Und da sind sie wieder, die Jugendlichen, voller Zorn und Hoffnung und dem Antrieb die Gesellschaft zu verändern. Alles ist wie damals am Tahrir Platz. Menschen, die für mehr Freiheit kämpfen, mehr Mitbestimmung. Menschen, mit denen ich mich identifizieren kann: interessiert, aufgeschlossen, gebildet nur eben in einem Land, dass sie nicht lässt, dass sie unterdrückt. Menschen auch, die mir Respekt einflößen mit ihrem Mut, die ihre Existenz und ihre Zukunft auf diesen Kampf verwetten, die ihre körperliche Unversehrtheit in die Waagschale werfen für Selbstverständlichkeiten.
Doch nun sitz ich da, ich versuche zu verstehen, ich will mich solidarisieren, doch es macht mich betroffen. Weil ich weiß, dass Erdogan den Kampf bereits gewonnen hat. Erdogan ist, im Gegensatz zu Mubarak, demokratisch gewählt. Es gibt nicht mal leise Zweifel an seiner demokratischen Legitimität. Und nichts was da passiert und was uns erzürnt und erbost, wird wesentlich an seiner Mehrheit ruckeln.
Nach Mubarak kam nicht die Demokratie, sondern die nächsten Despoten. Diesmal religiöse und sie sind wie Erdogan zweifelsfrei demokratisch legitimiert. Wie damals schon im Iran. Die Revolution fing ähnlich an, junge, aufgeschlossene Leute wollten mehr Freiheit und Mitbestimmung. Sie stürzten den Schah und Khomeini kidnappte anschließend die Revolution. Übrigens auch alles quasidemokratisch. Bis heute.
Die Leute auf dem Taksim-Platz kämpfen nicht gegen Erdogan, sondern gegen die konservative Mehrheitsgesellschaft ihres Landes. Deswegen hatten sie bereits verloren, bevor sie überhaupt angefangen haben.
Die Diskrepanzen zwischen einem jungen Mädchen aus der Uni in Istanbul und den sich noch in Klans organisierenden Familien in Ostanatolien sind enorm.
Das ist nicht nur ein arabisches oder türkisches Problem. In den USA erkennt man ähnliche Differenzen, dort zwischen progressiven (eher städtischen) Küstengebieten und dem tief religiösen, sehr konservativen Inland. Und auch ich fühle mich oft als zwangsvergemeinschaftetes Opfer einer viel zu konservativen Mehrheitsgesellschaft.
Und dann denke ich, vielleicht ist genau das das Problem. Dass man uns nach geographischer Herkunft zusammenpfercht in diese abstrakten Gebilde namens „Nationen“. Mit den Jugendlichen von Taksim und Tahrir verbindet mich so viel mehr, als dem treckerfahrenden Oberammergauer. Warum muss ich unter einer Regierung leben, die Leute wie er durch unreflektiertes CSU-Wählen legitimieren? Warum kann ich nicht lieber mit den anderen aufgeschlossenen Menschen auf der Welt eine neue, bessere Gesellschaft bauen. Ohne die Betonköpfe?
Ein bisschen geschieht das bereits. Dadurch, dass alle tendenziell aufgeschlosseneren, tendenziell jüngeren, tendenziell progressiveren in die Städte ziehen ergibt sich eine Auslese. Eine Konzentration von Offenheit, Toleranz, Progressivität und, ja, Bildung. Aber auch die Städte stehen unter der Knute der Nationalstaaten. Warum eigentlich?
Vielleicht wird es wieder Zeit, über freie Stadtstaaten nachzudenken.
PS: Und ja, ich weiß selbst, dass das alles furchtbar elitär ist. Während andere die Bezugsrahmen der Demokratie am liebsten noch ausbauen würden, würde ich gerne weniger Demokratie wagen. Jaja, steinigt mich.
