Krasse Links No. 22

Willkommen bei Krasse Links No. 22. Ich bin quasi noch in der Sommerpause, deswegen entschuldigt die Unregelmäßigkeit. Doch jetzt entsichert Euer Interregnum, wir projizieren das Ende des Westens auf die Blockchain.


Biden ist raus und hat Kamala Harris endorsed. Das bedeutet, dass die Demokraten wieder eine Chance haben zu gewinnen und eine mindestens ebenso große, sich auf Jahrzehnte komplett zu zerlegen. Es wird spannend.


Die Wired hat einen beunruhigenden Artikel über den durch generative KI erhöhten Energiebedarf der Techbranche. Fast alle Tech-Riesen müssen ihre Klimaziele revidieren.

The technology’s energy needs for training and deployment are no longer generative AI’s dirty little secret, as expert after expert last year predicted surges in energy demand at data centers where companies work on AI applications. Almost as if on cue, Google recently stopped considering itself to be carbon neutral, and Microsoft may trample its sustainability goals underfoot in the ongoing race to build the biggest, bestest AI tools.


Bei der bekannten Venture Capitalistbude Sequoia bekommt man Zweifel an der Wirtschaftlichkeit des AI-Hypes.

In September 2023, I published AI’s $200B Question. The goal of the piece was to ask the question: “Where is all the revenue?”
At that time, I noticed a big gap between the revenue expectations implied by the AI infrastructure build-out, and actual revenue growth in the AI ecosystem, which is also a proxy for end-user value. I described this as a “$125B hole that needs to be filled for each year of CapEx at today’s levels.”
This week, Nvidia completed its ascent to become the most valuable company in the world. In the weeks leading up to this, I’ve received numerous requests for the updated math behind my analysis. Has AI’s $200B question been solved, or exacerbated?
If you run this analysis again today, here are the results you get: AI’s $200B question is now AI’s $600B question.


Es ist passiert. Der Griff nach der Macht durch die Silicon Valley Tech-Faschisten materialisierte sich letzte Woche im Viezepräsidentschafts-Ticket von J.D. Vance. Die New York Times hat zusammengetragen, wie es dazu kam:

Mr. Vance “was very much a friend of the Thiel network going back years,” said Crystal McKellar, a venture capitalist who worked with Mr. Vance at Mithril Capital. “It seemed like Peter saw something really special in him and wanted to encourage it.”

Mr. Musk also encouraged Mr. Trump to choose Mr. Vance in private communications recently. On Monday, Mr. Musk called Mr. Vance’s selection an “excellent decision.”

Mr. Vance has relied on Mr. Sacks, whom he called “one of my closest confidants” in politics at a gala this spring. After that event, Mr. Vance introduced Mr. Sacks to Mr. Trump’s oldest son, Donald Trump Jr.

J.D. Vance trat während des Wahlkampfes in 2016 in Erscheinung, weil sein Buch „Hillbilly Elegy“ eine Antwort auf die überraschende Stärke von Donald Trump zu haben schien. Vance erzählt dort von den zerfallenen Kleinstädten im mittleren Westen, weißer Armut und den Frust, der sich in der „white working class“ aufgestaut hatte. Das Buch wurde rauf und runterbesprochen und war wochenlang Bestseller und machte Vance zunächst zu einem Star der demokratischen Seite, auch wenn seine Analyse von Kulturchauvinismus nur so tropft.

Aber die Wahrheit ist: Vance war und ist Peter Thiels Junge. Peter Thiel und er lernten sich bereits zu Vances Unizeiten in 2011 kennen und gleich nach dem Studium half Thiel Vance in Silicon Valley Fuß zu fassen und investierte 2019 zusammen mit Marc Andrreesen und Eric Schmidt in sein Venture. Auch seinen Einstieg in die Politik 2021 als Senator finanzierte Thiel, unter anderem zusammen mit Robert Mercer. Vance verdankt Thiel … alles.

In einem lesenswerten, aber etwas mit Vorsicht zu genießenden Stück in der Vanity Fair wurde Vance, zusammen mit dem anderen politischen Projekt Thiels, Blake Masters, portraitiert.

Die Reportage versucht auch das intellektuelle Millieu einzufangen, in dem sich Vance bewegt. In den USA hat sich seit Trump I eine verstreute Szene von sich intellektuell gebenden Rechtsradikalen mit Schwerpunkt in New York Downtown gebildet, die – ähnlich wie die Identitären in Europa – versuchen, rechte Edgyness als das neue Schwarz zu verkaufen. Etwas Mode, Literatur und konservative Werte, inklusive Kulturkampf gegen Wokeistan und dazu das selbstzufriedene Grinsen, wenn man Menschen mit der eigenen Grausamkeit schockiert. Selbstredend wird die gesamte Szene von Peter Thiel finanziert, Lesungen, Festivals, Podcasts, alle streben dort nach den „Thielbucks“, wie es im Stück mehrfach heißt.

