Krasse Links No 26

Willkommen bei Krasse Links No 26. Heute verprechen wir den Dipshits Sicherheitsgarantien in unserer Privatsprache und navigieren die Gen-Z an Männlichkeits-Zentralitäten vorbei.


Die französischen Behörden haben Pavel Durov, den Gründer und CEO von Telegram festgenommen und auch wenn noch nicht ganz klar ist, was ihm vorgeworfen wird, begrüße ich das. Telegram ist das Phantom unter den Social Media Plattformen. Es ist ohne frage reichweitenstark und relevant, aber wir wissen so gut wie nichts darüber und es entzieht sich wo es kann jeder Form von Kontrolle und Regulierung. Ich hoffe, wir werden in den nächsten Wochen sehr viel über das Netzwerk erfahren.


Carole Cadwalladr bringt im Guardian die Gefahr, die derzeit von den Social Mediaplattformen für die Demokratie ausgeht, auf den Punkt.

In Britain, the canary has sung. This summer we have witnessed something new and unprecedented. The billionaire owner of a tech platform publicly confronting an elected leader and using his platform to undermine his authority and incite violence. Britain’s 2024 summer riots were Elon Musk’s trial balloon.

He got away with it. And if you’re not terrified by both the extraordinary supranational power of that and the potential consequences, you should be. If Musk chooses to “predict” a civil war in the States, what will that look like? If he chooses to contest an election result? If he decides that democracy is over-rated? This isn’t sci-fi. It’s literally three months away.

Bemerkenswert ist auch ihre Beobachtung, dass die Plattformen für die Destabilisierung der Demokratien gar keine aktiv bösartige Rolle einnehmen müssen. Es reicht im Zweifel ja auch aus, die Hände hochzuwerfen?

All this has provided the perfect cover for the platforms to step back. Twitter, now X, has sacked at least half its trust and safety team. But then so has every tech company we know about. Thousands of workers previously employed to sniff out misinformation have been laid off by Meta, TikTok, Snap and Discord.

Just last week, Facebook killed off one of its last remaining transparency tools, CrowdTangle, a tool that was crucial in understanding what was happening online during the dark days before and after the 2020 inauguration. It did this despite the pleas of researchers and academics, just because it could.

Im Plattformbuch schrieb ich noch:

Sicherheit zu garantieren, war schon immer eine der wichtigsten geopolitischen Mechanismen in den internationalen Beziehungen. Auf Sicherheitsgarantien sind Weltordnungen gebaut. Und die Erkenntnis aus diesem Kapitel ist deswegen: Es kann keine Weltordnung mehr ohne die Macht der Plattformen geben.

Keine Ahnung, ehrlich, ob das so ist, aber Silicon Valley juckt es offensichtlich in den Fingern, das mal auszuprobieren?


Ein aufschlussreicher Bericht bei CNN über die „Inner Workings“ der Harris-Campaign. Das Pollster Team von Biden hatte „weird“ an Fokusgruppen getestet und der Harris-Campaign davon abgeraten:

Some of their suggestions included a focus on the future, and to lay off the “weird” talk.

Harris’ advisers listened. They considered the arguments. They decided to stick with what the crowds were chanting in the arenas.

Richtige Entscheidung. Umfragen geben vor zu messen, was die Öffentlichkeit so findet und verstehen nicht, das „die Öffentlichkeit“ ein gemeinsam belebter, semantischer Raum ist, in dem sich alle aneinander orientieren. Wer diesen Raum erfolgreich bespielen will, darf sich nicht (nur) an den Musikwünschen orientieren, sondern muss selbst den Beat vorgeben. Niemand hat das so (intuitiv) verstanden, wie Donald Trump, der sich 2016 einfach von Schlagzeile zu Schlagzeile ins weiße Haus getrommelt hat. Auch die Harris-Campaign hats gecheckt und schon nickt die vernünftige Hälfte der US-Bevölkerung bereits heftig zu ihrem Beat.


Das Plattformbuch war auch der Versuch, die Mechanik digitaler Geschäftsmodelle als Politische Ökonomie der Abhängigkeiten zu fassen.

