Eines der ersten Opfer des Kontrollverlusts ist die Wahrheit. Wahrheit – hier als die eine, objektive, von allen geteilten und unzweifelhafte Wahrheit verstanden. (die es – klar – eh nie wirklich gab)
Ich will mich hier gar nicht erst in die Tiefen der Epistemologie verstricken, sondern es nur bei der Anmerkung belassen, dass wenn alle Daten mit allen anderen Daten verknüpfbar sind und die Art der Verknüpfung für jede Abfrage offen bleibt (der Kern der Kontrollverlustthese), werden Korrelationen aller Art herstellbar sein. Korrelationen die in den Händen dieses oder jenes Menschen, mal diese und mal jene These stützen. (Von der informationellen Segmentierung des gesellschaftlichen Diskurses durch bessere Filtertools mal ganz abgesehen. Hier wäre allerdings noch einiges zu sagen.)
Wir kennen das schon. „Amerikanische Wissenschaftler haben jetzt herausgefunden…„. Die Welt ist komplex. Sie ist mitunter so komplex, dass selbst in einem speziellen Fachgebiet ausgebildete Menschen Schwierigkeiten haben, jede Studie nachvollziehen zu können, geschweige denn, sie verifizieren, falsifizieren, peereviewen etc. zu können. Was sie allerdings auch heute nicht mehr brauchen. Schließlich gibt es ja eine andere Studie, die das Gegenteil der jeweilig angezweifelten besagt.
Ganz unabhängig davon, wie viele und welche Zahlen Thilo Sarrazin nun wirklich frei erfunden, welche er tatsächlich recherchiert hat: der Fall zeigt sehr gut, wie man in diesem Wirrwarr eines Grundrauschens der Zahlen, in denen wir leben, einfach die sich selbst genehme Korrelation herauspicken und damit Politik machen kann. Wahrheit – gesellschaftlich betrachtet – ist schon ziemlich am Ende. Aber der Todesstoß steht noch bevor.
Dass das alles erst der Anfang ist, zeigt nun OkCupid. Diese Flirtplattform für Statistiknerds fragt eine schier unendlich wirkende Kaskade an Fragen ab. Der Katalog von Fragen zählt bereits 4000. Der Nutzen für die User: es werden „Matches“ zu allen anderen Usern berechnet, so dass sich findet, was zusammen gehört. So lautet zumindest das Versprechen.
Diese Plattform, die nun so viele persönliche Daten von den Nutzern hat, wie Google sich in seinen kühnsten Träumen nicht erhoffen wagt, stellt damit regelmäßig lustige statistische Dinge an, die sie in ihrem Blog veröffentlichen.
Jetzt haben die Macher den Thilo 2.0. gemacht und die Vorlieben, Qualitäten und Nichtqualitäten nach den (von den Unsern selbst einzustellenden) ethnischen und religiösen Kriterien her aufgeschlüsselt – und haben dabei einige rassistische – zumindest stereotype – Klischees bestätigt und manche widerlegt. (Link via Kathrin Passig ihre Shared Items.)
Jetzt kann sich jeder selbst ein Bild machen und sich fragen, was er davon halten will. Für mich steht etwas anderes fest: Das hier ist nur der Anfang. Und: bösartiger aufbereitet können mit solchen Dingen schlimme rassistische Konflikte heraufbeschworen werden. Wie wird eine Gesellschaft demnächst damit umgehen?
Jeder kann sich aus dem immer schneller wachsenden Wust der Daten seine eigene Wahrheit formen. „Menschen mit langen Fußnägeln werden öfters von Regentropfen getroffen – mit anderen Worten: sie sind heilig!“ – Warum also nicht gleich eine Fußnagelsekte gründen?
Und das Ende der Wahrheit ist das Ende der Öffentlichkeit, denn diese war sowieso nur ein ausgedachtes Projektionswesen der Massenmedien, als eine Reflexion über sich selbst und ihr Publikum.
Sind die Daten rassistisch, oder sind es die Abfragen? Die neue Öffentlichkeit ist nicht mehr in den Daten selbst zu suchen und ihrem wie auch immer gearteten Sichtbarkeitsstatus – sondern in ihrer Abfrage. Und damit beim Anderen. Braucht es eine Ethik Abfrage? Oder muss sich die Gesellschaft (sofern es die unter diesen Umständen überhaupt noch gibt) immunisieren, gegen solche Provokationen. Indem sie einsieht, dass die publizierten Antworten eben keine „Wahrheit“ sind, dass sie zwar nicht beliebig, aber eben nur eine Sicht auf Dinge darstellen. Eine von unendlich vielen möglichen Sichten, bei dem die Macher nun mal die rassistische Variante wählten.
