Die Piraten und ihre politischen Privatheiten

Ich finde es ziemlich interessant, was sich dort gerade bei den Piraten und deren Umfeld abspielt. Wer es nicht mitbekommen hat: Das Tool Liquid Feedback, dass bereits in einigen Landesverbänden läuft, sollte nun für die Bundespartei eingeführt werden. Liquid Feedback ist das derzeit weitest entwickelte Tool für die Implementierung von Liquid Democracy. Das Konzept habe ich mal hier erläutert.

Jedenfalls hat der Bundesvorstand den Startschuß von LQFB (Liquid Feedback) gestern verweigert und auf demnächst verschoben. In der Partei gibt es wohl Bedenken in Sachen Datenschutz. Mitglieder möchten ungerne in ihrem Abstimmungsverhalten gemonitort werden. Auch die Pseudonymisierung im System reiche nicht aus, weil man durch die sichtbaren Strukturen im Zweifel durchaus auf die Realpersonen schließen kann. Auch die Speicherung der Daten auf lange Frist sei ein Problem, weil man seine Meinung zu bestimmten Dingen ja nun auch im Laufe der Zeit verändern könne.

Das Interessanteste an der Diskussion ist nun, wie sich plötzlich die Fronten verteilen. So hat Frank Rieger, Sprecher der CCC und wichtiger Datenschutzaktivist in seinem Blog klar Stellung gegen die Datenschutzbedenkenträger gezogen. Er sähe keine Datenschutzprobleme, da er das politische völlig getrennt sieht vom privaten (genauer beschrieben in folgendem Podcast: Podcast). Die Piraten hätten schlicht „Furcht vor Transparenz„. (Ehrlich, ich hätte nie gedacht, diese Worte in seinem Blog zu lesen.)

Kristian Köhntopp geht noch einen Schritt weiter und behauptet sogar, das Politische sei das Gegenteil des Privaten und Datenschutzbedenken seien deswegen völlig fehl am Platze.

Ich finde, die beiden machen es sich hier zu leicht. Aus zwei Gründen:

Erstens: die Argumentation ist zunächst einmal nicht zwingend: „Das private ist politisch!“ haben zum Beispiel die 68er gerufen und damit gemeint, dass wir im Privaten durchaus in Strukturen leben, die irgendwann politisch ausgehandelt wurden und dass diese Strukturen somit ebenso zur politischen Verhandlungssache gemacht werden sollten. Wer diese Sphären wieder trennen will, akzeptiert den gesellschaftlichen Status Quo, indem er ihn dem Politischen – das heißt dem Veränderbaren – entzieht. Das kann man machen, nur sollte man sich bewusst sein, dass auch das eine politische Entscheidung wäre, die getroffen und begründet werden müsste. Also nicht einfach per Rieger-Dekret geregelt werden sollte.

Zweitens – und noch viel entscheidender – ist es eine Frage des Beobachterstandpunktes, was privat ist. Wenn ich einen liberalen Chef habe, wird er mit Sicherheit sagen, dass meine politische Arbeit meine Privatsache sei. Ich bekäme sogar eher Ärger, wenn er das nicht so sähe. Und ebenso argumentieren eben auch einige Piraten – sie wollen nicht für bestimmte Öffentlichkeiten politisch transparent werden oder fühlen sich derart, dass sie sich politisch in der Öffentlichkeit nicht frei entfalten können. Wo – wenn nicht in der Politik – ist der gesellschaftliche Druck auf das Individuum am gefährlichsten? Wer diese Bedenken nicht ernst nimmt, für den dürfte Datenschutz an sich überflüssig sein.

Es ist doch so, dass eine einfache Trennung von privat und öffentlich nicht mehr gibt. Jeder hat bestimmte Privatheiten gegenüber bestimmten Öffentlichkeiten. Das Politische zum Job, der Job zur Familienangelegenheiten, die Familie zum Spaß im Freundeskreis und all das nochmal Reverse. Die Grenze, die wir Privat und Öffentlich nennen, ist in Wahrheit ein Fraktal gewesen und erst durch das Internet bekommen wir das zu spüren. Wer in dieses komplexe Gebilde wieder mit dem Trennmesser den klaren Definitionsschnitt vollziehen will, wird der Sache nicht gerecht.

Auch wenn es sich so anhört: ich will nicht den Datenschutzbedenkenträgern das Wort reden. Ich finde, dass LQFB dennoch eingeführt werden sollte – obwohl die Bedenken der Piraten real sind. Ich glaube, dass der Nutzen für alle, die Nachteile einiger Weniger weit in den Schatten stellt. Liquid Democracy hat das Potential das Politische nachhaltig zu verändern. Ich bin absolut für die Einführung von LQFB.

