Krasse Links No 29

Willkommen bei Krasse Links No 29. Leitet Eure Schärfe in den Schmerz, heute dekonstruieren wir die „False Norm“ in der Schwerelosigkeit der Realität.


Ein Video mit dem in Tränen ausbrechenden Meterologen John Morales ging kurz vor Miltons Impact in Florida viral.

Mein Doktorvater Bernhard Pörksen sagte mal zu mir: „Realität ist das, was noch da ist, wenn du nicht dran glaubst“, was ich auf Anhieb schlüssig fand. Aber wenn man das zu Ende denkt, bedeutet das: Realität ist Schmerz. Schwerkraft ist nicht „wahr“, weil Newtons Formeln stimmen, sondern weil hinfallen weh tut.

Schmerz ist auch der Antrieb für diesen Newsletter. Ich habe mir am Netzwerk den Kopf gestoßen und seitdem verarbeite ich diese Erfahrung zu einer anderen Sicht auf die Welt.

Der Klimawandel ist wie das Netzwerk ein Hyperobjekt, und meine These zu Hyperobjekten ist, dass sie Dimensionen von Realität sind, zu denen uns noch der passende Schmerz fehlt. Deswegen hat dieser Clip wahrscheinlich mehr zum allgemeinen Verständnis des Klimawandels beigetragen als der letzte IPCC-Bericht.


Ich gucke immer mehr Videos auf Instagram (lasst mich!) und einem, dem ich supergern folge, ist Adam Aleksic, aka etymologynerd.

In diesem Video beschreibt er das Phänomen, dass Jungennamen in den USA immer häufiger mit „n“ enden und dieser Trend zur Uniformität lässt sich paradoxer auf einen Abgrenzungswillen zurückführen. Es wurden ganz viele neue Namen kreiert, aber meist welche, die auf „n“ enden, weil das irgendwie „low key“ männlich wahrgenommen wird. Das führte zu mehr Männern mit „n“ am Namensende, was den Eindruck verstärkte, etc. Network effects all over again.

Jedenfalls nennt man das wohl „Lockstep Individualism“ und ich musste herzlich lachen, aber dann fragte ich mich: gibt es einen Individualismus, der nicht lockstep ist? Ist nicht jede Abgrenzungsgeste bereits im lockstep mit all den anderen Abgrenzungsprojekten? Ist lockstep-Abgrenzung nicht auch irgendwie unser Thing?


Apple hat ein Paper zu den „Reasoning“-Fähigkeiten von LLMs veröffentlicht und ich bin mir fast sicher, dass es diese Forschung war, die Apple dazu bewegte, sich aus der letzten Fundingrunde von OpenAI herauszuziehen.

Die Apple-Forscher*innen haben ein populäres Datenset mit Reasoning-, Logik und Mathe-Aufgaben zur Hand genommen und von den Fragen Templates gemacht, mit denen sie allerlei Variationen der ursprünglichen Fragen austesten konnten. Und das Ergebnis ist, dass man die Modelle mit kleinen Änderungen am Setting komplett aus dem Konzept bringen kann.

We show that, likely due to potential pattern matching and the fact that the training distribution of models included only necessary information for solving questions, adding seemingly relevant clauses to the question that do not impact the reasoning process required to solve it significantly drops the performance of all models.

Outsch.

Overall, we find that models tend to convert statements to operations without truly understanding their meaning. For instance, a common case we observe is that models interpret statements about “discount” as “multiplication”, regardless of the context.

OutschOutsch.

It may resemble sophisticated pattern matching more than true logical reasoning.

OutschOutschOutsch.

Neulich, unter meinem LinkedIn-Post zu dem „Dickicht der Bedeutung“-Text diskutierten Martin Linder und ich, wieso die LLMs so besonders gut darin zu sein scheinen, kulturwissenschaftliche Texte zu produzieren und Martin schrieb:

„ja, kulturwissenschaften beruhen ja geradezu auf dem genauen umgang mit unschärfen.“

Das schien es mir auf den Punkt zu bringen. Wir KuWis haben ja immer mit „Fuzzy Objects“ zu tun und daher gilt es, durch Genauigkeit in der Beschreibung Konturen in die Unschärfen zu bringen. Das ist unser Beitrag. Aber dann fiel mir auf, dass das, erstens für alle Wissenschaften und zweitens sogar jede menschliche Äußerung gilt: Wenn wir sprechen, wollen wir etwas ausdrücken, das heißt eine Unschärfe konturieren, um sie mitteilbar zu machen. Das ist immer ein schwieriges Unterfangen, weil die Stimmung, die Beziehung, die Gefühle, die Welt eben … unscharf sind, uns aber nur vereindeutigende Worte dafür zur Verfügung stehen.

