Als ich gestern morgen in mein Büro direkt am Weichselplatz kam, sah ich dieses Plakat an unserer Tür. Es war der erste Tag im Büro nachdem ich den ganzen Anfang der Woche krank im Bett lag und so hatte ich von dem Drama um das „Weichelplatz-Baby“ nichts mitbekommen. Im Laufe des Tages erfuhr ich, dass der Finder des toten Babys ein guter Bekannter war, der oft bei uns im Büro vorbeischaut und mit dem wir uns immer gerne über alles mögliche verquatschen. Als ich ihn traf wirkte er erstaunlich gefasst, doch regte er sich auch auf: über die Polizei, die sich grobe Fehler erlaubt hatte und vor allem über die Presse, die hinter ihm her war und verdrehend berichtete. Ich bot ihm an, seine Geschichte auf meinem Blog zu veröffentlichen. Ungekürzt, selbstbestimmt und so wie er die Sache sieht – wofür Blogs meines Erachtens da sind. Er nahm das Angebot an und ich glaube, für ihn war das Aufschreiben ein wichtiger Verarbeitungsschritt. Weil ich es ihm versprochen habe und weil ich seinen Text als gültiges Zeitdokument empfinde, veröffentliche ich ihn hier ungekürzt und nur minimalinvasiv redigiert. Aus nachvollziehbaren Gründen will mein Bekannter gerne anonym bleiben. Hier wäre wohl auch sowas wie eine Triggerwarnung angebracht. Der Text ist jedenfalls nichts für schwache Nerven.
Freitag letzter Woche erzählte ich meiner Freundin, dass im Park vermutlich ein toter Hund lag. Beim Spazierengehen mit meinem eigenen Hund über den Weichselplatz fand ich eine Plastiktüte, aus der der Geruch von Verwesung drang. Mit dem Fuß prüfte ich das Gewicht. Es waren sicher keine Grillreste vom sonnigen Spätherbst. Andererseits hatte ich nicht die leiseste Ahnung, was sich hier offenbaren würde.
Da auch ein Hund nicht unbegraben herumliegen sollte, wollte ich von zu Hause die Feuerwehr rufen – die sind schliesslich für so etwas zuständig. Doch soweit kam es gar nicht, denn auf dem Weg stieß ich auf eine vorbeifahrende Polizeistreife. Der aus dem Beifahrerfenster schauende Beamte nahm meine Mitteilung, dass wohl ein Kadaver im Park liege, gelassen auf. Die Stelle brauche ich ihnen nicht zu zeigen, sicherte er zu, die Richtung genüge, man würde sich schon darum kümmern.
Später, beim eiligen Kaffeetrinken, ging ich davon aus, dass die Sache bereits erledigt war, wollte aber besser doch noch einmal nachsehen. In den inzwischen verstrichenen 10 Minuten war die Streife abgefahren und das Paket lag nicht mehr an seiner Stelle. Dafür fand es sich aber gleich in der Nähe in einer großen Gitterbox für Grill- und sonstige Abfälle wieder. Gut, dachte ich, die Beamten werden wohl nachgesehen haben, ich hatte mich wohl getäuscht. In Berlin werfen doch Polizisten keinen Hund in den Müll, sondern ordern ordnungsgemäß den Tierkörperbeseitigungsdienst.
Da die Runden meines eigenen Hundes sehr begrenzt sind, passierten wir in den nachfolgenden Tagen mehrmals den Behälter, und jedes mal nahm ich wieder diesen Geruch wahr. Nur zwei Meter davon entfernt steht eine verrückte Bank, auf der Abends gelegentlich Pärchen sitzen. Meine Nase ist wohl empfindlicher, als die anderer Menschen.
Montagnacht war ich wieder mit meinem Hund im Park. Weil ich von ihm eine Stuhlprobe nehmen musste, war ich mit einer Taschenlampe bewaffnet. Als ich in der Dunkelheit durch den Park schritt, war da wieder dieser Geruch, nun noch stärker. Ich hatte immer noch ein ungutes Gefühl bei der Sache und im Schutz der Nacht traute ich mich das Paket näher in Augenschein zu nehmen. Es erschien noch genauso verknotet und verschlossen wie am ersten Fundort. Auch als ich es diesmal leicht anhob war nur wieder etwas Stoffähnliches mit darauf kriechenden Maden durch ein Loch zu erkennen. Vom Gewicht könnte es ein Junghund sein. Mit einem Stock versuchte ich das Loch zu weiten, was nicht gut gelang, und ich fragte mich was ich hier tue. Dann tastete ich mit dem Stockende die Oberfläche ab, größtenteils weich, aber dann war da eine Harte Rundung. Ein Kopf? Aber definitiv größer als der einer Hauskatze. Nun konnte ich nicht aufgeben, vielleicht ist es ja doch bloß die Gelenkkapsel eines Rinderknochens, hoffentlich. Nun wollte ich es wissen, ich wollte sicher gehen, dass es ein Tier ist, ich wollte das Fell sehen, bevor ich diesmal direkt die Feuerwehr auf den Plan rufe. An der weichen Stelle grub ich weiter, zog nach und nach ein Stück eines braun verfärbten Tuches heraus, nahm darunter etwas fahlgraues wahr. Sachte zog ich es mit dem Stock heraus.
Mehrmals musste ich hinsehen, um gewahr zu werden, dass dies keine Tiefpfote ist. Ich zählte bis fünf, oh mein Gott!