Die eigentliche, intellektuelle Ikone der Szene ist Curtis Yarvin, ein ehemaliger Silicon Valley Entrepreneur, in dessen Startup – ihr werdet es raten – Peter Thiel investiert hat und ein so guter Freund von ihm geworden ist, dass sie sogar die 2016 Election Night zusammen verbracht haben.

Ich habe Yarvin etwa seit 2015/16 auf dem Radar, damals galt er als einer der relevanten Stichwortgeber der umtriebigen „Alt-Right“-Internet-Szene. Von ihm stammt der Ausdruck „red pilled“, sowie die Idee der „Cathedral“, wie er die liberalen Semantik-Produktionsstätten von Harvard bis New York Times abfällig nennt. Seine persönliche Ideologie nennt er selbst „neo-reaktionär“ („Konservativismus ist für Loser“) und zieht eine ordentliche Machtakkumulation bei einem einzigen Herrscher der Demokratie vor. Damit ist er sich bekanntlich mit Peter Thiel einig und liefert die rechtfertigenden Semantiken für Oligarchen mit Thron-Ambitionen.

Dass der Monarchismus einfach ein zu Ende gedachter Libertarismus ist, war ja vielen bereits klar und ebenfalls klar, ist, warum Milliardäre darauf abfahren, aber irgendwie steht das alles ziemlich in Spannung zu Vance‘ Image als Arbeiter-Class-Hero. Als Senator setzt er sich durchaus für eine Stärkung der Gewerkschaften ein, will den freien Markt – insbesondere den Außenhandel – beschränken und sogar sozialstaatliches Engagement ausbauen. Vance zitiert neben Yarvin und Thiel auch noch ein paar sozialreformerische Einflüsse. Ich hege leise Zweifel daran, dass eine von den brutalsten aller Tech-Oligarchen gesponserte Vizepräsidentschaft zu einer arbeiterfreundlichen Politik führen wird, aber natürlich darf man nicht dem Fehler verfallen, Rechtsradikale auf ihre Konsistenz hin abzuklopfen. Ihnen geht es in erster Linie um Macht und erst an zweiter Stelle um noch mehr Macht.

So wirklich düster wird es zum Ende des Vanity-Fair-Stücks, als der Reporter von einem Gespräch unter Zweien erzählt, dessen Inhalt erstaunlich nahe dran an dem ist, was Vance auch in einem Podcast gesagt hat, den der Artikel ausgiebig zitiert:

Vance described two possibilities that many on the New Right imagine—that our system will either fall apart naturally, or that a great leader will assume semi-dictatorial powers.

“So there’s this guy Curtis Yarvin, who has written about some of these things,” Vance said. Murphy chortled knowingly. “So one [option] is to basically accept that this entire thing is going to fall in on itself,” Vance went on. “And so the task of conservatives right now is to preserve as much as can be preserved,” waiting for the “inevitable collapse” of the current order.

He said he thought this was pessimistic. “I tend to think that we should seize the institutions of the left,” he said. “And turn them against the left. We need like a de-Baathification program, a de-woke-ification program.”

“I think Trump is going to run again in 2024,” he said. “I think that what Trump should do, if I was giving him one piece of advice: Fire every single midlevel bureaucrat, every civil servant in the administrative state, replace them with our people.”

“And when the courts stop you,” he went on, “stand before the country, and say—” he quoted Andrew Jackson, giving a challenge to the entire constitutional order—“the chief justice has made his ruling. Now let him enforce it.”

This is a description, essentially, of a coup.

“We are in a late republican period,” Vance said later, evoking the common New Right view of America as Rome awaiting its Caesar. “If we’re going to push back against it, we’re going to have to get pretty wild, and pretty far out there, and go in directions that a lot of conservatives right now are uncomfortable with.”

Trump hat sich – da sind sich alle einig – Vance nicht ausgesucht, weil der zusätzliche Wählerstimmen einbringt. Vance ist ein Convenience Vize, mit dem sich Trump zum einen die Unterstützung der Silicon Valley Milliardärsklasse sichert und zum anderen ist es dabei sicher hilfreich, dass Vance „in for the Coup“ ist.