Die grundlegende Erkenntnis war schließlich, dass die Plattform zwischen mir und sich selbst eine wechselseitige Abhängigkeitsbeziehung herstellt, die extrem ungleich organisiert ist: Die Plattform ist viel, viel weniger von mir abhängig (wohlgleich nicht unabhängig), als ich von der Plattform, weil meine Abhängigkeit von der Plattform den akkumulierten Abhängigkeiten zu den Menschen entspricht, mit denen ich dort interagiere (klingt kompliziert ist aber eigentlich ganz einfach). Diese Diskrepanz ist die Quelle der Plattformmacht und befähigt die Plattform unter anderem, die auf ihr versammelten Verbindungen ökonomisch auszubeuten.

Seit dem Buch arbeite ich weiter an diesem Framework, weil ich glaube, dass darin eine grundlegend andere Art steckt, über wirtschaftliche Zusammenhänge zu sprechen und nachzudenken. Diese andere Sprache stellt Abhängigkeiten in den Mittelpunkt und kann daraus ableiten, wie Akteure es schaffen, Macht zu organisieren, um Renten abzuschöpfen.

Deswegen war es ein kritisches Manöver, diese Sprache auf andere wirtschaftliche Zusammenhänge anzuwenden und letztes Jahr ist mir das beim Supply-Chain-Kapitalismus gelungen und daraus ist der Text „Materialität und Austauschbarkeit“ entstanden.

Wenn wir dieses einfache Framework auf die Zulieferketten anwenden, ergibt sich ein klares Bild: Um einen Nike-Schuh herzustellen, sind alle Akteure (das Leitunternehmen sowie alle Zulieferfirmen) wechselseitig voneinander abhängig. Jedoch gibt es Unterschiede: Jeder Einzelne der Zulieferer – egal ob er Stoffe, Plastik oder Kordeln herstellt – ist aus Sicht des Leitunternehmens recht einfach austauschbar (Balanceakt 2). Es gibt viele konkurrierende Unternehmen und selbst wenn es sie nicht gäbe: das Wissen um Stoffe, Plastik und Kordeln herzustellen ist schnell ins Werk gesetzt.

Das Leitunternehmen hingegen, Nike, betreut zwar nur die Marke und andere Rechte, aber diese Rechte sind dank internationaler Abkommen wie TRIPS und durch die WTO global geschützt (Balanceakt 4). Die Leitunternehmen kontrollieren daher monopolistisch den Zugang zur Wertschöpfung. Für die Zulieferer ergibt sich dadurch eine enorme Abhängigkeit, denn ohne den Zugang zu­ Nikes Verkaufsnetzwerk und seiner »Brand-Recognition« sind die Produktivitätskapazitäten der Zulieferer völlig nutzlos. Dadurch ist Nike der einzige Akteur in diesen wechselseitigen Beziehungen, der weniger von den anderen abhängig ist, als diese von ihm.

Beide, Plattformen und Supplychains verwenden „den Markt“, um eine Macht-Hierarchie zu etablieren. Plattformen eröffnen einen „propietären Markt“ (Staab 2020), der die Nutzenden einlocked und Leitunternehmen versetzen ihre Zulieferer in kompetitive Wettbewerbssituationen, um ihre Margen zu frühstücken.

KI ist ein Coup“ kann ebenfalls in diese Reihe gestellt werden, denn, das, was ich im Text versuche zu zeigen, ist dass KI in seiner Struktur darauf angelegt ist, Abhängigkeiten in einem Ausmaß zu Konzentrieren, das jede Demokratie sprengen würde.

Ich bin seitdem ein ganzes Stück weitergekommen. Erst letztens fiel mir auf, dass all die Beobachtungen über Strategien der Austauschbarmachung, die ich in den drei Texten untersuche, in Wirklichkeit Netzwerk-Shaping-Operationen sind. All die Plattformen, Leitunternehmen von Supplychains und KI-Start-Ups arbeiten daran, das Netzwerk der Abhängigkeiten so zu strukturieren, dass sie sich selbst unersetzbar, die anderen aber ersetzbar machen. Netzwerktheoretisch ausgedrückt, versucht jeder Akteur seine relative Netzwerkzentralität zu erhöhen (ich tippe auf Betwenness-Zentralität, aber die anderen Arten könnten auch relevant sein).

Denken wir uns Abhängigkeiten als beliebig komplexes Netzwerk, in das man mit unterschiedlichen Zoomstufen reinschauen kann. Auf der Ebene des Haushalts kennen wir uns alle aus. Wir können die Spülmaschine nicht anstellen, weil wir erst noch Essen machen müssen, was aber nicht geht, weil die Teller nicht abgespült sind. Abhängigkeiten sind vernetzt und vertrackt und einen Haushalt (Oikos) zu führen, bedeutet in erster Linie, materielle Abhängigkeiten zu managen.