PPS: Und ja, resignativ, fatalistisch ist es auch. Ich weiß. Ist auch irgendwie die Grundstimmmung. Oder glaubt ersthaft jemand, dass die Aufdeckung von Prism irgendetwas bewirken wird? Wird das Hyperventilieren aller Orten zu irgendwelchen Konsequenzen führen? Politisch oder individuell? Ich denke nicht, dass es da irgendwelche Anzeichen für gibt. Und zwar nicht, weil die bösen, bösen Mächtigen das so wollen, sondern weil es hier wie dort keine Mehrheit dafür gibt! (Klar gibt es eine Mehrheit in Deutschland den USA das schnüffeln zu verbieten, so wie es in den USA sicher eine Mehrheit dafür gibt, allen anderen als sich selbst das Schnüffeln zu verbieten. Aber selbst die Schnüffelei einstellen? Wo doch die Terroristen uns bedrohen?!? Auf keinen Fall!) Unser System mag dumm und ungerecht sein. Aber undemokratisch ist es nicht.
PPPS: Und ja, das ist alles furchtbar unoriginell. Dass hat schon euer Opa in der Weimarer Republik gedacht und so. Aber mich beschäftigt das eben, deswegen musste das mal raus.
für mich ist das relativ frisch.
vielen dank.
ich geh noch ein stück weiter. echte subsidiarität wie du sie forderst kann, wenn mans zu ende denkt eigentlich nicht geographisch organisiert sein. umziehen zu müssen um eine gruppe von leuten zu finden mit denen man zusammenleben kann is schon ziemlich aufwändig (und ja bereits jetzt möglich [die auswahl an coolen staaten is allerdings recht miserabel]). zumindest was das recht im immateriellen raum „internet“ betrifft könnte ich mir theoretisch auch mehrere parallele staatsähnliche gebilde auf dem gleichen territorium vorstellen. manche mögen ein unfreies internet, manche ein freies. warum nicht die möglichkeit schaffen sich für eine virtuelle weltstaatsbürgerschaft in einer von vielen verschiedenen virtuellen weltstaaten zu bewerben? klingt gspinnert und isses auch. aber ich fänd’s geil 🙂
Naja, zu behaupten, das im Iran sei eine richtige Demokratie und daraus zu folgern, dass Demokratie nicht so super ist, ist dann aber auch knapp an der Wahrheit vorbei. Knapp die Hälfte der relevanten Staatsorgane und die Hälfte des allherschenden Wächterrates sind eben nicht demokratisch legitimiert.
Ansonsten kann ich deine Probleme gut nachvollziehen, Demokratie ist nett, aber die Mehrheit die diese abbildet eher gruselig. Das mit den Stadtstaaten fände ich allerdings nicht so dufte, ich bin nämlich auf dem Land groß geworden, und ja, mein konservatives Umfeld hat euch Städtern den Nationalstaat versauert, aber gleichzeitig habt ihr mein Umfeld etwas bunter und toleranter gemacht, da wir eben von der selben Regierung regiert wurden und ähnliche positive Effekte hat es ja auch schon auf europäischer Ebene gegeben.
Aber klar, dass ist selbstloser Idealismus. Denn kann man haben, muss man aber nicht, wenn man bereits unter den Jungen, Toleranten und Gebildeten lebt.
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Ich fürchte, dass die Gemeinsamkeit des Kampfes gegen eine konservative Mehrheitsgesellschaft nicht ausreicht, um tatsächlich eine Gemeinschft gleicher Idealisten zu bilden.
Der Gedanke der weltumspannenden Wertegemeinschft, der sich dahinter verbirgt, scheint mir eine romantische Illusion, wenn auch eine symphatische.
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Mitbestimmung
Dein Beitrag bringt mich schier zur Verzweiflung. Die Menschen auf dem Tahir rufen nach Teilhabe, Respekt und Würde. Mittel dazu sind Freiheit für Wort und Schrift, Gleichheit vor dem Gesetz und ein sozialer Staat, der nicht bevormundet. Das wird ihnen verwehrt. Deshalb gehen sie auf die Straße.
Hierzulande hört man nur noch „Mitbestimmung“.
