Disclosure: Beim schreiben des Artikels wurde mir etwas unwohl. Gebe ich vielleicht potentiellen Stalkern noch nützliche Tipps, um Menschen zu terrorisieren? Auch wenn das nicht auszuschließen ist, glaube ich, dass der Aufklärungsaspekt wichtiger ist. Die Dinge, die ich hier erzähle sind keine Rocket Science, Menschen mit der kriminellen Energie werden diese Tricks mit Sicherheit auch drauf haben. Davon sollte man jedenfalls eh ausgehen. Deswegen halte ich es für sinnvoller das hier zu publizieren, um Leuten ein falsches Gefühl von Anonymität zu nehmen.
Tinder hat das Konzept Online Dating um eine wirklich gute Idee bereichert. Man loggt sich einfach per Facebook ein, kann basierend auf den Facebookdaten (Name, Fotos, Likes, Infos) sein Profil feintunen und sofort loslegen. Die App nutzt die eigene Location und schlägt potentielle Partner_innen mit Bild in der Nähe vor und sagt, wie weit sie entfernt sind. Ist man interessiert swiped man das vorgeschlagene Profil nach rechts („like“), wenn man nicht überzeugt ist nach links („nope“). Wenn man es genauer wissen will, tippt man drauf, schaut sich die Detailinformationen an (weitere Bilder, Profiltext, gemeinsame Bekannte und gemeinsame Facebook-Likes). Auf diese Weise kann man binnen weniger Minuten zig individuelle hot-or-not Entscheidungen treffen.
Ziel ist es natürlich, dass man Matches erziehlt. Also eine/r der potentiellen Partner_innen, die man geliked hat, hat einen ebenfalls geliked. Erst wenn ein solcher Match zustande kommt, kann man Messages austauschen.
Kommen wir zu der Anonymitätsfrage: Wenn man sein Profil anlegt, kann man die Fotos aussuchen. Einige nehmen dann Fotos, auf denen sie schwer zu identifizieren sind. Bei der Namenswahl schlägt Tinder standardmäßig den Vornamen vor. Man kann den aber beliebig ändern. Jedenfalls bekommt man ein gewisses Gefühl von Kontrolle vermittelt, wie anonym oder identifizierbar man sich dort darstellen will. Dieses Gefühl ist aber ein Trugschluss.
Dazu ein paar Beispiele:
Szenario 1: Ich finde eine Frau, mit der ich einen gemeinsamen Bekannten habe. Wenn dem so ist und der gemeinsame Bekannte ebenfalls Tinder nutzt, wird er mir unter ihrem Profil angezeigt. Das kommt nicht ständig, aber ab und an doch vor. (Ein wirklich sinnvolles Feature. Wenn es gemeinsame Bekannte gibt, ist die Hürde für den Kontakt gefühlt niedriger). Sagen wir außerdem, sie ist mit ihrem Vornamen „Klaudia“ bei Tinder angemeldet (die meisten nutzen ihren Vornamen weil das auch so voreingestellt ist) und der gemeinsame Bekannte heißt „Peter Grünschnabel“. Jetzt kann ich dank Facebook Graph Search folgende Query formulieren:
Peter Grünschnabel's friends named "Klaudia"
Es wird nicht lange dauern, bis ich sie in den Kontakten von Peter gefunden habe. Und anhand der Bilder (die alle von Facebook kommen), kann ich sie auch dann noch identifizieren, wenn Peter 50 Klaudias kennt.
Wer jetzt aber glaubt: Gut, dann ändere ich einfach meinen Profilnamen und bin wieder anonym, den muss ich enttäuschen.
Szenario 2: Das selbe Szenario, allerdings hat Klaudia ihren Profilnamen in „Seestern“ umbenannt. Gut, „brute force“ kann man jetzt einfach alle Kontakte von Peter durch klicken bis man vielleicht eines der Fotos wiedererkennt. Die Chancen dafür sind hoch, die Arbeit aber auch. Einfacher ist es, wenn man noch ein paar Zusatzinfos verbaut.
Zum Beispiel weiß ich ja, dass die Person weiblich ist (1. Eingrenzung) und in Berlin wohnt (2. Eingrenzung). Da bleiben immer noch ne Menge übrig. Aber Tinder gibt mir weitere Hinweise. Wenn ich zum Beispiel Facebook-Likes mit der Person gemeinsam habe, werden die mir ebenfalls im Profil angezeigt (Kommt sehr häufig vor). Sagen wir, wir liken beide die Page von ZEIT Online. Meine Query würde also lauten:
Peter Grünschnabel's female friends who like ZEIT ONLINE and live in Berlin, Germany
Das ist schon ziemlich eindeutig.
