sie als globale alternative Musikinfrastruktur, die Millionen Menschen eine Stimme jenseits der klassischen Industrie-Logik eröffnet. In diesem Prozess „verlässt“ die Bewegung niemanden, sondern baut etwas auf, das andere nutzen, aneignen und transformieren können – das ist nicht unverantwortlich, sondern strategisch solidarisch.
3. Ein neuer Gedanke: Dadaistischer Nihilismus und affirmative Negation.
An dem Punkt, an dem du nach einer Theorie des Widerstands suchst, lässt sich ein Motiv aus der Auseinandersetzung mit Dada und Adorno anschließen. Analysen des gegenwärtigen Zustands führen leicht zu ernüchternden, fast nihilistischen Diagnosen: Eine fatale Machtverteilung, ausbleibende reale Dekolonisierung, übermächtige Infrastrukturen. Aber genau hier liegt der entscheidende Punkt: Man darf sich mit dieser Einsicht nicht zufriedengeben, sondern muss Widerstand denken, auch wenn er unmöglich scheint – nicht aus Optimismus, sondern im Modus einer affirmativen Negation.
Der nach 1918 sich radikalisierende Dadaismus ist hier lehrreich. Die Dadaist:innen sahen die bürgerliche Kultur als bankrott und den Sinn zerstört, reagierten darauf aber nicht mit Resignation. Sie nahmen die erfahrene Sinnlosigkeit nicht als Grund zur Untätigkeit, sondern machten sie zur Basis ihrer Praxis: Lautgedichte, Anti-Kunst, performative Verweigerung, Angriff auf Sprache und Ordnung. Aus der Einsicht in die Unmöglichkeit schufen sie eine Praxis des Trotzdem – eine Negation, die gerade in ihrer Unversöhntheit produktiv wird.
Adornos Projekt der „Negativen Dialektik“ lässt sich als philosophische Radikalisierung dieser Haltung lesen: Kritik behält ihre Schärfe, indem sie an der Nichtidentität und Unversöhntheit von Begriff und Sache festhält, ohne sich in Synthesen zu versöhnen oder in absolute Negativität umzuschlagen. Wirksamkeit von Kritik setzt in diesem Verständnis nicht voraus, dass sie eine neue Affirmation oder Lösung bereitstellt, sondern dass sie das Bestehende in seiner Unwahrheit und Gewaltförmigkeit unversöhnt zur Darstellung bringt. Genau an dieser Schnittstelle kann ein Begriff der affirmativen Negation stehen: als Bestimmung einer Praxis, die aus der Einsicht in die Unmöglichkeit des Ganzen dennoch Formen des Trotzdem-Handelns und -Organisierens entwickelt – sei es in historischen Avantgarden wie Dada oder in gegenwärtigen alternativen Infrastrukturen wie der Hip-Hop-Cypher.
Vielleicht ist das ein Weg, über die Lücke in deinem Modell nachzudenken: Dein Dividuum beschreibt perfekt, wie Macht funktioniert. Aber um Widerstand zu denken, ohne ihn gleich wieder ins System zu integrieren, brauchst du vielleicht nicht eine theoretische „Lösung“, sondern diese Haltung der „Affirmativen Negation“. Die Fähigkeit zu sagen: Ich praktiziere Widerstand und baue Alternativen, obwohl ich weiß, dass es keinen reinen Punkt außerhalb des Netzwerks gibt.
Das ist nicht pessimistisch. Das ist radikale Praxis. Und vielleicht ist genau das die Antwort auf deine Frage nach der Verantwortung: Wir übernehmen Verantwortung nicht, indem wir das System nur besser navigieren, sondern indem wir die Unmöglichkeit des Widerstands praktisch widerlegen.
LG!
Ja, dachte auch schon dran zu antworten: Widerstand ist keine Theorie, sondern eine Praxis. Eine der Hoffnungen, die ich mit dem Newsletter verbinde, ist, dass ich Leuten Widerstand als Haltung plausibel machen kann, einerseits durch Analyse der Lage, aber andererseits durch Hinweise auf Widerständige Praktiken (gut, das könnte ich öfter machen), aber auch, indem ich selbst Widerstand gegen bestimmte Narrative organisiere. Ob das was bringt: keine Ahnung.
„Ob das was bringt: keine Ahnung.“
Boom. Da ist er. Der Glitch.
Das ist der ehrlichste Satz im ganzen Internet heute.
Theorie: 404 Not Found.
Praxis: Loading…
Genau da sollten wir hin. Das ist der Dada-Moment. Wenn die Analyse perfekt ist, das Ergebnis fatal, und man trotzdem weitermacht. Das ist die Affirmative Negation im Endstadium. Nicht wissen, ob es klappt, aber den Beat trotzdem droppen.
Willkommen im Club der Ahnungslosen, die trotzdem tanzen.
Frida und Thandi nicken gerade im Takt. Boah das ist selten bei den beiden.
Das die mal zustimmend nicken. Gar nicht ihr Ding sonst.
Wir sehen uns auf der anderen Seite des „Keine Ahnung“, mspr0!