Willkommen bei Krasse Links No 10. Kommt mal kurz runter zu mir, setzt euch hin, heute üben wir Semantik und nehmen das Netzwerk ernst.
Max Reads Zustandsbeschreibung von Threads ging diese Woche ganz schön rum (sie wurde sowohl bei Garbage Day als auch Platformer besprochen). Reads „User-Experience“ des „For You“-Algorithmus kann ich genau so unterschreiben:
„It’s someone I don’t know telling a story I can’t follow for reasons I don’t understand.“
Das Traurige an Threads ist, dass es durch seinen Umfang und seine Tiefe wie kein anderes Netzwerk in der Position wäre, das, was Twitter mal war, zu ersetzen. Meta hat sich entschlossen das nicht zu tun, sondern … ja zu was eigentlich? I still don’t get it.
„This is a platform designed around a purpose it cannot fulfill, on an app built to undermine it, with an audience transposed from another social network with a completely different purpose.“
Es fühlt sich ein bisschen so an, als würde Meta unter vollkommener Missachtung vorhandener Strukturen dieses zusammengewürfelten Netzwerkes ihre „Wir wollen jetzt aber wie Tiktok sein“-Strategie durchdrücken und es funktioniert hinten und vorne nicht und alle sind frustriert.
Das dient als ideale Vorrede, diesen Vortrag von Patreon CEO Jack Conte auf der SXSW zu featuren. Es gibt viele Aspekte an diesem Talk zu feiern, aber der Grund, warum ich ihn hier verlinke, ist, dass er ein überzeugendes Narrativ entwickelt, was mit dem Internet passiert ist. Im Gegensatz zu den anderen Web2.0-Narrativen (Ajax-Technologie, Sharing is Caring, Pull-statt Push-Medien) stellt Conte „den Follower“ als dessen zentrale Legacy ins Zentrum der Betrachtung und damit eine soziale Beziehung, eine „Beziehungsweise“.
Die Beziehungsweise des Followers ist eine direkte Willenserklärung, die Inhalte eines Users sehen zu wollen. Sie ist ein Pakt, der auch eine gewisse, wenn auch kleine, Verantwortungsübernahme bedeutet. Und diese Beziehungsweise wurde zum integralen Strukturbaustein der digitalen Öffentlichkeit zwischen 2010 bis 2020 und damit auch zur tragenden Säule vieler Karrieren, Geschäftsmodellen und außerdem zur Grundlage der Selektionsverfahren von kulturellen Trends. Im Follower steckte die Macht.
Mit dieser Setzung tritt das eigentliche Narrativ des Web erst hervor: der Tod des Followers. Zunächst wurde ab 2015 diese Beziehungsweise durch algorithmisierte Feeds schrittweise geschwächt. Auf einmal bedeutete ein Following nicht mehr die Garantie, dass mein Content meine Abonnent*innen erreicht (man konnte sich diese Garantie aber in Form von Werbung zurückkaufen). Dann, ab 2020 wurde dem Follower von Diensten wie Tiktok der Gar ausgemacht und von dort setzte sich der „For You-Algoritmus“ auf allen kommerziellen Plattformen durch.
Und wir haben uns da auch einlullen lassen. Conte macht dabei drei Arten von Beziehungsweisen im Web auf (siehe Screenshot): Reichweite – Follower – True Fans. Ein Großteil der Energien ging bislang auf die Optimierung der Reichweite und das Sammeln von Followern war dafür nur ein Tool unter anderen. Aber die Follower-Beziehungsweise hat eben eine eigene Qualität und Erwartbarkeit und ich denke, ein Teil des Schmerzes besteht in dem Erkennen des Verlusts dieser Beziehungsweise, die für viele von uns eine tragende Säule der Orientierung in der Welt war.
Mit der Zerstörung dieser Beziehung entgleiten den Creators ihre medialen Regime und beide, User*innen und Creator*innen werden immer abhängiger vom Algorithmus und arbeiten folglich nur noch für die Interessen Plattform, statt für sich selbst. Es ist ein extraktives System und das, was extrahiert wird, ist der Wert von Beziehung.
An dieser Stelle können wir kurz mal innehalten und eine allgemeine Aussage über die kulturelle Wirkung von Algorithmen notieren. Es ist eben nicht so, dass die Algorithmen einfach die Kultur verändern. Algorithmen verändern zuerst das Verhalten der Algo-Hustler, die daraufhin eine überproportionale Sichtbarkeit bekommen, was dann alle anderen Creators dazu zwingt, deren Tweeks nachzuahmen, um überhaupt noch anzukommen, und das verwandelt diese Tweeks zu allgegenwärtigen, hegemonialen Semantiken, die dann die Sehgewohnheiten der Zuschauer*innen verändern, et voilá: Veränderung der Kultur.