Man kann sodann raus-zoomen und stellt fest, dass die Haushalte an allerlei Infrastrukturen gekoppelt sind. Straßen, Schulen, klar, aber eben auch Geschirrspülmittelhersteller und Obstplantagen. Das Netzwerk der Abhängigkeiten wird in kapitalistischen Ökonomien entlang allerlei privater aber auch öffentlicher Infrastrukturen organisiert und diese Infrastrukturen nehmen jeweils relativ netzwerkzentrale Stellungen im Abhängigkeitsnetzwerk ein, sind aber selbst wieder in ein Netz von Abhängigkeiten verstrickt, ect. Netzwerkzentralität ist im Netzwerk als Schmerz spürbar, z.B. wenn mal eine zentrale Infrastruktur ausfällt (wie Strom, Wasser, oder wenn die Lieblingseissorte ist im lokalen Supermarkt vergriffen), oder eben beim Bezahlen, denn Netzwerkzentralität ist auch die Macht, Preise zu nehmen.

Im Alltag erleben wir Netzwerkzentralität als Attraktivität und schwierige „Bypassbarkeit“. Wenn ich eine andere Eissorte genauso gerne mag und sie im Supermarkt gegenüber bekomme, ist der Schmerz vertretbar und wenn der Nachbar Strom hat, kann ich ein Kabel rüber legen. Zentralität drückt also einerseits die netzwerkweite Relevanz eines Ressourcenzugangs aus (wie viele andere Knoten sind davon abhängig?), andererseits aber auch seine Subsitutierbarkeit (wie leicht kann der Zugang durch einen anderen ersetzt werden?).

Ich habe einiges davon hier im Newsletter entwickelt und einiges steht noch in meinen Notizen. Ein Buch ist noch zu früh, aber ich denke an ein wissenschaftliches Paper. Ich bin leider in diesen Feldern wenig orientiert und kaum vernetzt, deswegen die Frage an meine klugen Leser*innen:

Kennt ihr ein wissenschaftliches Journal, das international einigermaßen rezipiert und angesehen ist, aber trotzdem crazy enough wäre, diese Theorie bei sich abzudrucken? (englischsprachig, gerne links-heterodox, kapitalismuskritisch, etc., aber bitte auch nicht zuu fringe?)


Beim Hören von „Haken Dran“ nennt Gavin bei der Vorstellung von Jan Skudlarek (den ich vorher nicht kannte) dessen Dissertationstitel: „Relationale Intentionalität“ und weil ich das so spannend fand, hab ich statt den Podcast zu hören, seine Diss ganz begeistert gelesen.

Skudlarek will zunächst rausfinden, wie man gut über Gruppenhandlungen reden kann und stellt dabei fest, dass unser aufs Individuum zugeschnittenes Vokabular daran scheitert und dabei entdeckt er, dass Handlungen eigentlich gar nicht individualistisch denkbar sind.

Ausgehend von Wittgensteins Argument der Unmöglichkeit einer Privatsprache („Alleine kann man keinen Regeln folgen – subjektiv-private Regeln sind keine Regeln“) dekonstruiert er mit Franz Kannetzky die Cartesianische Meditation von Decartes (Ihr wisst schon: „Ich denke, also bin ich“) und kommt zu dem Schluss:

Denn erst, wenn man die Handlungsmuster, die eine Gemeinschaft bereitstellt, berücksichtigt, kann man individuelle Handlungen adäquat verstehen; vor dem Hintergrund, dass sie notwendigerweise Aktualisierungen bestimmter sozialer Schemata sind; nur in diesem Sinne kann die „individuelle“ Intentionalität (die, wie deutlich wird, im Kern dialogische, gemeinschaftliche Intentionalität ist), über die ein einzelner Akteur Auskunft gibt, bedeutsam sein.

Ich kann nur „Ich denke“, sagen (oder denken), weil ich in der Interaktion mit meiner Umwelt und anderen Sprechenden gelernt habe, was „denken“ und was „ich“ ist und wie man Sätze konstruiert. Der Einsatz von Sprache verweist immer schon auf ein „Wir“. Sie bettet uns in ein Geflecht der Bedeutungen ein, das eben nicht in unseren Köpfen, sondern zwischen ihnen residiert.