Drei Schritte zurück, durchatmen. Dann den Notruf wählen. Lange Minuten, im Kopf schwirren Gedanken: das kann doch nicht wirklich wahr sein. Man hat davon gehört, aber dass es einen selbst betrifft. Und doch nicht wenn ein Polizist es vermeintlich schon durch den Park getragen hat. Es kann nicht sein was es ist. Aber meine Augen täuschten nicht.
Die ersten eintreffenden Streifenbeamten schauten kurz, ich vergewisserte mich bei ihnen nochmals, dass meine Augen mir keinen Streich spielten. Sie sagten es schaue danach aus. Jedenfalls wenn es keine Puppe ist. Sie hatten die geschmeidige Bewegung des Armes ja nicht gesehen und trauten sich selbst nicht heran. Stattdessen riefen sie die nächste Instanz, die Kripo. Ich verlies alsbald den Ort, wo ich die Leiche nun schon zum zweiten Male gefunden hatte. Das alles war so merkwürdig.
Innerhalb der nächsten zwei Stunden fuhr eine Armada von Einsatzfahrzeugen auf, wie ich es noch nicht gesehen habe. Ein befreundeter Nachbar erwachte dadurch und zählte vom Balkon rund 30 Wagen. Die Dunkelheit des Parks wich Scheinwerferlicht. Zurückgerufen zum Ort nahm ich in die nun beklemmende Stille wahr, so still dass sich selbst jetzt ein Fuchs heranschlich. Mein Denken schwankte in den nächsten Stunden zwischen Gelähmtheit und Bedachtsamkeit. Die morgendliche Vernehmung verlief sehr sachlich.
Nachmittags traute ich mich wieder in den von Profis verlassenen Park. Ich erzählte die unglaubliche Geschichte einem Freund, der in der Nähe wohnt. Es tauchten auch andere Personen auf, die ihre – wie ich dachte – journalistische Arbeit machten und fragten rum, wer etwas wisse. Ich konnte die Eindrücke schlecht für mich behalten, also wandte ich mich an diese drei Menschen. Gleichzeitig wollte ich nicht zu viel von mir preisgeben. Aber das haben die Journalisten natürlich drauf, einem ein Detail nach dem anderen zu entlocken. Fotos sind genau so wichtig, vor allem für den Boulevard. Wenigstens konnte ich mich durchsetzen, nicht fotografiert werden zu wollen. Noch.
Am Mittwoch klingelte es schon an der Wohnungstür. Ich hatte bereits am Vormittag mit Journalisten zu tun gehabt, doch diese beiden Herren hier wirkten mir zu schmierig, also wies sie ich ab. Trotz meiner eindringlichen Aufforderung auch an sie, mich nicht abzubilden, nahm ich wahr dass sie vom Weiten hinter mir her fotografierten. Fotografieren ist erlaubt, Veröffentlichung bedarf der Zustimmung, wenn kein höheres Informationsinteresse der Öffentlichkeit es ausnahmsweise rechtfertigt, so war meine Rechtsauffassung. Große Gedanken machte ich mir darüber nicht, bis ich spätnachts in der Onlineversion des des Berliner Kuriers meine Rückansicht – für andere gut erkennbar – wiederfand. Mit einer bösen Mail lies sich das noch zurückholen, die Druckausgabe befand sich jedoch schon auf dem Weg in die Regale.
Fühlte ich mich bis dahin ruhig und der Situation angemessen, kochte ich nun über vor Wut über diese unsinnige Verletzung meiner Privatsphäre. Sollten mich nun Hinz und Kunz darauf ansprechen? Wie soll ich diesen Situationen begegnen? Klar, ich möchte mit Menschen darüber sprechen, es tut gut, die eigene Geschichte zu erzählen, aber in welcher Situation, das möchte ich entscheiden.
Erst am späten Abend konnte ich wieder an das eigentliche Geschehen denken. Und man muss darüber nachdenken, denn sonst spürt man nur Kälte und Leere. Heute am Tag drei erscheint mir der Kopf wieder klar, nachdem ich am Morgen dem immer noch heimlichen herumlungernden Fotografen eine Standpauke gehalten habe.
Was mich berührt ist die Unachtsamkeit, die sich durch die ganze Angelegenheit zieht. Sie begann Anfang letzter Woche mit wahrscheinlich im Ausnahmezustand handelnden Eltern. An sie hatte ich bisher noch gar nicht gedacht, wobei sie nach dem Kind die am meisten Betroffenen sind. Jenes lag mehrere Tage neben dem Weg, nicht nur Hunde müssen es wahrgenommen haben. Aber in Neukölln herrscht überall viel Unachtsamkeit und daher liegt sowieso viel herum.
Wenig achtsam war das Handeln der beiden Streifenbeamten, die ich zuerst ansprach. Ohne großes Interesse erledigten sie die Sache vorschnell, ohne genau zu prüfen, was ich da gefunden hatte. Erst die Kriminalbeamten erwiesen der Situation die angemessene Achtsamkeit, doch das war ja auch nicht mehr zu vermeiden.
Das Interesse, das mir danach vom Boulevard entgegenschlug war heftig, aber wiederum von einer ungeheuerlichen Unachtsamkeit geprägt. Für einige Stunden verdrängte mein Ärger über die Journalisten das eigentliche Geschehen. Kostbare Zeit, wie ich empfand, die ich doch so dringend brauchte, um die Angelegenheit für mich zu verarbeiten.
Pingback: Muss ja auch mal wieder sein: Eine Linkliste | Zurück in Berlin