Der Artikel ist, wie gesagt, schon zwei Jahre alt und inzwischen gehört Vance zu den schärfsten rechtsradikalen Hardcore-Trumpern im Parlament: Für den nationalen Abtreibungsbann, gegen Emigration, gegen Ukrainehilfe und natürlich trägt auch er die Lüge der angeblich „gestohlenen Wahl“ vor sich her und will die Terror-Douchebags vom 6. Januar begnadigen.

Ein paar Fragezeichen gibt es noch: Thiel hatte sich nach seinem Endorsement bei der letzten Wahl nun gegen Trump ausgesprochen und sich aus der politischen Arena zurückgezogen und bisher gibt es meines Wissens kein Statement von im zu Vances Vizeticket und auch von Yarvin habe ich noch nichts gehört. Yarvin hatte erst kürzlich überraschend Joe Biden endorsed, aber wer weiß, aus dem wievielten Ironie-Layer das entsprungen ist und so warte ich wie alle gespannt auf seinen nächsten Newsletter.

Zuletzt kann man sich das alles noch mal von Rachel Maddow zusammenfassen lassen:


Max Read fragt sich, ob die Siegesgewisseheit im Trump-Lager nicht etwas verfrüht ist und ob das mediale Momentum seit dem Attentat Realität ist, oder nur auf X existiert:

But it’s also a dangerous place to assess sentiment (or “vibes”) not just because it’s a very skewed sample of the population but because Twitter is only vibe shifts. It is the most volatile social network more or less by design and function; on Twitter, it is always already so over, and we are always already so back. It was only six days ago that the former president of the U.S. was nearly assassinated and the conventional wisdom on the website was that he’d cruise to re-election; that entire episode is about 36 hours away from near-total deletion from the platform’s collective memory as a new set of vibes arrives. To borrow a cliché, vibes on Twitter are like weather in [wherever you grew up and heard this joke first]: If you don’t like them, just wait a few minutes.

Insbesondere, da noch fast drei Monate Wahlkampf bevorstehen. In Deutschland machen wir auch kaum länger Wahlkampf und in so einer langen Zeit kann noch so viel passieren. Ich kann mir außerdem nicht vorstellen, dass es die Republikaner schaffen, ihr Momentum über drei Monate zu halten?

Andererseits will ich auch in diesem Newsletter noch einmal die Gefahr herausstellen, die von X ausgeht: Ja, seit dem Tod von Twitter hat X viel an Einfluss verloren, aber der Dienst ist immer noch überproportional mächtig. Keine der alternativen Plattformen hat es geschafft, eine Öffentlichkeit herzustellen, die den Namen verdient. Ein Großteil derjenigen, die an den Semantiken arbeiten (Journalist*innen, Forscher*innen, Influencer*innen, Expert*innen, Politiker*innen, Aktivist*innen, etc.) sind nachwievor auf X und lassen sich dort von Elon Musk das Hirn auf rechts frittieren. Und ja, vielleicht hat Max Read recht und dort ändert sich der Vibe um Donald Trump nochmal, aber Musk wird dann alle Hebel in Bewegung setzen, das zu verhindern.


Andreesson & Horowitz stecken ihr Geld nicht nur in Trump und Vance, sondern vor allem in direktes Crypto-Lobbying. Molly White hat eine extra Website aufgesetzt, FollowtheCrypto, die den Crypto-Lobbying-Einfluss trackt. Hier ihr Blogpost dazu.

In fact, the cryptocurrency industry has spent more on 2024 elections than the entire energy sector put together. These industries, all worth hundreds of billions or trillions of dollars, are being outspent by an industry that, even by generous estimates, is worth less than $20 billion.


Andreessen & Horowitz haben im Zuge ihrer zunehemenden politischen Einflussnahme eine „Little Tech Agenda“ als Blogpost veröffentlicht, die von David Karpf gekonnt auseinander genommen wird.

The “Little Tech Agenda” has nothing to do with innovation or technology. It’s just a VC wish list. The investor class isn’t clever enough to invest in companies that turn a profit by bringing useful products to market anymore. They need special treatment from the government for their bad investments to pay off. And they’re more than willing to spend in order to get it.


Im letzten Newsletter schrieb ich noch davon, dass ich mich mit Adam Tooze gedanklich verbunden fühle und da beginnt er prompt eine an meine Gedanken hoch anschlussfähige dreiteilige Reflexion zu „Hegemonie“. Im ersten Teil stellt er seine Theorie der Project-Power vor.

Hierarchy and inequality have structural preconditions, but they are produced and reproduced through clashing, rivalrous and unequal projects. Structures of power and inequality are the result not simply of inherited, given structures, but of repeated success and failures in a churning melee of projects and counter-projects.