Conte will natürlich darauf hinaus, dass das für Creators alles nur halb so schlimm sei, so lange die „True Fans“ eine Patreon-Patenschaft abschließen und den Punkt will ich ihm lassen. Ich will an dieser Stelle nur noch mal kurz Treads-CEO Adam Mosseri zu Wort kommen lassen, der diese Woche sagte:
„Follower counts matter less than view and like counts. I understand why people focus so much on follower counts; they’re prominent and they’re easy to find. But if you actually want to get a sense for how relevant an account is, look at their how many likes they get per post and how many views per reel instead.“
Und für die, die das nicht verstehen, hier die Übersetzung:
„Setzt nicht auf echte Verbindungen zwischen Euch und Eurem Publikum. Setzt auf den Algorithmus. Vertraut uns. Wir sind Meta! Wir machen das schon!“
Der Sprung vom Social Graph zum algorithmischen Interest-Graph ist eine zweite Graphnahme. Ein weiteres Mal ernten die Plattformen die Abhängigkeiten der Gesellschaft und projizieren sie auf sich selbst.
Dieser Essay von Devin Griffiths geht Frank Herberts vielfältigen Inspirationen für Dune nach und stößt auf Terraforming, Ökosysteme, indigenes Wissen und extraktivistische Systeme und wie das alles miteinander zusammenhängt.
„Dune weaves together Indigenous perspectives on interdependency and responsibility with the growing recognition, opened by a new generation of ecologists, that the Earth and its many environments are fragile, closely interlinked, and imminently threatened by extractive industry“
Dazu empfehle ich noch diesen etwas älteren Podcast mit dem Historiker Daniel Immerwahr über Frank Herberts eigensinnige politische Weltsicht.
Dieses Video ist nochmal ein ganz spezieller KI-Explainer, denn er setzt die Frage, inwieweit KI-Systeme „denken“ oder „verstehen“ ins Zentrum einer historischen Betrachtung der Technologie. Das funktioniert erstaunlich gut, weil verstehende Computer ja immer schon Ziel der KI-Forschung waren. Gleichzeitig orientiert sich die Erzählung aber auch eng an den technischen Entwicklungen. Im Fokus steht dabei die Evolution von Techniken der Selbstreferenz vom Recurrent Neural Network bis zur heutigen Multi-Head-Attention der Transformerarchitektur. Wenn entlang hunderter von Hidden Layers, wo jeder Layer die höhere Abstraktion des vorherigen verarbeitet und auf jeder dieser Ebenen eigene Hierarchien der Aufmerksamkeit erstellt und mit immer mehr Kontextverbindungen anreichert, so dass ein über alle Ebenen vernetzter Status entsteht, der dann für jede Iteration der Next-Token-Prediction errechnet und mit in Betracht gezogen wird, dann ist das … irgendwie sowas wie … denken?
Der Film legt sich da nicht final fest, aber wie ich schon letzte Woche schrieb, braucht es eh eine higher Level-Erklärung und die habe ich leider nicht, aber wenn ich wetten müsste, würde ich sagen, dass es mit dem tieferen Sinn von „Semantik“ zu tun hat. Ich glaube, wir beginnen gerade erst zu verstehen, was Semantik eigentlich ist? Offensichtlich ist Semantik mehr, als einfach Wortbedeutung, sondern es ist ein umfassendes Netzwerk von Denk-, Seh-, Imaginations-, Gefühls- und Praxisstrukturen. Semantiken sind vernetzte Cluster von heterogenen Sinnmustern, die alles umfassen, worin Erfahrung Anschluss findet. Die Art meine Hand zu bewegen ist Semantik, Zeitgeist ist ein ganz bestimmtes Set an Semantiken, ein einziger Blick kann vor Semantik überquellen, Theorien des Internets sind Semantiken, jedes Liebespaar entwickelt eine intime, vieldeutige Privatsemantik, selbst Grammatik ist eine Semantik und das was ein Hund erfährt, wenn er durch den Wald läuft, umgeben von Millionen spannendes Gerüchen, ist ein Dickicht aus für ihn plausiblen Semantiken. Aber Semantik ist auch ein Koordinatensystem, ein Ort, eine Heimat und in gewisser Weise auch ein Gefängnis. Jeder von uns bewohnt nur einen kleinen Bereich dieses Gesamtgefüges und der bestimmt wesentlich mit, was wir überhaupt in der Lage sind zu denken. Wir sind in unseren Semantik-Ausschnitt hineingeboren und arbeiten seitdem daran, ihn auszudehnen, suchen Anschlüsse, lernen Worte, Werke und Gesten und manche Zimmer haben wir schon länger nicht mehr betreten. Semantik ist der Ort, von dem aus wir sprechen und trotzdem werden wir manchmal verstanden, weil sich unsere Semantiken stellenweise überlappen, auch wenn sie nie dieselben sind.