Willkommen im Poststrukturalismus! Wir haben hier noch genügend Platz für analytische Philosophen, komm rein, nimm dir nen Keks, fühl dich wie zu hause und erzähl mal: Wie fühlt man sich, nachdem man mal eben 400 Jahre Philosophiegeschichte in Frage gestellt hat?

Aus dem Verschwinden der „Trennwand“ zwischen individueller Intentionalität und kollektiver Intentionalität folgt, dass man nicht mehr das eine verwenden kann, um das andere zu beschreiben. Auch der methodologische Individualismus als Bewältigungsstrategie sozialphilosophischer Probleme fällt weg – ihm wird die Grundlage entzogen. In der Konsequenz des Privathandlungsarguments verschwindet zudem der cartesianische Geist- Welt-Dualismus, weil der Geist als ausschließlicher Ort intentionaler Unterscheidungskriterien wegfällt; an seiner Stelle entsteht das Bewusstsein von Intentionalität als Versatzstück gemeinsamer sozialer Praxen.

Aber der eigentlich spannende Teil kommt erst noch, denn was da in Trümmern liegt, muss neu aufgebaut werden und dafür iteriert Skudlarek verschiedene Denker*innen durch und landet schließlich bei Andy Clark und David Chalmers Idee des „aktiven Externalismus“. Die beiden versuchen zu zeigen, dass Denken nicht an den eigenen Schädelwänden endet, sondern dass schon die Verwendung eines einfachen Notizblocks als Denk-Externalisierung gedacht werden muss und sprechen in Folge von „Akteur-Umwelt-Kopplungen“.

Damit im Gepäck macht sich Skudlarek auf die Suche nach „Akteur-Akteur-Kopplungen“, auf die er situativ zwar stößt (etwa zwei Leute, die gemeinsam eine Couch durchs Treppenhaus hiefen), doch für wirklich stabile Akteur-Akteur-Kopplung fehlt es seiner Meinung nach am dauerhaft „verlässlichen Zugang“ der Akteure zueinander und da möchte ich rufen: aber dafür gibts doch die Sprache?

Also, hier mein Vorschlag:

Das was Du suchst, ist Sprache. Sprache ist jener zuverlässige, externe Zugang zum Denken anderer Menschen. Die einzelnen Sprechenden mögen Feierabend machen, die Sprache tut das nicht. Sie steht 24/7 zur Verfügung und ihre inhärenten Regeln sind durch Millionen Menschen in tausenden Generationen entwickelt worden, und diese künstliche Intelligenz zapfst Du an, wann immer Du den Mund aufmachst. Wenn du Sprache hast, bist Du nie allein: „Ich denke, also sind wir!“

Das kann man noch viel breiter denken. Luhmann sprach von Semantik als „Bedeutungsvorrat der Gesellschaft“. Und seit den LLMs wissen wir, dass wir uns Semantik als riesiges tausendimensionales Netzwerk von Bedeutungs-Vektoren vorstellen können. Es finden sich alle Sprachen, Umgangsformen, Kulturelle Praktiken, Malstile, Männlichkeitskonzeptionen, sowie allerlei makrosemantische Strukturen wie Narrative, Theorien, Sichtweisen, aber auch Omas Kuchenrezept, die typische Handbewegung der Jungs auf dem Schulhof und das Verwenden von Notizbüchern darin.

Und diese Struktur ist, ja, etwas externes, aber auch etwas, das wir jeden Tag in etlichen „Sprachakten“ beglaubigen und reaktualisieren. Wir sind Teil davon. Aber hier müssen wir mit Haraway wieder mehr in Richtung Privatsprache gehen und eingestehen, dass wir nur jeweils einen engen Ausschnitt davon bewohnen. Aber auch den kann man sich als zerklüftete Landschaft mit unendlich vielen wahrscheinlichen und weniger wahrscheinlichen Straßen vorstellen, in der es Schleichwege, Irrwege und breit befahrene Highways gibt, die sich aber dennoch als Irrwege herausstellen können.

Und jetzt kann man, wenn man will, die Intention wieder reinlassen, aber nicht mehr als eine aus sich selbst heraus sprechende Stimme, die sagt „ich will“, sondern als Navigator, Surfer, oder Trommler.