Tooze fasst „Projekte“ allerdings weit:

  • Large-scale construction projects – building cities, mega-towers, damns, tunnels etc.
  • Launching a war and/or conducting military operations.
  • The calculations of revolutionary or counterrevolutionary politics.
  • Programs of large-scale economic development, whether public or private.
  • Constructing a network of international alliances.

Und so denkt Tooze auch die US-Hegemonie als ein Projekt, das an seinen Kulminationspunkt gelangt ist:

Far from entering an “end of history” in which the history-making force of project-power is displaced by the humming efficiency of an established and unquestionable machine endlessly reproducing its own unalterable truth, we face the reverse scenario: The culmination and interaction of projects of growth, political power and self-empowerment, on a scale never before seen, is generating a massive and escalating disequilibrium.

Ich denke ja Wirtschaft als Netzwerk von Abhängigkeiten und Infrastrukturen (NAI), die sich wechselseitig erschaffen und in dieser Symbiogenese ist Project-Power der Modus, in dem dieses „sich-Erschaffen“ passiert.

Was Tooze hier leider etwas unterbelichtet lässt, ist die Tatsache, dass Projekte nie aus dem Nichts heraus entstehen, sondern immer schon in Kontinuitäten eingebunden sind, die sie reproduzieren sollen. Projekte können zwar durchaus disruptiv sein, doch man muss sie auch als das jeweilige Sich-Weitererzählen Materiell-Semantischer Komplexe (MSK) verstehen.

Es ist nicht überraschend, dass Infrastrukturen eigene Semantiken ausbilden, alleine schon wegen all dem technischen und wissenschaftlichen Knowhow, das es braucht, um die Infrastruktur herzustellen, zu warten und zu erweitern. Aber wie sowohl die Ressource Dependence Theory, als auch die post-Keynsianische politische Ökonomie von Frederick E. Lee (aus dem letzten Newsletter) überzeugend darlegt, ist das erste Ziel jeder Organisation, sich selbst zu erhalten, was eben bedeutet, sich selbst weiterzuerzählen.

Und das wäre sogar für mich die definitorische Linie, die ich für Materiell-Semantische Komplexe ziehen würde: ein MSK ist 1) eine materielle Infrastruktur, die 2.) eine Selbsterzählung hat, die sie 3) in Form von Projekten fortschreibt. MSKs reichen folglich von der Katholischen Kirche über Familienhaushalte zu Staaten, Fußballvereinen, der Nato, Plattformen, Unternehmen, oder „den Westen“.


Im zweiten Teil der Hegemonie-Serie kritisiert Tooze den unreflektierten Gebrauch von Gramscis „Interregnum„-Begriffs. Besser bekannt ist das betreffende Gramsci-Zitat in der phantasievollen Interpretation von Slavoj Žižek:

“The old world is dying and the new world struggles to be born. Now is the time of monsters.”

In Wirklichkeit lautet es aber:

„The crisis consists precisely in the fact that the old is dying and the new cannot be born, in this interregnum a great variety of morbid symptoms appear.“

Wobei Interregnum ein alter Name für den Zustand zwischen zwei Herrschaftsphasen ist. Jedenfalls bekenne ich mich Schuldig, sowohl für einen älteren Artikel, als auch für das Plattformbuch, aber mir selbst war gar nicht klar, welch Schindluder mit dem Konzept getrieben wird. Tooze kritisiert vor allem das schlichte Aufblasen dieses Zitates zu einem historistischen Framework, bei der nach jeder stabilen Herrschaftsphase das Chaos einer Interregnums-Phase wartet, wie in folgender Grafik suggeriert wird.

Tooze verweist zurecht auf den spezifischen Blick, mit dem Gramsci auf die Geschichte schaut, der eben ein marxistisch-teleologischer Blick ist, also auf die konkrete Zukunft eines imaginierten Endes des Kapitalismus hin ausgerichtet ist. Lässt man diesen Blick weg, wird Herrschaft durch die Rede vom Interregnum zum Selbstzweck.

Praktischer Weise taucht Tooze tief in die Analyse des Wechsels von britischer Kolonialordnung zur US-Hegemonie ein, insistiert aber, dass die US-Hegemonie eben keine Antwort auf ein Interregnum war und dass diese Hegemonie in ihrer wirtschaftlichen Power und in der Neuartigkeit ihrer Herrschaftsinstrumente den Anspruch erheben, kann als eigenständige Entwicklung betrachtet zu werden.

