Willkommen zu Krasse Links No 37 und frohes Fest für alle, die feiern. Und jetzt nehmt Eure Geschenke entgegen, heute realisieren wir die Kosten der Sprechakt-Waffen für die Konnektivitätsökonomie der Hyperrealität.
In den Blättern für Internationale Politik fleht Michael Tomaskyfleht seine Mitmenschen an, die materielle Realität der Medienlandlandschaft endlich ernst zu nehmen.
Ich flehe Sie an: Denken Sie darüber nach. Wenn Sie ein gewisses Alter haben, haben Sie noch lebhafte Erinnerungen an Revolutionen in der sogenannten Dritten Welt. Frage: Was hat jede Guerillaarmee, ob links oder rechts, als Erstes getan, nachdem sie den Palast erobert hatte? Sie haben den Radio- oder Fernsehsender übernommen. Als Erstes. Dafür gibt es einen Grund. Es ist derselbe Grund, aus dem Viktor Orbán der rechtskonservativen Konferenz CPAC 2022 sagte: „Habt eure eigenen Medien.“
Arte hat gerade eine wundervolle, knapp vierstündige Doku in vier Teilen über die Intellektuelle Zeitenwende von 1827 – 1871 in Paris, die man wohl auch „Französische Romantik“ nennt.
„Die Legenden von Paris“ ist eine komplett in Zeichentrick umgesetzte Doku und folgt den Protagonisten Victor Hugo, Alexandre Dumas, Eugène Delacroix, George Sand, Honoré de Balzac, Charles Baudelaire und vielen anderen durch ihre miteinander eng verstrickten Biographien.
Stuart Thompson berichtet in der New York Times über den Selbstversuch, sich mehrere Tage lang über die rechte Videoplattform Rumble zu informieren.
As soon as President-elect Donald J. Trump won the presidential race, influencers on Rumble, the right-wing alternative to YouTube, flooded the platform with a simple catchphrase: “We are the media now.”
The idea seemed to capture a growing sense that traditional journalists have lost their position at the center of the media ecosystem. Polls show that trust in mainstream news media has plummeted, and that nearly half of all young people get their news from “influencers” rather than journalists.
Ich glaube, wir machen uns tatsächlich keine Vorstellung von der Größe und dem Einfluss der semantischen Sezession und ihren Infrastrukturen. Natürlich ist „Rumble“ nicht „die Medien“, aber in der Gesamtschau – X, Truth Social, Rumble, Telegram, Fox News, die Brocaster-Szene sowie die durchgeknallte Milliardärsriege – ist es safe to say, dass rechte Medien zumindest in den USA das erlangt haben, was Gramscy die „Kulturelle Hegemonie“ nannte.
Antonio Gramsci führt den Begriff der „kulturellen Hegemonie“ ein, um zu erklären, warum der Kapitalismus selbst von denen verteidigt wird, die unzweideutig unter ihm leiden. Kulturelle Hegemonie ist ein Set allgemein akzeptierter, nicht aufgezwungener Erzählungen, die die soziale Ordnung gewaltlos zusammenhält. Schon Gramsci wusste, dass Hegemonie etwas materiell Hergestelltes ist und spricht von “Hegemonie-Apparaten”, worunter er vor allem das Bildungs- und Mediensystem, aber auch Vereinigungen, Parteien und andere Institutionen fasst, die meinungsbildend wirken.
Netzwerkperspektivisch ist Hegemonie das, was David Sigh Grewal als „Threshold of Inevitability“ bezeichnet, also den Schwellenwert, wenn ein Standard so allgegenwärtig wird, dass man sich aktiv gegen ihn entscheiden muss, wenn man ihn nicht nutzen will. Hegemonie hast Du dann, wenn Deine Pfadangebote die semantischen Choice Architectures aller anderen strukturieren und die das meist nicht mal merken.
Es braucht ein paar Tage bis Thompson merkt, wie die semantischen Choice Architectures von Rumble seine Weltsicht beeinflussen.
After just a week, this alternate reality started shifting how I instinctively reacted to the world outside Rumble. I would catch a stray story on the local news radio about something innocuous, like train delays or traffic jams, and wonder: “Can I really trust this?”
It’s true that listening to any single news source long enough will shift your perspective.
Weil Thompson kein Indviduum ist, das die Welt beobachtet, sondern ein Dividuun, das Rumble-Tröten dabei beobachtet, die Welt zu beobachten, kann er sich kaum erwehren, ihre Perspektive in Betracht zu ziehen. Der Unterschied zwischen ihm und den vielen anderen, die sich unrettbar in der semantischen Sezession verstricken, ist die ihm zur Verfügung stehende Infrastruktur. Er hat Zugriff andere Newsquellen, auf Kolleg*innen, Freund*innen, also Zugriff auf andere semantische Pfadgelegenheiten, auf die er von Rumble zurückkehren kann.