Wie ich diesen Begriff hasse! Mitbestimmung ist das antidemokratische Virus unserer Gesellschaft. Mitbestimmung ist die Vortäuschung einer Beteiligung, das Ergebnis einer jahrelangen Erosion demokratischer Gundrechte in Europa. Es ist der Gipfel einer Parlamentsfolklore bei der der Souverän nicht mehr entscheidet sondern nur noch mitreden darf.
Im Haus Europa dürfen seine Bewohner nicht mehr über ihr eigenes Schicksal entscheiden, denn über 80 % der Gesetze in Europa werden nicht von den nationalen, demokratisch gewählten Parlamenten beschlossen, sondern von der EU. Dabei werden die meisten Vorschriften per Verordnung der Europäischen Kommission ohne jegliche parlamentarische Kontrolle, ohne öffentlicher Debatten ohne einer Zustimmung der souveränen Staaten durchgesetzt.
Was der Kommission nicht einfällt, erledigt der Europäische Rat. Dirt erheben sich gewählte Vertreter unter Umgehung nationaler Parlamente und unter Missachtung der verfassungsmäßigen Gewaltenteilung zur Legislative und verhandeln hinter geschlossenen Türen über unsere Köpfe hinweg.
Das EU-Parlament ist eine Farce. Das Verfassungsgericht erkennt es noch nicht mal als Volksvertretung an, weshalb es die 5% Hürde aufhob. Die Leute dürfen Mitbestimmen, also zarte Einwände erheben und haben das Recht angehört zu werden. Mehr nicht! Das ist die Quintessenz des Lissabonner Vertrages.
Abgeordnete im Bundestag, unsere gewählten Vertreter, finden sich damit ab, nur noch über die Brocken entscheiden zu dürfen, die Brüssel ihnen vorwirft. Die sind inzwischen so Gehirgewaschen, dass sie sogar stolz darauf sind, nicht mehr ihr Volk zu vertreten sondern mitbestimmen zu dürfen.
Du willst Solidarität üben? Bitte sehr!
Kämpfe dafür, dass Europa demokratisch wird. Kämpfe dafür, dass die Brüsseler Bürokratie in ihre Schranken gewiesen wird. Helfe der Organisation „Mehr Demokratie“ bei der Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung – vom Volk für das Volk. Unterstütze die newropeans bei ihrem Kampf ein Vereinigtes Euroland mit einem ordentlich gewählten Parlament und einer demokratisch gewählten Regierung.
Kämpfe für echte Teilhabe, damit deine Stimme und die des Bauern wieder einen Wert hat, für einen europäischen Sozialstaat, der den Menschen ihre Würde zurück gibt, für einen Staat, der seine Bürger schützt und nicht kriminalisiert, für einen Staat, der die Freiheit nicht mit Sicherheit erdrosselt.
Solidarisiere dich mit den Menschen, die hier vor Ort etwas bewegen wollen, die sich mit Mitbestimmung nicht abspeisen lassen, die auch 24 Jahre nach dem Mauerfall wissen, wer das Volk ist.
Damit hilfst du auch anderen. Denn nur ein wirklich demokratisches Europa kann Vorbild für andere Regionen sein, Ansporn Oppositioneller in ihrer mühsamen Arbeit und Mahnung für Herschende, es besser zu machen.
Die Resignation, die aus deinem Beitrag herausschallt, ist der Nährboden für einen bevormundenden Beamtenstaat. Diesem Gefühl der Ohnmacht dürfen wir uns niemals hingeben. Den dann haben die Feinde von Freiheit und Demokratie schon gewonnen…
In der Tuerkei ist der Konservatismus und die Religioesitaet nur bedingt das Problem. Das Hauptproblem ist die mangelnde Bildung und die grosse Spaltung der Gesellschaft.
Die kemalistische Elite hat es ueber Jahrzehnte geschafft, einen saekularen Staat zu schaffen, der in Sachen Trennung von Religion und Staat Deutschland weit voraus ist. Sie haben es auch geschafft, gut funktionierende und hoch subventionierte Kulturinstitutionen zu schaffen – Universitaeten, Opernhaeuser, Musikfestivals, etc. Was sie allerdings nie geschafft haben, ist die Mehrheit der Menschen mitzunehmen.