Das erinnerte mich daran, dass Derrida immer wieder darauf hinwies, dass nur das Unentscheidbare überhaupt entschieden werden kann.

A decision can only come into being in a space that exceeds the calculable program that would destroy all responsibility by transforming it into a programmable effect of determinate causes.

Und dadurch kam ich drauf, dass es bei der LLM genau umgekehrt ist. Statt auf Unschärfen greift sie auf einen klar determinierten Datenraum zu und folgt ihm entlang der Majority Vote. Die LLM will nichts ausdrücken, sondern optimiert ihren Output auf statistisch gemessene Erwartbarkeiten.

Und um das Ergebnis glaubwürdiger zu machen, streut man beim Generieren des Textes über den „Temperature“-Wert noch Randomness hinzu. Die Erfahrung zeigt, dass wenn die LLM immer nur stur das wahrscheinlichste Wort ausspuckt, die Texte auf weirde weise eindimensional, langweilig und redundant werden. Wenn aber nach einem Zufallsprinzip auch mal das zweit- oder drittwahrscheinlichste Wort gewählt wird, dann wirken die Texte „lebendiger“ und „kreativer“ und tatsächlich auch nützlicher.

Temperature ersetzt also das, was sonst wir Menschen beim Sprechen beisteuern. Das wirkt dann zwar menschlich, aber diese „Lebendigkeit“ und „Kreativität“ sind per Zufall simuliert. Die menschlichen Abweichungen von den ausgetretenen Pfaden sind aber eben nicht random, sondern entstammen unseren Bemühungen, uns auszudrücken, also das Unentscheidbare zu entscheiden. Deswegen tun LLMs das Gegenteil, von dem, was wir tun: Sie machen Scharfes ungenau. Und das wäre doch auch eine wunderschöne Definition von Slop?

D.h. auch wenn OpenAI sich mit Reinforcement-Learning eine vollständige Datenbank aller Lösungspfade zu allen vorstellbaren entscheidbaren Fragen kreiert und o1 und ihre Nachfolger alle noch zu schaffenden Benchmarks nach oben klettern, wird das keine Intelligenz in die Maschine bimsen. So lange sich die KI nicht ausdrückt, und das ist Voraussetzungsreich: so lange sie nicht mit der Fuzzy Welt in Beziehung tritt und das Unentscheidbare entscheidet, um die Erfahrung anschlussfähig zu machen, kann sie immer nur das längst Entschiedene slopen.

Was die KI-Bros nicht verstehen, ist, dass sie mit den LLMs keine Intelligenz geschaffen haben, sondern ein Modell unserer gesellschaftlich-medialen Erwartungen. Und weil auf Spiegel besonders Narzisten reinfallen, hat sich das Silicon Valley mit „AGI“ eine für sie selbst optimierte intellektuelle Venusfalle gebaut. Irgendwann muss das mal von den Coen-Brothers inszeniert werden.


Nachdem Lewis Waller bereits sehr sehenswert Kant und Hegel durcherklärt hat, ist diesmal Karl Marx dran und ich kanns wieder sehr empfehlen.

Das ganze Netzwerkdenken hat mich Marx ein großes Stück näher gebracht und egal, was man von seinen konkreten Analysen hält, sollte sich jeder die Perspektive des historischen Materialismus aneignen. Marx war einer der wenigen, die aus der Infrastrukturvergessenheit des Individuums aufgewacht sind. Statt wie die liberalen Ökonomen mit „Märkten“ herum zu theoretisieren, schaute er hin und versuchte Genauigkeit in die Unschärfe des wirtschaftlichen Geschehens zu bringen.

Außerdem hat Marx bereits die Cyborg beschrieben:

„Das menschliche Wesen ist keine dem einzelnen Individuum innewohnende Abstraktion. Es ist seiner Wirklichkeit nach die Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse.“


In seinem Newsletter hat Jonas Schaible eine interessante kleine Privatforschung zu medialer Berichterstattung und Umfrage von CDU und AfD gemacht.

Vor einer Weile habe ich hier eine kleine Analyse beschrieben, die ich aus Interesse versucht habe. Ich wollte wissen, ob man Muster findet, wenn man die Intensität der Berichterstattung über Migration mit dem Ausmaß vergleicht, in dem Menschen Migration als Problem empfinden.