Navigator, weil wir zu jedem Zeitpunkt immer an einem konkreten semantischen Ort im Raum stehen, wann immer wir handeln. Das heißt, wenn wir irgendwo hinwollen (etwas sagen oder denken), müssen wir Schritt für Schritt von dort nach da hin-navigieren und unsere Fähigkeit zu Sprechdenken besteht, wie bei der LLM, vor allem aus allerlei gemerkten Weganweisungen.

Man kann das auch Surfen, wenn man etwas firmer mit einer bestimmten Semantik ist. Dann verknüpft man die vorbeifliegenden Sinn-Ereignisse wie Wellen, auf denen man reitet. (yeah!)

Und zuletzt drücken wir auf „Play“ und nehmen die Zeit mit dazu und dann beginnt sich dieses Netzwerk langsam aber stetig auf uns zuzubewegen. Semantiken verschieben sich, verwandeln sich, werden größer oder kleiner, zentraler, peripherer, mutieren, streuen, sterben, etc. Und wir sehen immer neue Ereignisse eintreffen, die immer neue Narrative aufs Gleis setzen. Die Narrative wiederholen sich, referenzieren sich, zitieren sich und in stetiger Wiederholung und Bekräftigung werden sie erwartbar und strukturieren wie ein Beat unsere Zeit und geben uns Orientierung nach vorn.

Jedenfalls glaube ich nicht, dass es eine neue „Theorie der Intention“ braucht. Es braucht eine neue Sprache zur Beschreibung des jeweiligen Eingebettetseins und des Sich-Bewegens im semantischen Raum.


Alle reden über Tim Walz und ich kann nachfühlen wieso. Seine Rede auf dem Demokratenkongress war gut, aber wenn ihr wirklich eine historisch gute Rede sehen wollt, guckt Euch lieber Michelle Obama an. Bei Tim Walz geht es weniger um Talent (das er ohne Frage hat), als um Sichtbarkeit. Er ist gewissermaßen der identitätspolitische DEI-Pick, aber ein sehr effektiver, denn alte, weiße Männer mit gewissem Hinterwäldler-Charme, die dennoch anständig sind, ist genau das, was fehlte?

Nicht, dass es nicht genügend anständige Männer gibt (wobei, wahrscheinlich weniger als man denkt?), aber ihre Sichtbarkeit ist … übersichtlich? Und wenn es sie gibt, dann sind sie meist nicht sehr anschlussfähig. Barack Obama fällt zum Beispiel nicht nur wegen seiner Hautfarbe für viele mittelamerikanische, weiße Männer als Rolemodel aus, sondern auch, weil er verdammt gut aussieht, gebildet ist und extrem eloquent ist. Viele finden Obama toll, ich in vielerlei Hinsicht auch, aber ich verstehe, dass sich viele nicht mit ihm identifizieren können. (Und das ist auch der Denkfehler derjenigen, die ausgerechnet in Robert Habeck den deutschen Tim Walz ausmachen. Nein, Habeck ist eher der deutsche Obama minus Pigmente. Er wird immer nur Bildungsbürger*innen wie Euch (und mich) ansprechen.)

Tim Walz ist dagegen wie viele sind. Er ist ein nicht besonders gut aussehender, betont unintellektuell auftretender, weißer Typ, der Dich null irritieren würde, wenn er bei Hornbach an dir vorbeigeht. Donald Trump füllt Stadien mit Leuten wie Walz und genau deswegen fühlt es sich so an, als füllte Walz ein identitätspolitisches Vakuum, dessen Leerstelle erst mit seiner Präsenz spürbar wurde.

Man muss sich den weißen, mittelamerikanischen Durchschnittstyp wie alle Menschen als Navigatoren ihrer Identität vorstellen. Sie leben wie wir in ihrer angestammten Semantik und blicken daraus auf die Welt und aus dieser Perspektive gibt es nur eine handvoll plausible Pfade vorwärts und erschreckend viele führen zu Trump.

Und daher fungiert Tim Walz als strategische Identitätsressource, die im Herzen der MAGA-Kultur einen Fluchtweg aufmacht. Aber wie alle Ressourcen muss auch ein Rolemodel individuell erschlossen, d.h. in diesem Fall imaginiert werden. Imaginieren bedeutet, eigene plausible Pfade zu finden, von dem Ort an dem man ist, zu einem Ort, der Näher an Tim Walz ist. Doch selbst wenn der Pfad dahin vorstellbar ist, stellt sich die Frage der Kosten, denn Pfade können unterschiedlich lang und mühsam sein: Wie stark muss ich mich ändern, um mehr wie Tim Walz zu sein? Wie viele von meinen Gewohnheiten bin ich bereit zu opfern? Wie viel bin ich bereit, dazuzulernen? Identität ist Arbeit!