Die Leute, die Erdogan waehlen, gehen in der Regel nicht in die Oper, sind aber auch nicht unbedingt alle religioes und konservativ. Gerade in Erdogans Lieblingsstadt Istanbul ist viel Frust dabei, und der Junge aus dem Ghetto, der es nach ganz oben geschafft hat, fasziniert die Massen.
Die Klassengesellschaft ist durchaus mit England zu vergleichen – nur dass die Mittelschicht weitaus kleiner ist. Alleine schon die Sprache und Gestik der Menschen ist voellig unterschiedlich. Der typische Kemalist ist sehr formell und hoeflich, Erdogan poltert und flucht bei seinen Reden wie ein ungehobelter Strassenhaendler. Und es ist, noch extremer als in England, unmoeglich, durch die Glasdecke zu brechen. Der kleine Junge, der beim Friseur die Handtuecher reicht, wird niemals an eine Universitaet gehen oder ein Opernhaus besuchen. Er wird irgendwann mal selber Friseur und das wars. Bei der Landbevoelkerung sieht es nicht anders aus. Das so jemand irgendwann frustriert darueber ist, das ihn ein Teil der Gesellschaft als rueckstaendig ansieht, ist nicht unverstaendlich.
Dazu kommt, dass Erdogan sich in den letzten 10 Jahren eine neue Elite geschaffen hat. Oftmals stockkonservative Kleingeister, die vom Wirtschaftswachstum profitiert haben, und jetzt mit Ferraris im Istanbuler Verkehr feststecken. Auch auf diese Leute guckt der Kemalist (nicht zu unrecht) herab. Das ist der andere Teil seiner Waehlerschaft.
Das Spiel, dass die EU seit den 60er Jahren mit der Tuerkei spielt („Wir wollen euch als Mitglied, aber nicht gerade jetzt“), die tuerkeifeindlichen Wahlkampagnen von Sarkozy und Merkel (man merkt in der Tuerkei auch, dass die Worte „privilegierte Partnerschaft“ gerne im Wahlkampf benutzt werden) und die generelle Behandlung von Gastarbeitern als Menschen zweiter Klasse (ich war in der Tuerkei als das Sarazzin-Buch herauskam und musste die haessliche Hackfresse staendig in jeder tuerkischen Zeitung oder Nachrichtensendung sehen) haben zur Frustration beigetragen. Die ganze Zeit haben Kemalisten den Weg in den Westen gepredigt und versucht, die Identitaet der Tuerkei als westlich zu definieren. Der Westen sagt aber eindeutig: „Super, dass ihr euch veraendert habt, aber ihr werdet nie dazu gehoeren“. Daher ist es nicht unverstaendlich, dass Erdogans „Wir koennen auch anders!“ bei Frustrierten gut ankommt (Poebeln gegen Israel, im Mittleren Osten auf dicke Hose machen, den grossen Palestinaenserfreund spielen und so weiter).
Also – „Weniger Demokratie wagen“ koennte fuer eine solche Gesellschaft vielleicht nicht der voellig falsche Weg sein, aber wir – die EU – muessen helfen und es muss mit „Mehr Bildung wagen“ und „Chancengleichheit erreichen“ verbunden sein. Dann kann man irgendwann auch wieder „Mehr Demokratie wagen“.
In Deutschland war es ja auch nicht ganz anders – das Grundgesetz ist sehr restriktiv, die Alliierten haben in den ersten Jahrzehnten zweimal hingeschaut, und nur die Verbindung aus Wirtschaftswunder in den 50ern und sozialdemokratischer Bildungsoffensive in den 70ern hat aus den Deutschen Demokraten gemacht (auf keinen Fall perfekte Demokraten, aber doch, wie ich finde, durchaus bessere als in vielen vergleichbaren Staaten).