Weil wir alle keine Individuen sind, ist diese Erkenntnis wichtig für den aufkommenden Sturm, denn Widerstand kann man nie alleine leisten. Jede Semantik braucht Anschluss an eine Community of Practice und diese Community wird mit dem Verlust der Hegemonie rapide kleiner werden. Wenn es in immer mehr Alltagssituationen nicht mehr „nützlich“ ist, an Menschlichkeit, Rücksicht, Toleranz, Aufrichtigkeit, Gerechtigkeit, Solidarität oder Verletzlichkeit zu glauben, werden die Kosten, diese Semantiken am Laufen zu halten, steigen. Antifaschismus wird noch mehr als früher: materiell.
Though I listened to an hour of Mr. Bongino’s opinions each day, it seemed like I learned mostly what various progressive or mainstream media figures had said about different culture war topics, and Mr. Bongino’s predictable reactions to them.
Hier die gute Nachricht: Sobald sie ihre Triumpfrunde beendet hat, wird die rechte Medienszene in den USA sich selbst zerlegen. Das gesamte Ökosystem ist auf Gegenhegemonie zu den traditionellen Medien ausgelegt und intern eigentlich ziemlich heterogen und wenn ihnen nun der Feind ausgeht, werden sie genügend Gründe finden, übereinander herzufallen.
In der Wired called Gary Marcus noch mal das Ende der Fahnenstange für den Transformeransatz bei Künstlicher Intelligenz und weist dabei auch auf die dürftige wirtschaftliche Ausbeutbarkeit des aktuellen Technologiestandes hin.
Furthermore, essentially every big company seems to be working from the same recipe, making bigger and bigger language models, but all winding up in more or less the same place, which is models that are about as good as GPT-4, but not a whole lot better. What that means is that no individual company has a “moat” (a business’s ability to defend its product over time), and what that in turn means is that profits are dwindling. OpenAI has already been forced to cut prices; now Meta is giving away similar technology for free.
Im Netzwerk der Abhängigkeiten verhindert die immer leichtere Verfügbarkeit von immer günstiger zu betreibenden Modellen die Schaffung von ausbeutbaren Netzwerkzentralitäten. Oder wie es ein Google Engineer bereits vor ein anderthalb Jahren prognostizierte: We have no Moat.
Im Harpers Magazine hat Liz Pelly sich tief in das Phänomen der „Ghost Artists“ bei Spotify gewühlt. Schon 2017 war herausgekommen, dass ein nicht geringer Teil der in populären Playlists vertretenen Künstler*innen gar keine Künstler*innen sind, sondern Fakeprofile hinter denen versteckte Tarnfirmen stecken, die mit günstig produziertem Hintergrundgeklimper die dicke Spotify-Kohle abgreifen (World Wide Web hatte darüber einen Beitrag). Doch wie groß und systematisch ist das Problem und vor allem: wie tief hängt Spotify mit drin?
Then, in 2022, an investigation by the Swedish daily Dagens Nyheter revived the allegations. By comparing streaming data against documents retrieved from the Swedish copyright collection society STIM, the newspaper revealed that around twenty songwriters were behind the work of more than five hundred “artists,” and that thousands of their tracks were on Spotify and had been streamed millions of times.
Dass Grifter versuchen, das System zu gamen ist erwartbar, doch wie kommt das Billiggeklimper in Spotifys Playlists? Pelly hat mit etlichen Slop-Produzent*innen gesprochen, interne Chats und Emails ausgewertet und dabei die systematische Ausbeutung der Künstler*innen herausgearbeitet, an der sich Spotify gerade gesundstößt.
Spotify, I discovered, not only has partnerships with a web of production companies, which, as one former employee put it, provide Spotify with “music we benefited from financially,” but also a team of employees working to seed these tracks on playlists across the platform. In doing so, they are effectively working to grow the percentage of total streams of music that is cheaper for the platform. The program’s name: Perfect Fit Content (PFC).
[…]
PFC eventually began to be handled by a small team called Strategic Programming, or StraP for short, which in 2023 had ten members. Though Spotify denies that it is trying to increase PFC’s streamshare, internal Slack messages show members of the StraP team analyzing quarter-by-quarter growth and discussing how to increase the number of PFC streams.
[…]
In a Slack channel dedicated to discussing the ethics of streaming, Spotify’s own employees debated the fairness of the PFC program. “I wonder how much these plays ‘steal’ from actual ’normal’ artists,” one employee asked.