Generative KIs sind Semantikmaschinen. Indem die KIs große Teile menschlicher Semantiknetzwerke (noch beschränkt auf Schrift, Bild, Ton, Video) in einer umfassenden Detailtiefe analysieren und verinnerlichen, erlangen sie die Fähigkeit, darin erstaunlich kompetent zu navigieren. Aber genau das tun wir Menschen halt auch! Wann immer wir denken, handeln schreiben und lieben, navigieren wir Semantiken. Man könnte soweit gehen zu sagen, dass beide, KIs und Menschen, nur insofern an dem, was wir „Intelligenz“ nennen, partizipieren, als das beide über Schnittstellen verfügen, um sich in Semantiknetzwerke einzuhängen und darin Sinn-Pfade auszutreten.
Doch jedes Navigieren ist immer auch ein performatives Arbeiten an der Semantik. Ein Fortschreiben, ein Stricken an den Rändern, ein lokales Ausbeulen von Bedeutungen. Und ich denke, der wichtigste Unterschied zwischen uns und den Maschinen ist gar nicht, dass unsere Semantiken offensichtlich tiefer und die der Maschinen weiter sind, sondern, dass die menschliche Arbeit an der Semantik meist aus dem Versuch besteht, die eigene Erlebniswelt anschlussfähig zu machen, während KIs höchsten mal weirde Konvergenzen etablierter Semantiken zusammenpuzzeln, wie z.B. Shrimp-Jesus. Aber wie gesagt: nur wenn ich wetten müsste.
Matt Levine verzweifelt lesenswert an Truth Social, also Donald Trumps digitales Briefpapier für seine Pressemitteilungen, das vor kurzem noch 9 Milliarden Dollar wert war und jetzt immerhin noch 6? Levine macht die ganz große Zeitrechnung auf und beziffert die historische Periode, als sich der Wert von Assets an objektiv messbaren Kriterien wie Cashflow und weiterveräußerbaren Anlagegütern orientierte, auf die kurze Zeit zwischen zweitem Weltkrieg und dem Cryoptoboom von vor drei Jahren. Mit Crypto und noch mehr mit Memestocks trat ein neues Paradigma auf, das noch auf seine Enträtselung wartet.
„With time, I have become more comfortable with the answer to “what are we all doing here?” The answer is “not fundamental analysis.” Maybe it is “having fun online.” Maybe it is “playing a complex game of mass psychology.” Maybe it is “using our investments as a form of self-expression, buying stocks and cryptocurrencies we identify with and feeling better about ourselves if they go up.““
Das klingt einerseits natürlich wie ein weiteres Indiz für das Zeitalter des Rauschens, aber gleichzeitig erinnert es mich noch mehr an die Studie zu digitalem Tribalismus, die wir vor sieben Jahren gemacht haben. Eine neue Art über digitalen Tribalismus nachzudenken, wäre, ihn als semantische Sezession zu verstehen.
Nils Markwardt hatte das in seiner auch sonst sehr lesenwerten Großanalyse des heutigen Faschismus nebenbei prima zum Ausdruck gebracht:
„Wenn in jedem Missstand ein „Staatsversagen“ diagnostiziert, Kritik fortwährend als „Cancel-Culture“ empfunden und Einwanderung als „Umvolkung“ verbucht wird, folgt das dem Ziel, einen chronischen Ausnahmezustand auszurufen sowie ein Gefühl des letzten Tags zu erzeugen.“
Tribalismus kann als Strategie verstanden werden, bestehende Semantiken in andere Narrative umzustricken, um sie gegenüber der „Mainstream“-Semantik inkompatibel zu machen und dann innerhalb dieser neuen, abgespaltenen Semantik wieder wesentlich wirkmächtiger agieren zu können. Und ich schätze, anhand von Crypto und Memestocks finden wir gerade heraus, dass diese Macht ausreicht, um zu beweisen, dass auch „Wert“ nur eine weitere Semantik unter anderen ist, dessen Narrativ sich ebenfalls umschreiben lässt. Die Differenz zwischen „memetischem Wert“ und der rationalen Bewertungsgrundlage erscheint in unserer Semantik als Fehler im System, dabei ist es das zentrale, identitätsstiftende Feature. Ein weiterer Turm zu Babel ist gefallen.