Die semantischen Pfade sind vom mittelständischen, weißen männlichen Amerikaner zu jemandem wie Trump und seinen Jüngern sehr viel kürzer, als zu jemandem wie Hillary Clinton oder Barack Obama. Aber Tim Walz ist noch viel näher als Trump und als Vance sowieso. Tim Walz macht nicht nur neue Pfade zur Anständigkeit plausibel, er macht „Wokeness“ für viele überhaupt erst affordable.


Max Read identifiziert einen Schlag öffentlicher (Podcast/Influencer)-Dudes, die in letzter Zeit erfolgreich prominente, rechtsradikale Politiker wie Trump und Vance interviewen als „Dipshits“. Er umschreibt sie so: „who like “edgy,” trollish, hedonistic, attention-seeking personalities“ und da fiel mir ein, dass Joko und Klaas eigentlich auch ganz gute männliche Rolemodels sind.

Liest man Reads Taxonomie, fällt auf, wie kurz und plausibel der Weg vom „Prank“-Commedian zum rechten Dipshit ist. Der Shitstorm, der Joko und Klaas 2012 wegen der als Prank inszenierten sexuellen Belästigung ereilte, hätte sie leicht in diese Richtung kippen können.

Sie haben sich dagegen entschieden, haben einen anderen Pfad gesucht und sind deswegen, wer sie heute sind. Sie sind nicht perfekt und es gibt etliches zu kritisieren (keep it coming!), aber für junge Männer sind sie als sichtbarer, plausibler Pfad vom Proto-Dipshit zu einem reflektierten Männlichkeitsentwurf semantisch wertvoll.


Charlie Warzel erklärt die Affinität der Rechten zu KI-generiertem Slop:

That these tools should end up as the medium of choice for Trump’s political movement makes sense, too. It stands to reason that a politician who, for many years, has spun an unending series of lies into a patchwork alternate reality would gravitate toward a technology that allows one to, with a brief prompt, rewrite history so that it flatters him. Just as it seems obvious that Trump’s devoted followers—an extremely online group that has so fully embraced conspiracy theorizing and election denial that some of its members stormed the Capitol building—would delight in the bespoke memes and crude depictions of AI art. The MAGA movement has spent nine years building a coalition of conspiratorial hyper-partisans dedicated to creating a fictional information universe to cocoon themselves in. Now they can illustrate it.

Ein Grund, warum mich die Pfade zur nicht-toxischen Männlichkeit gerade so interessieren, ist, weil wir einen wichtigen Kampf um die Köpfe der Jungs führen müssen. Alle Siege, die wir heute gegen die Boomer- und GenX-Faschos erringen, könnten durch eine Faschisierung der Generation Z wieder zunichte gemacht werden.

Nun wissen wir, dass diese Generation sehr verwirrt und gespalten ist und gerade männliche Jugendliche immer mehr nach rechts kippen und das ist nicht verwunderlich, denn es liegen für sie so viele öffentliche Dipshit-Pfade aus wie noch nie?

Dipshitterei ist heute ein dezentrales multilevel Marketing-Geschäftsmodell und der Laden brummt. Dabei ist es egal, ob man Steroide, Crypto, Pickup- oder Lebensratgeber, oder Hass verkauft, Hauptsache man ist erfolgreich beim Ausbeuten der Jungs, die einen deswegen anhimmeln. Das ist nicht nur anschlussfähig nach rechts, das ist rechts.

Und deswegen erfüllt es mich mit Hoffnung, dass die rechte Blase voll auf Gen-KI abfährt. Denn wenn sie sich jetzt im Spiegelkabinett ihrer eigenen klischeetriefenden Imagination verliert, wird sie das nur weiter in Richtung „weirdness“ treiben und die Pfade dahin werden immer länger und unattraktiver.

2 Gedanken zu „Krasse Links No 26

  1. Vielen Dank für deine Arbeit, ich habe wieder mit Freude gelesen und gelernt. Mach weiter so!

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