An einer Stelle zitiert sie einen Künstler, der für eine der FPC-Agenturen komponiert und eingespielt hat.
A typical session starts with a production company sending along links to target playlists as reference points. His task is to then chart out new songs that could stream well on these playlists. “Honestly, for most of this stuff, I just write out charts while lying on my back on the couch,” he explained. “And then once we have a critical mass, they organize a session and we play them. And it’s usually just like, one take, one take, one take, one take. You knock out like fifteen in an hour or two.”
Und das ist erst der Anfang, denn jetzt tritt generative KI auf den Plan.
“I’m sure it’s something that AI could do now, which is kind of scary,” one of the former Spotify playlist editors told me, referring to the potential for AI tools to pump out audio much like the PFC tracks. The PFC partner companies themselves understand this. According to Epidemic Sound’s own public-facing materials, the company already plans to allow its music writers to use AI tools to generate tracks. In its 2023 annual report, Epidemic explained that its ownership of the world’s largest catalogue of “restriction-free” tracks made it “one of the best-positioned” companies to allow creators to harness “AI’s capabilities.”
Ich hatte hier ja neulich die materielle Geschichte der Musikindustrie erzählt und im Kern führt Spotify nur die Strategie der „relationalen Dematerialisierung“ weiter, die hinter jeder Form skalierbarer Ausbeutung steckt. Ich hatte sie im Supplychaintext so beschrieben:
Die Herstellung von Austauschbarkeit erweist sich als wesentliches Basiselement kapitalistischer Wachstumskonzeptionen. Und diese Austauschbarkeit wird über das Abkapseln von Verbindungen und das Reduzieren von Abhängigkeiten hergestellt.
Es geht bei Rationalisierung nicht nur um Kostenreduktion, sondern darum, die Abhängigkeiten der Dinge zur materiellen Realität zu reduzieren, um sie austauschbarer zu machen. Es ist andersherum: Gesunkene Kosten sind Ausdruck gelungener Entflechtung von der Realität. Im Falle der Kulturindustrie heißt das: von der materiellen Realität der Künstler*innen.
Cory Doctorow hat in seinem Jahresendpost unter anderem mit dem Verweis auf den Harpers-Artikel das Problem der Kreativen so zusammengefasst.
Movie studios, record labels, publishers, games studios: they all know that they are in possession of a workforce that has to make art, and will continue to do so, paycheck or not, until someone pokes their eyes out or breaks their fingers. People make art because it matters to them, and this trait makes workers terribly exploitable. As Fobazi Ettarh writes in her seminal paper on „vocational awe,“ workers who care about their jobs are at a huge disadvantage in labor markets. Teachers, librarians, nurses, and yes, artists, are all motivated by a sense of mission that often trumps their own self-interest and well-being and their bosses know it.
Das Gute: Weil die Semantiken aus uns Menschen eh nur so raussprudeln, werden wir den KIs auch in Zukunft Konkurrenz machen.
Ihr könntet natürlich auch einfach den Youtube-Channel von Then & Now abonnieren, aber wozu, wenn ich Euch eh jede Folge empfehle? Diesmal ein 5-Stunden-Brett über die Geschichte des Kapitalismus, in dem er nicht nur die materiellen, sondern auch die semantischen Vorraussetzungen seines Entstehens analysiert.
In Teil drei seiner lesenwerten Reihe „Slop Infrastructures“ geht der Künstler Eryk Salvaggio der weirden Instrumentalisierung von politischen Deepfakes von rechts nach und behandelt dabei vor allem die gefakten Taylor-Swift-Endorsments, von denen Trump sogar eins persönlich teilte.
I’m not convinced Trump’s post was meant to convince anyone that it was true. Instead, it seems to be an invitation to a cartoonish „imaginary world“ in which Swift, a virtual character, endorsed Trump. This imaginary character – the icon of Swift – is entirely distinct from Swift herself. Through AI, Swift becomes „a floating signifier,“ an image with newly contested meaning that can be captured and incorporated to support and bolster any ideas a person might desire.
In putting Swift into this position, you don’t say, „Swift endorsed us,“ which nobody believed. Instead, you encourage others to enjoy the control over what Taylor Swift signifies. AI-generated deepfake images offer the power to shape meaning in a world where people fear powerlessness and meaninglessness by inviting them to make others powerless and meaningless. That is the second fakery: the myth that AI manipulation is fun, because it’s just celebrities, when deepfakes can and have been used to target young women and activists.