Szenario 3: Gut, dass man eine/n gemeinsamen Bekannte/n hat, ist zwar nicht selten, aber dennoch kommt es nicht andauernd vor. Eher normal ist es aber, wenn man gemeinsame Interessen, ausgedrückt durch Facebook-Likes hat. Meine Beobachtung ist, dass ich mit über 50% der Leute mindestens einen Like, öfters auch mal zwei und mehr Likes gemeinsam habe.
Wenn man also einen Namen hat (Klaudia) und einen gemeinsamen Like, sagen wir Zeit Online, kann man folgende Query formulieren:
Women named "Klaudia" who like Zeit Online and who live in Berlin, Germany
Die Wahrscheinlichkeit ist nicht gering, dass man die Nutzerin schnell findet.
Szenario 4: Gut, höchste Schwierigkeitsstufe: Klaudia hat keinen richtigen Namen angegeben („Seestern“) und wir haben keine gemeinsamen Bekannten. Aber! Wir haben ein paar gemeinsame Likes. (Dieser Fall kommt sehr häufig vor)
Hier erfährt man die Macht der verknüpften Daten. Ein einzelner Like kann die Suche nicht sinnvoll eingrenzen, aber zwei machen die Sache schon spannend:
Women who like Zeit Online and who like Spreeblick and who live in Berlin, Germany
Ziemlich sicher wird man die Person finden. Noch konkreter wird es, wenn man 3 Likes verwendet und natürlich je nieschenhafter die gelikedten Pages sind (Spreeblick matched enger als Spiegel Online).
Fazit: Auf Tinder ist man nicht anonym. Nicht jeder kann einen sofort identifizieren, aber sehr viele können. Vor allem hat man keinerlei sinnvolle Kontrolle, wer das kann und wer nicht.
Ich schreibe das nicht, weil ich das jetzt total schlimm finde und deswegen raten würde, Tinder nicht zu nutzen. Auf Tinder ist man Post-Privacy. Ich bin bekannt, als einer dessen Apologeten. Aber für mich gehört bei Post-Privacy umbedingt dazu, dass den Leuten das auch bewusst ist. Die Post-Privacy Bewegung ist keine Bewegung, die die Leute nackt machen will, sondern auf ihre Nacktheit aufmerksam machen will.
Was ebenfalls mit Post-Privacy einhergeht, ist aber auch eine gewisses Maß an sozialer Kontrolle. Dass man Menschen vor allem anhand gemeinsamer Bekannter sehr gut denaonymisieren kann, geht einher mit dem Umstand, dass so ein gemeinsamer Bekannter auch disziplinierend wirkt. So gleicht sich die Stalkinggefahr vielleicht wieder etwas aus.
Ein Tipp: Wer Tinder anonym nutzen will, sollte sich ein Fake-Facebookprofil nur für Tinder anlegen. Man verzichtet so aber natürlich wie immer auf den Mehrwert der Informationen, die das Matching erleichtern. Wie immer ein Trade Off.
Ich finde das Tinder-Konzept jedenfalls nach wie vor toll und werde es auch weiterhin nutzen.
Auch: Facebook Graph Search ist das Big Data der kleinen Leute.
anmerkung:
so lese er die datenschutzbestimmungen
tinders geschäftsmodell (s.o.) analytics und profiling
dont get me wrong. bin kein privacy heimacheisser aber sowas macht sich immer super bei aufklärungsaspekten
versteh mich nicht falsch. es geht mir hier nicht um datenschutz im sinne „oh gott, meine daten werden analysiert und liegen auf amerikanischen (!) servern“. es geht hier um die erwartungshaltungen von anonymität. das ist etwas ganz anderes.
türlich. war eher als ergänzung gedacht. tausche daten gegen spielspass und kontakte. einfacher deal. funzt bei dem facebook ja genauso
Die Personen kann man aber nur über die Graph Search finden wenn die Personen die Likes öffentlich haben.
Das ist richtig. All die vielen Implikationen, wenn die Leute ihre Likes, Freunde und/oder Bilder mit irgendwelchen privacyeinstellungen versehen habe ich mal außen vor gelassen, weil das dann wirklich komplex wird.
„Was ebenfalls mit Post-Privacy einhergeht, ist aber auch eine gewisses Maß an sozialer Kontrolle“
Mit ganz viel Post-Privacy hat man dann aber auch ganz viel soziale Kontrolle. Wie aufm Dorf, wäre ein Rückschritt.