Ich weiß, ich soll mich nicht aufregen. Aber ich hasse es, wenn Leute sich über Themen ereifern, die sie ganz offensichtlich nicht kapiert haben. Aber ich will jetzt nicht rumbashen, das überlasse ich denen.
Wen ich meine? Christian Köllerer.
Versteht mich nicht falsch. Es ist nicht schlimm, wenn jemand etwas nicht versteht. Ich selber verstehe vieles nicht und stehe ganz offen dazu. Und auch gerade bei dem Thema „Dekonstruktion“, das Köllerer hier und hier und hier (via) versucht nieder zu schimpfen, habe ich persönlich viel mehr nicht verstanden, als ich bisher verstanden habe. Aber es geht. Ja es geht tatsächlich, man kann Dekonstruktion verstehen. (Wenn man davon absieht, dass man „Verstehen“ eigentlich ein Begriff ist, den man in der Dekonstruktion vermeiden sollte)
Und hier sind wir an einem wichtigen Punkt, der das Verständnis so schwer macht. Ich nenne es mal die Tücke des Begriffs. Um das zu erklären hole ich ein wenig weiter aus:
Dekonstruktion ist schwer zu verstehen, aber nicht weil sie so kompliziert wäre. Auch nicht weil sie eine logisch-theoretische Meisterleistung wäre, sondern weil sie die Sprache selbst –kritisch – als Thema hat. Weil das so ist, muss sie Begriffen misstrauen und kommt deshalb nicht umhin diesen teils auszuweichen, teils sie in Frage zustellen, teils ihren Sinn zu verschieben oder sie umzudeuten. Je nach dem. Anders als Köllerer behauptet, ist die Dekonstruktion deshalb auch keine „Theorie“ sondern eine Praxis.
Nun, warum sollte man Begriffen misstrauen? (Und, Somlu, das ist auch gleich eine Antwort auf deine Bitte, meine Entgegnung auf deinen Kommentar zu erklären – sorry, dass das so lange gedauert hat)
Begriffe sind nicht nur einfach „leere“ Worte, so wie Namen – anders als Goethe sagte – auch kein Schall und Rauch sind. Dass das die Philosophen alter Schule und auch die Analytiker von drüben auch wissen, ist mir klar. Es gibt deshalb auch das Konzept, dass man sagt, Worte haben eine „Bedeutung“. Saussure zum Beispiel, benannte diese Zweiteilung von Wirt und Bedeutung mit „Signifikat“ und „Signifikant“. Das ist nicht einfach nur eine billige Erkenntnis, sondern es ist großer und wichtiger Konsens unter allen Sprechenden, dass Worte eine Bedeutung haben, sonst – so könnte man meinen- würde Sprache ja auch nicht funktionieren.
Wenn die Dekonstruktion jetzt den Worten misstraut, misstraut sie dann ihren Bedeutungen? Ja und Nein. Denn hier wird’s kriminell: Die Dekonstruktion misstraut nämlich unter anderem und vor allem dem Begriff und dem Konzept der „Bedeutung“. Sie fragt also: „Was bedeutet Bedeutung“?
Das kann sie aber ja nun leider nicht fragen, wenn sie „Bedeutung“ gleichzeitig hinterfragen will. Man merkt, man braucht das Konzept der „Bedeutung“ wenn man „Bedeutung“ definieren will. Und auch wenn man andere Worte zu rate zieht, wie „Signifikat“, „Sinn“, „Idee“, „Inhalt der Rede“ etc, man entkommt dem Konzept der Bedeutung nicht. Bedeutung ist sozusagen unhinterfragbar, ein faktisches Dogma, ein logisches Dogma. Oder ein Dogma des Logos?
Und hier setzt die Dekonstruktion an: Wie ist das zu rechtfertigen? Keiner hat sie je gesehen, gerochen oder geschmeckt, niemand hat sie jemals gemessen oder sie irgendwie nachgewiesen. Wie kann man so ein Dogma unhinterfragt einfach so im Raum stehen lassen?
Dass so ein ketzerisches Aufrühren die Philosophie auf den Kopf stellt, braucht man wohl nicht weiter zu erläutern. Es ist nichts anderes als das Infragestellen des „Sinns“ an sich.