AI-generated images of celebrities or disasters are not meant to suggest reality. They diminish the value of reality in constructing opinions or informing decisions. To post this image is, of course, a manipulation of Swift’s image, a violation of her agency, and to be very clear, I’m talking about this specific „Uncle Sam“ image, not the pornographic content with her in it. All of it points to the idea that if we share an illusion, that illusion matters in ways that are just as valid as any political reality. It is about controlling the symbols of the world, and it buys into a purely symbolic structure of power
Generative KIs sind Spreachakt-Waffen.
Wann immer wir den Mund aufmachen oder uns sonst irgendwie äußern, begehen wir Sprechakte. Sprechakte sind die materielle Basis der Semantiken – ja, auch der Bildsemantiken. Jeder Sprechakt beeinflusst das Netzwerk der Semantiken für alle, die der Sprechakt erreicht. In der Folge adaptieren, ignorieren oder kritisieren die Erreichten den Sprechakt. Das hört sich abstrakt ab, ist aber der ernste Hintergrund von Sprache ansich, sowie jedes Kulturkampfes und im Endeffekt auch jeder politischen Kampagne.
Salvaggio nimmt Rene Walters Beobachtung des „swarm gaze“ auf und zeigt an der Instrumentalisierung von Taylor Swift, wie der automatisierte „Male Gaze“ quasi als Sprechakt-Waffe des Patriarchats alle popkulturellen Symboliken mit männlich-hegemonialer Horniness vollsprizt.
The swarm-gaze is a result of badly mediated (or deliberately weaponized) social media infrastructures, fused with an unregulated infrastructure for AI image generation that is powered by pornography – including deepfakes and CSAM, a point acknowledged in internal Slack messages leaked to 404 Media in December 2023. This is fused with a political infrastructure that now includes, quite literally, the same guy who funds Civitai – Marc Andreessen, who is slated to be part of Elon Musk’s DOGE effort. Musk, of course, runs X. Donald Trump posted fake, AI-generated images of Taylor Swift endorsing him online.
Die Tatsache, dass der Kapitalismus einfach eine Organisationsform von Macht ist, wurde mir das erste Mal beim Lesen der Doktorarbeit von Uta Meier Hahn plausibel, in der sie die Konnektivitätsökonomie des Internets untersucht. In Krasse Links 11 fasste ich ihre Arbeit so zusammen:
In meinem Buch behandle ich auch die sehr lesenswerte Doktorarbeit von Uta Meier-Hahn, die eine Art Anthropologie der Netzwerkökonomie vorgelegt hat. Sie hat mit etlichen Verantwortlichen von großen Netzwerkbetreibern gesprochen und sich erklären lassen, wie genau Peering-Entscheidungen und -Deals getroffen werden. Für die, denen das nichts sagt: das Internet wird in seinen Grobstrukturen von nur einer Handvoll Großunternehmen betrieben, deren Geschäftsmodell es ist, ihre Konnektivität an Internet Service Provider, andere Netzwerkbetreiber oder CDNs wie Cloudflaire weiter zu verkaufen. Das Internet ist ein Netz der Netze und der Verkehr zwischen den Netzen hat ab und zu ein Kassenhäuschen – und manchmal auch nicht. Dann nämlich, wenn die Interessen beider Netzbetreiber, Daten zu tauschen, in etwa ausgeglichen ist. Die Kriterien dazu sind komplex und ein Großteil von Utas Arbeit befasst sich mit ihrer Katalogisierung, aber einer der wesentlichen Faktoren ist natürlich die Größe des Netzes. Ein kleines Netz hat immer ein höheres Interesse, mit einem größeren Netz Daten zu tauschen, als umgekehrt und deswegen muss das kleine Netz zahlen und das große bekommt Konnektivität geschenkt.
Das eigentlich spannende ist der Edgecase, den diese Art der Ökonomie darstellt. Es ist eine Ökonomie, in der es nur einmalige Investitionskosten, aber keine Grenzkosten gibt. Für das, was verkauft wird, gibt es keine Inputlinien.
Um zwei Netzwerke miteinander zu verbinden, muss meist nur ein Schalter umgelegt oder im schlimmsten Fall ein Serverrack installiert werden.
Doch das verblüffendste: Es entstehen nicht nur keine Kosten, sondern es entsteht sogar für beide Wert beim Zusammenschalten ihrer Netzwerke.
Wenn zwei Netze peeren, also Daten austauschen, dann erhöht sich die Summe der Pfadgelegenheiten für die eigene Kundschaft entsprechend der Größe und Qualität des jeweils anderen Netzwerks. Und umgekehrt! Für beide ist es ein Gewinn, für niemanden entstehen Kosten.
