Lange nachdem die Stimme von Joss Stone schon verstummt war, ich hatte mich gerade an die Stille gewöhnt und mich meiner Arbeit zugewendet, da kehrt sie auf einmal zurück, wie ein Geist durchbricht sie die Stille, begleitet von Gitarrenriffs und Schlagzeug. Ein Zucken fuhr mir durch die Glieder….“Ach ja, der hidden Track“. Es muss wohl daran liegen, dass ich kaum noch Alben höre, dass mich dieser hidden Track tatsächlich noch überraschen konnte. Denn eigentlich ist er schon zu einer Institution geworden. Was doch eigentlich ein Gimmick sein sollte, was in seinem Überraschungsmoment die Originalität des Albums hervorheben sollte, ist heute längst Produktionsstandart. Dabei ist das Prinzip so einfach wie banal: Man lässt den letzten Track nach dem eigentlichen Lied einfach weiterlaufen, ohne Ton und packt dann, nach einiger Zeit das wirklich letzte Lied noch in diesen Track mit hinein.
Sicher hat sich irgendein Produzent oder irgendeine Band irgendwann einmal diesen Gag ausgedacht und so seine Kundschaft tatsächlich überrascht. Es fragt sich nur, was dieser Gag noch für einen Überraschungseffekt und damit für einen Sinn hat, wenn er in seiner Institutionalisierung schon zum Standardrepertoire jedes Albumproduzentens gehört. Also, wieso hidden Track?
Ein anderes Beispiel: Nachdem die Band bereits die Instrumente in die Halterungen gelegt und die Bühne verlassen hat, fangen die Leute an, rhythmisch zu klatschen und „Zugabe“ zu rufen. Jeder kennt das, jeder macht mit, obwohl doch jeder weiß, dass die Künstler sowieso die Bühne wieder betreten, ihre Instrumente zu Hand nehmen und noch zwei bis fünf Lieder spielen werden. Also, wieso Zugabe?
Aber es scheint ganz offensichtlich, dass die Frage nach dem Sinn, hier nicht mehr die entscheidende ist. Es gibt keinen Sinn in diesen Handlungen, weil sie so berechenbar sind, dass sie eben gar nichts mehr aussagen. Aber wirklich gar nichts? Wenn irgendetwas wirklich gar nichts aussagen würde, so würde es sicherlich nicht gesagt werden. Diese Aussage aber wird getroffen und das immer wieder und deshalb ist davon auszugehen, dass sie doch einen Sinn hat, meinetwegen einen versteckten, ja vielleicht sogar einen geheimen Sinn. Hier ein Erklärungsversuch:
Dieses willkürlich gesetzte Ende der CD/des Konzertes, das keines ist, ist vielmehr eine unausgesprochene Absprache zwischen Publikum und Künstler, eine Art Codewort oder ein Passierschein: eine Losung. Eine Losung hat eben niemals jenen Sinn, den sie offensichtlich vorgibt. Sie ist vielmehr ein Erkennungszeichen, sie markiert Denjenigen der sie kennt als einen inneren, einem Kreis Zugehörigen, eben dem Kreis der Markierten. Und diese Zugehörigkeit, die sich im Losungswort ausspricht, konstituiert eine Bruderschaft des gemeinsamen Wissens um das Losungswort. Man kann dieses spezielle Losungswort nur kennen, wenn man bereits einige Alben gekauft und einige Konzerte besucht hat. Und die Zugehörigkeit wird noch dadurch verstärkt, dass sie instrumentalisiert wird, dass diese Macht eingesetzt wird zu einem Ziel, zu einem Symbolischen Akt, einem dunklen Ritus aus vormodernen Zeiten, einer Opferung. Ja, ganz genau: einer Opferung.
Denn mit ihrer Hilfe wird nämlich eine andere Macht, und zwar die Macht des Endes gebrochen oder zumindest verschoben. Das Ende, als das absolute Andere des Konzertes oder der Musik im allgemeinen, also als der absolute Antagonist des Rock ’n Roll, was nichts anders ist, als dessen schlichweg Böses, also genau dieses verhasste Ende wird nun in einem barbarischen, rituellen, symbolischen Akt geopfert. Und dies ist die eigentliche Botschaft des hidden Track und der Zugabe. Denn wenn die Musiker die Bühne verlassen und wenn der letzte Track scheinbar ausgeklungen ist, heißt das eben nicht: „Leute, das wars“ sondern: „Dies ist noch nicht das Ende. Du weißt es und wir wissen es. Und dieses Wissen verbindet uns, du der du uns hier zuhörst und wir, die wir wissen, dass wir die Bühne noch einmal betreten werden und die CD weiterlaufen lassen. Und jetzt lass uns gemeinsam aufstehen, Bruder, lass uns unsere Macht nutzen und lass uns das Ende beenden. Wir werden es kraft unseres Wissens gemeinsam Auslöschen.“ Und in diesem Ritus, der an okkulte Praktiken erinnert, wird so eine Art Voodoopuppe des Endes auf die Bühne gezerrt und in gemeinsamen Geschrei, in gemeinsamen Tanz und gemeinsamen Feiern wird sie, von Künstlern und Publikum, wie in Trance in einer symbolischen Gebärde in Fetzen gerissen und ihre Überreste werden dem johlenden Publikum zum Fraß vorgeworfen.
Diese Austreibung, dieser Exorzismus des Endes ist der notwendige Abschluss eines jeden Konzertes, und mitlerweile auch eines jeden Albums. Das Ende wird damit symbolisch besiegt und Publikum wie Künstler, von ihrer eigenen Macht noch wie berauscht, können jetzt auseinander gehen, wissend um ihren geheimen Pakt. Sie werden aufs nächste Konzert warten und nach einer neuen CDs Ausschau halten bzw. eine neue produzieren (natürlich mit hidden Track) und behalten dabei immer im Hinterkopf: “The show must go on!“.
Vielleicht lässt sich der Hidden Track oder die Zugabe aber auch einfach nur kaufmännisch erklären. Tatsächlich könnte hier dem Marketing mal eine wissenschaftliche Relevanz zugesprochen werden. Kann es nicht sein, dass der Hidden Track einfach nur die Funktion übernimmt dem potenziellen Käufer eine längere Spielzeit zu suggerieren? Ist das nicht noch bekannt vom Kopieren einer CD auf Kassette, wo extra eine 90 Minuten Kassette genutzt wurde, nur weil dem vorletzten Song 30 Minuten überflüssiger Leerlauf folgt? Ist dieses also nicht nur darauf zurückzuführen, dass man sich bei einem Album mit (nur) 40 Minuten Spielzeit abgespeist vorkommt? Letzterer Aspekt berücksichtigt jedoch nicht die Qualität, wobei die Differenzierung von Quantität und Qualität gerne wieder philosophisch vorgenommen werden kann. Ist die Nennung der Verlängerung im Rahmen einer Konzertkritik nicht immer auch ein wenn auch geringer Aspekt für die Kaufentscheidung der Karte? (Sind aber Konzertkritiken nicht sowieso immer gleich aufgebaut und damit überflüssig?) Fühlen sich Konzertbesucher nicht auch nach 70 Minuten abgespeist – insbesondere wenn die Musiker (ihre Idole) auf ihre Bitte nach der Zugabe nicht reagieren?
Ist es tatsächlich möglich das die Betriebswirtschaftslehre und da ausgerechnet das Marketing auch mal was erklären?
Auch ein interessanter Aspekt. Leider nicht ganz so sexy 😉
Und ein bisschen paranoid, so nach dem Motto:
„keiner weiß wer wen bescheißt, doch alle wissen, sie werden beschissen.“