Nun hatte aber schon der gute Saussure festgestellt: Einen „Sinn“ in der Sprache gibt es nicht. Keinen natürlichen, jedenfalls. Die Buchstaben und Worte mit denen wir operieren, haben keinen Sinn an sich, sondern man hat sich auf einen „geeinigt“. Saussure nennt es auch den „Sprachvertrag“. Wenn aber Bedeutung also rein künstlich ist, eine reine Festlegung, dann hat man auch die Freiheit, die man benötigt „Bedeutungen“ untersuchen zu können und zwar in der Weise, indem man diesen „Vertrag“ selber untersucht. Anstatt also Bedeutungen einfach nur festzustellen und zu verifizieren (das tut die Hermeneutik), kann man das Zustandekommen des Vertrages selber untersuchen, denn jeder Vertrag hat eine Geschichte (eine unendliche, bei fast jedem Wort), warum er so und nicht anders zustande gekommen ist. Und diese Verträge also, so könnte man vereinfacht sagen, sind der Untersuchungsgegenstand der Dekonstruktion.
Diese Verträge enthalten, wie alle Verträge, seitenweise Kleingedrucktes, was schnell übersehen wird. Anstatt also diese Sprachverträge allzu vorschnell zu unterschreiben (und das tut man implizit, wenn man so Worte wie „Bedeutung“ unhinterfragt für sich übernimmt) sollte man vorsichtiger sein und sich dem Kleingedruckten zuwenden. Und wenn man das tut, erlebt man einige Überraschungen. Denn ein Wort „Bedeutung“ impliziert in seinem Kleingedruckten den ganzen Diskurs der abendländischen Philosophie, von der Antike bis heute. Von Platons Ideenlehre, über Descartes cartesianischem „Ich denke also bin ich“ bis hin zu Husserls Phänomenologie. Überall dort nämlich, bekommt man die klassische Zweiteilung des Zeichens serviert: Hier die frei schwebende, immaterielle Idee, dort das sie verkörpernde materielle Wort. Es ist wie ein Komplott.
Nun ist Derrida, dem Begründer der Dekonstruktion, etwas eher beiläufig zu nennendes aufgefallen: Diejenigen, die sich stets für diese Zweiteilung eingesetzt haben, haben eine gewisse, ja man könnte sagen, Affinität zum gesprochenen Wort, gegenüber der Schrift. Bei Platon ist das im Phaedros klar artikuliert, bei Roussau findet man das in seinen sprachtheoretischen Schriften ebenso und Saussure schließt einfach mal eben die Schrift aus dem Bereich der Linguistik komplett aus und reserviert sie nur für das gesprochene Wort. Es gibt dafür weitere Beispiele. Derrida versucht nun aufzuzeigen, wie sich diese Präferenz aus einem Denksystem zwangsläufig ergeben muss, dass unbedingt an Dingen festhalten will, die an so Worten wie „Bedeutung“, „Sinn“ usw festgeklammert sind. Denn um diese Begriffe zu denken, braucht man nämlich wiederum Worte wie „Geist“, „Bewusstsein“, und der gleichen. Und in verdächtiger Analogie, reproduzieren diese Begriffe Geist/Körper genau diese Zweiteilung zwischen Idee/Zeichen. Die eine Zweiteilung ist ohne die andere gar nicht zu denken. Der Vertrag basiert also auf einem anderen Vertag. Und Derrida zeigt weiter, dass dieser Vertrag „Geist/Körper“ wiederum auf anderen Verträgen beruht, und dass all diese Verträge sich gegenseitig rechtfertigen und stützen. Es ist eine ganze Mafia von Tarn- und Briefkastenfirmen, die wie russische Puppen ineinander geschachtelt ein Netz aus Seilschaften aufrechterhalten, das konstruiert wurde, um ein kohärentes Bild von etwas zu illusionieren, was es nie gegeben hat: Das Sein.
Das Sein ist ein Konstrukt. Das Sein hat es nie gegeben. Das Sein ist ein Mythos. Heidegger hat sich in diesem alles letztendlich begründenden Begriff verloren. Es ist der Begriff des Begründens selbst. Warum? Weil das eben so ist.