Und dennoch entstehen Preise? Der Edgecase besteht darin, dass die Konnektivitätsökonomie ein „Markt“ ohne das Fleisch der Kosten ist, so dass wir eine Art Röntgenaufnahme des Kapitalismus sehen. Der Befund: Preise werden genommen, wenn Preise genommen werden können und Margen sind Ausdruck von Macht.
Im Plattformbuch hatte ich diesen Zusammenhang in Form der Interdependenz-Bilanz nur auf die Plattformökonomie bezogen, doch ich denke, er ist universal anwendbar.
Alle Margen bestehen aus abgeschöpften Abhängigkeit-Dividenden.
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Michael Seemann
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In letzter Zeit stolpere ich immer wieder über Referenzen zu Jean Baudrillard. Ich habe ein kompliziertes Verhältnis zu ihm. „Der symbolische Tausch und der Tod“ was my first post-structural Love, aber als ich Derrida entdeckte, konnte ich ihn nicht mehr ernst nehmen, aber das ändert sich gerade wieder.
Zum Beispiel bin ich über diesen interessanten Thread von Paul Soetaert gestoßen, der Baudrillards Stadien der Simulakren auf Geld anwendet. Die Stadien beschreibt er so:
Und wendet sie auf Geld an:
Ich finde das eine interessante Überlegung und gebe Soetaert von der Stoßrichtung her recht, aber leider hat er ein etwas outdated Verständnis von Geld, weswegen seine Analogien unschön in alle Richtungen hinken.
Aber mit unseren bisher diskutierten politisch ökonomischen Beobachtungen können wir die „relationale Dematerialisierung“ des Preises in Simulakrumsstufen einsortieren.
- Der Preis entspricht den Kosten. Man tut etwas, das kostet, man verlangt eine entsprechende Entschädigung. Ich weiß, aussterbendes Konzept.
- Der Preis entspricht den Kosten plus Macht. Marge ist Ausdruck von relationaler Dematerialisierung und somit bereits teil des zweiten Stadiums der Sumulakren – siehe das Supermarktbeispiel aus dem letzten Newsletter, aber hier würde ich das gesamte, traditionelle kapitalistische Wirtschaften einordnen.
- Der Preis ist nur noch Ausdruck der Macht und hat keinen reellen Bezug mehr zu Kosten. Das haben wir gerade in Reinform bei der Konnectivitätsökonomie des Internets behandelt, gilt aber auch für die gesamte Kulturindustrie und praktisch alle digitalen Geschäftsmodelle.
- Der Preis ist das Produkt. Endgültige Hyperrealität. Die relationale Dematerialisierung ist mit Bitcoin zum logischen Endpunkt geraten, wo eine technisch symbolisch hergestellte Knappheit den Bezug zur Realität austauscht.
Charlie Warzel versucht im Atlantic den wahren Nutzen von Crypto zu fassen.
Crypto is a technology whose transformative product is not a particular service but a culture—one that is, by nature, distrustful of institutions and sympathetic to people who want to dismantle or troll them. The election results were at least in part a repudiation of institutional authorities (the federal government, our public-health apparatus, the media), and crypto helped deliver them: The industry formed a super PAC that raised more than $200 million to support crypto-friendly politicians. This group, Fairshake, was nonpartisan and supported both Democrats and Republicans. But it was Donald Trump who went all in on the technology: During his campaign, he promoted World Liberty Financial, a new crypto start-up platform for decentralized finance, and offered assurances that he would fire SEC Chair Gary Gensler, who was known for cracking down on the crypto industry.
Ich fand die Diskussionen über „Money in Politics“ immer ein bisschen naiv, wenn man sich die Summen anschaut, um die es geht. Obama gab in 2008 etwas mehr als eine Milliarde Dollar aus und war damit sehr lange unangefochtener Spitzenreiter. Aber was ist eine Milliarde für Musk, Thiel. Bezos oder Gates?
Weil Trump sowieso an nichts glaubt, shoppt sich gerade die Oligarchie die Brieftasche wund und für die Crypto-Milliardäre gibts halt den Staat als Bagholder of Last Resort.
Der Trick ist, beim nächsten Cryptocrash „too Big to fail“ zu sein, d.h. bis dahin so viele finanzialisierte Abhängigkeiten auf sich vereint zu haben, dass Andreesen, Thiel und Co sich wie 2008 die Banken vom Steuerzahler „retten“ lassen können.
Wie der Adel im Feudalismus sind Cryptobros dann nur noch wichtig, weil sie wichtig sind und deswegen müssen wir anderen für ihren Reichtum schuften. Von der Hyperrealität direkt ins Mittelalter – oder wie wir hier sagen: der libertäre full circle.