Habe gestern das erste Mal Casablanca gesehen. Hat mich schwer beeindruckt. Nur: Was ist das für eine merkwürdige Liebe? Sie lässt den Rick Jahre lang trauern, lässt ihn abstumpfen und zum Zyniker werden. Er verliert alle seine Ideale und dazu die Lebensfreude. Kann Liebe so etwas? Wenn ja, darf Liebe so etwas? Sollte sie dann nicht verboten werden? Oder sollte man nicht wenigstens einen Waffenschein dafür verlangen?
Aber ich sehe schon, dies stößt doch eher in die Frage nach der Bedeutung und der kulturellen Kodierung von Liebe im Hier und Jetzt, denen gegenüber die Vorstellungen von damals befremdend vorkommen. Hatten nicht noch nach dem Krieg die Frauen Jahre, ja Jahrzehnte auf die aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Männer gewartet? Haben nicht die meisten unserer Eltern schon in unserem Alter in der festen Gewissheit ihres zukünftigen Ehepartners gelebt? Ist heute eigentlich überhaupt noch jemand auf der Suche nach dem einen Traumpartner, oder ist dieser Traum erloschen, von der Realität entmystifiziert?
Eines steht fest: Mister und Misses Right sind heute eben nicht Mr. und Mrs. Perfect. Right soll heißen: es muss irgendwie passen, ebenso wie ein Hemd passen muss, sonst kauft man es nicht. Das heißt nicht, dass die Ansprüche gesunken sind. Dieses „passen“ wird oft genug mit einem detaillierten Kriterienkatalog verbunden, der wahrscheinlich aus damaliger Sicht extrem penibel anmuten muss. Die Ansprüche an den Partner sind wohl eher gestiegen und mit ihnen die Gewissheit, dass es wohl kaum Leute auf der Welt gibt, die diese en detail erfüllen.
„Auf der Welt“ ist sowieso das Stichwort. Wie begrenzt waren noch die kommunikativen Möglichkeiten unserer Eltern und Großeltern. Wenn es im eigenen Dorf keinen potentiellen Partner gab, dann hat man eben die Nachbardörfer abgeklappert und zur Not ist man dann den weiten Weg in die große Stadt (z.B. Soltau) gegangen, um dort auf Brautschau zu gehen. In unserer Generation gibt es Leute, die sich sicher sind, dass es in Europa für sie keine passende Frau gibt, die aber meinen, dass die Südamerikanerinnen sie vielleicht betören könnten. Mache stehen aber ja auch mehr auf Asiatinnen. Ist doch egal, kann man doch mal eben hin. Vielleicht findet sich dort ja was? Oder man schaut einfach ins Internet. Wer genügend Geld hat, oder im Aufsichtsrat bei VW sitzt, lässt sich die Frauen einfach einfliegen.
Ist dieses Verschwinden der topographischen Relevanz in der Liebe für unseren Pragmatismus verantwortlich? Und vielleicht auch dafür, dass man nie wirklich zufrieden ist?
Topographie und Sehnsucht, zwei aus damaliger Sicht eng verbundene Begriffe. Man lese Alexander von Humboldt, man lese Goethes Italienreise, frühe ethnologische Berichte und sonstige Reiseliteratur. Die Sehnsucht und Begeisterung, die sich dort ausspricht, die Romantisierung der Ferne; ist sie heute überhaupt noch nachzuvollziehen? Oder andersherum lese man die Exilliteratur aus dem zweiten Weltkrieg: Brecht, Mann, Adorno, ja sogar Arendt: Diese Sehnsucht nach dem „Vaterland“ und der „Muttersprache“. Gibt es sie noch unter all den Weltbürgern und Kosmopoliten von heute?
Diese Verbindung von Liebe und Ort, wie sie sich in „Casablanca“ einstellt, ist das eigentlich anachronistische des Films. „Von all den Kneipen auf der ganzen Welt, musst du ausgerechnet in meine kommen.“, sagt Rick zu Ilsa. Heute würde er wohl sagen: „Mensch Ilsa, die Welt ist doch klein.“.
Wenn aber uns die Globalisierung und die immer mächtiger werdenden „extensions of man“, den Ort von der Liebe, und die Liebe vom Ort getrennt haben, ist dann überhaupt noch ein Rückzugsort der Liebe gegeben? Wo kann man sie noch finden?
Oh, Moment mal, ich glaube ich habe sie gefunden: Platons Sämtliche Werke, Berliner Ausgabe S. 659 ff. Das „Symposion“ gibt Auskunft! Eros, der Liebende und Sehnsüchtige ist gar kein strahlender Gott. Nein, er ist ein in Lumpen gehüllter Dämon, der, wenn er sich nicht gerade mal einen Schlafplatz unter der Brücke sichern muss, dich nach nem Euro anschnorrt. Eros, ein Obdachloser und das schon im alten Griechenland? Na Sowas. Aber es ist doch so: Der Liebende ist notwendiger Weise ein Bedürftiger. Wäre er es nicht, wieso sollte er sich denn dann nach dem Geliebten verzehren? Damit wird das Geliebte als Ort notwendig ein Außerhalb, genauer: Ein Außerhalb der Reichweite des Liebenden. In einer Zeit der Hunderteuroflüge nach New York, kann dieses Außerhalb natürlich keine Topographie mehr markieren. Die Liebe ist also gezwungen ihre eigene Topographie zu erschaffen, sie muss selber einen eigenen Raum aufspannen. Dieser kann aber nur ein individueller sein. Eine Privatsprache der Liebe also, die nicht mehr kommunizierbar ist, sondern nur noch als persönlicher Raum zur Verfügung steht, in den man dann von außen hineinblickt und den man stetig vor sich herträgt. Vielleicht wird Liebe aber auch völlig überflüssig in genau dem Maße, wie die Bedeutung des Raumes schwindet.
Wie dem auch sei: Rick konnte seine Ilsa am Ende getrost wegschicken; in der Gewissheit sie nie wieder sehen zu müssen. Er hat sie dadurch ein zweites Mal räumlich verloren. Er tat dies zwar schweren Herzens aber freiwillig. Am Ende des Films ist man sich jedenfalls sicher, dass Rick sein Leiden überwunden und seine Ideale zurückgewonnen hat. Man weiß, er wird sich nicht mehr verzeheren, er wird ihr nicht mehr nachtrauern und mit seinem Schicksal hadern. Es scheint so, als sei in der kurzen Zeit mit Ilsa in Casablanca doch noch eine Distanz überwunden worden, die schon keine topographische mehr war.