Das Sein ist der letzte Grund, es ist der Grund des Grundes und der Grund des Begründens. Geist ist Sein. Bewusstsein ist Sein. Idee ist Sein. Sprechen ist Sein. Deskartes murmelte „Ich denke, also bin ich“. Er meine vielleicht: „Ich bin hier, bei mir, ganz allein und ich kann zu mir sagen: „Ich denke, also bin ich““ was nichts anderes meint als: „Ich denke, also höre ich mich selber sprechen“. „Ich höre mich in dem Moment sprechen, in dem ich spreche, also bin ich ganz bei mir selbst.“ Was man wiederum übersetzen könnte mit: „Ich bin hier und keiner kann mich hören, nur ich mich. Keiner kann meine Existenz bezeugen, aber ich kann es, denn ich höre mich sprechen.“ Dieses Gefühl des Ganz-bei-sich-seins durch das Sprechen, das Sich-äußern ohne etwas zu materielles oder lesbares zu hinterlassen und die Selbstaffektion durch das Sich-sprechen-hören ist das absolute Gefühl der Gegenwart schlechthin. Es ist die Stimme, das Medium, das sich selbst auslöscht, das – scheinbar – keine Spuren hinterlässt. Wenn ich etwas zu jemandem Sage, dann ist das, ob ich will oder nicht, reproduzierbar. Es ist eine Quasischrift, weil es wiederholbar ist. Genauso, wie wenn ich etwas schreibe.
Wenn ich es hingegen nur zu mir sage, dann ist es nur bei mir, ich hinterlasse keine Spuren, ich bin ganz für mich selbst. Und nur dann. Nur das innere Sprechen kann mir das bieten.
Denn die Spur, wenn ich sie sehe, rieche, schmecke – meine Spur – ist immer ein Zeugnis der Vergangenheit. Es ist eine Hinterlassenschaft, eine Erbschaft, eine Gruft. Es ist Zeugnis einer Vergangeheit, eines der Vergänglichkeit, des Todes. Immer!
Ich kann in einer Spur niemals bei mir sein, denn es ist immer schon mein vergangenes Ego, was diese Spur hinterlassen hat. Ich bin, heißt also immer: Ich bin gegenwärtig. Ich habe eine Idee, heißt also, ich spreche nur zu mir, ohne eine Spur zu hinterlassen. Egal ob ich meine Zunge dabei bewege oder nicht. Das Sein (die Idee, die Bedeutung, der Geist, das Bewusstsein) kann außerhalb dieser absolut gesetzten Gegenwärtigkeit nicht gedacht werden!
Dass diese Gegenwärtigkeit natürlich Humbug ist, kann man leicht feststellen. Alles braucht seine Zeit. Egal ob der Schall, der von den Stimmbändern um Ohr Zeit braucht, egal ob es elektrische Signale in der Großhirnrinde sind, die von einem Neuron ins andere feuern. Alles muss einen Weg zurücklegen, alles braucht seine Zeit. Alles was man sieht, denkt, fühlt ist nicht gegenwärtig, sondern immer schon vergangen.
Damit wären wir an dem Punkt angelangt, wo wir den Sprachvertrag um das Wort „Bedeutung“ weit genug umrissen haben und sein Zustandekommen in etwa erklären können.
Nun ist das ja aber keine Widerlegung, könnte man hier einwenden.
Das ist sicher richtig. Aber anders gefragt: Wie kann man Idee, Geist, Intention, Bedeutung etc. widerlegen? Oder noch anders: Wie kann man sie beweisen? Es verhält sich genauso wie mit Gott oder jeglicher anderen Metaphysik: Man kann sie nicht widerlegen. Man kann sie aber auch nicht beweisen. Man kann aber erklären, wie die Menschen auf die Idee gekommen sein könnten, Gott zu erfinden. – Und man kann alternative Erklärungskonzepte anbieten, wie die Dinge, die früher durch Gott erklärt wurden, heute anders erklärbar sind:
Bei Derrida leisten das die Konzepte der Differenz und der Wiederholung. Es ist eigentlich gar nicht so schwer. In der Sprache gibt es nur Verschiedenheiten, sagte schon Saussure. Das heißt, dass Zeichen (Buchstabe, Laut, Wort, Satz, Name etc.), um Zeichen sein zu können, von einander unterscheidbar sein müssen. Klar soweit. Aber diese Unterscheidbarkeit geht noch weiter. Denn Zeichen stehen immer in Beziehungen zu anderen Zeichen und sie haben, je nach ihrer Stellung innnerhalb der anderen Zeichen (dem Text) nicht einfach nur eine Bedeutung sondern viele verscheidene. Sie bekommen von vorhergehenden Zeichen (ihrem Kontext) „einen mitgegeben“. Und ebenso von ihren Nachfolgern. Ein „ab“ ist etwas anderes als eine „ac“ ist was anderes als ein „aber“, ist was anderes als ein „aber ich denke, also bin ich“ und dennoch ist ein „a“ ein „a“ und ein „aber“ ein „aber“. Die Differenzialität geht immer über die Identität des Zeichens hinaus. Sie konterkariert es und schafft so neue Zeichen und Zeichenfolgen und webt so ein komplexes Geflecht aus reinen Bewegungen, von einem Zeichen zum anderen. Man kann sagen die „Bedeutung“ verschiebt sich immer zu. „Bedeutung“ wäre also nichts anderes, als eine in diesen Verscheibungen vorläufige Unterscheidung. Aber was sich hier ganz kompliziert anhört, ist nichts anderes als das Lesen. Das ist quasi Punkt eins.