Das Ergebnis: Die Problemwahrnehmung scheint nicht losgelöst zu sein von den realen Fluchtbewegungen, noch viel stärker aber scheint sie der Berichterstattung zu folgen.

Jetzt habe ich das ganze nochmal um Umfragewerte der Union und der AfD ergänzt und mir angeschaut, ob es Muster gibt.

Was sich zeigt: Sowohl AfD als auch Union steigen in Phasen, in denen Migration stärker als Problem wahrgenommen wird, und fallen, wenn das weniger so ist. Der Effekt ist allerdings wenig überraschend stärker für die AfD.

Aber zwischen der Menge an Zeitungsartikeln über Migration in den zwei Wochen vorher und den Umfragewerten gibt es bei der Union für 2023 und 2024 keinen erkennbaren Zusammenhang. Bei der AfD gibt es ihn sehr wohl.

Das stärkt erneut die Vermutung, die ihrerseits auf reichlich Forschung gründet: Wenn Migration großes Thema ist, dann hilft das der AfD. Der Union eher nicht.

Ich seh das so:

Weil wir keine Individuen sind, die die Welt beobachten, sondern Dividuen, die einander beobachten, wie sie die Welt beobachten, ist Öffentlichkeit ein Klangkörper, den wir alle miteinander bespielen. Öffentlichkeit ist in seiner Funktionsweise ein großes, diverses Trommelkonzert, wo alle möglichen Akteure Aufmerksamkeit auf sich und ihre Geschichten konzentrieren wollen – also einen Beat anstimmen, um andere zum Mitschwingen zu animieren.

Die Milliardäre haben sich in den letzten Jahren ihren Einfluss auf die großen Trommeln gesichert. In Deutschland können die Oligarchen per der Axel Springer Verlag einzelne Politiker*innen oder Policys auf Zuruf abschießen lassen, wie sie immer wieder demonstrieren. Politiker*innen versuchen schon gar keine gesellschaftsfreundliche Politik mehr zu machen, was nur dazu führt, dass sich die Frustspirale weiter Richtung AfD schraubt. In den USA sieht man diesen Mechanismus in einem späteren Stadium und mit Musks Twitterübernahme ist nun eine der größten Pauken in den Händen eines Rechtsextremen gefallen.

Wenn wir den Faschismus etwas entgegensetzen wollen, müssen wir Wege finden, wieder Laut zu sein. Die Linke ist aus dem Takt gekommen und ihre Trommeln sind kaputt oder nicht so geil und irgendwie trommelt gerade nur noch jeder nur noch für sich. Wir müssen einen neuen, attraktiven Beat anzuzetteln.


Dieser Aufsatz von Wissenschaftler*innen der Universität New York beschreibt den Effekt, den Social Media auf die Wahrnehmung sozialer Normen hat, mit dem lustigen Begriff „funhouse mirror factory“.

Research on social media has found that, while only 3 % of active accounts are toxic, they produce 33 % of all content [4]. Furthermore, 74 % of all online conflicts are started in just 1 % of communities [5], and 0.1 % of users shared 80 % of fake news [6,7].

Sie kommen zu dem Schluss:

False norms emerge, in part, because social media is dominated by a small number of extreme people who post only their most extreme opinions, and do so at a very high volume–often posting dozens of times more than others, while more moderate or neutral opinions are practically invisible online.

Ich teile diese Einschätzung, aber „False Norms“? Srsly? Wieso sollten die auf Social Media eingeübten Normen „fake“ sein? Sie sind nicht „fake“ im Kontext der Leute, die so sprechen. Diese Normen mögen weniger weit verbreitet sein, als Menschen auf Social Media denken, aber was da wächst, ist real und setzt bereits ganz materielle Gewalt in die Welt.

Indeed, 97 % of political posts from Twitter/X come from just 10 % of the most active users on social media, meaning that about 90 % of the population’s political opinions are being represented by less than 3 % of tweets online.

Manchmal bewundere ich all die Journalist*innen, Politiker*innen, die noch auf X geblieben sind. Man muss ein „echtes Individuum“ sein, um auf dieser Propagandatrommel trotzdem noch zum eigenen Beat zu tanzen.


Ta-Nehisi Coates ist gerade überall wegen seines neuen Buches „The Message“, in dem es unter anderem um Israel und Palästina geht, unterwegs und besonders hat mir das Gespräch mit Jon Stewart gefallen.