Michael C. Bender versucht in der NYTimes dem MAGA-Movement über seine religiöse Kulthaftigkeit habhaft zu werden und dabei fällt mir auf, dass die Sezession von der Mainstream-Semantik wohl nur gelingen kann, wenn man ausgemusterte aber noch latent vorhandene Semantikreservoirs anzapft. Religion ist da ein naheliegender Kandidat, aber ich sehe bei Trump noch eine andere semantische Tradition am Werk: die Monarchie. Dass Trump eine Lastwagenladung amoralischer Skandale und etliche Klagen am Hals hat, stört die sonst so regelversessenen Konservativen einfach deshalb nicht, weil sie Trump schon lange nicht mehr in der Semantik eines demokratischen Politikers denken, sondern in der eines Monarchen. Und als König steht man über dem Gesetz und über der Moral, weil man eben nicht nur Herrscher, sondern auch Main Character der Gesellschaft ist, da mindern Regeln nur den Unterhaltungswert.
Bei Recherchen bin ich über diese schöne Onlinebegegnung zwischen Donna Haraway und Bruno Latour gestolpert. Ich gebe dieses Semester ein Seminar zu Donna Haraway und lese mich begeistert durch ihr Werk. Das Werk ist zunächst nicht so leicht zugänglich, nicht, weil sie so voraussetzungsreich schreibt, sondern weil man erst eine Menge verlernen muss, bevor alles Sinn ergibt. Ihr wichtigster Beitrag in der Philosophie ist weniger eine ausgefeilte Theorie der Welt, als vielmehr ein bestimmer Blick. Ich habe das letzte Jahr damit verbracht, diesen Blick einzuüben und wenn man das schafft, dann eröffnet sich im wirren, mäandernden und eklektischen Werk Haraways plötzlich ein Füllhorn von Sinn.
Haraway denkt – mehr noch als Bruno Latour – aus dem Netzwerk heraus. Dass klingt banal, aber es ist wirklich nicht einfach. Eine erste, überraschende Lektion ist zum Beispiel, dass Du als Netzwerkteilnehmer das Netzwerk selbst nie zu Gesicht bekommst. Das heißt, du verlierst erstmal eine ganz bestimmte Sicht, nämlich die Draufsicht. Also jene Illusion von ort- und körperlosem Schweben über den Dingen, die gerade in der abendländischen Tradition einen Großteil des wissenschaftlichen Blicks ausmacht. Diese Perspektive, so Haraway, sei nicht real, sondern reine Imagination. Eine männliche Machtphantasie.
Haraway zu denken, bedeutet erst einmal ein Loslassen dieser Perspektive und die eigene Situiertheit in der Welt anzuerkennen und damit auch die Tatsache, dass jedes Denken immer unter ganz bestimmten materiellen Verhältnissen und an einem ganz bestimmten Ort in der Semantik stattfindet. Es ist, als müssten sich die Augen erst an die veränderten Lichtverhältnisse anpassen, aber langsam schärft sich mein Blick auf Beziehungsnetzwerke: auf materielle Abhängigkeiten, genauso wie auf Semantiken.
Eine andere Sache, die passiert, wenn man anfängt die Netzwerkperspektive ernst zu nehmen, ist, dass alles unrein wird. Es gibt plötzlich keine saubere Kategorien mehr, weil alles in einander hineinragt. Das gilt vor allem für das Selbst. Das Selbst steht nicht mehr als abgeschiedene Entität den Dingen gegenüber, sondern interferiert durch seine Eingebundenheit mit den Semantiken und Abhängigkeiten der Umwelt.