Derrida ergänzt hierzu: Um als Zeichen zu fungieren, müssen die Zeichen wiederholt werden können, und sie müssen wiederholt werden, um als Zeichen identifiziert werden zu können. Zeichen sind Zeichen in und durch ihren Gebrauch. Der Sprachvertrag, so könnte man sagen, ist kein einmalig festgelegtes Schriftstück, sondern er muss jedes Mal von neuem von den Sprechenden (und Schreibenden) neu ratifiziert werden. (Sprache ist performativ, jedesmal aufs neue)
Aber in dieser Wiederholung ist es wichtig, dass die Weiderholung eben nie eine „reine“ Wiederholung ist. Die Wiederholung ist immer verunreinigt, denn sie steht ja jedes Mal in einem anderen Kontext. Immer ist etwas vorher gesagt oder geschrieben, getan worden, etwas anderes, als beim vorherigen Mal. Das Zeichen bekommt so eine „andere“ Identität (Es ist etwas anderes, zu sagen „ich bin nicht schuld“, wenn ich es mit einem Messer in der Hand tue, als wenn ich es später vor Gericht wiederhole) und dennoch konstituiert sich gerade in dieser Differenz des Zeichens „Ich bin nicht schuld“ mit sich selbst seine Identität. Identität als Identifizierbarkeit. Dieses Paradox (oder in der Philosophie: „Aporie“) ist unhintergehbar. Nur indem ich ein Zeichen in anderem Kontext gebrauche, indem ich es auch anders gebrauche (anders ausspreche, anders ausschreibe) wird das Zeichen identifizierbar, also es selbst. Es ist es selbst, indem es niemals es selbst ist.
Das ist eigentlich alles. Mehr braucht es nicht, um das Phänomen der „Bedeutung“ anders zu erklären, indem man auf das Wort „Bedeutung“ verzichtet. „Bedeutung“ ist obsolet, weil man die Dinge besser erklären kann, schlüssiger vielleicht.
Nun ist auch das kein Beweis. Aber vielleicht gibt es keinen Beweis. Jedenfalls nicht außerhalb der Systeme, die nur mit „Sinn“, „Bewusstsein“, „Gegenwart“ und „Sein“ sich rechtfertigen können. Also genauso wenig wie „Bedeutung“. Ich kann daran glauben, genauso wenig und genauso so viel wie an die „Idee“, oder an „Gott“. Diese Entscheidung nimmt einem kein endgültiger Beweis ab, denn es gibt ihn nicht. Man muss schon selber entscheiden, man muss den Vertrag – irgendeinen Vertrag – ratifizieren, um sprechen zu können. Derrida hat sich entschieden die Verträge vorher genau zu prüfen. Das ist sein gutes Recht und unser aller Recht, welches wir nur allzu selten in Anspruch nehmen. Derrida muss dafür oft auf die allgemeingültigen Verträge verzichten. Das macht ihn bisweilen schwer zu lesen, birgt aber eine gewisse Originalität, die ich sehr schätze. Und, ich gebe zu, die ich teilweise ratifiziert habe, indem ich meine Signatur unter diesen Vertrag gesetzt habe. Ich habe meine Signatur gesetzt, indem ich Derrida wiederhole und zwar anders wiederhole. In einer anderen Situation, mit einem anderen Wissen, mit anderen Worten und mit anderen Beispielen als er es tut. Aber gerade dadurch steuere ich meinen Beitrag dazu bei, das Zeichen „Dekonstruktion“ – vielleicht nicht verstehbar – aber identifizierbar zu machen.