Aber: die netzpolitische Szene hat es in all den Jahren versäumt sich über Datenschutz Gedanken zu machen. Nämlich ernsthafte Gedanken. Sie klammert sich bis heute an unhinterfragten Dogmen und weilt auf dem Status Quo der Tradition von 1986. Und wenn da etwas dazwischen funkt, wird es einfach weg definiert. Bis zum nächsten Mal.

So lange die Piraten – und die irgendwie netzpolitisch Aktiven insgesamt – nicht bereit sind, sich der Komplexität der neuen Privatheiten/Öffentlichkeiten – und deren politische Bedeutung – zu stellen und kritisch zu hinterfragen, was überhaupt das Sujet des Datenschutzes ist, werden Konflikte wie diese immer wieder aufflammen. Und im Zweifelsfall die gesamte Szene spalten.

20 Gedanken zu „Die Piraten und ihre politischen Privatheiten

  1. Aber bestimmbare Öffentlichkeiten sind so 1986.

    Das ist wie – ich weiß nicht. Oder doch. Das ist wie eine Mail an iworker@youngbrain.ch zu schreiben und zu glauben, man könne dort wegen eines kritischen Kunden um Rat fragen – und sich dann zu wundern, daß der Kunde auch auf der Mailingliste ist.

    Kris „Mein Chef hat mich auf Facebook gefriendet“ Köhntopp.
    Oder sollte ich sagen
    Kris „Ich habe Saufbilder von einem meiner früheren Chefs“ Köhntopp.

  2. He, „Das Private ist politisch“ war ein Slogan der Frauenbewegung GEGEN die 68er-Männer, weil die einerseits in der Öffentlichkeit ihre revolutionäre Politik machen wollten und daheim konterrevolutionäre Patriarchen blieben. Nur mal so 🙂

  3. Kristian Köhntopp – Wo schreibe ich denn von bestimmbaren Öffentlichkeiten? Mir geht es um in sich differenzierte Öffentlichkeiten. Die sind – genau betrachtet – in der Tat so Diffus, dass sie nicht bestimmbar sind. Die Nichtbestimmbarkeit von Öffentlichkeiten sind übrigens mein Lieblingsthema. Nur mal so. #Kontrollverlust

    Antje Schrupp – Für mich als Nachgeborener gehört die Frauenbewegung zu dieser amorphen Masse namens 68er dazu 😉

  4. @korbinian Ablehnen würde ich nicht sagen. Aber als Verhandlungsmasse betrachten in jedem Fall. Egal ob Vernetzung/Datenschutz, LQDM/Datenschutz oder Kompliziertes Interface/Datenschutz – der Datenschutz verliert meistens.

    NineBerry, danke für den Link. Interessanter Text.

  5. Ich finde in dem Zusammenhang auch den Einwand von Hannah Arendt interessant, die die Trennung von Privat und Öffentlich sehr wichtig fand, und zwar mit dem sehr bedenkenswerten Argument, dass politische Ideen im Privaten quasi „unfertig“ diskutiert und ausgetauscht werden können, also in einem Stadium, wo sie noch nicht der Öffentlichkeit präsentabel sind. Man hat Ideen und Ansichten ja nicht plötzlich fix und fertig, sondern man muss oft erst einmal viel Unsinn reden, bevor am Ende eine Erkenntnis herauskommt. Dieser Prozess vollzieht sich selten allein im eigenen Kopf, sondern meistens im Austausch mit anderen, aber eben einem privaten Austausch. Das beobachte ich bei mir selbst auch. Ich „probiere“ neue Gedanken zunächst mal an Leuten aus, von denen ich weiß, dass sie mir wohl gesonnen sind. Erst wenn das auf diese Weise approved wurde, traue ich mich damit in die Öffentlichkeit. Wenn wir dieses „private“ Denken jetzt aber wegen des Internets der Öffentlichkeit nicht mehr entziehen können, was machen wir dann? (und ich glaube, wir werden es nicht entziehen können, oder nur um einen hohen Preis, zum Beispiel dem, dass ich solche Diskussionen nicht mit meinen FB-Freundinnen führen kann, wo andere zwar zugucken, das aber viel einfacher geht). Dieses Dilemma war es auch, auf das ich mit meinem Tagebuch-Post hinauswollte: Wir brauchen eine Kultur, die „Privates“ (in diesem Sinn von noch nicht öffentlichkeits-präsentabel) identifiziert, OBWOHL es öffentlich zugänglich ist, und es dann auch als solches behandelt. Also zum Beispiel nicht mir meine unausgegorenen Gedankenfetzen, die man auf Facebook aufgelesen hat, an anderer Stelle um die Ohren haut, so als hätte ich sie vor einem Publikum von tausend Leuten öffentlich ausgesprochen…

  6. @antje ich probiere politische ideen eben nicht mehr nur im privaten aus, sondern teste sie in der öffentlichkeit. ich persönlich habe damit nur positive erfahrungen gesammelt

  7. @Antje Schrupp – Ja, das ist auch interessant. Vor allem der Aspekt der mehr oder weniger Öffentlichkeit. Ein stufenloses Sytstem von Öffentlichkeit, in dem betsimmte Dinge verhandelt werden können, wäre super. Das ist eh ein Lernprorzess gerade.