Wir sind auch hier – wie in der Frage der Kreativitätsentlohnung und der Privatsphäre – dem Anderen hilflos ausgeliefert. Der Andere, als die ganz andere Abfrage der Daten (die nicht in den Daten ausgeschlossen werden kann, die überhaupt nicht voraussehbar ist).
Es gibt nur zwei Dinge, die wir tun können. Entweder, wir entwaffnen den Anderen (nehmen ihm die Macht uns wirklich zu schaden: Plattformneutralität), oder wir sind seiner Ethik ausgeliefert, die wir nur erbitten können, weil es keine Hebel gibt, sie durchzusetzen. (jedenfalls keine, ohne die Freiheit abzuschaffen).
PS: Nach etwas Nachdenken, bin ich übrigens darauf gekommen, dass Sascha Lobo in der Filesharingdebatte genau das tut: an die Ethik des Anderen appellieren. Und ja, das kann eine (Teil-)lösung sein. (Weshalb ich noch weniger verstehe, warum er Flattr nicht mag.)
Schöner Text, richtige Fragen und super Beispiel dafür, dass die Interpretation von Daten der elementare Punkt ist und Daten eben nicht „für sich sprechen“.
Denn als ganz kurze Anmerkung zu den okcupid-Daten (ohne irgendwas zur inhaltlichen Interpretation zu sagen): Die sind erhoben aus einer *Selbstdarstellung* auf einer *Dating* Seite. D.h.: Sie sagen uns vor allem etwas über die Dinge, die die User für sozial erwünscht *halten* um jemanden zu finden, weniger über das, was die User selber gut finden.
Und das es dabei Unterschiede gibt, weil es unterschiedliche Interessensgruppen gibt, das ist nicht verwunderlich. Damit sind die Daten nicht rassistisch – die Frage, die man dabei aber stellen kann ist: Was wäre rausgekommen, würde man zb nach Augenfarbe filtern statt nach „race“. Ich wette, das wären ebenfalls klar unterscheidbare Gruppen geworden.
Wenn wir die Kontrolle muss sie ja auch einer gewinnen. Denn Menschenmassen ohne Kontrolle sind anarchisch und dass nicht nur in der realen Welt. Die kontrolle erlangt also der, der die von dir angesprochenen Statistiken auswertet und seine Erkenntnisse unter das Volk bringt. Die Menschen wussten doch bis vor 2 Monaten noch gar nicht dass sie ein Buch über Migration lesen wollen. Ein bisschen PR hier, ein paar Falschinformationen da, die richtige Doku zur richtigen Sendezeit und schon ist eine Bewegung geboren.
Mit Kontrollverlust hat das in meinen Augen wenig zu tun. Wir verlieren die Kontrolle über unsere Meinung, wir hören auf nachzudenken, wir mutieren zum Pappageienvolk und dass ist nicht nur auf den Rechtsruck bezogen. Wenn man etwas abgibt oder verliert muss es auch jemanden geben der es an sich nimmt oder findet.
ich kann mich noch nicht so ganz anfreunden mit der einfachen antwort: daten sind ungefährlich, die abfrage hingegen nicht (wenn ich dich richtig verstanden habe).
daten entstehen nicht in einem vakuum. die menschen, die auf okcupid diese angaben gemacht haben sind sozial, kulturell und politisch zum teil unterschiedlich geprägt, zum großen teil auf zuschreibungen.
…basierend, soll an den letzten satz noch ran.
@Seb ja, das kann ich mir eben so gut vorstellen. Wie gesagt, die rassistische Abfrage ist eine unter unendlichen. Wenn das erst begriffen wird, lässt man sich vielleicht auch nicht mehr von einem Sarrazin provozieren.
@Dominic Ja, einer gewinnt. Der Andere, wie gesagt. Der Andere kannst auch du sein. Je nach dem wie intelligent die Abfrage ist, die du an das System stellst. 😉
@lantschi das würde ich sofort unterschreiben. Auch die Leute, die die Antworten gegeben haben, mussten sich selbst zuvor befragen, haben also selber bereits sterotype Anfragen an sich selbst gestellt, sich teils rassistisch einsortiert. Keine Frage. Ich würde jetzt ehrlich auch nicht sagen, dass die Daten jetzt völlig unschuldig sind, denn sie sind – wie gesagt – bereits Ergebinsise anderer Abfragen.