Der pragmatische Teufel fragt: Worin liegt exemplarisch die Bedeutung der Dekonstrukstion des Begriffes der Bedeutung? 😉
Nun, stell dir vor, du kannst das Denken aller Menschen determinieren.
Ist ja eigentlich gar nicht so krass, oder?
Tja, jedenfalls das tut die Sprache, und eben Begriffe wie „Bedeutung“.
So what? Ich glaube, was die anderen im Unterschied zu den Dekonstruktivisten ganz gut verstanden haben — oder vielleicht: wie sich die Dekonstruktivisten am liebsten missverstehen lassen –, ist, dass Sprache, Welt und Denken zwar nicht voneinander zu trennen sind, dass aber die Verwirrung über die Bedeutungen keine Verwirrung über die Welt zu sein braucht.
Die Schriftfixiertheit der Dekonstruktion ist eine Stärke, wenn sie von den Literaturwissenschaftlern gelesen wird. Und eine Schwäche, wenn sie ernsthaft Philosophie betreiben soll, also sagen soll, was ist :-). Und jeder Normalleser fragt sich, wie man ein dekonstruktivistisches Buch schreiben kann, wenn die Sprache sich tatsächlich so verhält, wie die Dekonstruktivisten sagen.
Die Skrupel, die die Dekonstruktivisten haben, das Zeichen essentiell zu verstehen, rührt doch nur daher, dass sie das Zeichen überhaupt einer Essenz verdächtigen, gegen die sie dann angehen. (Aus meiner Perspektive macht es überhaupt keinen Sinn, von der „unterschiedlichen“ Identität von Zeichen zu reden.) Dass Performanz sowohl Wiederholung wie Veränderung ist, stimmt. Aber von welcher Warte aus könnte man wohl von „Verunreinigung“ sprechen?
„dass aber die Verwirrung über die Bedeutungen keine Verwirrung über die Welt zu sein braucht.„
hm: Welt? Welt ohne Bedeutung? Welt ohne Bedeutung ist keine Verwirrung? Jetzt bin ich aber verwirrt. Ich mein, was könnte verwirrender sein?
„Die Schriftfixiertheit der Dekonstruktion ist eine Stärke, wenn sie von den Literaturwissenschaftlern gelesen wird.„
Schon wieder so ein Vorurteil. Nur weil Derrida den Schriftbegriff gegenüber dem Sprachbegriff in der Grammatologie starkt macht hat, ist Dekonstruktion nicht Schriftfixiert.
1. Schrift heißt in der Grammatologie nicht einfach nur Schrift, sondern fungiert als sprachlicher Oberbegriff für jegliche „Spur“, „Marke“, „Markierung“, also jede menschliche und nicht-menschliche Äußerung. Ich hab kaum Anlaytiker getroffen oder gelesen, die das je kapiert haben. Dabei steht es Klipp und klar im Text. Also z.B. hier:
„„Wenn „Schrift“ Inschrift und vor allem dauerhafte Vereinbarung von Zeichen bedeutet (was den alleinigen, irreduziblen Kern des Schriftbegriffs ausmacht), dann deckt die Schrift im allgemeinen den gesamten Bereich der sprachlichen Zeichen.[…]“ GR 78
Können die Analytiker eigentlich nicht lesen?
2. Derrida macht den Begriff „Schrift“ nur stark um einen Ausgleich zu schaffen, weil er die Schrift als „unterdrückt“ beurteilt. Er bevorzugt also nicht die Schrift vor dem gesprochenen Wort, sondern stellt sie gleich. So wie wir in der Alltagssprache mit „Sprache“ im allgemeinen auch die Schrift subsummieren, subsummiert Derrida exemplarisch die „Sprache“ im Schriftbegriff, um zu zeigen, dass sich Sprache im allgemeinen auch von der Schrift her denken lässt. Ist doch gar nicht so schwer, oder?
„Und jeder Normalleser fragt sich, wie man ein dekonstruktivistisches Buch schreiben kann, wenn die Sprache sich tatsächlich so verhält, wie die Dekonstruktivisten sagen.„
Und der unvermeidliche Habermassche „Performative Widerspruch“.
Was soll das denn heißen? Was sagt denn die Dekonstruktion, wie sich die Sprache verhält? Soll das eine Unterstellung werden? Sagt sie etwa, die Sprache würde nicht funktionieren? Wenn ja, hab ich das überlesen. Ich bitte um Belege dafür.