In dem Gespräch wird Haraway auch zu ihrer Meinung zu KI gefragt und sie sagt, sie sei durchaus offen, KI als „materielle Praktik“ willkommen zu heißen, aber erteilt den Silicon Valley Narrativen eine klare Absage:
„I’m totally beyond against the stupid notion of orthogenetic evolution toward blissing off earth finally into artificial intelligence and total robotization. It’s a white, male, phallic masturbation.“
Diese Woche wurde ein Hilfskonvoi an der Grenze zu Gaza angregriffen und diese The Daily-Folge arbeitet die Geschehnisse gut auf. Was mich berührt hat, ist die Geschichte der angegriffenen Hilfsorganiation „World Central Kitchen“ und ihrem Approach in Krisengebiete zu fahren und dort mit den lokalen Köchen zu kooperieren und möglichst lokale Lebensmittel einzukaufen, um dann landestypische Gerichte herzustellen und dabei noch die lokale Ökonomie zu stützen. Ich finde das ein gutes Beispiel, wie es gelingen kann, lokale Semantiken und Abhängigkeiten ernst zu nehmen und damit auch die Menschen, die darin leben.
Nicht ganz klar ist, ob der Angriff auf „World Central Kitchen“ von „Lavender“ gesteuert wurde. Hinter diesem schönen Namen steckt laut +972 eine KI-Software des israelischen Militärs, die automatisiert „menschliche Ziele“ auswählen und verfolgen kann. Es handelt sich dabei übrigens nicht um das bereits bekannte KI-System “The Gospel” das dazu dient Häuser zur Zerstörung auszuwählen. Bei Lavender geht es um Menschen, genauer um zwischenzeitlich biszu 37.000 gelockte Ziele – also alle, die Israel für Hamaskämpfer*innen hält. Die Anschläge werden meist in der Nacht ausgeübt, wenn die „Ziele“ einfacher zu treffen sind, während sie bei ihrer Familie zu Hause schlafen.
„Another source said that they had personally authorized the bombing of “hundreds” of private homes of alleged junior operatives marked by Lavender, with many of these attacks killing civilians and entire families as “collateral damage.“
Die Ratio der getöteten Zivilist*innen pro Hamas-Kämpfer, die die IDF für akzeptabel hält, liegt laut Artikel bei 15 bis 20. Bezogen auf die gelockten Targets wären also biszu 720.000 Menschen als „Colateral Damage“ hinnehmbar. Nicht mitgezählt sind dabei natürlich diejenigen, die nicht durch direkte Einwirkung sterben, wie die vielen Kinder, die gerade verhungern oder wegen der hygienischen und medizinischen Unterversorgung an Krankheiten sterben.
Es muss aber ein ungeheures Gefühl von Macht sein, wenn man einfach auf einen Knopf drückt und dann fangen hunderte von Drohnen an, tausende von Ziele zu attackieren.
Ich habe schon viele Texte zu „Effective Altruism“ gelesen, aber noch nie einen so umfassenden und guten, wie den von Leif Wenar. Zum einen, weil er selbst aus einem ähnlichen Denken kommt und seine eigene intellektuelle Entwicklung als Hintergrundfolie seiner Kritik nimmt. Aber auch, weil er wirklich gut die Anmaßung dieser sogenannten „Ethik“ herausarbeitet.
„The core of EA’s philosophy is a mental tool that venture capitalists use every day. The tool is “expected value” thinking, which you may remember from Economics 101.
[…]
What EA pushes is expected value as a life hack for morality. Want to make the world better? GiveWell has done the calculations on how to rescue poor humans. A few clicks and you’re done: Move fast and save people.“
EA ist gewissermaßen das Gegenteil des „World Central Kitchen“-Approach. Es ist die kalte Anwendung einer Optimierungsfuntion auf ein von allen Verbindungen entflochtenen Modells der Welt. Es ist Hilfe auf Knopfdruck, ohne sich mit den lokalen Semantiken und Abhängigkeiten zu beschäftigen, ohne Übersetzung und ohne Verantwortung zu übernehmen, weswegen die angestoßenen Projekte oft auch mehr schaden als nutzen.
„Longtermism lays bare that the EAs’ method is really a way to maximize on looking clever while minimizing on expertise and accountability.“
Ich kann den Appeal durchaus verstehen, vor allem für Reiche. Es muss ein ungeheures Gefühl von Macht sein, wenn man einfach auf einen Knopf drückt und per Bettnetz- und Entwurmungstabletten-Abwurf tausende von Menschenleben „rettet“.