Sie sind nur der falsche Punkt um anzusetzten. Denn die Daten, die gespeichert sind, lassen sich nicht mehr sinnvoll verändern. Ich würde plädieren, dass man sich bei seinen politischen Visionen auf die Zukunft besinnt. Das kann keine Ethik der Speicherung sein – (denn das kann nur Gatekeppertum, Zensur und Kontrolle bedueten) – sondern auf eine Ethik der Abfrage.
Damit liefert man sich aus, klar. Aber ich sehe keinen besseren Weg.
„Und das Ende der Wahrheit ist das Ende der Öffentlichkeit, denn diese war sowieso nur ein ausgedachtes Projektionswesen der Massenmedien, als eine Reflexion über sich selbst und ihr Publikum. “
das verstehe ich nicht. wieso soll das ende der wahrheit, das ende der öffentlichkeit implizieren? und vielleicht bin ich ja nicht der einzige unwissende 😉
@adrianoesch ja, das kommt an dieser Stelle etwas kontextlos. Fand den Satz zu gut um ihn rauszustreichen, obwohl er da gar nicht hingehört.
Öffentlichkeit – so wie er im allgemeinen Sprachgebrauch gerne verwendet wird – wird gerne im Sinne einer „demokratischen“ oder „gesellschaftlichen“ Öffentlichkeit her verstanden. Auch oft „Öffentliche Meinung“ gennant. In dieser Funktion wird gerne impliziert, dass es ein Ganzes der Gesellschaft gäbe, dass bestimmte Diskurse verfolgt, eine Meinung besitzt und so weiter. Dass all diese Verwendungsarten falsch sind, dass es sich wenn, immer nur um Partikularöffentlichkeiten handelt ist zwar im Grunde jedem klar, was aber nicht daran hindert weiter so zu tun, als gäbe es diese „Öffentlichkeit“. Das – so meine Vermutung – liegt eben am Selbstverständnis der Massenmedien, die eben eine Art (nach Luhmann) Selbstverständnis der Gesellschaft über sich selbst anbieten. Da sie entsprechend strukturiert sind (ein Sender, viele Empfänger, kein Rückkanal) bildet man als Massenmedium, die das Bild der Gesellschaft als homogene, anonyme Masse im Kopf (Das Publikum will dies, das Publikum mag das). Und nicht nur das, sie kommunizieren das entsprechend. Was zur Folge hat, dass sich die Gesellschaft schließlich eben selbst als diese anonyme aber einheitliche Masse wahrnimmt. Inklusive einem „Wählerwillen“ und einem „Mainstream“ und den ganzen anderen Vergemeinschaftungsschrott der Massengesellschaft.
Pingback: Lesenswerte Artikel 15. September 2010
Interessanter Artikel, was „Gelegenheitsdaten“ für Probleme aufwerfen können.
Was den OKCupid Fall betrifft halte ich allerdings weder die Daten, noch die Abfragen, noch die Darstellung auf der OKCupid Trends Seite für rassistisch. Die Schreiber haben sich selbst mit „The information in this article is not our opinion. It’s data, aggregated from the essays of half a million real people.“ davon distanziert. Was vielleicht gefehlt hat war den Hinweis über oder unter jeder Zusammenfassung, dass die Daten nur für die Population von OKCupid Usern verallgemeinerbar ist und damit nicht für alle Personen mit bestimmten ethnischen oder religiösen Kriterien. Klar können Daten fehlerhaft interpretiert werden um rassistische oder religöse Vorurteile zu fördern, aber das ist eine Frage der Interpretation und nicht der Abfrage an die Daten. Das Tom Clancy und Van Halen bei „white people“ am häufigsten genannt wurde, das lässt sich nicht bestreiten (die absoluten Zahlen wären interessant gewesen, ebenso wie ein paar Signifikanzen und Effektstärken).
Ich denke, das Problem liegt darin, dass es immer passieren wird, dass Menschen aus Daten fehlerhafte Interpretationen ziehen, z.T. weil die „Antwort“ schon vorher feststeht und man nur noch Bestätigung sucht, z.T. weil man nicht weiß, wie man mit solchen Daten umgeht. Die Frage dabei ist, wie kann man solche Fehlinterpretationen öffentlich aufdecken, ohne gleich das Kind mit dem Bade auszuschütten und das Vertrauen in die Wissenschaft generell zu unterminieren.