When the US finally did manage to marshall its power for the consolidation of the Cold War bloc after 1945, it was a kind of power that no state had ever exercised before. It would be a unique high point and it would depend on a continuing, on-going scrambling effort at innovation. The most commonly cited example of successful American hegemony, the Marshall Plan was not Plan A for the postwar world, it was not even Plan C, it was Plan D. And it would have been unthinkable without the no less unprecedented form of state power represented by Stalin’s Soviet Union.

Tooze hat recht, die Idee des Interregnum zu hinterfragen, doch ich sehe den Übergang vom britischen Empire zur US-Hegemonie eher als einen Staffeltausch, denn als die Ablösung eines Weltreiches durch ein anderes. Beide sind „Projekte“ des Westens, dessen Erzählung im europäischen Kolonialismus beginnt und die globale Ordnung seit dem 2. Weltkrieg ist eben der Stand des aktuellen Projekts.

Auch Tooze sieht ja, dass sich dieses Projekt dem Ende zuneigt und wir alle haben ein nachvollziehbares Bedürfnis dem Scheißevulkan, zu dem unser Newsstream geworden ist, einen Namen und ein Konzept zu geben, das Hoffnung darauf macht, dass das irgendwann mal aufhört?

Mein Vorschlag: Ungleichzeitigkeit. Der Begriff der Ungleichzeitigkeit stammt von Ernst Bloch und er versuchte – ähnlich wie Gramsci – die „morbiden Symptome“ seiner Zeit, nämlich den Faschismus zu erklären. Bloch sah die Ungleichzeitigkeit darin, dass Deutschland als hochentwickelte Industrienation noch um ’33 den Semantiken einer traditionellen Agrargesellschaft verhaftet war. Der Faschismus wusste diese Dissonanz auszunutzen.

Blochs Beispiel legt leider die Idee einer linearen Fortschrittsentwicklung nah, von der wir bereits gelernt haben, dass sie ein schwer belastetes kolonioniales Erbe ist. Doch im Kontext der MSKs kann kann man das Konzept der Ungleichzeitigkeit ganz leicht aus dieser Struktur befreien.

Ähnlich wie das gegenseitige sich Hervorbringen von Abhängigkeiten und Infrastrukturen, bringen auch Infrastrukturen und Semantiken einander hervor. Die materiellen Praktiken zur Erschaffung und Betrieb von Infrastrukturen machen Erzählungen notwendig, die dann zukünftige Projekte beeinflussen, etc.

Doch weil der Prozess der materiell-semantischen Symbiogenese eben nicht linear verläuft, entstehen immer wieder Ungleichzeitigkeiten, kleine, große, riesige. Man kann Ungleichzeitigkeiten für unsere Betrachtung als materiell-semantische Dissonanz verstehen, also als ein Auseinanderklaffen von materieller Realität und der sie beschreibenden Semantiken.

Ein Beispiel ist das Internet: Neue Infrastrukturen veränderten unsere Modi der Kommunikation, aber gedanklich leben wir nachwievor in der Gutenberggalaxis. Auch Semantiken haben Netzwerkeffekte und LockIn. Wandel findet zwar statt, aber langsam und der äußert sich z.B. in Reibungsereignissen zwischen den materiellen Infrastrukturen, die unsere Leben umgestalten und den inadäquaten Versuchen, sie zu beschreiben, geschweige denn, zu regulieren.

Auf den Westen bezogen bedeutet das, dass sein relativer, materieller Rückzug auf der Weltbühne auf eine Bevölkerung trifft, die ihr Privileg, sich über andere stellen zu dürfen, als den Pokal eines meritokratischen Wettbewerbs der Völker im „Zivilisiersein“ betrachtet. Eine Welt- und Zivilordnung, in der die weißen europäischstämmigen diesen Pokal nicht im Abo haben, wird für sie als nicht weiter unterstützenswert betrachtet, weswegen Menschen wie Vance und Trump oder auch die AfD mit ihrer alles aufkündigenden Rhetorik so erfolgreich sind.

Faschismus ist aus dieser Sicht ein „Doubling Down“ auf die Widersprüche eines überkommenen Systems. Ja, die Welt ist ungerecht, let’s keep it that way.

Wenn die Semantiken also nicht mehr zu den Materiellen Realitäten passen, dann müssen wir nur die Semantiken in die den Zustand des 20. Jahrhunderts zurückdrehen, dann wird materiell wieder alles in Ordnung kommen.

Was es stattdessen braucht – und das sollte aus dieser Analyse klar geworden sein – sind neue Semantiken. Es braucht neue Weisen der Weltbeschreibung, ein neues Worlding, vielleicht auch neue Institutionen des Worldings, die uns wieder in die Lage versetzten, politisch über Projekte zu streiten.

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