    Christoph Kappes hatte versucht in seinem informellen Posterousblog ein Thema unfertig aufzubereiten. Im Prozess sozusagen. Das ist gewisser maßen schief gegangen, denn das Blog wurde sofort mit Besuchern geflutet und die Diskussion entspann sich, als sei es ein fertiger Text. http://ckappes.posterous.com/entwurf-vergisst-das-internet-wirklich-nichts

    Auch die Piraten werden mit LQFB noch einiges Erleben, denke ich. Dass zum Beipiel die Bild sich irgendwelche noch in Verhandlung befindlichen Anträge schnappt und veröffentlicht, als seien sie fertige Forderungen.

    Ich glaube auch hier, dass diese Prozesshalftigkeit in der Öffentlichkeit ihr neues zu Hause finden wird und dass der Umgang damit eine neue kulturelle Praktik benötigt. Alles ist Beta. Wir sind mitten drin. Peter Glaser nannte diesen Prozess mal: Die totale Verimmerung.

  8. @korbinian
    Kann man aber eben auch anders sehen. Ich finde es absolut nachvollziehbar, sich mit unausgegorenen Anfangsideen nicht in den scharfen Wind der „Öffentlichkeit“ zu stellen. Denn nicht jeder „da draußen“ will mir was Gutes. Und es gibt durchaus Ideen, die ich nach einem kurzen Gespräch mit Freunden aber mal ganz schnell wieder vergesse. Für die ich mich mithin also nie und nimmer öffentlich angreifbar machen würde.

    @mspro
    Ich kann die Datenschutzbedenken in diesem Falle aber trotzdem nicht nachvollziehen, erst Recht, wenn sie sich auf Abstimmungsverhalten beziehen. Denn gerade diese Transparenz wollten die Piraten doch, oder nicht? Widrigenfalls müsste man sich eingestehen, daß einige Mechanismen der „alten“ Parteien vielleicht doch nicht nur zum Schutze von Klüngelei dienen, sondern eben auch dem Schutze des politisch Tätigen, ja geradezu dazu dienen, ihm diese politische Tätigkeit zu ermöglichen, in dem er/sie aus anderen Zusammenhängen (Arbeit, Familie etc.) herausgenommen wird.
    Letztlich aber, und genau deshalb kann ich das nicht nachvollziehen, muß sich jeder, der ernsthaft in politischen Institutionen wie einer Partei arbeiten will, sich der „Öffentlichkeit“ (welche auch immer das sein mag) stellen und für seine politischen Handlungen einstehen. Unter seinem Namen. Daher kommen ja diese ganzen, mehr oder weniger erfolgreich gecoachten Klonkrieger der etablierten Parteien.
    Diese Probleme sind aber bei einer Forderung nach totaler Transparenz vorhersehbar. Und insofern hast Du vollkommen Recht, auf ein schweres Versäumnis hinzuweisen, wenn das erst jetzt auffällt.

    In der Hoffnung, nicht zu wirr geschrieben zu haben,

    Gachmuret.

  9. @Gachmuret nein, ganz richtig analysiert. Ich stehe ja auch auf der Seite derer, die meinen, dass die Transparenz einen größeren und wichtigeren Mehrwert bietet. Es wird nur andernorts so getan, als sei das kein Widerspruch zu den Datenschutzforderungen. Sind sie aber.

  10. Pingback: Liquid Feedback und die Dialektik des Datenschutzes — keimform.de

  11. „In der Partei gibt es wohl Bedenken in Sachen Datenschutz.“

    „ich ertappe mich immer öfter dabei, datenschutz per se abzulehnen. ich hoffe ich überdenke nochmal meine meinung“

    Nur als Beispiel, zieht sich aber durch die Diskussion. Der Begriff „Datenschutz“ alleine sagt nichts darüber aus, wessen Daten vor wem aus welchem Grund geschützt werden soll. Oder etwas härter: „Datenschutz“ ist das neue „Kinderpornografie“. Solange dieser Begriff undifferenziert benutzt wird sind die Piraten am Start (und nicht weiter). Ein Tipp: Lasst dieses (derzeitige) Unwort in der Diskussion einfach mal weg. Dann kommt man weiter.