Wissenschaft ist ein sozialer Prozess, es läuft viel über gegenseitige Überprüfung und Diskussion, was als wissenschaftlich korrekt anerkannt wird. Die Daten sprechen nie für sich selbst — sie werden diskutiert was ihre zugrundeliegenden Methoden, Stichprobe, Versuchsablauf, Materialien, etc. pp. betrifft — und häufig recht kontrovers. Auf der anderen Seite würde ein kompletter Einblick in die wissenschaftlichen Abläufe vermutlich viele nicht-Wissenschaftler überfordern (vom Wissen und vom Interesse her). Ich möchte auch nicht im Detail wissen, warum mein Auto nicht mehr fährt, ich möchte, dass es repariert wird und ich merke, dass die Reparatur in Ordnung war, daran, dass der Wagen wieder fährt. Bei der Wissenschaft ist es oft schwierig, solche externen Kriterien zu finden, insbesondere bei Stereotypen und Vorurteilen, die sich gerne verstärken auch wenn es keine Zusammenhänge gibt. Ingenieure haben es da einfacher und waren in Diktaturen auch glaub ich weniger von staatlicher Kontrolle betroffen als eher „weich“ arbeitende Sozialwissenschaftler und Psychologen.
Vielleicht reicht ein gewisses wissenschaftliches Grundverständnis für den Umgang mit den Daten aber auch aus — genug, um hier zu sehen, dass man nicht von den OKCupid Daten darauf schließen kann, dass alle „whites“ Tom Clancy mögen, noch, dass alle „whites“ bei OKCupid Tom Clancy mögen, sondern nur, dass Tom Clancy in den Selbstbeschreibungen bei OK Cupid von „whites“ am häufigsten genannt wurde. Und was die Korrelationen betrifft — da sollte man verstehen, dass Korrelationen keine Kausalitäten sind und das es mind. 4 alternative Erklärungen geben kann, von der umgekehrten Richtung, einer dritten Variable, Koinzidenz und simultanen Beziehungen.
Zu sagen, dass aber bestimmte Abfragen das Problem sind — das geht — wenn ich es richtig verstanden habe — stark in Richtung Zensur an der Wissenschaft: „Du darfst bestimmte Sachen nicht fragen!“ Wieso?
Die Ethikkommission überprüft, ob die Versuchsteilnehmer nicht geschädigt werden, aber hier liegen erhobene Daten vor, an die ich jede Frage stellen kann, die ich möchte. Und bei jeder Untersuchung spiele ich mit den Daten. Klar, ich formuliere meine Hypothesen vorher und mache keine post-hoc „Anpassungen“, aber ich möchte wissen, was noch in den Daten drin steckt, auf welche Ideen mich einzelne Korrelationen oder poc-hoc Unterschiede bringen können. In Folgeuntersuchungen kann ich dem nachgehen und einzelne Aspekte wissenschaftlich korrekt überprüfen. Zur Ideengenerierung finde ich das Vorgehen sehr gut. Würde ich mit dem OKCupid Datensatz rumspielen wollen? Sicher — interessant wäre es allemal. Aber ich wäre halt bei der Interpretation vorsichtig, was man aus einzelnen Befunden wirklich schließen kann und worauf man die Befunde übertragen kann.
Kurz: Das Problem liegt nicht in den Daten, noch in den Abfragen, sondern in der wissenschaftlich korrekten Interpretation der Ergebnisse. Und wenn diese Interpretation fehlerhaft ist, kommt es in der Wissenschaft über kurz oder lang raus. Es mag stellenweise eine Generation dauern, aber die Wissenschaft korrigiert sich selbst. Dafür muss sie aber auch frei fragen und die Ergebnisse und Interpretationen offen diskutieren dürfen. Oder wie es jemand mal formuliert hat: „The only weapon against bad ideas is better ideas.“ — ist aufwändig aber in jedem Fall besser als Zensur.
@Daniel Versteh mich nicht falsch. Wenn ich von einer Ethik der ABfrage spreche, sage ich gleichzeitig, dass das eine nicht durchsetzbare Ethik wäre. Eine, die nur an den anderen appellieren würde, keine gesetzlich festgeschriebene, also keine Zensur – wenn dann eine freiwillige Selbstzensur.
Zweitens glaube ich auch an die Kraft des besseren Gedankens. Das Problem ist: der großteil der Menschheit eben nicht. Weswegen wir uns mit der Hanebüchenen Interpretation von Daten in weiten Bevölkerungsteilen werden arrangieren müssen. So oder so. Dass es da irgendwo an der Uni ein paar Leute gibt, die die Wahrheit kennen, ist zwar beruhigend, löst aber nicht das Problem.