Aber auch das Gespräch mit Ezra Klein ist bemerkenswert, vor allem als Klein Coats fragt, was er denn einem Israeli sagen würde, der es politisch mit Aussöhnung versucht hat, vielleicht sogar in der Friedensbewegung war, aber angesichts der Intifadas und zuletzt dem 7. Oktober aufgegeben hat, an eine politische Lösung zu glauben, worauf Coats entgegnet:

„I can’t accept that the violence committed by the people who have less power somehow relieves you from the burden of forming a just society.“

Coates ist kein schwereloser Linker.


Ich habe mich entschlossen, die Verbrechen in Gaza „Genozid“ zu nennen. Natürlich könnte ich auch einfach ein paar Jahre warten, bis der ICJ entschieden hat, aber ich habe festgestellt, ich bin dafür nicht schwerelos genug.

Weil diese Entscheidung wahrscheinlich aus der deutschsprachigen Medienlandschaft heraus nicht so leicht nachvollziehbar ist, hier drei Videos, die mich dabei bestärkt haben.

Der Schmerz.

Das Argument.

Das Lachen der Täter.


Tomer Dotan-Dreyfus hat seinen Essay über die sich zuspitzende Meinungsvielfalt unter deutschen Juden, den er ursprünglich für die Böllstiftung geschrieben hatte, nun in Analyse und Kritik veröffentlicht und er ist sehr Lesenswert.

Der staatliche Schutz jüdischer Leben und jüdischen Lebens in Deutschland ist bedingt.

Wer in Deutschland eine Stimme bekommt, entscheidet die richtige Meinung, nicht die wissenschaftliche Expertise:

Es ist in Deutschland zudem verbreitet, dass Menschen, die jeglicher Expertise zu Antisemitismus oder internationalem Recht entbehren, sich häufig zu beiden Themen als »Expert*innen« äußern können, solange sie bei dem Fazit ankommen (oder von vornherein davon ausgehen), dass Israel kein internationales Recht breche und dass anderslautende Behauptungen antisemitisch seien. So kann etwa der kanadische Stand-up Comedian Daniel Ryan Spaulding als Experte gelten; der israelische Professor Omer Bartov jedoch, der buchstäblich eine lebenslange Expertise in Genozidforschung besitzt, wird zensiert.

Dotan-Dreyfus spürt aber auch Druck aus der jüdischen Gemeinde und führt das auf die Angst zurück, ein entziehen der Israelsolidarität könnte gleichzeitig ein Ende der Aussöhnung zwischen Deutschen und Juden bedeuten. Historisch ist das nicht unplausibel.

1950, nur fünf Jahre nach der Niederlage des Nazistaats und bloß ein Jahr, nachdem die Alliierten der BRD ihre Unabhängigkeit gegeben hatten, verabschiedete der Bundestag seine Empfehlung an die Länder, die Entnazifizierung offiziell zu beenden. Ein weiteres Jahr später kam es zu Artikel 131 des Grundgesetzes, der Nazibeamte, -lehrer und -richter entweder wieder in den Dienst nahm oder ihnen eine gute Rente zuwies. 1952 musste man zu dieser »Entnazifizierung« irgendein Gegengewicht schaffen, wenigstens zum Schein: Der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer schloss das berühmte Luxemburger Abkommen, besser bekannt als das Wiedergutmachungsabkommen, nach massiven Protesten von Holocaust-Überlebenden in Israel, an denen auch mein Großvater beteiligt war.

Dieses Abkommen hat nicht nur die Form der Wiedergutmachung festgesetzt, sondern auch ihren Adressaten: den Nationalstaat Israel. Dies zementierte den Ansatz, für den Deutschland bis heute steht und für den Deutschland von uns Jüdinnen*Juden Zusammenarbeit fordert: Den Jüdinnen*Juden wird ein Nationalstaat anderswo zugesichert, statt einer Entnazifizierung des hiesigen Nationalstaats. Und was ich nach Jahren in Deutschland endlich verstanden habe, ist, dass der staatliche Schutz für uns davon abhängt, dass wir mitspielen.

Ich kann diese Angst nachvollziehen und ich finde die Situation, in die der deutsche Staat jüdischen Menschen gebracht hat, unerträglich. Es muss deswegen Ziel der Palästina-solidarischen Bewegung sein, Antisemitismus in den eigenen Reihen sichtbar zu bekämpfen und jüdischen Menschen die Angst davor zu nehmen, nicht mehr mitzuspielen.

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