  12. Zum Konzept der Liquid Democracy habe ich kürzlich ein Erklärbärvideo von 4 Minuten erstellt, für Leute, die eine kleine demokratietheoretische Einführung in das Thema schätzen: http://kontextschmiede.de/was-ist-eigentlich-liquid-democracy/

    Dass die Debatte um die Einführung gerade so hitzig wird, finde ich übrigens gar nicht so schlecht, immerhin ist der Diskurs um Mittel der Entscheidungsfindung Kernelement von Politik. Selbst wenn LF nachher abgeschmettert wird, politisiert sich gerade der Demos (wenigstens eine Mikroöffentlichkeit davon). Angesichts von grassierender Politikverdrossenheit nicht die schlechteste Ausgangslage. Ende des Metadiskussionsbeitrages 😉

  13. Die bisher benutzten Meinungsbildungskanäle der Piraten haben keine Privatsphären-Sperren wie sie für Liquid Feedback gefordert werden. Warum also fängt man nun damit an?

    Eine These: man hat bei Piraten-Mailinglisten und Wikis schlechte Erfahrungen gesammelt. Oder wie Frau Aigner bei Facebook uind Street View: plötzlich wurde den Piraten der Status Quo bewusst und er war ihnen unheimlich.

    Die Hoffnung bleibt: wenn die Piraten sich intern auf eine vernünftige Formel zur Abwägung von Transparenz contra Datenschutz einigen können, könnten sie ja auch Mal etwas richtungsweisendes zum Thema Google Street View oder Facebook sagen. Das haben sie bisher AFAIK nicht getan – und das ist blamabel für eine Partei mit dem Schwerpunkt Internet.

  14. Pingback: die ennomane » Blog Archive » Liquid Murks

  15. @Gachmuret:
    Auf richtiges Abstimmungsverhalten beziehen sich die Bedenken ja gar nicht. In LQFB wird es nach der aktuellen Beschlusslage nur Ideen im Beta-Stadium geben. Diese werden dort gemeinsam erst erarbeitet und abgestimmt wird nur, um zu sehen ob das einigermaßen ankommt, was da produziert wird, oder ob man es lieber in die Tonne tritt. Die Abstimmungen sind nur Meinungsbilder, beschlossen wird da nichts.

    Es kann natürlich sein, dass das irgendwann DAS Tool wird um quasi permanente Urabstimmungen durchzuführen, aber momentan ist es das noch nicht und daher sind auch die Anforderungen daran andere.

    Imho bringt Antje hier eines der wichtigsten Datenschutzprobleme voll auf den Punkt. Es wird immerwieder gefordert man soll doch öffentlich zu seinen Ansichten stehen, aber es wird einem nicht zugestanden vorher einen Prozess bishin zu einer fundierten Meinung durchzumachen, zumindest nicht in LQFB.

  16. Das Argument mit der internen Ausarbeitung der Idee hört man ja oft a la „Dann wird die Idee ja direkt zerredet“. Aber ist das wirklich so? Ich fange die Diskussion lieber gleich auf Twitter oder so an und habe auch bislang nur gute Erfahrungen damit gemacht. Auch heisst das ja nicht, dass man sich trotzdem noch vorher per E-Mail oder Kneipenbesuch austauschen kann. Es fordert ja sicher keiner ernsthaft, alles komplett offenzulegen.

    Was mich aber bei manchen Datenschutz-Aktivisten etwas stört, ist das Ziel. „Wenn keine Daten da sind, kann man sie auch nicht missbrauchen.“ Das stimmt zwar, ist aber in der heutigen Zeit nicht mehr wirklich realistisch. Auch hilft es mir wenig, meine Meinung privat hinter verschlossenen Türen sagen zu können. Damit Politik wirkt, muss sie öffentlich sein. Und wieso sollte es gesellschaftlich nicht möglich sein, auch mit halbgaren Ideen leben zu können?

    Sollte alco nicht das Ziel sein, dass man öffentlich seine Meinung sagen kann, ganz ohne Konsequenzen fürchten zu müssen? Klar sind wir nicht soweit, aber man kämpft anscheinend doch lieber für Datenvermeidung als für solche Dinge. Auch sehe ich bei solchen Tendenzen zur Intransparenz, dass das schnell zur Gewohnheit gibt. Das sind schleichende Prozesse und da sollte man generell diskutieren, wie man dieser Herr wird und ob man das überhaupt will.

    Ausserdem denke ich, dass man nicht erwarten kann, dass sich die Gesellschaft einfach so ändert und irgendwann Bescheid gibt, dass man seine Meinung jetzt sagen darf (oder dass man schwul ist). Man muss es einfach tun, damit sich was bewegt. Und es wird ja auch mehr und mehr getan. Und von daher stimmt mich das auch eigentlich positiv.

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