@mspro 15/09/2010 at 12:29
Hmmm, wobei man jetzt argumentieren könnte, genau so eine Diskussion, wie sie derzeit bezüglich Integration & Co. läuft, braucht man. D.h. eher eine öffentliche Diskussion der Daten, ohne das Personen, die auf statistisch vorhandene Zusammenhänge hinweisen, gleich Rassismus vorgeworfen wird (das haben wir glaub ich noch nicht). Michael Specter meinte mal in einem TED Talk: „You’re entitled to your own opinion. … But you’re not entitled to your own facts.“ In der Hinsicht wäre eine öffentliche Diskussion, die sich den Sachverhalten stellt, aber die Hitze rausnimmt, vermutlich besser.
Mein Problem ist, ich glaube nicht, dass Selbstzensur etwas bringen oder funktionieren würde … und freiwillige Selbstzensur klingt für mich nach einem Oxymoron. Ich sehe aber auch, das Forscher eine Verantwortung für die Ergebnisdarstellung haben und sie eine Verantwortung haben, zu widersprechen, wenn ihre Daten aus dem Zusammenhang gerissen dargestellt werden oder öffentlich fehlinterpretiert werden. Das das leichter gesagt ist, als getan, und das die Medienwelt da ihre eigenen … Dynamiken hat, sehe ich auch. Leider lassen sich die meisten Forschungsergebnisse nicht ‚verlustfrei‘ in einer Schlagzeile darstellen, auch wenn das immer wieder passiert.
Und es sollten sich wissenschaftlich korrekt arbeitende Menschen mit den Daten auseinander gesetzt haben und damit Erfahrung gesammelt haben (z.B. hab ich in meinem ersten Comment auch ein paar Aspekte der OK Cupid Auswertung fehlverstanden). Sie sollten die Schwachpunkte und die fehlerhaften Interpretationsmöglichkeiten vorher schon finden. Allein schon aus diesem Grund wäre ich gegen eine irgendwie geartete Beschränkung bei der Analyse von Daten, sofern die Teilnehmer der Auswertung ihrer Daten zugestimmt haben. Hmm, wobei ich mich schon frage ob die OK Cupid Usern dieser Auswertung ihrer Daten zugestimmt haben …
Und ja, ich stimme auch zu, dass ein erhebliches Defizit im Wissenschaftsverständnis und der Wissenschaftskommunikation vorliegt, wenn auch mit anderen Konsequenzen.
Zur „freiwilligen Selbstzebnsur“. Wenn deine Freundin heute echt scheiße aussieht, sagst du ihr das dann auch so? Eben. Das kann man zum Beispiel auch im interkulturellen Bereich machen. Klar kann man Mohamed karrikieren, obwohl oder weil man weiß, dass manche viele Moslems da kulturell dünnhäutig reagieren. Man kann es aber auch lassen, wenn es nicht notwendig ist. Ebenso kann man sich fragen, welchen Erkenntniswert es hat diese oder jene Eigenschaft nach Rasse (was eh recht beliebige Festsetzungen sind, wie wir ja heute wissen) aufzuschlüsseln. Das rüttelt nicht an der Validität der Aussage, reproduziert aber den Rassendiskurs auf einer neuen Ebene und gibt Wind in die Segel der falschen Leute.
Aber wie gesagt: Es geht nicht um Beschränkung, im Sinne eines Verbots. Und all die Beispiele, die ich genannt habe, sollen bitte nicht als Anleitung, Blaupause oder Anweisung für Selbstbeschränkung gelesen werden. Ich bin umbedingt dafür, dass das jeder selber entscheiden soll. Man sollte sich aber schon darüber klar werden, dass jede Abfrage der Daten immer auch politisch ist.
Verabschieden sollte man sich aber vor allem von dem aufklärerischen Anspruch, die Leute so weit zu bringen, dass sie mit ihrer „Medienkompetenz“, die Daten, Abfragen und Statistiken durchschauen und irgendwann nicht mehr auf die Sarraazins dieser Welt rein fallen. Das ist komplett illusorisch, wie ich oben ausführte. Innerhalb der Wissenschaften gibt es schon kaum mehr Leute, die alle Studien ihres Fachgebietes einordnen können. Für die Zukunft, die jedes Jahr exponentiell mehr Daten produziert, sehe ich da mehr als schwarz.