Nur weil man sich von bestimmten Worten verabschiedet, wie eben „Bedeutung“, heißt das doch nicht, dass man sich vom Sprechen und Schreiben verabschieden sollte. Niemand hat je gesagt, „hört auf zu sprechen!“ Sprache funktioniert, sie funktioniert gut, sie funktioniert sogar noch viel weiter man es gemeinhin annimmt. Und deshalb sollte man vorsichtiger sein mit der Sprache. Das sagt die Dekonstruktion. Nix anderes.
Wie kommen die Leute denn darauf, dass die Dekonstruktion das funktionieren der Sprache bestreitet? Weil sie es nicht schaffen über ein Wort wie „Bedeutung“ hinaus zu denken? Ist es das? Dann würde ich das mal als Indiz dafür nehmen, dass Derrida vollkommen Recht hat.
„Aber von welcher Warte aus könnte man wohl von „Verunreinigung“ sprechen?“ Das ist ja der hintersinnige Witz bei dem Satzfragment: „immer schon verunreinigt“. Eine immer schon vorhandene „Verunreinigung“ hintergeht das Wort Verunreinigung, weil es eben genau die Warte, von der Sie da sprechen, unmöglich macht. Eine immer schon vorhandene Verunreinigung greift das Wort „Reinheit“ in seiner Wurzel an. Eine der rethorischen Hintersinnigkeiten der Dekonstruktion.
Ich bin auch verwirrt.
Das Wort „Bedeutung“ ist also fragwürdig, das, was Bedeutung ist, aber nicht? Nur die Bedeutung von „Bedeutung“ ist fragwürdig? Na, dann ist ja alles gut.
Schön, wenn hintersinnige Witze in Sätzen untergebracht sind. Schade, dass mir das nicht aufgefallen ist. Die Ironie bewahrt die Dekonstruktivisten also vorm Selbstwiderspruch? Ihre Verwendung des Wortes Verunreinigung beruht also auf seiner Unmöglichkeit? — Das ist doch ein Trick!
Was das Lesenkönnen angeht: Sie kommen nicht bis S. 78. Aber für sowas wie die Unterdrückung der Schrift wollen sie jedenfalls auch nicht verantwortlich sein.
Jetzt wirds noch verwirrender. Wo habe ich geschrieben, dass die Dekonstruktion, dem „Wesen“ der Bedeutung stattgibt? Indem ich gesagt habe, dass Sprache funktioniert?
Die Dekonstruktion sagt: Sprache funktioniert, und sie funktioniert auch ohne Bedeutung. Im Gegenteil: Das Wort „Bedeutung“ verhindert z.B. sprachliche Phänomene zu erklären, die essentiell für das Verständnis von Sprache sind. Die dekonstruktive Lesart würde z.B. das Missverstehen, das Zitat, die Lüge, den Widerspruch etc. in das Funktionieren der Sprache mit einschließen, was mit dem Begriff der „Bedeutung“ nicht ohne weitere Verrenkungen zu schaffen ist.
Ein Trick? Könnte man so nennen, wenn man will. Ein Trick, der die Abgründe Sprache zum Vorschein bringen will. Vielleicht besser: eine Inszenierung.
Ich denke eine zentrale Forderung der Dekonstruktion ist das Lesen. Das vollständige Lesen und das genaue Lesen. Die Dekonstruktion bestreitet eben das Verständnis vor dem Text, die Idee vor der Lektüre und die Bedeutung vor dem Zeichen. Vielleicht liegt hier die Unvereinbarkeit zwischen Analytikern und Anhängern der Dekonstruktion.
Da bin ich aber mal gespannt, welches Verständnis von „Missverständnis“ ein Dekonstruktivist anzubieten hätte. Weil, scheint mir, das doch der gleiche Fall wie „Verunreinigung“ ist.
Was das „Zitat“ angeht: Geschenkt: Zitate sind Widerholungen mit Differenzen. Aber was ist eine Lüge (auf dekonstruktivistisch)?
Zum „Missverständnis“
Das ist ja das, was ich mit „einschließen“ meine. Im Grunde wird durch diesen Einschluss eine Trennung von „Verständnis“ und „Missverständnis“ problematisch. Die Sprache kann, um funktionieren zu können, nicht zwischen Verständnis und Missverständnis unterscheiden. Und ja, es hat mit der Verunreinigung zu tun. Es ist die Verunreinigung des „Sinns“ noch vor seiner Reinheit.