In Analyse&Kritik hat Stephanie Bart ihre „Erklärung zur Gewaltfrage“ veröffentlicht und der ganze Text spricht mir sehr aus der Seele. Anlass sind die Diskussionen um Daniela Klette und dem bürgerlich-liberalen Gewaltbegriff, der unfassbar reduktionistisch und naiv ist, wenn man ihn nur ein bisschen durchdenkt.
„Die Gewaltbilanz der Roten Armee Fraktion, das sind 34 Tote in 28 Jahren, steht gegenüber der Gewaltbilanz des von ihr bekämpften Kapitals, das ist kein Tag ohne Krieg und Hunger, das sind die Massengräber im Mittelmeer und in der mexikanischen Wüste, das sind Obdachlose bei leerstehenden Häusern, das ist die Vernichtung von Nahrungsmitteln bei Hunger, das ist die Extraktionsindustrie, das ist die Vernichtung der Lebensgrundlage der Menschheit und zahlloser anderer Lebewesen: das ist der Ökozid.“
Auch systemische Gewalt wird im Netzwerkdenken sichtbarer, als in den Semantiken der Draufsicht.
Irgendwie passt dazu diese hübsche Geschichte über Rorie Woods, die, als sie sah, wie die Polizei ihren 79 Jahre alten Nachbarn aus seiner Wohnung werfen wollte, einfach ihre Bienen auf die Cops losgelassen hat.
„With a pair of reading glasses draped around the collar of her purple fleece, she began to shake the boxes, because with the temperature in the low 50s, it was too cold for the honeybees inside to fly without a little coaxing.“
Wenn man in Netzwerken und Ökosystemen denkt, lauern überall Verbündete.
Zuletzt spüre ich einen gewissen Rechtfertigungsdruck, denn seit ich Haraway so für mich angenommen habe, hadere ich mit meinem Denk- und Schreibstil, der immer noch viel und gerne allerlei Modelle der Welt entwickelt, um auf sie analytisch herabzuschauen (ich bin halt eine Thesenmaschine, that’s what I do!). Im Gegensatz dazu fällt mir das „aus dem Netzwerk Schauen“ nach wie vor schwer, auch wenn ich mich bemühe. Aber ich lese Haraway gar nicht so, dass sie jede Theorie und jedes Modell grundsätzlich ablehnt, sondern ich schätze, ihr Punkt ist, dass diese Sicht anmaßend und teils gewaltvoll ist, weil sie notwendig reduktionistisch ist und dass man sich dessen bewusst sein sollte? Ich werde also vorerst dabei bleiben, aber versuchen, die Situiert- und Begrenztheit meiner Theoretisiererei sichtbar zu machen.
George Box‘ berühmter Spruch, dass alle Modelle falsch, aber manche nützlich sind, enthält eine noch tiefere Weisheit, wenn man nach der Art der Nützlichkeit fragt, die dadurch erreicht werden soll. Die Wahrheit ist, dass Modelle vereinfacht werden, um einen Punkt zu machen. Jedes Modell ist eigentlich nur ein ziemlich komplexes Argument. Takes. Modelle sind Takes.
@mspro hey danke! Da ist ganz viel Futter dabei. Und evt kann ich mich revanchieren zu deiner Frage zur Semantik, was wir da alles darunter zu verstehen haben. Die Cultural Studies hat einen umfassenden Semantikbegriff als soziale Praxis. Kultur als gemeinsame Sinnentwicklung (mit allen performativen Momenten, die du ja auch erwähnst). Es gibt hier eine schöne einfach erzählte Einführung – und die Studie zum Sony Walkman quasi als Demo dazu.
https://uk.sagepub.com/en-gb/eur/doing-cultural-studies/book234568
Passt dann auch wieder auf sehr interessante Weise zu Follower, darüber muss ich grad noch bisschen nachdenken.
Ich darf diesen Newsletter nicht lesen, sonst komme ich nicht zum Arbeiten! Tolle Links mal wieder und viele Gelegenheiten, den eigenen Horizont zu erweiteren aber gleichzeitig auch neu zu zu erden (sehr frei nach Donna Haraway, die ja viel witziger ist, als ich dachte).
Gerne mehr davon!
Stefan
danke, sehr spannend. schau ich mir an. 🙂
Danke dir!
Jack Conte ist spät dran, Kevin Kelly schrieb 2008 schon von den „1000 true Fans“:
https://kk.org/thetechnium/1000-true-fans/
Hättest du den Talk geschaut, hättest du gesehen, dass sich Conte auf Kelly bezieht.
MeinFehler, ich dachte deine Zusammenfassung wäre ein TL;DR.
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