Hmmm, die Übertragung des Gesprächsgegenstandes auf persönliche Beziehungen macht es wie üblich komplizierter.
Wenn ich dich im weiteren Teil deiner Antwort richtig verstanden habe, sagst du, dass man bestimmte Abfragen nicht machen sollte, weil sie eh keinen Wert haben und vielleicht Sachen rauskommen, die bestimmte Personen nicht gut finden oder die missbraucht werden könnten. So was ist unethisch und sollte man (freiwillig) lieber lassen.
Bei dem Beispiel mit der Freundin geht’s allerdings weniger um die „Abfrage“, sondern eher um die Verwertung der Informationen. Im Rahmen einer unethischen Abfrage interpretiert hieße das eher: „Seh dir deine Freundin besser nicht so genau an, das bringt eh nichts und vielleicht gefällt dir nicht, was du siehst.“
In beiden Fällen würde ich massiv widersprechen — ich würde wissen wollen, ob meine Freundin schlecht aussieht und vor allem weswegen (und ich denke, es gibt bessere Methoden, als ihr das direkt ins Gesicht zu sagen), und ich würde wissen wollen, wie sich Personen in Online-Börsen darstellen und weswegen (und ich denke, es gibt Interpretationen, die nicht auf Rassismus hinauslaufen). Und — wer entscheidet eigentlich, ob es notwendig ist, oder nicht? Und wie will ich wissen, ob es notwendig ist, wenn ich nicht in die Daten reingesehen habe?
Um die Diskussion nicht ausufern zu lassen, lasse ich Toleranz-Aspekte jetzt mal raus, in wie weit wer tolerant wem gegenüber sein muss — das führt zu weit.
Bezogen auf die Eingangsbeispiele (Sarrazin, OKCupid, etc.) — wir leben halt in einer Welt, in der die breite Öffentlichkeit sehr leicht an wissenschaftliche und pseudo-wissenschaftliche Informationen/Studien rankommen kann (nicht nur wegen Google Scholar) und diese Ergebnisse falsch verstanden werden können.
Aber ich denke, es läuft darauf hinaus, der Öffentlichkeit zu ermöglichen mit den Informationen umzugehen. Alles andere wäre Bevormundung, entweder der Öffentlichkeit oder der Forscher („Selbst-Bevormundung“ bei den Forschern).
Aber in dem Punkt, insbesondere in wie weit es möglich ist die breite Öffentlichkeit in diese Lage zu versetzen (die Zeit der Universalgelehrten ist vorbei, aber Quellenkritik und ein paar wissenschaftliche Grundlagen sind vielleicht möglich) unterscheiden wir uns.
Ist ja auch okay.
< Wenn ich dich im weiteren Teil deiner Antwort richtig verstanden habe, sagst du, dass man bestimmte Abfragen nicht machen sollte, weil sie eh keinen
Nein, ntürlich hast du das wieder völlig falsch verstanden. Zum 198sten Mal. Ich sage nicht, dass man IRGENDETWAS sollte oder nicht sollte. Ich sage, dass das was man tut politisch ist und man sich mit den Folgen auseinandersetzen sollte. Die Ethik des Anderen kann nie eine ausformulierte oder allgemeingültige Ethik sein, sondern immer nur eine persönliche. Ich habe lediglich BEISPIELE genannt, wo ICH meine Probleme habe oder hätte.
Deswegen bin ich im GEGENTEIL zu dem was du denkst, nämlich ganz auf deiner Seite, dass es da keinerlei Beschränkungen geben darf, worum es mir auch von Anfang an ging.
Der Knackpunkt insbesondere der okcupid-Resultate ist: Das sind ersmal Daten. Ja, Schwarze schreiben auf dieser Dating-Plattform „doofer“ als Asiaten. Ja, gewisse Stereotypen „bewahrheiten“ sich da, genauso wie in manchen anderen Aspekten.
Nur: über die URSACHE der gefundenen Unterschiede sagen diese Daten herzlich wenig, über ihre Prävalenz oder Verallgemeinerbarkeit auch nicht. Über den Rest (wie „soll“ das Resultat aus gesellschaftspolitischer Sicht aussehen, wie kommen wir da hin, welche Kompromisse muss man auf diesem Weg eingehen, etc.pp.usw.usf.) noch weniger.
Aber genau da ist der Knackpunkt, weil genau das von allen Seiten in solche Daten hinein-interpretiert wird, auch und gerade wenn die Daten das nicht hergeben.
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