Ebenso verhält es sich mit der Lüge. Auch die Lüge muss, wie jede Aussage zu allererst geglaubt werden. Ohne die Möglichkeit der Lüge, wäre sprechen völlig unmöglich.
Es ist einfach so, dass man diese Dinge nicht als negative Möglichkeit des „Scheiterns“ der Sprache abtun darf, sondern dass sie essentiell zum Funktionieren der Sprache dazugehören. Dass man Sprache eben nicht von den Dimensionen des „Sinns“, der „Wahrheit“ oder der richtigen oder falschen „Intention“ des Sprechenden her betrachten darf, sondern von der Möglichkeit überhaupt Zeichen – egal in welchem Zusammenhang – zu wiederholen.
All dies mündet schließlich in dem „Zitat“. Die Möglichkeit jedes Zeichen aus seinem Kontext zu reißen und anders wieder zu verwenden, ist die Grundlage der Sprache überhaupt. Und nicht, ob es „richtig“ oder „falsch“ verwendet wird, ob es in böswilliger oder ehrlicher Absicht getan wird oder ob man „meint“ was man sagt oder nicht.
Diese allgemeine Zitathaftigkeit jedes Sprechens, gewährleistet immer nur die Wiedererkennbarkeit der Zeichen, niemals aber den „Sinn“ oder die „Bedeutung“.
Das Phänomen würde ich vielleicht ähnlich beschreiben. Aber ich würde das nie im Leben „Zitathaftigkeit“ nennen. Denn ein Zitat ist etwas anderes: nicht die schlichte Wiederholung von irgendwas, sondern das absichtsvolle Aufrufen. Entsprechend ist es entweder irreführend oder trivial, von Zitathaftigkeit zu reden — und es ist genau die Art von Wortverwendung, die die Kopfschütteln und Missverständnisse zwischen Analytikern und Dekonstruktiven produziert. — Trotzdem Danke für das Erklären …
Das „absichtsvolle Aufrufen“ ist in meinen Zitatbegriff absurd. Schließlich schreibe ich lateinische Lettern, deustsche Sprache, ein dekontruktives Idiom, etc. Wenn man das Zitat als solches ernst nimmt, ist eben jede Äußerung ein Zitat. Wie könnte man da wohl von einer Intention des zitierens reden können. Man kann es trivial nennen. Aber diese Trivialität relativiert jede „Abicht“ und jede „Intention“ des Sprechens.
Deutlicher könnte man den Unterschied nicht aussprechen, als wir das zuletzt getan haben. Jetzt füge ich aber noch hinzu, oder wiederhole, dass mir *diese* Verwendung des Wortes Zitat ganz sinnlos vorkommt, gerade weil eben jede Sprachverwendung so zum Zitieren wird. Das heißt, alles, was ich über Zitieren sagen kann, muss ich über Sprachverwendung überhaupt sagen können. Ich sage aber lieber Dinge übers Zitieren, die nur auf das Zitieren (in einem engeren Sinne) zutreffen und nicht auf alles Sprechen, Schreiben etc. Übrigens ist die Feststellung derartiger Unterschiede typisch analytisch: Der Analytiker schaut nach:
„Wie hat jetzt eigentlich der MSPRO das Wort verwendet. Aha, er benutzt „zitieren“ deckungsgleich mit „sprachlich äußern“ (oder auch nur „äußern“, denn in diesen Zitatbegriff fallen natürlich alle kulturellen Praktiken). Ich benutze „zitieren“ anders. Also wollen wir gar nicht verschiedene Dinge über dasselbe Phänomen sagen, sondern benennen verschiedene Phänomene mit demselben Begriff.“ Dekonstruktivisten selbst stellen derlei nicht fest, sondern tun im Gegenteil so, als hätten sie etwas Neues über dasselbe Phänomen zu sagen, also würde also die Feststellung der „Zitathaftigkeit der Kultur“ irgendetwas weiterführendes über das Zitat sagen (das geht jetzt nicht gegen die trefflichen Erläuterungen oben, sondern beruht auf anderen Erfahrungen). Das führt, über längere Sicht, auf Seiten der Analytiker zur Erbitterung, weil er immer als dummer Junge resp. dummes Mädchen behandelt wird.
Ja, und genau das meine ich auch, ist eben die Schwierigkeit des Verständnisses der Dekonstruktion. Eben weil sie Begriffe hinterfragt und versucht anders auszuleuchten. Sie hinterfragt Begriffe und Unterscheidungen, indem sie sie sehr ernst nimmt.
Der Vorwurf an die Analytiker wäre also, dass sie die Sprache zu wenig ernst nehmen; sie, so wie sie ist, einfach hinnehmen und ihre Probleme darin beschreiben, als wäre sie ein externes Werkzeug, mit dem man seine (sprachunabhängigen) Gedanken ausdrücken könnte. Damit kann man sicherlich innerhalb der dadurch vorgegebenen Grenzen bestimmte Schlüsse ziehen, aber eben nur welche, die diese Grenzen nicht nur anerkennen, sondern sie weiterhin konstituieren.
Den Fokus darauf zu legen, was man sagt, wie man es sagt und auch was man zitiert, ist nicht leicht. Vor allem verlangt es die Bereitschaft ab, sich darauf einzulassen mit „beweglichen“ Worten zu hantieren, in denen ontologische „Definitionen“ nicht nur nicht legitim sind, sondern einen in einer falschen Sicherheit wiegen.
Wer diese Bereitschaft nicht aufbringt, dem wird die Dekonstruktion nichts erzählen können. Er wird darauf bestehen, dass die geltenden Sprachverträge doch bitte einzuhalten sind. Und wenn ihm andere Leute dann versichern, dass das was die Dekonstruktion macht, eben anders nicht ginge, wird er sich dumm vorkommen, weil seine Hermeneutik an dem Text scheitert. Aber weil er weiß, dass er nicht dumm ist, wird er verärgerte Texte über die Dekonstruktion schreiben, in denen er ihr begriffliche Inkonsistenz vorwirft und sie als reine Literaturwissenschaft abqualifiziert. (was sicherlich vor allem der anglo-amerikanischen Rezeptionsgeschichte der Dekonstruktion geschuldet ist)
Ich versichere aber, dass es nicht Dummheit ist, die vom Verständnis abhält (Ich halte mich nicht für besonders intelligent), sondern mangelnde Offenheit und vielleicht hier und da eine gewisse Denkfaulheit.
Und ich versichere, dass der Umgang mit der Sprache innerhalb der Dekonstruktion auch keine völlig abgefahrene, jenseits aller Vorstellung angesiedelte Methode ist, sondern dass wir eigentlich mit der Sprache immer so verfahren – auch die Analytiker. Zuschreibungen an Worte werden von uns andauernd verschoben und die Stabilität eines Begriffs war immer nur eingebildet. Der Unterschied ist nur, dass die Dekonstruktion das bewusst und gezielt vollzieht und damit in der Lage ist, diese Prozesse zu veranschaulichen.
Nachtrag um weitere (unvermeidliche) Mißverständnisse zu vermeiden:
Auch die Dekonstruktion kommt mit ihrer Sprache nicht über die Sprache hinaus. Das behauptet sie auch nicht. Grenzen gelten für jede sprachliche Äußerung, ob philosophisch, dekonstruktiv oder sonst irgend etwas. (Es gibt keine Metasprache, die dieses Problem lösen kann)
Aber die Dekonstruktion kann diese Grenzen sichtbar machen. Sie kann des weiteren aufzeigen, wie bestimmte Denksysteme bestimmte Schlüsse ziehen, die von vornherein durch diese Grenzen vorgeben worden sind. Und sie kann, indem sie diese Grenzen verschiebt, Möglichkeiten aufzeigen, wie man bestimmte Dinge anders denken kann, weniger beschränkt, offener, aber dafür vorläufiger.
„Der Vorwurf an die Analytiker wäre also, dass sie die Sprache zu wenig ernst nehmen; sie, so wie sie ist, einfach hinnehmen und ihre Probleme darin beschreiben, als wäre sie ein externes Werkzeug, mit dem man seine (sprachunabhängigen) Gedanken ausdrücken könnte.“
Eine Frage: hast Du je analytisches gelesen?
hmm, ganz schön toter Thread, den du hier reanimierst. Aber gut:
Ich habe mich durch den Traktatus gekämpft, schmunzelte mit Russell, habe mit Austin und Searl gerungen, den Goodman erprobt, habe Kirpe gehasst und bin in Quine ersoffen. Außerdem waren da sicher noch 10 weitere Autoren, deren Namen und Texte ich wieder getrost vergessen habe.
Und klar: So plakativ, wie ich es oben beschreibe, ist es nicht. Ich meinte das auch eher tendenziell.